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Wie können Wissenschaftler*innen ihren Universitätsalltag verbessern? Dieses Selbstcoaching-Buch lädt Wissenschaftler*innen ein, ihre Arbeits- und Schreibprozesse neu zu gestalten. Sie entdecken die Bedingungen ihrer Schreibproduktivität und überprüfen den eigenen Arbeitsalltag mithilfe von Coachingfragen. Im anforderungsreichen Forschungsalltag werden so mehr Lebensqualität und Freiräume gewonnen: für ein gutes und produktives Schreibleben.
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Seitenzahl: 182
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Die Autorin:Katja Günther, M.A., systemische Schreibcoachin und Mitgründerin des Schreibaschram, Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet Uber https://portal.dnb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten.© 2020 Verlag Barbara Budrich GmbH, Opladen & Torontowww.budrich.de
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unterwww.utbshop.de.
Satz: Ulrike Weingärtner, Gründau – [email protected]: Atelier Reichert, StuttgartTitelbildnachweis: Neue Fachlichkeit | Scherübl Günther GbR – schreibaschram.deIllustrationen: Sarah Neuendorf
Vorwort
Prof. Dr. Stephan Porombka
Selbstcoaching in der Wissenschaft – wie das Schreiben gelingt
Nehmen Sie Ihr Arbeitsleben in die Hand
Von Goethe lernen
Vor dem Schreiben
Konzentration einladen – Denken vertiefen
Wie soll ich mich nur disziplinieren? – Freiheit durch Struktur
Endlich taktlos – den eigenen Biorhythmus kennen
Zurück auf Null! – große und kleine Zeitpläne
Beim Schreiben
Stresslust entdecken – Schreibzeitfenster planen
Den Flow bezirzen – das Gehirn in Fluss bringen
Assoziativ oder chronologisch: Welcher Schreibtyp sind Sie?
Sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen – die fünf Schreibphasen
Raushauen: erst rohtexten, später überarbeiten
Zwischen dem Schreiben
Ist das jetzt eine Pause oder nicht? Pausenexzellenz erlangen
Schreibleben in Bewegung – den Körper fürs Schreiben nutzen
Achtsamkeit und Schreiben – die innere Beobachterposition
Nach dem Schreiben
Was Sie anmacht – das eigene Belohnungssystem
Stellung beziehen – die eigene Position
Zutaten für Eustress – die innere Motivation
Tun Sie Muße – frische Ideen, keine Ideen
Hinter dem Schreiben
Wissen, was zählt – tiefere Motive
Was, wenn alles auffliegt? – Ihr innerer Hochstapler
Der Feind weiß sowieso Bescheid – die Kritiker ins Boot holen
Gut, wenn Sie Angst haben – Unsicherheit aushalten
Um das Schreiben herum
Grenzen setzen – nein sagen
Konkurrenz ausschalten – co-kreativ arbeiten
Wissenschaftliches Schreiben – mit Kind und Kegel
Doktoreltern, fast wie Familie – den Kontext sehen
Das Schreiben wirklich leben
Grenzenloser Spaß? – unbekannte Räume
Das Feuer am Leben erhalten – Ihre Kraftgrenzen
Ihr perfekter Arbeitstag
Das gute Leben und Arbeiten – wie es wirklich gelingt
Und jetzt Ihr persönlicher Zauberzirkel…
Anhang
Checkliste für kleinste Veränderungsschritte
Manifest fürs gute Schreiben
Kollegiale Beratung
Literatur zum Weiterlesen
Wenn es erst einmal gedruckt ist, sieht so ein Vorwort ganz fest und stabil aus. Dabei muss es ja überhaupt erstmal entstehen. Dieses Vorwort hier zum Beispiel entsteht gerade, eben, jetzt. Wort für Wort, Satz für Satz, in einem ständigen Hin und Her zwischen Schreiben und Lesen, Weiterschreiben und Wiederlesen und Streichen und Ergänzen und nochmal Lesen und darüber Nachdenken.
So viel Bewegung, so viel Leben ist in diesem Text, dass ich zwischendurch den Eindruck habe, dass ich es gar nicht richtig kontrollieren kann. Dann denke ich: Ich muss es ruhig ein bisschen laufen lassen. Oder: Ich laufe mit. Oder: Ich steuere ein bisschen dagegen, bis wir wieder in einem Rhythmus, in einer Richtung, in einer Bewegung sind.
