Selig sind die Dürstenden - Anne Holt - E-Book

Selig sind die Dürstenden E-Book

Anne Holt

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Beschreibung

In Oslo herrscht eine ungewöhnlich schwüle Hitze. Hanne Wilhelmsen wird zu einem alten Schuppen gerufen, in dem literweise Blut vergossen wurde – ohne dass man eine Leiche findet. Als sich vergleichbare Fälle an den kommenden Wochenenden wiederholen, tappt die Kripo noch immer im Dunklen. Bis plötzlich die Opfer auftauchen und alles auf ein rassistisches Motiv hindeutet. Doch dann wird die junge Medizinstudentin Kristine Haverstad vergewaltigt und brutal getötet. Hanne Wilhelmsen ist dem Täter auf der Spur – ebenso wie der nach Rache dürstende Vater von Kristine …

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Seitenzahl: 293

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Anne Holt

Selig sind die Dürstenden

Hanne Wilhelmsens zweiter Fall

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs

Die deutsche Erstausgabe erschien 1996 im Rasch und Röhring Verlag, Hamburg.

 

This translation has originally been published with the financial support of NORLA, Norwegian Literature Abroad

© Atrium Verlag AG, Zürich, 2024

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © Anne Holt 1994

Die Originalausgabe erschien 1994 unter dem Titel Salige er de som tørster bei Cappelens Forlag, Oslo.

Für die vorliegende Ausgabe wurde die deutsche Übersetzung von der Übersetzerin überarbeitet.

Published by agreement with Salomonsson Agency

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: Arcangel Images/Ewa Kalinowska

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03792-211-8

 

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Sonntag, 9. Mai

Es war noch so früh, dass nicht einmal der Teufel schon erwacht sein konnte. Im Westen hatte der Himmel die intensive Farbe angenommen, mit der nur ein skandinavischer Frühlingshimmel gesegnet sein kann; königsblau vorm Horizont und heller zum Zenit hin, um dann im Osten, wo die Sonne langsam aufstand, in rosa Flausch überzugehen. Die Luft, vom heraufdämmernden Tag noch befreiend unberührt, war von der seltsamen Durchsichtigkeit, die einfach zu schönen Frühlingsmorgen bei fast sechzig Grad nördlicher Breite gehört. Das Thermometer war zwar noch nicht über zehn geklettert, aber alles schien auf einen weiteren warmen Maitag in Oslo hinzudeuten.

Hanne Wilhelmsen dachte nicht ans Wetter. Sie stand ganz starr da und fragte sich, was sie machen sollte. Überall war Blut. Auf dem Boden. An den Wänden. Selbst die grobe Decke zeigte dunkle Flecken wie abstrakte Bilder aus irgendeinem Psychotest. Hanne legte den Kopf schräg und starrte einen Fleck unmittelbar über ihr an. Er sah aus wie ein purpurroter Stier mit drei Hörnern und deformiertem Hinterleib. Sie stand so reglos da, nicht nur, weil sie verwirrt war, sondern auch, weil sie Angst hatte, auf dem glitschigen Boden auszurutschen.

»Nicht anfassen«, warnte sie, als ein jüngerer Kollege, dessen Haarfarbe mit der bizarren Umgebung zu verschwimmen schien, die Hand nach einer Wand ausstreckte. Ein schmaler Spalt in der baufälligen Decke ließ einen staubigen Lichtstrahl auf die Rückwand fallen, wo das Blut so großzügig verteilt war, dass es weniger an Zeichnungen als an miserabel ausgeführte Anstreicherarbeiten erinnerte.

»Hau ab hier«, befahl sie und unterdrückte angesichts der Fußspuren, die der unerfahrene Polizist fast überall auf dem Boden verteilt hatte, einen resignierten Seufzer. »Und versuch, in deinen eigenen Fußspuren wieder hinauszugehen.«

Nach zwei Minuten folgte sie seinem Beispiel, rückwärts und zögernd. In der Türöffnung blieb sie stehen, nachdem sie den Jungen nach einer Taschenlampe geschickt hatte.

»Ich wollte bloß pissen«, winselte der Mann, der die Polizei gerufen hatte. Brav war er vor dem Schuppen stehen geblieben. Jetzt trat er dermaßen hektisch von einem Fuß auf den anderen, dass Hanne Wilhelmsen der Verdacht kam, er habe sein eigentliches Vorhaben noch nicht in die Tat umsetzen können.

»Da ist das Klo.« Er zeigte ziemlich unnötigerweise auf die entsprechende Tür. Der herbe Geruch eines der noch viel zu zahlreichen Osloer Außenklos stach sogar den ekelhaften süßlichen Blutgeruch aus. Die Tür mit dem Herzen war gleich nebenan.

»Gehen Sie nur aufs Klo«, sagte sie freundlich, aber er hörte nicht.

»Ich wollte pissen, wissen Sie, aber dann habe ich gesehen, dass die Tür offen stand.«

Er zeigte widerstrebend auf den Holzschuppen und trat einen Schritt zurück, als läge dort drinnen ein schreckliches Ungeheuer auf der Lauer, das jederzeit herausschießen und seinen Arm verschlingen könnte.

