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Seyran Ateş ist gläubige Muslimin. Die fundamentalistischen Tendenzen im Islam empören sie. Doch die letzten Jahre haben gezeigt: Gegen diese Entwicklungen anzuschreiben reicht nicht aus. Deshalb hat sich Ateş entschlossen, gemeinsam mit anderen Muslimen eine liberale Moschee in Berlin zu gründen. In Deutschland herrscht der türkische Staatsislam. Die meisten aktiven Imame haben ein gestörtes Verhältnis zur Religionsfreiheit, zur Gleichberechtigung und zum Recht auf Homosexualität. Sie predigen einen Islam von vorgestern — mit der Folge, dass liberale Muslime bei uns heimatlos geworden sind. Daran möchte Seyran Ateş etwas ändern. Sie gewinnt Mitstreiter für die Gründung einer reformierten Moschee in Berlin und baut ein internationales Netzwerk von liberalen Muslimen auf. Sie lernt Arabisch und lässt sich in Istanbul zur Imamin ausbilden. Das engagierte Buch einer modernen Muslimin, die ihren Glauben leben will und sich nicht von patriarchalen Strukturen und den Dogmen der Strenggläubigen einschüchtern lässt.
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Das Buch
In Deutschland herrscht der türkische Staatsislam. Die meisten aktiven Imame haben ein gestörtes Verhältnis zur Religionsfreiheit, zur Gleichberechtigung und zur Homosexualität. Sie predigen einen Islam von vorgestern – mit der Folge, dass liberale Muslime bei uns heimatlos geworden sind. Darüber hinaus wird durch den Terror von IS, al-Qaida oder Boko Haram der Islam von vielen heute mit Gewalt gleichgesetzt. Dieses Bild möchte die Juristin, Frauenrechtlerin und Autorin Seyran Ateş korrigieren und die Barmherzigkeit Allahs wieder in den Vordergrund stellen. Sie gewinnt Mitstreiter für die Gründung einer reformierten Moschee in Berlin und baut ein internationales Netzwerk von liberalen Muslimen auf. Sie lernt Arabisch und lässt sich in Istanbul und Berlin zur Imamin ausbilden. Das engagierte Buch einer modernen Muslimin, die ihren Glauben leben will und sich nicht von patriarchalen Strukturen und den Dogmen der Strenggläubigen einschüchtern lässt.
Die Autorin
Seyran Ateş, 1963 in Istanbul geboren, lebt seit 1969 in Deutschland. Sie ist Autorin und Rechtsanwältin mit eigener Kanzlei. Ihr wurden zahlreiche Auszeichnungen verliehen, darunter das Bundesverdienstkreuz erster Klasse, das Bundesverdienstkreuz am Bande und der Verdienstorden der Stadt Berlin. Zuletzt sind von ihr erschienen Der Islam braucht eine sexuelle Revolution (2009) und Wahlheimat (2013). Seyran Ateş lebt in Berlin.
Seyran Ateş
SELAM, FRAU IMAMIN
Wie ich in Berlin eine liberale Moschee gründete
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-1552-2
© 2017 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinLektorat: Claudia SchlottmannUmschlaggestaltung: © Rudolf LinnUmschlagmotiv: © Charlotte Schmitz
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Für Zoe
Für die künftigen Generationen, denen wir hoffentlich Mut machen können, keine Angst vor Veränderungen und Fortschritt zu haben
Für Frieden zwischen den Religionen
Über das Buch und die Autorin
Titelseite
Impressum
Widmung
Einleitung
• Eine Moschee der Liebe und der Vielfalt
• Islam gleich Gewalt?
• Konservative Moscheen polarisieren
• Gegen die Geschlechtertrennung
• Demokratie und Islam sind vereinbar
Kapitel 1: Wie die Idee entstand
• Mitglied der Deutschen Islamkonferenz
• Organisiert euch!
Kapitel 2: Terror im Namen meiner Religion
• Balanceakt
• Kämpfen oder resignieren?
• Gewalt in anderen Religionen
• Gewalt im Islam
• Radikalisierung im Internet
• Der »Islamische Staat«
• Auch junge Frauen folgen dem Ruf des IS
• Warum der Terror uns Muslimen selbst am meisten schadet
• Was wir tun können
Kapitel 3: Ein Gott
• Meine muslimische Familie
• Der Gott der anderen
• Mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede
• Glaube und Vernunft
• Ursprung der Religionen
• Die Frage nach dem Sinn
• Das Projekt »House of One«
Kapitel 4: Die Türkei und Deutschland – meine beiden Heimaten
• Anschläge in Berlin und Istanbul
• Verfehlte Einwanderungspolitik in Deutschland
• Die Türkei – ein gespaltenes Land
• Atatürks laizistisches Erbe
• Das System Erdoğan
• Die Gülen-Bewegung
• Die Folgen des Putschversuchs
• »Ich wurde betrogen«
Kapitel 5: Warum ich dem Islam treu bleibe und Imamin werde
• Wider die Deutungshoheit der Fundamentalisten
• Moderne Theologie in der Türkei
• Was es für mich bedeutet, Muslimin zu sein
• Eine Synthese aus Ost und West
• Was ist eigentlich ein Imam?