Dieses Vorwort gerade, eben, jetzt zu schreiben, heißt aber noch viel, viel mehr. Die Schreibbewegungen finden am Laptop statt. Ich sitze an meinem Arbeitstisch, in meinem Arbeitszimmer, in meiner Schöneberger Wohnung. Ich sitze hier kurz nach dem Frühstück, bei dem ich die Tageszeitung gelesen habe, ein Hörbuch gehört und beim Nebenbei-Nachdenken über dieses Vorwort ein paar Ideen über das Schreiben in mein Notizbuch geschrieben habe. Jetzt liegt das Notizbuch neben mir, ich blättere ab und zu darin. Ich schaue in ein paar Bücher hinein, die um mich herumliegen. Ich denke die Notizen über das Schreiben weiter. Dann schreibe ich wieder ein bisschen am Vorwort. Ich lese, streiche, ergänze, denke nach.
In ein paar Minuten steige ich aufs Fahrrad. Dann radle ich zur Universität, wo ich mit Studierenden ihre Texte bespreche. Ich werde mich über Ausdrucke beugen. Ich werde mit den AutorInnen laut lesen oder mir von ihnen vorlesen lassen. Wir werden dann im Detail besprechen, wie der Text entstanden ist und ob und wie er funktioniert. Dafür bringe ich meine Erfahrungen mit dem Schreiben von Texten mit – wozu dann auch die ganz konkrete Erfahrung der Arbeit an diesem Vorwort gehört. Zugleich mache ich im Gespräch [8] mit den Studierenden nächste Erfahrungen. Die nehme ich nachher in die nächste Arbeitsrunde für das Vorwort mit.
Je genauer ich darüber nachdenke, was ich mache, wenn ich schreibe, umso mehr wundere ich mich über das komplexe Ineinander von so vielen kleinen Aktivitäten. Ich erkenne, dass die Arbeit am konkreten Text mit der Organisation meiner Lektüren, mit der Einrichtung meiner Räumlichkeiten, mit der Abstimmung meiner Zeiten, mit meinen Gesprächen, mit Spaziergängen, mit dem Musikhören, natürlich auch mit der Arbeit an anderen Texten zu tun hat – und über das alles tatsächlich mit meinem ganzen Leben verschaltet ist.
Das Buch von Katja Günther erinnert mich daran, dass es diese Verschaltung, dieses komplexe Ineinander von Leben und Schreiben gibt! Das Buch erinnert mich auch daran, dass mein Spaß am Schreiben, meine Lust am Text, meine Energie für nächste Schreibprojekte nichts Zufälliges ist.
Mit diesem Buch wird mir nochmal auf so freundliche und doch bestimmte Weise klargemacht: Dass ich immer weiter so gerne schreiben mag, ist das fortlaufende Zwischenergebnis der Einrichtung und Weiterentwicklung meiner Schreibwerkstatt, die eigentlich die Einrichtung und Weiterentwicklung meines Schreiblebens ist.
Das Buch von Katja Günther erinnert uns alle also daran, dass wir niemals nur an einem Text arbeiten. Wir arbeiten immer zugleich an einer Art Lebenskunst. Und umgekehrt erinnert sie uns daran, dass die Lebenskunst auch dazu dienen muss, immer auch an diesem einen wichtigen Text arbeiten zu können, an dem wir gerade, eben, jetzt schreiben müssen.
Dass mir Katja Günther dabei keine Vorschriften macht, entspannt mich sehr. Denn es würde gar keinen Sinn machen, unsere vielen Schreibwerkstätten alle nach gleichem Muster einzurichten. Erst recht lassen sich unsere vielen unterschiedlichen Schreibleben nicht auf dieselben Ziele ausrichten. Wir alle schreiben anders. Und wir leben anders mit unseren Notizen, Texten, Büchern, Publikationen.