»Der Schuppen ist sonst immer zu. Nicht abgeschlossen, meine ich, aber zu. Die Tür klemmt so sehr, dass sie nicht von selbst ins Schloss fällt. Und wir wollen nicht, dass sich streunende Katzen und Hunde hier einnisten. Deshalb nehmen wir das sehr genau.«

Ein seltsames kleines Lächeln breitete sich auf dem groben Gesicht aus. Auch in dieser Gegend nahm man die Dinge genau, das musste sie sich klarmachen, sie hatten Regeln und hielten sich an die Ordnung, obwohl sie gerade dabei waren, den Kampf gegen den Verfall zu verlieren.

»Ich wohne schon mein Leben lang hier«, sagte er und schien auch darauf ein bisschen stolz zu sein. »Ich sehe sofort, wenn nicht alles so ist, wie es sich gehört.«

Er warf einen raschen Seitenblick auf die adrette junge Dame, die den üblichen Polizisten so gar nicht ähnelte, und rechnete mit einem Wort des Lobes.

»Sehr gut«, lobte sie. »Und gut, dass Sie uns verständigt haben.«

Als er jetzt herzlich und mit offenem Mund lächelte, fiel ihr auf, dass er kaum noch Zähne hatte. Das war seltsam, so alt konnte er eigentlich noch nicht sein; er war vielleicht um die fünfzig.

»Ich war ja völlig außer mir, das kann ich Ihnen sagen. Das ganze Blut …«

Er schüttelte heftig den Kopf; sie musste doch begreifen, wie entsetzlich es gewesen war, auf einen dermaßen teuflischen Anblick zu stoßen.

Das begriff sie sehr gut. Ihr rothaariger Kollege war inzwischen mit der Taschenlampe zurückgekehrt. Hanne Wilhelmsen nahm die Lampe in beide Hände und ließ den Lichtstrahl systematisch über die Wände wandern. Danach nahm sie sich die Decke vor, so gründlich, wie das von der Tür aus möglich war, und schließlich ließ sie den Strahl im Zickzack über den Boden gleiten.

Der Raum war vollständig leer. Nicht einmal ein Holzscheit lag hier herum, nur ein paar Abfälle berichteten davon, dass dieser Schuppen einst seinem ursprünglichen Zweck gedient hatte. Das schien lange her zu sein. Nachdem sie jeden Quadratmeter mit dem Lichtstrahl abgetastet hatte, trat sie noch einmal ins Innere, wobei sie sorgfältig darauf achtete, nur ihre eigenen Fußstapfen zu benutzen. Eine Handbewegung verhinderte, dass der Kollege ihr folgte. In der Mitte des an die fünfzehn Quadratmeter großen Raumes ging sie in die Hocke. Der Lichtstrahl fiel in ungefähr einem Meter Höhe auf die Wand gegenüber. Von der Tür aus war ihr etwas aufgefallen, möglicherweise Buchstaben, Zeichen im Blut, das verlaufen war, was die Deutung erschwerte.

Es waren keine Buchstaben. Es waren Zahlen. Acht Ziffern. Soweit sie sehen konnte, stand dort 910 43 576. Die 9 war undeutlich und hätte auch eine 4 sein können. Die letzte Ziffer sah aus wie eine 6, sicher war sie sich jedoch nicht. Vielleicht war es auch eine 8. Sie erhob sich und ging noch einmal rückwärts hinaus ins Tageslicht, das sich nun endgültig durchgesetzt hatte. Aus einem offenen Fenster im zweiten Stock hörte sie ein Baby weinen, und ihr schauderte bei dem Gedanken, dass Kinder in solchen Vierteln wohnen mussten. Ein Pakistani in Straßenbahneruniform kam aus der Mietskaserne und musterte Hanne und die anderen neugierig; dann fiel ihm offenbar ein, dass er es eilig hatte, und er trabte durch den Torweg davon. In den Fenstern ganz oben zeigten Reflexe, dass die Sonne inzwischen ein gutes Stück gestiegen war. Die Vögel, die kleinen grauen, die das harte Leben im innersten Kern der Innenstadt eisern durchhielten, zwitscherten probeweise aus einer halb toten Birke, die vergeblich versuchte, sich zu den Streifen von Morgenlicht hochzustrecken.

»O verdammt, das muss ja ein gewaltiges Verbrechen sein!«, sagte der junge Polizist und spuckte aus – ein vergeblicher Versuch, sich vom Kloakengeschmack zu befreien. »Hier war ja wohl der Bär los!«

Dieser Gedanke schien ihn glücklich zu stimmen.

»O ja«, sagte Hanne Wilhelmsen leise. »Natürlich kann hier etwas Schlimmes passiert sein. Aber bis auf Weiteres …«

Sie unterbrach sich und drehte sich zu ihrem Kollegen um. »Bis auf Weiteres ist das hier kein Verbrechen. Dazu bräuchten wir ein Opfer. Und von dem gibt’s bisher keine Spur. Das hier ist höchstens Vandalismus. Aber …« Wieder blickte sie in den Schuppen. »Natürlich können wir noch etwas finden. Ruf mal die Spurensicherung. Besser, wir gehen auf Nummer sicher.«