• Meine Ausbildung zur Imamin
Kapitel 6: Die Grundlagen des Islam und der Prophet als Vorbild
• Aufklärung im Islam
• Umdenken tut Not
• Die Schriften in ihrer Zeit verstehen
• Die fünf Säulen des Islam
• Die Geschichte Mohammeds
Kapitel 7: Unsere Moschee wird eröffnet
• Die Planungsphase
• Die Moschee als Ort des Gebets – für Frauen und Männer gemeinsam
• Die Namensfindung
• Offen für alle
Anhang
• Miriam Amer: Alle Menschen sind Geschwister
• Mimoun Azizi: Warum wir unsere Moschee nach Ibn Rushd und Goethe benannt haben
• Müzeyyen Dreessen: Bildung in der islamischen Welt
• Mouhanad Khorchide: Ein Brief an Seyran Ateş
• Elham Manea: Veränderung beginnt mit uns
Danksagung
Präambel der Ibn Rushd-Goethe Moschee GGmbH
Literatur
Feedback an den Verlag
Empfehlungen
Ich bin gläubige Muslimin, dennoch gab es bisher keine Moschee, in der ich meinen Glauben frei und selbstbestimmt praktizieren konnte. Der konservative Islam der allermeisten deutschen Moscheegemeinden ist mit meinen religiösen Überzeugungen nicht vereinbar. Mir geht es beim Moscheebesuch um die gemeinsame Begegnung aller Gläubigen mit Gott, durch die vorherrschende Geschlechtertrennung fühle ich mich aber als Frau, zumal als nicht Kopftuch tragende Frau, diskriminiert. Meine Spiritualität kann sich nicht entfalten, wenn ich – wie es vielerorts der Fall ist – mit meinen Geschlechtsgenossinnen in einen separaten, lieblosen Raum verbannt werde. Zudem stellen traditionelle Imame oft nicht die Liebe zu Gott und den Menschen in den Vordergrund, sondern betonen immerfort das Trennende: zwischen den Geschlechtern, zwischen den einzelnen Strömungen des Islam, zwischen »uns« Muslimen und den anderen, den vermeintlich Ungläubigen.
Lange Zeit habe ich nur davon geträumt, dass sich friedliebende, liberale Muslime zusammenfinden, um einen Islam zu leben, der eine gleichberechtigte Teilhabe aller an den Gebeten und der Gemeinschaft der Gläubigen möglich macht, unabhängig von Geschlecht oder Glaubensrichtung. Ich habe darauf gewartet, dass solch eine Moschee eröffnet wird, von Menschen, die sozusagen koranfester sind als ich. Irgendwann fühlte es sich an wie das Warten auf Godot. Schließlich beschloss ich, meine Vision selbst zu realisieren, anstatt darauf zu hoffen, dass andere es für mich tun würden.
Unsere neugegründete Moschee soll ein solcher Ort sein: eine spirituelle Heimat nicht nur, aber vor allem für Frauen und Männer, die sich in traditionellen Moscheen nicht wohl fühlen und die sich nicht vorschreiben lassen wollen, wie sie ihre Religion zu leben haben. Wir Gründerinnen und Gründer der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee wollen den Islam von innen heraus reformieren und mit einer zeitgemäßen Auslegung des Koran Toleranz, Gewaltfreiheit und Geschlechtergerechtigkeit in den Vordergrund unserer Religionsausübung stellen. Da manche Muslime Probleme mit dem Wort Reform haben, wenn es um ihre Religion geht, können wir auch gerne von der Notwendigkeit einer Erneuerung sprechen, wie es kürzlich sogar der Sprecher der renommierten Al-Azhar-Universität in Kairo tat.
Besonders in der jetzigen Zeit mit ihren zunehmenden Polarisierungen und Konflikten wünsche ich mir nicht nur, dass Muslime friedlich zusammenleben, sondern dass wir alle das tun: Angehörige aller Konfessionen ebenso wie Atheisten. Und zwar überall auf der Welt. Unsere Moschee soll einen kleinen, bescheidenen, aber hoffentlich spürbaren Beitrag dazu leisten.
Bis dieses Ziel erreicht sein wird, ist es noch ein weiter Weg, dessen sind wir uns bewusst, dennoch wollten wir endlich den ersten Schritt tun, ohne den es keine Veränderung geben kann.
Seit dem 11. September 2001 fällt es immer schwerer, Menschen im Westen davon zu überzeugen, dass nicht alle oder zumindest nicht die meisten Muslime Terroristen sind. Obwohl das eigentlich auf der Hand liegen sollte, bei geschätzten 1,57 Milliarden Muslimen weltweit. Angesichts der grausamen islamistischen Anschläge mit zahllosen unschuldigen Opfern scheint es nahezu unmöglich, eine Lanze für den friedlichen Islam zu brechen. Trotzdem will ich zumindest den Versuch unternehmen, es zu tun. Denn ich glaube an den liebenden, barmherzigen Allah und an das positive Vorbild Mohammeds für alle Muslime. Meine Religion besteht nicht nur aus Gewalt und Angst, davon bin ich fest überzeugt. Ich selbst gehöre zu den vielen friedlichen Muslimen, von deren Existenz man immer wieder hört, die aber kaum jemand zu kennen scheint.
Die Furcht vor dem Islam und die Ablehnung seiner Gebräuche nehmen bisweilen skurrile Formen an. Sogar gute Wünsche zu einem muslimischen Feiertag können in diesen Zeiten Gemüter erhitzen. So geschehen im Jahr 2016, als ich mit einem harmlosen Facebook-Post zur Regaib-Nacht (türk. Regaib Kandil) Empörung erntete. Diese Nacht bildet den Beginn der gesegneten drei Monate und fällt traditionell auf den ersten Freitag im Monat Radschab, dem siebten Monat des muslimischen Kalenders. Gebete, die in dieser Nacht gesprochen werden, gelten als besonders verdienstvoll und segensreich, und es heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass sie erhört werden, sei um ein Vielfaches höher als an normalen Tagen. Manche meinen sogar, dass Gebete in dieser Nacht auf jeden Fall erhört werden. Einige Wochen darauf folgt zunächst die Miradsch-Nacht (türk. Miraç), in der an die Himmelfahrt des Propheten erinnert wird, dann die Berat-Nacht – die Nacht der Vergebung –, bis schließlich zwei Monate nach Regaib Kandil der Fastenmonat Ramadan beginnt. Diese drei Nächte dienen der Vorbereitung auf den Ramadan. Gläubige Muslime fasten an diesen Tagen, beten und lesen im Koran, allein oder in Gemeinschaft. Sie suchen Allahs Barmherzigkeit und unternehmen alles, um sich ihm nahe zu fühlen.