Aber wir können uns von Katja Günther dieselben Fragen stellen lassen. Und wir können uns von ihr Hinweise und Tipps geben lassen. Um uns die Augen zu öffnen. Um uns zum Nachdenken zu [9] bringen. Um uns zum Experimentieren mit unseren Schreibleben anleiten zu lassen. Um damit herauszufinden, wie bei jeder und jedem von uns die vielen Aktivitäten immer besser ineinander verwoben werden könnten.
Dieses Buch ist also kein Regelbuch. Es ist auch kein Lösungsbuch. Es ist ein Buch, das uns gut in unserer Werkstatt, in unserem Schreibleben und bei unserer Arbeit am konkreten Text begleiten kann. Zum Beispiel gerade, eben, jetzt. In meiner Schöneberger Wohnung. In meinem Arbeitszimmer. An meinem Arbeitstisch. An meinem Laptop, an dem ich diese Fassung des Vorworts erst einmal beende – und jetzt ein bisschen spazieren gehe. Denn auch das Spazierengehen gehört ja zum Schreiben dazu.
Prof. Dr. Stephan Porombka, April 2020
In diesem Buch möchte ich mich dem guten Leben, Schreiben und Arbeiten im Universitätsalltag von Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftlern annähern. Ich möchte Sie dabei begleiten, Ihr Alltags- und Arbeitsleben und vor allem Ihr Schreibleben noch besser zu gestalten – soweit das unter den Bedingungen einer universitären Arbeitsroutine in der digitalisierten Welt möglich ist. Ich möchte Sie zu einem Leben ermutigen, in dem sich Ihre täglichen Pflichten und Aufgaben, das ganz normale Alltagsleben und das Schreiben als Kernkompetenz der Geisteswissenschaft geschmeidig miteinander in Einklang bringen lassen. Ich möchte Sie zu einem guten Schreibleben verführen.
Als Schreibcoach begleite ich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlichsten Alters, aller Karrierestufen und verschiedenster Fachgebiete und bekomme neben all den immer wieder auftauchenden Schreibfragen auch einen Einblick in das tägliche Arbeits- und Alltagsleben meiner Klientinnen und Klienten. Und dieses Leben spielt für die gelingende Selbstorganisation beim Schreiben eine viel größere Rolle, als wir oftmals meinen. Das Schreiben als die eigentliche Hauptexpertise von wissenschaftlich Forschenden wird ja im universitären Alltag oft an den Rand gedrängt und durch vielfältige andere organisatorische und verwaltungstechnische Rahmenbedingungen, Pflichten und Anforderungen [12] überlagert. Es gibt wenig äußere oder auch innere Räume, die echte Konzentration, Versenkung und wirklich sachbezogenen kollegialen Austausch möglich machen. Damit meine ich die Art von Austausch, bei der es nicht um den Kampf um Anerkennung geht, sondern um einen echten Dialog, bei dem man sich gegenseitig zuhört und dann laut denkend gemeinsam neue Positionen erforscht.
In den vielen, vielen Coachings meiner Beratungstätigkeit habe ich festgestellt, wie sehr die scheinbar unhinterfragbaren Vorgaben des akademischen Lebens immer auch in die alltägliche Lebenspraxis, in die Freizeitgestaltung, die Freundschaften und natürlich auch in die partnerschaftlichen Beziehungen meiner Klientinnen und Klienten hineinwirken. Dieser gesamte individuelle Lebenskosmos hat starken Einfluss auf die realen Schreib- und Denkzeiten, die wissenschaftlich Arbeitende bewusst einfordern, sich real nehmen und dann auch wirklich einhalten (können).