Sie fröstelte ein wenig. Eher beim Gedanken daran, was sich hinter dem Anblick von eben verstecken konnte, als wegen der frischen Morgenluft. Sie zog die Jacke dichter um sich. Dann bedankte sie sich noch einmal bei dem Zahnlosen für seinen Anruf und ging allein die dreihundert Meter zum Polizeigebäude zurück. Als sie die Straßenseite wechselte und in die Reichweite des Morgenlichtes geriet, wurde es wärmer. Morgengrüße auf Urdu, Pandschabi und Arabisch schallten um die Ecke – Frauen, die einander auf universelle Weise begrüßten. Ein Kioskbesitzer startete ohne Rücksicht auf Kirchzeit oder Öffnungsbestimmungen einen neuen langen Arbeitstag und hatte seinen Krimskrams schon auf dem Bürgersteig aufgestapelt. Er bleckte freundlich seine weißen Zähne, hielt Hanne eine Apfelsine hin und hob fragend die Augenbrauen. Einige halbwüchsige Bengels schepperten mit ihren Zeitungskarren den Straßenrand entlang. Zwei verschleierte Frauen eilten niedergeschlagenen Blicks irgendeinem Ziel entgegen. Ansonsten waren wenig Menschen unterwegs. Bei diesem Wetter erhielt sogar Tøyen eine gewisse versöhnliche, fast schon charmante Prägung.

Es schien wirklich noch ein schöner Tag zu werden.

Montag, 10. Mai

»Was in aller Welt hattest du denn am Wochenende beim Job zu suchen? Findest du nicht, dass wir auch so schon genug malochen müssen?«

Polizeijurist Håkon Sand stand in der Tür. Er trug neue Jeans und ausnahmsweise einmal Jackett und Schlips. Das Jackett war ein wenig zu groß, der Schlips eine Spur zu breit, aber Håkon sah trotzdem ganz brauchbar aus. Abgesehen von der Länge der Jeans. Hanne Wilhelmsen konnte sich nicht zurückhalten; sie hockte sich vor ihn und klappte schnell die überflüssigen zehn Zentimeter nach innen, wodurch sie unsichtbar wurden.

»Du darfst sie nicht nach außen umschlagen«, sagte sie freundschaftlich und erhob sich. Sie strich ihm in einer leichten, fast liebevollen Geste über den Ärmel. »So, jetzt siehst du ganz toll aus. Musst du ins Gericht?«

»Nein«, sagte der Polizeijurist, der trotz der vertraulichen Geste verlegen geworden war, als seine Kollegin ihn auf seine mangelhafte Eleganz hingewiesen hatte. Das wäre nun wirklich nicht nötig gewesen, dachte er, sagte aber etwas anderes.

»Ich bin gleich nach der Arbeit zum Essen verabredet. Aber du, weshalb warst du gestern hier?«

Ein hellgrüner Umschlag schwebte durch die Luft und landete elegant auf Hanne Wilhelmsens Schreibunterlage.

»Den habe ich gerade reingekriegt«, sagte er. »Komische Kiste. Kein Wort von zerlegten Menschen oder Tieren in unserem Bezirk.«

»Ich hab’ eine Extraschicht bei der Bereitschaft eingelegt«, erklärte sie und ließ den Umschlag unberührt liegen. »Die haben da im Moment zu viele Krankheitsfälle.«

Der Polizeijurist, ein ziemlich gut aussehender Mann mit dunklem Teint und graueren Schläfen, als seine fünfunddreißig Jahre hätten erwarten lassen, ließ sich in den Besuchersessel fallen. Er nahm die Brille ab und putzte sie mit seinem Schlipszipfel. Die Brille wurde kaum sauberer, der Schlips jedoch war danach um einiges mehr zerknittert.

»Der Fall liegt jetzt bei uns. Wenn es einer ist. Kein Opfer, niemand hat was gehört, niemand hat was gesehen. Komisch. Es sind ein paar Bilder dabei.«

Er zeigte auf den Umschlag.

»Die brauche ich nicht, danke«, sagte sie abwehrend. »Ich war ja da. Und es hat wirklich nicht besonders schön ausgesehen. Aber weißt du«, fügte sie hinzu und beugte sich vor. »Wenn das alles Menschenblut war, dann müssen dort zwei oder drei Leute umgebracht worden sein. Ich glaube eher, dass uns da ein paar Rotzbengels einen Streich spielen wollen.«

Diese Theorie wirkte durchaus nicht unwahrscheinlich. Es war das schlimmste Jahr, das die Osloer Polizei je hatte durchmachen müssen. Innerhalb von sechs Wochen war die Stadt von drei Morden heimgesucht worden, von denen mindestens einer wohl niemals aufgeklärt werden würde. Im selben Zeitraum waren nicht weniger als sechzehn Vergewaltigungen angezeigt worden, sieben davon hatten die Medien ausgiebig dargestellt. Dass eines der Opfer eine Abgeordnete der Christlichen Volkspartei war – sie war auf dem Heimweg von einer nächtlichen Ausschusssitzung im Schlosspark brutal überfallen worden –, konnte den Zorn der Allgemeinheit über den ausbleibenden Fahndungserfolg der Polizei nun wirklich nicht verringern. Mit großzügiger Unterstützung durch die Boulevardpresse protestierten nun die Bürger der Stadt wutschnaubend gegen die scheinbare Handlungsunfähigkeit im Polizeigebäude. Das große, leicht geschwungene Haus stand unverändert da, starr und grau, scheinbar unberührt von der gnadenlosen Kritik. Seine Bewohner kamen morgens mit hochgezogenen Schultern und gesenktem Blick zur Arbeit. Sie gingen allabendlich viel zu spät mit hängendem Kopf nach Hause und konnten als Resultat ihres Tageseinsatzes nichts anderes vorweisen als weitere Sackgassen, in die vermeintliche Spuren sie geführt hatten. Die Wettergötter machten sich einen Spaß mit hochsommerlichen Temperaturen. Vor allen Fenstern auf der Südseite des riesigen Gebäudes waren die Rollos heruntergelassen, aber das half auch nicht und ließ das Haus nur blind und taub aussehen. Nichts half, und nichts konnte offenbar den Weg aus einer fachlichen Sackgasse weisen, die sich mit jedem neuen, in die riesigen Computersysteme eingegebenen Fall weiter zu verschließen schien. Die Computer sollten ein Hilfsmittel sein, wirkten aber eher unfreundlich, fast höhnisch, wenn sie morgens ihre Listen der ungelösten Fälle ausspuckten.