Als aktive Facebook-Nutzerin hatte ich, genau wie ich es zu Weihnachten und Ostern sowie zum jüdischen Chanukkafest tue, öffentlich gepostet und allen meinen Freundinnen und Freunden frohe Regaib Kandil gewünscht. Nach dem Vorbild Margot Käßmanns schloss ich in die guten Wünsche auch meine Feinde mit ein. Die ehemalige EKD-Ratspräsidentin hatte nach den blutigen Anschlägen von Brüssel im März 2016 dazu aufgerufen, dem Terror nicht mit Hass und Gewalt, sondern mit Gebeten und Liebe zu begegnen. Sie berief sich dabei auf Jesu Worte: »Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen.« Diese Haltung ist angesichts der Brutalität solcher Terrorakte für viele Menschen schwer nachvollziehbar. Wie auch eine Reaktion auf meinen Post zu dem muslimischen religiösen Ereignis deutlich machte. Ein »Freund« schickte mir auf Facebook wütend eine Aufstellung, wie viele Menschen 2014 und 2015 von Islamisten getötet worden waren. Dem stellte er eine Liste mit Opfern christlicher Terroristen gegenüber, deren Zahl deutlich geringer ausfiel als die der Opfer von fanatischen Muslimen.
In meinem Jurastudium habe ich gelernt, dass man Leben nicht gegeneinander aufrechnen darf. Meine Moral und meine Ethik verbieten mir das ohnehin. Ich weigere mich, von Terroristen getötete Menschen in Zahlenkolonnen einander gegenüberzustellen. Nicht um den islamistischen Terror zu verharmlosen, sondern um mich nicht auf dieselbe Stufe zu stellen und zwischen vermeintlich wertvollem und vermeintlich unwertem Leben zu unterscheiden. Beziehungsweise überhaupt Menschen nach ihrer Religion oder Herkunft zu sortieren.
Die islamistischen Attentate schaden meiner Ansicht nach ohnehin vor allem dem Islam selbst. Wir müssen unsere Religion vor diesen Fanatikern retten! Dazu gehört, dass wir modernen, liberalen Muslime uns mit noch größerer Leidenschaft als bisher bemühen sollten, dem zeitgemäßen Islam ein Gesicht zu geben. Wir sollten uns um Reformen, um Erneuerungen bemühen, und ein wichtiger Ansatzpunkt dafür ist, dass wir über die Zeitgebundenheit unserer heiligen Schriften aufklären. Genau wie die Bibel kann man den Koran nicht in allen Punkten wörtlich nehmen.
Nun gibt es aber Menschen, die der Ansicht sind, der Islam sei nicht reformierbar. Das verkünden die konservativen muslimischen Verbände in Deutschland, aber auch viele Islamkritiker, beide Seiten mit der Begründung, der Koran sei das Wort Gottes, und das könne man nicht verändern. Islamhasser argumentieren sogar, der sogenannte Islamische Staat tue genau das, was Mohammed auch tun würde, nämlich die Ungläubigen bekämpfen und die gesamte Welt islamisieren. Die Terroristen legitimierten ihr Tun schließlich mit Zitaten aus dem Koran und den Hadithen, den Überlieferungen der Aussprüche und Taten Mohammeds und seiner Zeitgenossen. Ja, das stimmt, das machen die Islamisten. Insofern ist die oft gehörte Entschuldigung »Das hat alles nichts mit dem Islam zu tun« falsch. Natürlich hat es etwas mit dem Islam zu tun, wenn Muslime aus vermeintlich religiösen Gründen Bluttaten begehen und die ganze Welt missionieren wollen. Es trifft aber selbstverständlich nicht zu, dass diese mörderischen Taten mit dem Glauben an die allumfassende Barmherzigkeit Allahs vereinbar sind, den die große Mehrheit der Muslime praktiziert. Nirgendwo steht geschrieben, dass wir Muslime aufgerufen sind, uns zu jeder Zeit zu bewaffnen und Ungläubige zu töten oder zum Islam zu bekehren. Im Gegenteil, die Islamisten ignorieren vollkommen, dass Gläubige keinen Zwang ausüben sollen, wie es zu Beginn von Sure 2, Vers 256 heißt: »In der Religion gibt es keinen Zwang (d. h. man kann niemanden zum (rechten) Glauben zwingen).« (Paret)1 Die meisten Muslime kennen diesen Vers und leben friedlich danach.
Wenn wir liberalen, weltoffenen Muslime dem sogenannten Islamischen Staat, al-Qaida, den Taliban, Boko Haram, der Hamas und wie sie alle heißen nichts entgegensetzen, wenn wir ihnen unsere Religion überlassen, dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn sie immer weiter Hass und Gewalt säen. Dasselbe gilt für unsere Haltung gegenüber fundamentalistischen, konservativ-islamischen Staaten wie Iran, Katar, Saudi-Arabien und inzwischen teilweise sogar der Türkei. Auch diesen unterdrückerischen Regimen müssen wir Einhalt gebieten oder es im Rahmen unserer Möglichkeiten zumindest versuchen. Denn Menschen sind nicht nur für das verantwortlich, was sie tun, sondern auch für das, was sie unterlassen. Der Begriff »unterlassene Hilfeleistung« ist zwar eine juristische Kategorie und hier sicher nur im übertragenen Sinne anwendbar. Er macht jedoch deutlich, dass sich jeder Muslim und jede Muslimin die folgende Frage gefallen lassen muss: Was tust du dagegen, dass deine Religion derart missbraucht und diskreditiert wird?