Eine weitere Motivation für dieses Buch entstand aus meinen konkreten Erfahrungen im Schreibaschram, den ich mit meiner Kollegin Ingrid Scherübl ins Leben gerufen habe. Eine säkulare Klostersimulation ermöglicht als Antwort auf den Mangel an Räumen und Zeiten im universitären Alltag konzentriertes Schreiben. Gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verbringen wir eine Woche in einem Seminarhaus auf dem Land und bieten dort einen strukturierten Tagesrahmen, in dem Denken, Schreiben und geistiger Austausch geschehen können. Dabei freuen wir uns jedes Mal aufs Neue darüber, wie die Teilnehmenden in dieser Inszenierung von klösterlicher Tagesstruktur abseits vom hektischen Alltagstreiben wieder ihre eigene Produktivität und Konzentration erleben und wie positiv sich dies auf ihre Schreibprojekte und natürlich auch auf das gesamte Wohlbefinden auswirkt. Nach dem einwöchigen Aufenthalt schaffen es viele, die hier individuell erlebten Prinzipien ihrer Schreibproduktivität auch in ihr Alltagsleben zu übertragen: Sie bilden kleine Schreibgruppen mit lebendigem Austausch oder Online-Gruppen und vor allem entwickeln sie neue Gewohnheiten, die das tiefe eigene Denken und Schreiben befördern. Schreib-Flow kann man lernen! Also bilden auch die vielfältigen Erfahrungen der teilnehmenden Menschen des Schreibaschrams den Erfahrungsschatz, aus dem sich dieses Buch speist.
[13] „Das gute Leben und Arbeiten“ ist mein Leitsatz in meiner Arbeitsrolle als Coach und auch für mich als Mensch. Wichtig ist mir, ihn auch zu leben: Arbeiten, Schreiben und Alltag, Wechsel von Anstrengung und Entspannung, tiefe Konzentration und gute, erholsame Pausen gehören zusammen. Aus ihnen besteht das Schreibleben. Alles, was ich lehre und unterstütze, habe ich mir für mein eigenes Schreiben eingerichtet: die Tagesstruktur gestalten, Rückzug, nein sagen, rohtexten, mir eine gute und schöne Arbeitsumgebung schaffen und vieles mehr. Das Wissen aus vielen Schreib-Coachings und den einzigartigen Lebens- und Arbeitsgeschichten meiner Klientinnen und Klienten und die gebündelte Praxis aus mehr als 15 einwöchigen Schreibaschrams werde ich Ihnen im Laufe der nächsten Kapitel zur Verfügung stellen. Vordergründig wird es immer wieder um das Schreiben gehen, die Kerndisziplin des akademischen Lebens. Mir ist im Laufe meiner Arbeit als Schreibcoach und Gestalttherapeutin anhand der vielen verschiedenen Lebensgeschichten meiner Klientinnen und Klienten deutlich geworden, dass Schreiben immer innerhalb einer sehr individuellen und komplexen Lebensorganisation stattfindet – oder eben nicht genug stattfindet. Schreiben wie auch Denken, von dem es kaum zu trennen ist, verlangt einen inneren und einen äußeren Raum, Rückzug von Ablenkungen oder eine konstruktiv unterstützende Gemeinschaft, in der sich das eine wie auch das andere entfalten kann. Es erfordert einen Raum, in dem auch Vorläufigkeit und Fehler ihren platz haben dürfen, ja sogar müssen. Überarbeitungsschritte und Nachbesserungen erfolgen beim Schreiben schließlich schrittweise, so wie auch Denkklarheit oft erst beim lauten Aussprechen im Dialog entsteht. Kleist hat dies in seinem Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ beschrieben. Eine solche allmähliche Verfertigung lässt sich ebenso beim Schreiben beobachten als eine Bewegung, in der Wort für Wort und Formulierung für Formulierung immer wieder neu gesucht und für gut und stimmig befunden werden müssen. Diese Prozesshaftigkeit des Schreibens ist auch mit der Prozesshaftigkeit des Lebens eng verbunden: Bei beidem wissen wir im Voraus nicht, wie es sich entwickeln wird. Bei beidem müssen wir auf den nächsten Schritt vertrauen. Ein Gedanke wird zu einem Satz und daraus erst folgt der nächste Satz oder Schritt oder Absatz. Es lohnt sich also, eine konzentrierte und förderliche Arbeitsumgebung zu [14] kreieren, um dem eigenen Denken Raum und Zeit zu geben. Dafür müssen wir unsere Schreibumstände aktiv gestalten. Ich möchte Sie ermutigen, Ihre eigene Schreibstimme zu stärken und damit gleichzeitig auch das Eigene im Leben weiterzuentwickeln: Ihre ganz persönlichen Maßstäbe und Werte – manchmal eben auch gegen Widerstände von außen.