»Was für ein Frühling«, sagte Hanne Wilhelmsen und seufzte theatralisch. Resigniert zog sie die Augenbrauen hoch und sah ihren Kollegen an. Ihre Augen waren nicht besonders groß, aber von auffälligem Blau mit einem klaren schwarzen Rand um die Iris, was sie dunkler wirken ließ, als sie waren. Ihre Haare waren ziemlich kurz und dunkelbraun. In unregelmäßigen Abständen zupfte sie zerstreut daran herum, als wünsche sie sich lange Haare und glaube, das Wachstum durch die Zupferei beschleunigen zu können. Ihr Mund war ausgeprägt; der Schwung der Oberlippe traf in der Mitte mit einem unteren Zwilling zusammen – wie eine zögernde Hasenscharte, die sich die Sache noch einmal überlegt hatte und ein sinnlicher Bogen geworden war, kein Gebrechen. Über dem linken Auge zog sich parallel zur Braue eine Narbe hin. Sie war hellrot und noch nicht sehr alt.

»So was habe ich noch nie erlebt. Ich bin allerdings auch erst seit elf Jahren hier. Kaldbakken hat schon dreißig auf dem Buckel. Aber er hat so was auch noch nicht erlebt.«

Sie zog an ihrem T-Shirt und schüttelte es.

»Und diese Hitze macht die Sache auch nicht besser. Nachts ist die ganze Stadt auf den Beinen. Eine Regenperiode wäre jetzt toll. Dann bleiben die Leute wenigstens zu Hause.«

Sie blieben ein wenig zu lange sitzen. Sie redeten über alles und nichts. Sie waren gute Kollegen, denen nie der Gesprächsstoff ausging, die aber nur wenig übereinander wussten. Lediglich, dass sie beide ihre Arbeit mochten, dass sie sie ernst nahmen und dass die eine tüchtiger war als der andere. Das spielte keine große Rolle für ihre Beziehung. Sie war ausgebildete Polizistin; ihr Ruf war immer gut gewesen, reichte jedoch seit einer dramatischen Geschichte im vergangenen Herbst ins Legendäre. Er stapfte seit über sechs Jahren als mittelmäßiger Jurist im Haus herum, niemals strahlend, niemals blendend. Aber im Laufe der Zeit hatte er sich den Ruf erarbeiten können, pflichtbewusst und fleißig zu sein. Und er hatte in der erwähnten dramatischen Geschichte eine entscheidende Rolle gespielt, weshalb er jetzt mehr denn je als solide und zuverlässig galt: als ziemlich uninteressant also.

Vielleicht ergänzten sie einander. Vielleicht steckte die Tatsache, dass sie nie miteinander konkurrierten, hinter ihrer guten Zusammenarbeit. Aber es war eine seltsame, von den sechs Mauern des Polizeigebäudes begrenzte Freundschaft. Håkon Sand bedauerte das sehr und hatte mehrmals versucht, es zu ändern. Es war nun schon eine Weile her, dass er so ganz nebenbei ein Essen vorgeschlagen hatte. Er war so schroff abgewiesen worden, dass er auch lange keinen Versuch mehr unternehmen würde.

»Na gut, vergessen wir erst mal den blutigen Schuppen. Ich hab’ auch sonst genug zu tun.«

Hanne Wilhelmsen klopfte auf einen hohen Stapel von Ordnern, die in einem Fach beim Fenster lagen.

»Haben wir doch alle«, erwiderte der Polizeijurist und ging die zwanzig Meter über den Flur zu seinem eigenen Büro.

 

»Warum warst du noch nie mit mir hier?«

Die Frau auf der anderen Seite des kleinen Zweipersonentisches lächelte vorwurfsvoll und fasste nach seiner Hand.

»Ich wusste doch nicht, ob du dieses Essen magst«, antwortete er, sichtlich froh darüber, dass die Mahlzeit so gut angekommen war. Die tadellos gekleideten pakistanischen Kellner, deren Sprache anzudeuten schien, dass sie in einem Osloer Krankenhaus geboren worden waren und nicht in einem Gesundheitszentrum in Karachi, hatten sie zuvorkommend durch das Menü gelotst.

»Es liegt ein bisschen blöd«, sagte er nun. »Aber ansonsten gehört es zu meinen Lieblingsrestaurants. Gutes Essen, tolle Bedienung und Preise, die sich ein Staatsangestellter leisten kann.«

»Du warst also schon öfter hier«, sagte sie. »Mit wem denn?«

Er gab keine Antwort, sondern hob sein Glas, um zu verbergen, wie peinlich ihm diese Frage war. Alle seine Frauen waren hier gewesen. Die ganz kurzfristigen, viel weniger, als ihm lieb war, und die zwei oder drei, mit denen er einige Monate durchgehalten hatte. Jedes Mal hatte er an sie gedacht. Daran, wie es wäre, mit Karen Borg hier zu sitzen. Und nun saßen sie hier.