Ein erster Schritt gegen die verbreitete Ohnmacht im Angesicht dieser historischen Herausforderung könnte sein, dass wir uns auf die friedlichen Grundlagen unserer Religion besinnen und einen Islam praktizieren, der sich gegenüber jedem Leben demütig zeigt. Allein und in der Gemeinschaft von Gleichgesinnten, so wie es all diejenigen tun, die die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee mit mir gegründet haben.
Den Terroristen mit Liebe zu begegnen, so wie Margot Käßmann es zumindest auf spiritueller Ebene gefordert hat, ist eine Art des Umgangs mit Feinden, die dem Islam nicht fremd ist. Auch wenn das Thema Nächstenliebe bei Mohammed nicht so offensichtlich im Vordergrund stand wie bei Jesus, gibt es im Koran durchaus Stellen, die sich mit dem Gebot der Feindesliebe im Christentum vergleichen lassen. So heißt es in Sure 41, Vers 34–35:
»Nicht gleich sind die gute und die schlechte Tat. Wehre ab mit einer Tat, die besser ist, da wird der, zwischen dem und dir eine Feindschaft besteht, so, als wäre er ein warmherziger Freund. Aber dies wird nur denen verliehen, die geduldig sind, ja, es wird nur dem verliehen, der ein gewaltiges Glück hat.« (Khoury)
Und mein Vater pflegte zu sagen: »Wenn jemand schlecht zu dir ist und dir Böses tut, dann beschäme ihn mit deiner Güte, tue etwas Gutes für diesen Menschen. Bleibe gut, was auch immer geschieht.« Ich wusste oder spürte vielmehr, dass es einen religiösen Hintergrund hatte, wenn er so etwas sagte und mehrheitlich danach handelte. Wie die allermeisten Muslime war er aber nicht koranfest und konnte mir seine Überzeugungen nicht im Detail mit Belegen aus den Schriften erklären. Er sagte meist nur: »Das entspricht unserer Religion und unserem Glauben.«
Die Liebe zu Gott und meinen Mitmenschen steht auch für mich im Zentrum unserer Religion und gibt mir unendlich viel Kraft. Gleichwohl bin ich der Ansicht, dass diese selbstlose Form der Nächstenliebe dort Grenzen haben muss, wo wir es mit Terror zu tun haben, sei er politisch oder religiös motiviert. Als Muslimin kann ich den bewaffneten Widerstand gegen den IS gut verstehen, obwohl ich eigentlich Pazifistin bin. Leider ist es wohl unvermeidlich, Krieg gegen Terroristen zu führen, die so viele unschuldige Menschen mit in den Tod reißen. Noch dazu mit der wahnwitzigen Vorstellung, dass zumindest die Männer dafür von Allah mit 72 Jungfrauen belohnt werden. Jungfrauen, die sich immer wieder erneuern und weder menstruieren noch schwanger werden können. Was sagen eigentlich aufgeklärte Gläubige dazu, wenn Fanatiker jungen Menschen solch abstruse Männerphantasien derart glaubhaft vermitteln, dass die sich einen Sprengstoffgürtel umbinden und sich in einer Menge angeblich Ungläubiger in die Luft sprengen? Natürlich lehnen alle Menschen in meiner näheren Umgebung diese Form der Glaubensvermittlung ab. Dennoch erlebe ich erschreckend oft, dass sogar aufgeklärte Männer den Gedanken reizvoll finden, eventuell könnten wirklich 72 Jungfrauen im Paradies auf sie warten, wenn sie auf Erden gute Muslime waren.
1 Der in Klammern gesetzte Name hinter Zitaten aus dem Koran bezieht sich auf die jeweils verwendete Übersetzung (genaue Angaben siehe Literaturverzeichnis).
Die Biographien nahezu aller islamistischen Selbstmordattentäter stimmen insofern überein, als ihre Radikalisierung in Moscheegemeinden und sozialen Medien stattgefunden hat. In Berlin konnte man das zuletzt am Fall von Anis Amri sehen, der kurz vor Weihnachten 2016 mit einem LKW auf den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche fuhr, 12 Menschen tötete und Dutzende teils schwer verletzte. Vor der Tat hielt er sich regelmäßig in einer Moschee in Berlin-Moabit auf, die glücklicherweise inzwischen geschlossen wurde.
Obwohl seit vielen Jahren bekannt ist, wie junge Männer zu Attentätern werden, fehlt es an Gegenprogrammen. Warum überfluten friedliche Muslime die sozialen Medien nicht mit Videos über den barmherzigen Islam? Warum arbeiten deutsche Moscheegemeinden nicht Hand in Hand mit Schulen gegen die Radikalisierung junger Menschen? Warum rufen nicht viel mehr Moscheevereine soziale Projekte für Jugendliche ins Leben, denen es an Orientierung mangelt?
Hier fehlt nicht nur eine Gegensteuerung, viele Moscheegemeinden verschärfen das Problem sogar noch, indem sie einen rückwärtsgewandten Islam vermitteln. Sie erstellen Gutachten, um muslimische Schülerinnen vom Biologie- und Schwimmunterricht zu befreien oder von der Teilnahme an Klassenfahrten zu entbinden. Sie unterstützen nachdrücklich das Kopftuch bei jungen Mädchen, fordern muslimische Gebetsräume in Schulen und predigen, man solle seine Kinder nicht zu Geburtstagen oder anderen Feierlichkeiten bei christlichen Familien gehen lassen. Unabhängig von den vielerorts üblichen Hasspredigten gegen die Mehrheitsgesellschaft hat eine große Zahl der in Deutschland aktiven Imame ein gelinde gesagt gestörtes Verhältnis zur Demokratie, zur Gleichberechtigung der Geschlechter, zu Homosexualität.