Es gibt immer Wege. Und natürlich arbeiten die wenigsten von Ihnen auf Stellen mit festem Gehalt, sondern vielleicht sogar unter den prekären Bedingungen befristeter, schlecht bezahlter universitärer Arbeitsverhältnisse. Sie sind vielleicht Doktorand in einem dreijährigen Promotionsförderungsprogramm einer Graduiertenschule oder Doktorandin eines Exzellenzclusters. Und vielleicht merken Sie, dass Sie für Ihre Promotion im Grunde noch ein viertes Jahr brauchen. Wenn nicht mehr. Sie arbeiten möglicherweise auf einer zeitlich knapp bemessenen Stelle als Postdoc, als wissenschaftliche Mitarbeiterin, als Professor oder Professorin, eigentlich zusätzlich zur Forschung als Projektanstoßer oder Geldlockermacherin. Schreiben müssen Sie schließlich alle!
Ich möchte Ihnen Mut machen, die Vorteile eines geisteswissenschaftlichen Alltags aktiv zu nutzen und nicht nur die – in jedem Fall realen – Nachteile, Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten zu beklagen. Leben Sie stärker die Vorteile Ihres akademischen Lebens, die es im Gegensatz zu anderen Berufen zu bieten hat. Lassen Sie sich von diesem Buch mit einem frischen Blick durch Ihren Arbeitsalltag führen. Der Spagat zwischen universitärem Alltag und der eigenen Forschung ist nicht immer einfach. Vielleicht spüren Sie auch, dass Sie aufpassen müssen, sich nicht zu sehr zu erschöpfen. Viele Arbeitsprozesse müssten ja im Grunde schon lange einmal generalüberholt werden. Strukturelle Veränderungen sind ein mühseliger und langsamer Prozess.
Fangen Sie also in Ihrem eigenen Leben an, Dinge anders zu machen: im ganz Kleinen, im Alltag, in Minischritten. Es ist lohnenswert, sich manche Freiheiten aktiv zurückzuerobern, sich manchen der unausgesprochenen Routinen und Regeln zu widersetzen und bei den eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen eines guten Lebens neu anzusetzen, damit Sie es wieder bewusster leben – beim Arbeiten wie auch in Mußezeiten. Ich möchte Sie dazu ermutigen, Ihr Schreib- und Arbeitsleben in die Hand zu nehmen und es mit [15] mehr Flow, Schreib-Leichtigkeit und Lebensfreude in ein produktives Schreibleben zu verwandeln. Schaffen Sie sich schrittweise bessere individuelle Produktivitätsumstände! Wenn ich Ihnen jetzt ein bisschen Lust darauf gemacht habe: Schön, dann kann es losgehen.
In einer Woche Schreibaschram in einem schönen Seminarhaus auf dem Land mit Vollverpflegung können wir natürlich leicht ideale Denk- und Schreibbedingungen schaffen. Die Abgeschiedenheit, die klare Struktur, das tagsüber ausgeschaltete Internet, die Gemeinschaft, der Austausch im kollegialen Kreis und all das in wunderschöner Natur kreieren einen Kosmos, der Produktivität fördert. In Ihrem normalen Alltagsleben lässt sich das natürlich nicht so einfach nachbilden. Stephan Porombka, Professor an der Universität der Künste in Berlin, und neben Professor Thomas Schildhauer einer der beiden Schirmherren des ersten Pilot-Schreibaschrams 2014, bezeichnet in seinem Buch Experimentieren mit Twitter, Blogs, Facebook & Co., S.15, „Prozesse, in denen Zeit, Orte und Interaktionen so organisiert sind, dass sie das Schreiben verstärken“ als den Goethe‘schen „Zauberzirkel“. Der Begriff des Zauberzirkels geht ursprünglich auf Karl Ludwig Knebel zurück, einen Zeitgenossen und Freund Goethes. Dieser sah das Goethe’sche Wohnhaus am Frauenplan in Weimar als eine extrem kreative, produktivitätsfördernde Anordnung von Räumen und Interaktionen an, die genau dadurch Goethes Schreiben täglich befeuern konnten. Wenn man bedenkt, wie unendlich viel Goethe Zeit seines Lebens geschrieben und geforscht hat, muss er also irgendetwas besonders richtig gemacht haben. Schauen wir also einmal, wie genau Goethe sein Schreib- und Forscherleben in der Alltagsumgebung seines Hauses organisiert hat. Hier ein Bild vom Grundriss seines Hauses in Weimar:
© Klassikstiftung Weimar, Bearbeitung Elena Schmitz, Business Design Thinking
[16] Das Haus wurde von Goethe baulich so verändert, dass die Räume zirkulär angeordnet sind, wobei Wohn- und Arbeitsräume gemischt nebeneinander liegen. Jeder dieser Räume hatte eine bestimmte Aufgabe: Es gab Wohnzimmer, Schlafzimmer, Ruheräume, Schreibräume. Zimmer mit Bibliotheken, Sammelkammern, Ausstellungsräume mit unglaublich vielen Artefakten, die Goethe im Laufe seines Lebens aus vielen Ländern zusammengetragen hat. Es gab Essräume, [17] in denen sich Besucher trafen und miteinander diskutierten. In einem Raum arbeiteten seine Schreiber, so dass er frische Ideen direkt aufs Papier diktieren konnte. Alle Zimmer sind so miteinander verbunden, dass sich auf einem Rundgang durch das Haus unterschiedlichste Anregungen durch die vielen Exponate, Austausch mit interessanten Gästen, Denken, Schreiben, Mahlzeiten einnehmen und Ruhen gegenseitig befruchten und intensivieren konnten. Wer das Goethehaus in Weimar schon einmal besucht hat, weiß auch, mit was für wunderbar intensiven Farben die Wände bemalt sind, wie schön das Mobiliar, wie interessant die vielen Statuen sind und wie überhaupt die gesamte Architektur eine besondere und anregende Ästhetik hat.
Meine Kollegin Ingrid Scherübl hatte zunächst das Grundkonzept eines indischen Aschrams auf ein Schreib-Retreat für wissenschaftlich Schreibende übertragen. Nach dem Vorbild des Goethe’schen Zauberzirkels arbeiteten wir daraufhin neun für das Gelingen so einer Schreibwoche auf dem Land wichtige Faktoren heraus, die das Forschen, Denken und Schreiben effektiv befördern – und die gleichzeitig das allgemeine Lebensgefühl positiv beeinflussen. Diese einzelnen Faktoren und ihnen zugeordnete Kompetenzen generieren durch ihr Zusammenspiel einen „Zauberzirkel der Produktivität“. Unser Zirkel setzt sich aus den folgenden ganz weltlichen, ineinandergreifenden Elementen zusammen: Tagesstruktur, Rückzug, Reduktion, Gemeinschaft, Unterstützung, Bewegung, Meditation, Pausen und Reflexion. Diese Neun sind eng miteinander verflochten und wirken so zusammen, dass sich die Konzentration vertiefen kann und große Produktivität ermöglicht wird – während gleichzeitig die Lebensqualität steigt. Jeder dieser neun Faktoren befördert mindestens eine der zugeordneten Kompetenzen und kann so, wenn er wirklich Raum im Alltag bekommt, Kraftressourcen für ein gelingendes Schreiben und Leben freisetzen. Die neun Kern-Kompetenzen für das Produktivsein selbst lassen sich oftmals mehreren der Faktoren zuordnen, so dass man den inneren Kreis auch verschieben kann. Der Zirkel verstärkt sich dadurch selbst. Genau in dieser Wechselwirkung und gegenseitigen Durchdringung entsteht also der „Zauber“ des gelingenden Schreiblebens.
Zauberzirkel der Produktivität im Schreibaschram von Scherübl/Günther. (Illustration Lena Hesse)
[18] Die Idee dieses Buches ist, dass auch Sie sich am Ende der Lektüre Ihren eigenen Zirkel der Produktivität aus universitärem Alltag und Privatleben schaffen können. Es geht also nicht nur um reale Räume, sondern auch um Ressourcen, Abläufe, Introspektion, Interaktionen mit anderen; es geht auch darum, die Natur und Ihren Körper miteinzubeziehen. Die neun Faktoren und die durch sie beförderten Kompetenzen werden Sie immer wieder finden.