»Denk nicht an die Ersten. Konzentrier dich lieber darauf, die Letzte zu sein«, grinste er schließlich.

»Wie elegant formuliert«, entgegnete sie, aber in ihrer Stimme lag dieser Hauch von … nicht von Kälte, aber von einer Kühle, die ihn immer in Panik versetzte. Dass er es auch nie lernte!

Karen Borg wollte nicht über die Zukunft reden. Seit fast vier Monaten trafen sie sich nun mehrmals pro Woche. Sie aßen zusammen und gingen ins Theater. Sie wanderten im Wald und liebten sich, sobald sich eine Gelegenheit bot, Was nicht zu oft vorkam. Sie war verheiratet, ihre Wohnung war also ausgeschlossen. Ihr Mann wisse zwar, dass sie ein Techtelmechtel hätten, behauptete sie, aber sie wollten erst alle Brücken hinter sich einreißen, wenn sie sicher wären, dass sie genau das wollten. Natürlich hätten sie zu ihm gehen können, was er auch jedes Mal vorschlug. Aber das wollte sie nicht.

»Wenn ich zu dir nach Hause gehe, dann habe ich eine Entscheidung getroffen«, erklärte sie unlogischerweise. Håkon Sand war sicher, dass die Entscheidung, überhaupt mit ihm ins Bett zu gehen, ein viel dramatischerer Entschluss war als die Wahl des Tatortes, aber damit konnte er sich bei ihr nicht durchsetzen.

Der Kellner stand, zwanzig Minuten nachdem er ihm einen Wink gegeben hatte, mit der Rechnung da. Sie wurde ihm, korrekt zusammengefaltet, altmodisch auf einem Teller präsentiert. Karen Borg griff danach, und er mochte nicht widersprechen. Es war eine Sache, dass sie fünfmal so viel verdiente wie er – immer wieder daran erinnert zu werden, war etwas ganz anderes. Als die AmEx-Karte in Gold zurückgebracht worden war, erhob er sich und zog den Stuhl für sie zurück. Der bildschöne Kellner hatte ein Taxi bestellt, und sie schmiegte sich auf dem Rücksitz an Håkon.

»Du willst sicher direkt nach Hause«, sagte er, um seiner eigenen Enttäuschung zuvorzukommen.

»Ja, ich muss morgen arbeiten«, bestätigte sie. »Wir sehen uns bald. Ich ruf’ an.«

Sie stieg aus, beugte sich aber noch einmal ins Taxi und gab ihm einen leichten Kuss.

»Danke für den wunderschönen Abend«, sagte sie leise, lächelte kurz und verschwand ein zweites Mal aus dem Auto. Er seufzte und nannte dem Fahrer seine Adresse. Er wohnte an einem ganz anderen Ende der Stadt, hatte also Zeit genug, den leise stechenden Schmerz auszukosten, der sich nach den Abenden mit Karen Borg immer einstellte.

Sonntag, 16. Mai

»Das ist wirklich komisch!«

Håkon Sand und Hanne Wilhelmsen waren sich absolut einig. Es war höchst seltsam.

Es nieselte. Endlich und ganz besonders willkommen nach der unnormalen Tropenhitze der letzten Wochen. Das Parkhaus war eins von der offenen Sorte, bei der die Etagen einander in Abständen von einigen Metern mit Pfosten abstützen. Deshalb schob sich keine Wand zwischen das Wetter und das eine oder andere vergessene Auto in diesem tristen Gemäuer. Und dennoch schien nichts von dem Blut weggespült worden zu sein.

»Ist das alles? Keine Waffen oder irgendwelche Gegenstände? Keine vermisste junge Frau?«

Der Polizeijurist hatte diese Fragen gestellt. Er trug einen Trainingsanzug und eine Helly-Hanssen-Jacke und gähnte trotz der von Gewaltanwendung geprägten Umgebung. Eine Ecke im ersten Stock des Parkhauses war von Blut übersprüht. Er wusste zwar aus bitterer Erfahrung, dass Blut die unangenehme Eigenschaft hatte, immer überwältigend auszusehen, aber hier mussten wirklich etliche Liter im Spiel sein.

»Gut, dass du angerufen hast«, sagte er, unterdrückte ein weiteres Gähnen und warf einen diskreten Blick auf seine Swatch. Es war halb sechs am Sonntagmorgen. Ein Wagen voller feiernder Abiturienten raste mit ohrenbetäubendem Hupkonzert vorüber. Dann zog wieder die Stille ein, die herrscht, wenn alle nächtlichen Zecher nach Hause gegangen und in der sicheren Annahme ins Bett gefallen sind, bis auf Weiteres nicht aufstehen zu müssen.

»Ja, das musstest du doch sehen. Zum Glück hatte eine aus meinem Jahrgang Bereitschaftsdienst und wusste noch, dass ich auch beim ersten Mal …«

Hanne Wilhelmsen wusste nicht so recht, wie sie diese absurden Fälle nennen sollte.