Aus der Schweiz kam im Frühjahr 2016 die Nachricht, ein Schulleiter habe zwei 14 und 15 Jahre alten Jungen zugestanden, dass sie ihrer Lehrerin zur Begrüßung und zum Abschied die Hand nicht mehr geben müssten, so wie es an der Schule eigentlich üblich war. Die Familie hatte argumentiert, der Islam verbiete den Jungen Körperkontakt zu weiblichen Personen außerhalb der Familie. Der Vater der Kinder war Imam an einer Moschee im selben Ort und lebte bereits seit fünfzehn Jahren in der Schweiz. Später wurde berichtet, einer der Söhne habe auf Facebook IS-freundliche Posts veröffentlicht. Die zuständige Schulbehörde entschied dann zwar, dass die Schüler unter Androhung einer Geldstrafe von umgerechnet bis zu 4500 Euro der Lehrerin die Hand geben müssen, weil das zur schweizerischen Kultur gehöre, dennoch zeigt der Fall, dass aufgrund von Verunsicherung oder falsch verstandener Toleranz zunächst oft nachgegeben wird, wenn Eltern sagen: »Das verlangt unsere Religion.« Der Fall wurde meines Erachtens auch deshalb am Ende so entschieden, weil die Öffentlichkeit inzwischen viel mehr Druck macht, wenn es gilt, falscher Rücksicht Grenzen zu setzen. Ohne das große mediale Echo wäre die Entscheidung auf Schulebene ganz sicher unangetastet geblieben. Das zeigt jedenfalls die Erfahrung der letzten Jahrzehnte bei vergleichbaren Fällen. Schulleiter und Lehrer weichen Auseinandersetzungen oft aus, wenn es beispielsweise um die Teilnahme von muslimischen Mädchen an Klassenfahrten geht. Man hängt die Dinge lieber nicht an die große Glocke, aus Angst vor Auseinandersetzungen mit den Eltern oder kritischer Berichterstattung in den Medien.
Wichtig ist die Entscheidung dieser Schweizer Schulbehörde insbesondere deshalb, weil hier unmissverständlich klargestellt wurde, dass das öffentliche Interesse an der Gleichstellung von Mann und Frau sowie der Integration von Ausländern deutlich schwerer wiegt als die Glaubensfreiheit. Mit dieser Einschätzung sollte sich meiner Ansicht nach unser Bundesverfassungsgericht genauer beschäftigen. Bisher haben deutsche Gerichte bei ähnlichen Grundrechtskollisionen nämlich mehrheitlich entschieden, dass die Glaubensfreiheit überwiegt.
Vor einigen Jahren gab es noch keine Berichte über die Gräueltaten des sogenannten Islamischen Staats. Damals hätte man die Entscheidung des Schweizer Schulleiters noch als Zeichen von Naivität deuten können. Heute, in Zeiten des Terrors, kann man sich in so einem Fall nur an den Kopf fassen und sagen, da hat der Westen seine eigene Verfassung nicht begriffen. Wir dürfen den Feinden der Freiheit keine Sonderrechte einräumen, damit sie unsere Freiheit beschneiden können!
In der Regel haben wir es hier nämlich nicht mit armen, unschuldigen Muslimen zu tun, die nur friedlich ihre Religion ausüben wollen. Nein, solche Leute sprechen oft ganz direkt die Sprache derer, die an den terroristischen Dschihad glauben und unsere freie Welt – also die Welt all jener Menschen, die an die Freiheit glauben und sich für sie einsetzen – von innen heraus zerstören wollen. Wer sie hofiert und unterstützt, muss sich nicht wundern, wenn sich der radikale Islamismus immer weiter ausbreitet.
In der dänischen Hafenstadt Aarhus recherchierte im Frühjahr 2016 eine Journalistin über Monate verdeckt in der Grimhojvej-Moschee und wurde Zeugin, wie der Imam offen zu Steinigungen bei Ehebruch aufrief, zu Auspeitschungen, Mord an Abtrünnigen sowie Gewalt an Kindern. Das ist nicht die erste Moschee in der EU, über die wir solche Dinge hören. Dennoch gab es meines Wissens bis Ende 2016 keine einzige staatlich angeordnete Moscheeschließung. Die von dem Attentäter Anis Amri besuchte Fussilet-Moschee kam der wegen islamistischer Umtriebe geplanten Schließung durch die Stadt Berlin im Februar 2017 zuvor und verließ die Räumlichkeiten von sich aus. Kurz darauf setzte der Berliner Innensenator das Verbot des Betreibervereins Fussilet 33 durch. Ob die Behörden bei den anschließenden Razzien genug belastendes Material fanden, um juristisch gegen den Verein vorgehen zu können, ist allerdings zu bezweifeln.
Es könnte sein, dass wegen der Umstände des Anschlags von Berlin nun endlich radikale Moscheen behördlicherseits geschlossen werden. Die Fussilet-Moschee soll bereits seit 2015 unter Beobachtung gestanden haben. Gegen mehrere weitere Moscheevereine soll es Ermittlungen geben.
Im Fall der Moschee im dänischen Aarhus konnten die Hassprediger nach einem kurzen Aufschrei in der gesamten europäischen Presse weiter Hass predigen. Vielleicht fehlte den Behörden, wie es leider häufig der Fall ist, das notwendige Beweismaterial für rechtliche Schritte. Und/oder das Personal, um Beweismaterial zu beschaffen.