Sie können das Buch von vorne nach hinten lesen. Oder Sie können sich einfach von der interessantesten Überschrift locken lassen und dort anfangen. Die in den Kapiteln vorgestellten Elemente verschränken sich und lassen sich gar nicht wirklich trennen. Wichtig ist bloß, dass sie alle in Ihrem individuell erstellten Zirkel später vorkommen. Die vielen kleinen Veränderungen, die Teilnehmende uns nach einem Schreibaschram zurückmelden, sprechen Bände! An dieser Stelle möchte ich daher all unseren schreibenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und auch meinen Coachees danken – ohne Sie wäre dieses Buch nur eine theoretische Abhandlung. Durch Sie und Euch ist es lebendig. Danke dafür. Und so kann [19] dieses Buch hoffentlich auch Ihnen Lust auf ein produktives Schreibleben machen – und den Mut, dafür einiges aktiv umzugestalten.
Wie das aussehen könnte, werden wir uns jetzt ansehen, indem wir ganz pragmatisch durch Ihren Arbeitsalltag gehen und sehr konkret nach Veränderungsmöglichkeiten suchen. Ich werde Sie gezielt durch verschiedene Bereiche und Kompetenzanforderungen der universitären Welt und Ihres Arbeitsplatzes führen und mit Ihnen gemeinsam Möglichkeiten zum Andersmachen und der konkreten Umsetzung im Alltag finden. Viele der lebenspraktischen Erfahrungen aus der Arbeit mit meinen Klienten und Klientinnen im Schreib- und Karrierecoaching werden – erfreulicherweise – von Forschungen aus den Neurowissenschaften bestätigt. Mein Hauptaugenmerk liegt jedoch hier ganz auf den praktischen Erlebnissen meiner Klientinnen und Klienten, auf meinen Erfahrungen aus unzähligen Coachings und den daraus gewonnenen Tipps und für Sie zusammengestellten systemischen Fragen.
Am Ende eines jeden Kapitels finden Sie daher eine kleine Auswahl von Selbstcoachingfragen. Das sind Fragen, die ich Ihnen wahrscheinlich so oder ganz ähnlich auch im Laufe eines Schreib-Coachings stellen würde. Sie dienen Ihnen als Anregung, um sich im privaten und universitären Alltag fokussierter zu beobachten. Diese Selbstcoachingfragen können Ihre Reflexion vertiefen und blinde Flecken erhellen. Reflexion – und damit Introspektion – ist ein wichtiges Element für Ihre Schreib-Produktivität. Nur wenn Sie eigene Vorgehensweisen und eingeschliffene prozesse wirklich auffinden, beobachten und kennenlernen, können Sie gezielt kleine Veränderungen ausprobieren, die Ihr Schreiben effizienter machen werden. Nehmen Sie also ab und zu mal eine der Fragen als Fokus mit in Ihren Tagesablauf. Dabei werden Ihnen wahrscheinlich manche Ihrer automatisierten Muster auffallen und Sie entdecken die Möglichkeit, Dinge einmal ganz anders zu versuchen. Damit schaffen Sie sich Wahlmöglichkeiten. Und wenn Sie wählen können, dann können Sie aus vielen scheinbar notwendigen, immer gleich ablaufenden Prozeduren probeweise aussteigen. Sie werden beginnen, Abläufe in Frage zu stellen und Ihren Tag bewusster zu gestalten. Das ist genau der Ansatz von Selbstcoaching. Auch mit diesen Reflexions-Fragen möchte ich Sie also zu Ihrem selbstbestimmten Schreibleben verführen. Ihre Experimentierfreude wird Sie bald zu einer ganzen Menge kleiner, spürbarer und sichtbarer Verbesserungen Ihrer Produktivität führen!
Schreiben und Lesen durchdringen sich bekanntlich gegenseitig – beim kreativen Schreiben genauso wie beim wissenschaftlichen Schreiben. Nur wenn Sie viel gelesen haben und sich Ihr Fachgebiet und seinen Kontext lesend anverwandeln, werden Sie auch gut schreiben können. Ihr Wissen und die von Ihnen gezogenen Verbindungen zwischen Texten, Einzelgedanken und Theorien anderer wissenschaftlich Schreibender kondensieren erst durch Ihr Schreiben zu einem fundierten, wissenschaftlichen Anforderungen standhaltenden Text.