»Dass ich auch beim ersten Samstagsmassaker am Tatort war«, sagte sie nach einer kurzen Pause. »Ich bin vor einer halben Stunde gekommen.«

Zwei Mann von der Spurensicherung nahmen schon Proben und fotografierten. Sie arbeiteten schnell, präzise und wortlos. Hanne und Håkon schwiegen ebenfalls lange. In der Ferne hatten die Abiturienten Bekannte getroffen und lärmten von Neuem los.

»Das muss doch irgendwas zu bedeuten haben! Schaut mal!«

Håkon Sand versuchte, einer geraden Linie zwischen ihrem Zeigefinger und der Wand zu folgen. Das Licht war nicht günstig, aber als er erst auf sie aufmerksam gemacht worden war, konnte er die Zahlen recht deutlich erkennen.

»Neun-eins-sechs-vier-sieben-acht-drei-fünf«, las er vor. »Sagt dir das was?«

»Rein gar nichts. Nur, dass es genauso viele Ziffern sind wie beim letzten Mal und dass die ersten beiden übereinstimmen.«

»Eine Telefonnummer kann das nicht sein?«

»Die Vorwahl gibt es nicht. Auf die Idee bin ich auch schon gekommen.«

»Personenkennziffer?«

Resigniert verkniff sie sich die Antwort.

»Nein, natürlich nicht«, sagte er selbst rasch. »Es gibt schließlich keinen neunzehnten Monat …«

»Und entweder sind es zwei Ziffern zu viel oder drei zu wenig.«

»In manchen Ländern schreiben sie das Datum umgekehrt«, warf Håkon Sand eifrig in die Debatte. »Die fangen mit dem Jahr an.«

»Sicher. Dann haben wir einen Mörder, der am 78.64.1991 geboren ist.«

Eine peinliche Pause folgte, aber Hanne Wilhelmsen verfügte über genügend Herzenswärme, sie nicht allzu lange dauern zu lassen.

»Das Blut wird untersucht. Außerdem muss es hier irgendwo Fingerabdrücke geben. Wir sollten sehen, dass wir nach Hause kommen. Hier können wir nicht mehr viel ausrichten. Ich hoffe, es macht nichts, dass ich dich angerufen habe. Bis morgen!«

»Morgen? Morgen ist doch Feiertag.«

»Verdammt, stimmt«, sagte sie und unterdrückte ein Gähnen. »Ich boykottiere Nationalfeiertage, aber ein freier Tag ist ja doch ganz nett.«

»Du boykottierst den Nationalfeiertag?«

Er war ehrlich geschockt.

»Ein Tag für Trachten, Flaggen und anderen nationalistischen Quatsch. Ich kümmer mich dann lieber um die Blumenkästen auf dem Balkon.«

Er wusste nicht so recht, ob das ernst gemeint war. Wenn ja, dann hatte sie zum ersten Mal etwas über sich erzählt. Und darüber freute er sich auf dem ganzen Weg nach Hause. Obwohl er den Nationalfeiertag liebte.

Dienstag, 18. Mai

Der Nationalfeiertag war von der guten alten Art gewesen. Die Sonne hatte ihre Strahlen über das Land und die knallgrünen Frühlingsbäume ergossen. Die königliche Familie hatte treu winkend auf ihrem geräumigen Balkon gestanden. Mürrische, müde Kinder in eisverschmierten Miniaturtrachten hatten ihre kleinen Flaggen hinter sich hergeschleift, obwohl die Eltern immer wieder anfeuernd Hurra riefen. Heisere, angetrunkene Abiturienten hatten getobt, als sei dies ihr allerletzter Tag und als müssten sie sich für den Weg ins Jenseits die höchstmögliche Promillezahl zulegen. Die norwegische Bevölkerung hatte es sich mit Grundgesetz und Zuckerei gemütlich gemacht, und alle stimmten überein, es sei ein wunderbarer Tag gewesen.

Abgesehen von Oslos Polizisten. Sie sahen, was zu sehen den meisten anderen zum Glück erspart blieb: jede Menge Ordnungswidrigkeiten, einige etwas zu betrunkene Zeitgenossen, viele allzu freimütige Teenager, den einen oder anderen besoffenen Autofahrer und ein paar häusliche Prügeleien; das alles war vorausgesehen worden und ließ sich deshalb einigermaßen reibungslos in Ordnung bringen. Ein ungewöhnlich brutaler Mord und fünf weitere Messerstechereien dagegen waren durchaus nicht normal. Hinzu kamen fünf neue Vergewaltigungen. Der 17. Mai dieses Jahres würde als der härteste aller Zeiten in die Geschichte eingehen.

»Ich begreife nicht, was in diese Stadt gefahren ist. Ich fass’ es einfach nicht!«

Hauptkommissar Kaldbakken blickte auf eine längere Dienstzeit zurück als die anderen Anwesenden. Er war kein Mann großer Worte, meist murmelte er nur Undeutlichkeiten. Aber das hatten sie alle verstanden.

»So was habe ich noch nie erlebt!«

Die anderen starrten ins Leere und schwiegen. Allen war unangenehm bewusst, was diese Welle von Kriminalität zu bedeuten hatte. »Überstunden«, murmelte schließlich einer und starrte wütend auf eine an der Wand angebrachte Collage, Bilder vom letztjährigen Sommerfest. »Überstunden, Überstunden. Und die Alte ist stocksauer.«

»Können wir Überstunden denn überhaupt finanzieren?« fragte eine junge Frau mit kurzen blonden Haaren, die sich ihre optimistische Weltsicht offenbar erhalten hatte.