Es ist fatal, dass die offenen Gesellschaften immer noch nicht alles in ihrer Macht Stehende tun, um solche Imame daran zu hindern, ihren schädlichen Einfluss auf die Gläubigen auszuüben. Sehr viele radikale Ansichten sind von der verfassungsrechtlich garantierten Meinungsfreiheit gedeckt, umso mehr sollten liberale, demokratische Muslime sich auch in konservativen Moscheen einbringen, damit dort irgendwann kein Hass mehr gepredigt wird. Und damit im Zweifelsfall jemand da ist, der die Behörden informieren kann.
Immer mehr Menschen, Männer wie Frauen, erzählen mir, dass sie sich einen Ort wünschen, an dem der friedliche, barmherzige Islam gelehrt wird, ein Islam, der im Dialog mit anderen Religionen steht. Sie wünschen sich eine Moschee fernab der etablierten konservativen Gemeinden, die keine kritischen Diskussionen zulassen und keine Zweifel an überkommenen Glaubensinhalten wie beispielsweise der Geschlechtertrennung. Diese Ungleichbehandlung von Frauen wird es in unserer Moschee nicht geben.
In Mekka beten Frauen und Männer gemeinsam, in den meisten Moscheen weltweit versammeln sie sich hingegen in getrennten Räumen. Wobei den Männern der zentrale Bereich vorbehalten ist und die Frauen entweder im hinteren Teil des Hauptraums hinter einem Paravent oder sogar in einem schmucklosen Nebenraum beten müssen. Auch in der großen Sultan-Ahmet-Moschee in Istanbul dürfen Frauen den zentralen Gebetsraum nicht betreten: Auf einem Schild ist eine durchgestrichene Frau zu sehen. An keinem anderen Ort fühle ich mich aufgrund meines Geschlechts derart diskriminiert, werde ich derart herablassend behandelt wie ausgerechnet in der Blauen Moschee. Dabei sind Frauen und Männer vor Allah gleichwertig. So heißt es zumindest an vielen Stellen im Koran, und auch in den Überlieferungen finden sich Hadithe, die auf die Gleichwertigkeit von Mann und Frau hinweisen.
Eine der wichtigsten Erzählungen dazu bezieht sich auf die Entstehungsgeschichte des Islam. Unsere Religion habe den Frauen überhaupt erst einen Wert und eine Würde gegeben, heißt es, denn in vorislamischer Zeit seien Neugeborene von den arabischen Stämmen lebendig begraben worden, wenn sie das falsche Geschlecht hatten, also weiblich waren. Diese vorislamische Unsitte findet in Sure 16, Vers 58-59 Erwähnung: »Wenn einer von ihnen von der Geburt eines Mädchens benachrichtigt wird, bleibt sein Gesicht finster, und er unterdrückt (seinen Groll). Er verbirgt sich vor den Leuten wegen der schlimmen Nachricht. Solle er es nun trotz der Schmach behalten oder es im Boden verscharren. Übel ist, wie sie da urteilen.« (Khoury)
In den anderen monotheistischen Religionen wird die Schöpfungsgeschichte in der Regel so erzählt, dass die Frau aus der Rippe des Mannes erschaffen worden sei. Das trifft für den Islam nicht zu, im Koran heißt es in Sure 4, Vers 1: »O ihr Menschen, fürchtet euren Herrn, der euch aus einem einzigen Wesen erschuf, und aus ihm seine Gattin erschuf und aus ihnen beiden viele Männer und Frauen entstehen und sich ausbreiten ließ.« (Khoury)
In Sure 2, Vers 35-36 wird zudem erklärt, Adam und Eva trügen gleich viel Schuld an ihrer Verbannung aus dem Paradies: »Und Wir sprachen: ›O Adam, bewohne du und deine Gattin das Paradies. Esst reichlich von ihm zu eurem Wohl, wo ihr wollt. Aber nähert euch nicht diesem Baum, sonst gehört ihr zu denen, die Unrecht tun.‹ Da ließ sie Satan beide vom Paradies fallen und vertrieb sie vom Ort, wo sie waren. Und Wir sprachen: ›Geht hinunter. Die einen von euch sind Feinde der anderen. Ihr habt auf der Erde Aufenthalt und Nutznießung für eine Weile.‹« (Khoury) Es gibt im Koran also keinen Anhaltspunkt dafür, dass Frauen für alle Missstände in der Welt verantwortlich gemacht werden können. Ausgenommen in einigen Hadithen, deren Echtheit aber von vielen Islamforschern bezweifelt wird.
Der erste Mensch, der mit dem Propheten Mohammed gebetet hat und dem Islam beigetreten ist, war seine Ehefrau Chadidscha (türk. Hatice), mit der er fünfundzwanzig Jahre lang monogam gelebt hat. Diese Tatsache sollte den Gläubigen in Moscheen sehr viel öfter vermittelt werden. Chadidscha war eine erfolgreiche Geschäftsfrau, verwitwet, also keine Jungfrau mehr, und sehr viel älter als der Prophet, außerdem war sie diejenige, die ihm den Heiratsantrag gemacht hat. Warum orientiert sich das Frauenbild der Muslime nicht sehr viel mehr an dieser Frau?
Unter den ersten Muslimen war es auch durchaus üblich, im Hofe des Propheten gemeinsam zu beten, weil die Gemeinde noch sehr klein war. Die Geschlechtertrennung und die Verhüllung der Frauen zum Schutz vor sexuellen Übergriffen kamen erst später.
Zwar besitzen alle monotheistischen Religionen ursprünglich patriarchale Strukturen, aber die sind – auch wenn es vielfach so scheinen mag – nicht in Stein gemeißelt. Wenn wir uns für eine zeitgemäße Auslegung unserer heiligen Schriften stark machen, können auch wir Musliminnen eine weitgehende Gleichberechtigung der Geschlechter erreichen, ähnlich wie es Christinnen und Jüdinnen geschafft haben. Dazu braucht es aber eine theologische Auseinandersetzung. Und einen Ort, an dem Debatten geführt werden können, die uns voranbringen, statt uns ins 7. Jahrhundert zurückzuversetzen, wie islamische Fundamentalisten es sich wünschen. Es braucht also viel mehr Orte wie unsere aufgeklärte Ibn-Rushd-Goethe-Moschee.
Ein wichtiger Punkt, den wir ändern werden, ist, dass bei uns Frauen genauso vorbeten können wie Männer. Zwar ist es auch anderswo möglich, dass Frauen ein Freitagsgebet leiten, nach traditioneller Lesart dürfen sie das aber nur vor ihren Geschlechtsgenossinnen tun, wie beispielsweise in den Frauenmoscheen in China, die es seit mehr als dreihundert Jahren gibt. Muslimische Chinesinnen entschieden sich damals, nicht getrennt von den Männern in derselben Moschee wie sie zu beten, sondern eigene Moscheen zu gründen. Wenn diese Frauen vor einer gemischtgeschlechtlichen Gruppe beten wollten, würden auch in China Fundamentalisten auf die Barrikaden gehen. Genauso wie sie es überall auf der Welt tun, wenn eine Frau in einer traditionellen Moschee vor Männern und Frauen vorbeten möchte, womöglich noch ohne Kopftuch.
Wir dürfen das öffentliche Bild des Islam nicht länger den konservativen islamischen Verbänden überlassen, die hierzulande in allen erdenklichen Gremien sitzen und bestimmen, was im Namen unser aller Religion propagiert und gelehrt wird. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wäre, dass Islamkundelehrer in Deutschland ausgebildet werden, statt wie bisher mehrheitlich in der Türkei. Ein Hoffnungsschimmer: Seit einigen Jahren entstehen an vielen Universitäten in der Bundesrepublik Lehrstühle und Institute für islamische Theologie. Erklärtes Ziel ist es – europäischen akademischen Standards entsprechend –, demokratisch gesinnte Lehrerinnen und Lehrer für islamischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen auszubilden. Bisher hatte die Ditib, der Dachverband der türkisch-islamischen Moscheegemeinden und Ableger der staatlichen türkischen Religionsbehörde Diyanet, jahrzehntelang vom türkischen Staat bezahlte Imame hierhergeholt, die kein Wort Deutsch sprachen und die deutsche Kultur weder kannten noch schätzten. Da muss man sich nicht wundern, wenn mit den etablierten Verbänden und Moscheegemeinden ein aufgeklärtes Islamverständnis nicht zu haben ist.
Viele traditionelle muslimische Theologen bestreiten wie gesagt, dass der Islam reformierbar, sprich veränderbar ist. Doch glücklicherweise fürchten nicht alle gläubigen Muslime den Untergang ihrer Religion, sobald die Schriften zeitgemäß interpretiert werden. Im Gegenteil, überall auf der Welt gibt es Menschen muslimischen Glaubens, die es nicht in quälende Gewissenskonflikte stürzt, wenn sie christliche oder jüdische Freunde oder gar Ehepartner haben; für die eine Begrüßung per Handschlag nicht gleichbedeutend ist mit Fremdgehen; die kein Kopftuch tragen und unbedeckte Haare nicht als nackt empfinden; die Alkohol trinken und sich dennoch zu Allah bekennen; die fünfmal am Tag beten, die fasten, Almosen geben und die Pilgerfahrt nach Mekka gemacht haben. All diesen Muslimen ist gemeinsam, dass sie neben ihrem unverrückbaren Glauben an Allah und den Propheten keinen Zwang in der Religion kennen und den Islam auch nicht zu politischen oder anderen Zwecken missbrauchen.
Für uns aufgeklärte Muslime ist der Islam selbstverständlich auch mit der Demokratie vereinbar. Das eine ist die Religion, das andere ein politisches System. So wie Christen, Juden, Buddhisten oder Hindus in einem demokratischen System leben können, so können das auch Muslime. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sie die Trennung von Staat und Religion anerkennen, wie sie in allen westeuropäischen Ländern (mehr oder weniger konsequent) vollzogen ist. In Demokratien ist kein Platz für die Scharia mit ihren gesetzlichen Regelungen, die von Konservativen als Richtschnur allen privaten und gesellschaftlichen Handelns betrachtet werden. Menschen, die den Koran, eine Schrift aus dem 7. Jahrhundert, als noch heute Wort für Wort verbindliches Gesetz ansehen. Für viele Fundamentalisten ist die Theokratie folglich die einzig legitime Staatsform. Für friedliebende Muslime wie Nicht-Muslime eine Horrorvision – siehe die Gräueltaten des sogenannten Islamischen Staates.
Wenn wir für die Befreiung unserer Religion kämpfen, wollen wir keineswegs den Islam christianisieren und entsprechend institutionalisieren. Nein, es geht darum, die Suren und Hadithe in unsere Zeit zu übersetzen, ohne den Kern unserer Religion zu verändern. Wir fragen uns: Was wollte Allah mit den einzelnen Suren zum Ausdruck bringen? Wie sind die Hadithe zu verstehen? Was würde Mohammed heute sagen?
»Bismillahirrahmanirrahim« – Im Namen Gottes des Erbarmers, des Barmherzigen: So beginnt der Koran, so beginnen fast alle Suren, und damit ist die herausragende Eigenschaft Allahs benannt, seine Barmherzigkeit. Das ist der Kern unserer Religion, darauf wollen wir uns konzentrieren.