Ihr wurde nicht einmal eine Antwort zuteil, nur ein tadelnder Blick des Abteilungsleiters, der den erfahreneren Anwesenden erzählte, was sie längst wussten.

»Tut mir leid, Leute, aber wenn das so weitergeht, müssen die Urlaube verschoben werden«, sagte er.

Drei der elf Anwesenden hatten für August und September Urlaub angemeldet, und nun sprachen sie ein stilles Gebet, um für ihre eigene Weitsicht zu danken. Bis dahin musste die Lage sich doch beruhigt haben.

Sie verteilten die Fälle, so gut es ging. Sie machten nicht einmal den Versuch, die schon vorhandene Arbeitsmenge zu berücksichtigen. Alle waren gleichermaßen überlastet.

Hanne Wilhelmsen wurden die Morde erspart. Zum Ausgleich erhielt sie zwei Vergewaltigungen und drei Körperverletzungen. Erik Henriksen, der Polizist mit dem flammenden Schopf, sollte sie unterstützen. Diese Aussicht schien ihn glücklich zu machen. Hanne seufzte tief, erhob sich, als die Aufgaben verteilt waren, und fragte sich auf dem ganzen Rückweg in ihr Büro, wo um alles in der Welt sie anfangen sollte.

Samstag, 22. Mai

Der Abend war gerade erst beim Wochenrückblick angelangt, als Hanne Wilhelmsen auch schon schlief. Ihre (bis auf drei Wochen) gleichaltrige Mitbewohnerin hatte sie die ganze Woche hindurch kaum zu sehen bekommen. Sogar zu Christi Himmelfahrt war Hanne bei Sonnenaufgang verschwunden, erst um neun Uhr abends wiederaufgetaucht und gleich ins Bett gefallen. Heute hatten sie das wiedergutgemacht. Sie hatten lange geschlafen, waren vier Stunden lang mit dem Motorrad unterwegs gewesen und hatten drei Pausen eingelegt, um Eis zu essen. Sie fühlten sich zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wie ein Liebespaar. Obwohl Hanne einen miesen Film verschlafen hatte, während Cecilie mit Kochen beschäftigt gewesen war, hatte sie sich gerade noch das Essen und eine halbe Flasche Rotwein einverleiben können, dann war sie auf dem Sofa weggesackt.

Cecilie war nicht sicher, ob sie schmollen oder sich geschmeichelt fühlen sollte. Sie entschied sich für Letzteres, deckte ihre Liebste zu und flüsterte ihr ins Ohr: »Du fühlst dich meiner wohl ganz schön sicher?«

Der süße Duft von Frauenhaut und leichtem Parfüm hielt sie fest. Sie küsste die Schlafende behutsam auf die Wange, ließ ihre Zungenspitze hauchzart über den weichen Flaum gleiten und beschloss, Hanne trotzdem zu wecken.

Anderthalb Stunden später ertönte das Telefon. Und zwar Hannes. Cecilies Telefon klingelte, Hannes piepste. Dass sie unterschiedliche Nummern hatten, verletzte Cecilie zutiefst. Hannes Telefon wurde nur von ihr selbst angerührt, niemand unter den Kollegen durfte wissen, dass sie mit einer Frau zusammenwohnte. Dieses Telefonsystem gehörte zu den restlos indiskutablen Regeln, auf denen ihr fünfzehnjähriges Zusammenleben basierte.

Das Telefon ließ nicht locker. Ein Anrufer auf Cecilies Apparat hätte schon längst die Geduld verloren. Das drängelnde Piepsen jedoch konnte andeuten, dass es sich um etwas Wichtiges handelte. Hanne stöhnte, rappelte sich auf und stand schließlich nackt, mit dem Rücken zum Schlafzimmer, in der Tür zur Diele.

»Hier Wilhelmsen!«

»Iversen. Bereitschaft. Tut mir leid, dass ich so spät noch anrufe …«

Hanne warf einen Blick auf die Wanduhr in der Küche, die sie gerade noch erkennen konnte. Mitternacht war längst vorbei. »Ach, ist schon gut«, gähnte sie und fröstelte leicht, weil es durch die Wohnungstür ein wenig zog.

»Irene Årsby meinte, wir sollten dich verständigen. Wir haben ein neues Samstagsmassaker für dich. Es sieht einfach scheußlich aus.«

Cecilie schlich hinter sie und legte ihr einen rosa Morgenrock aus Frottee mit einem riesigen Harley-Davidson-Emblem um die Schultern.

»Wo denn?«

»In einer Nissenhütte am Lo. Sie war mit einem kleinen Vorhängeschloss abgesperrt, jeder Knirps hätte das aufbrechen können. Du kannst dir einfach nicht vorstellen, wie es da aussieht!«

»Doch. Ich hab’ so meine Ahnung. Habt ihr irgendwas Interessantes gefunden?«

»Nichts. Nur Blut. Überall. Willst du es dir ansehen?«

Das wollte Kommissarin Wilhelmsen durchaus. Die blutigen Tatorte nicht existierender Verbrechen interessierten sie inzwischen brennend. Andererseits war Cecilies Geduld, wenn auch wirklich berühmt, nicht unerschöpflich. Irgendwo musste es Grenzen geben.