Der persische Dichter, Gelehrte und Sufi-Mystiker Mevlana (1207–1273) hat uns Muslimen sieben Ratschläge erteilt, die in Moscheen ebenfalls sehr viel mehr gelehrt werden sollten:
»Sei großzügig und hilfsbereit wie ein Fluss.
Sei mitleidig und barmherzig wie die Sonne.
Sei wie die Nacht beim Bedecken der Fehler anderer.
Sei wie ein Toter bei Wut und Erregung.
Sei bescheiden und schlicht wie die Erde.
Sei wie das Meer vergebend und nachsichtig.
Entweder zeig dich, wie du bist, oder sei so,
wie du dich zeigst.«
Auch hier wird deutlich, dass der Islam sehr wohl das Gute, das Nachsichtige, das Ehrliche in uns anspricht. Vor allem aber die Liebe zu Gott und den Menschen.
Leider können wir nicht darauf hoffen, dass die Gewalt, die von Fundamentalisten ausgeht, von allein aufhören wird. Stattdessen müssen wir mit offenen, kritischen Debatten die Spreu vom Weizen trennen, also diejenigen bekämpfen, die Feindseligkeit predigen, und die anderen, die sich für Liebe und Vielfalt einsetzen, unterstützen. Wir brauchen keine Religionskriege à la IS. Ebenso wenig brauchen wir allerdings pauschale Kritik am Islam, die alle gläubigen Muslime über einen Kamm schert und ihre Ausgrenzung vorantreibt. Was wir brauchen, ist eine konstruktive Auseinandersetzung mit unseren Glaubensinhalten. Dafür müssen wir den Koran und die Hadithe kennen. Unter anderem zu diesem Zweck haben wir die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee gegründet: Wir wollen den friedlichen Islam an dem Ort leben und weiterentwickeln, an dem es nur um die Verbindung zwischen Allah und dem Ich geht, in der Moschee.
Wie die Idee entstand
Bis 2009 wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass ich einmal eine Moschee gründen könnte. Der Gedanke, es zu tun, ist dann über mehrere Jahre ganz allmählich in mir gewachsen, wobei einer der ersten und wichtigsten Auslöser meine Teilnahme an der Deutschen Islamkonferenz (DIK) war.
Von 2006 bis 2009 war ich Mitglied dieser Konferenz, die auf Initiative von Wolfgang Schäuble, dem damaligen Bundesinnenminister, damals gerade ins Leben gerufen worden war. Oberstes Ziel war es, die Integration der Muslime in Deutschland zu fördern, indem der Staat in einen institutionalisierten Dialog mit ihnen trat. Man lud Musliminnen und Muslime – mehrheitlich sunnitischer Ausrichtung – ein und brachte sie dazu, miteinander und mit Regierungsvertretern zu diskutieren, um gemeinsame Lösungen für gesellschaftliche und religiöse Probleme in Deutschland zu finden. Themen waren zum Beispiel das Kopftuch, die Notwendigkeit der Anerkennung der deutschen Verfassung durch die Migranten und die Forderung, dass Imame in Deutschland ausgebildet werden sollten.
Als Mitglieder für das Plenum wurden auf Regierungsseite fünfzehn Vertreter von Bund, Ländern und Kommunen ausgewählt, auf Seiten der Muslime je ein Vertreter der fünf großen muslimischen Verbände, mehrheitlich türkisch dominiert, sowie zehn Einzelpersonen aus verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens, wie Kunst, Kultur oder Wirtschaft. Eine dieser Einzelpersonen muslimischen Glaubens, neben Navid Kermani, Necla Kelek oder Feridun Zaimoglu, war ich. Man hatte mich eingeladen, weil ich als Rechtsanwältin und Frauenrechtlerin dafür bekannt war, mich besonders für die Rechte muslimischer Frauen einzusetzen.
Die Gesandten der Verbände verbrachten viel Zeit damit, sich über uns Einzelpersonen auszulassen, weil wir ihrer Ansicht nach keine rechtmäßigen Repräsentanten des Islam seien, schließlich äußerten wir uns in der Öffentlichkeit angeblich immer nur kritisch über unsere Religion. Zudem vertraten wir ihrer Ansicht nach weder eine Gemeinde, noch sei erkennbar, für wen, außer uns selbst, wir unsere Stimme erheben könnten. Selbstverständlich hielten wir Unabhängigen mit unserer Kritik an den konservativen Verbänden ebenfalls nicht hinter dem Berg. So machten wir deutlich, dass überhaupt nur 15 Prozent aller Muslime in Deutschland in den Verbänden organisiert waren und auch kaum mehr deren Moscheen besuchten.
Neben den jährlichen Plenumssitzungen, in denen nur grobe Leitlinien besprochen wurden, gab es Arbeitsgruppen, die sich sehr viel detaillierter mit verschiedenen kontroversen Themen befassten und sich alle zwei Monate trafen. Ich war sowohl Mitglied des Plenums als auch einer Arbeitsgruppe zu »Religionsfragen im deutschen Verfassungsverständnis«. Die beiden anderen Arbeitsgruppen befassten sich mit der Werteordnung des Grundgesetzes sowie dem Beitrag, den Medien und Wirtschaft für eine bessere Integration leisten könnten.
Eines der wichtigsten Ziele meiner AG war, eine Basis für die Einführung des neuen Schulfachs »Islamischer Religionsunterricht« in deutscher Sprache zu schaffen. Als Erfolg ist daher zu bewerten, dass wir 2008 ein entsprechendes rechtliches Grundlagenpapier vorlegen konnten. Umgesetzt werden musste das dann in den einzelnen Bundesländern, die ja die Bildungshoheit innehaben.
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