»Nein, diesmal begnüge ich mich mit den Bildern. Danke für den Anruf.«

»Alles klar!«

Sie wollte schon auflegen, da fiel ihr noch etwas ein. »Hallo! Bist du noch da?«

»Ja.«

»Ist dir aufgefallen, ob irgendwas in das Blut geschrieben war?«

»Ja, allerdings. Eine Zahl. Mehrere Ziffern. Ziemlich unleserlich, aber sie werden von allen Ecken aus fotografiert.«

»Gut. Das ist nämlich ziemlich wichtig. Gute Nacht. Und nochmals danke.«

»Alles klar.«

Hanne Wilhelmsen lief zurück zum Bett.

»War es was Ernstes?« fragte Cecilie.

»Nein, nur wieder eine von diesen Blutlachen, von denen ich dir erzählt habe. Nichts Ernstes.«

Hanne Wilhelmsen befand sich irgendwo im Grenzgebiet zwischen Traum und Wirklichkeit und wollte gerade auf die Schlafseite hinüberkippen, als Cecilie sie zurückriss.

»Wie lange wollen wir unser Telefonsystem eigentlich noch behalten?«, fragte sie leise ins Leere hinein, als ob sie im Grunde keine Antwort erwarte.

Das war auch besser, denn Hanne drehte sich um und kehrte ihr wortlos den Rücken. Plötzlich wurden die Decken, die halbwegs übereinandergelegen und gemeinsam zwei zueinandergehörende Menschen gewärmt hatten, unmerklich in entgegengesetzte Richtungen gezogen. Hanne stopfte ihre Decke gut um sich herum fest, schwieg aber noch immer.

»Ich verstehe das nicht. Hanne. Ich habe schon so viele Jahre Verständnis. Und du hast immer gesagt, dass sich eines Tages alles ändern würde.«

Noch immer lag Hanne Wilhelmsen schweigend da, in Embryostellung, und ihr Rücken wirkte wie eine eiskalte Abfuhr.

»Zwei Telefonnummern. Ich kenne keinen Einzigen von deinen Kollegen. Und deinen Eltern bin ich auch nie vorgestellt worden. Deine Geschwister werden höchstens mal in einer Anekdote aus deiner Kindheit erwähnt. Und zusammen Weihnachten feiern können wir auch nicht.«

Jetzt hatte sie sich wirklich heißgeredet und setzte sich im Bett halb auf. Sie hatte das alles vor über zwei Jahren zuletzt zur Sprache gebracht, und obwohl sie nur minimal daran glaubte, dass sie irgendetwas erreichen würde, kam es ihr plötzlich unendlich wichtig vor, klarzustellen, dass sie sich mit der Lage noch immer nicht abgefunden hatte. Dass sie sich niemals an die wasserdichten Schotten gewöhnen würde, die Hannes gesamtes Leben außerhalb der Wohnung abschirmten.

»Warum sind wir nur mit Ärztinnen und Krankenpflegern befreundet? Warum treffen wir uns nur mit meinen Bekannten? Himmel, Hanne, du bist der einzige Polizist, mit dem ich je gesprochen habe!«

»Ich bin kein Polizist«, erklang es tränenerstickt aus den Kissen.

Wieder hatte Cecilie den Impuls, die Hand auf den Rücken neben sich zu legen, und diesmal brauchte sie sie nicht zurückzuziehen. Der ganze Körper bebte. Hanne Wilhelmsen hatte nichts zu sagen. Ihre Liebste hielt den Mund, schmiegte sich nur dicht, ganz dicht an die Weinende und beschloss, dieses Thema nie wieder zur Sprache zu bringen. Und wenn doch, dann erst in vielen Jahren.

Samstag, 29. Mai

Später ging ihr auf, dass er gar nicht schlecht ausgesehen hatte. Groß und blond. Ziemlich breite Schultern. Eine matte, kahle Glühbirne über der Haustür verriet, dass sich die Haare über den Schläfen schon zurückzogen und dass er für diese Jahreszeit ungewöhnlich braun war, selbst wenn man das gute Wetter berücksichtigte. Die Haut der Frau wirkte in diesem bleichen Licht milchig, er dagegen war golden, so als sei er gerade vom Osterausflug in die Berge zurückgekehrt.

Sie löste sich aus dem Schatten und wühlte in ihrer großen Stofftasche nach dem Schlüssel. Mit einem Interesse, das ihr eigentlich hätte auffallen müssen, beobachtete er sie dabei, als habe er mit sich selbst eine Wette abgeschlossen, dass sie nicht imstande sein würde, in diesem Chaos etwas zu finden.

»›Geld ist nicht alles auf der Welt, sagte der Alte, als er in eine Damentasche schaute.‹ Findest du sie nicht?«

Sie bedachte den Typen mit einem müden Lächeln. Mehr brachte sie nicht über sich. Es war zu spät.

»Mädels wie du sollten um diese Zeit nicht mehr unterwegs sein«, sagte er, als sie die Tür schließlich öffnete. Er folgte ihr ins Haus. »Na, dann schlaf gut«, fügte er hinzu und ging die Treppe hoch.

Der Briefkasten war leer. Sie fühlte sich nicht so ganz wohl. Sie hatte zwar nicht viel getrunken, nur zwei Halbe, aber das Lokal war sehr verräuchert gewesen. Ihre Augen brannten, die Kontaktlinsen schienen förmlich am Augapfel zu kleben.

Das ganze Haus war schon zur Ruhe gegangen, nur ein ferner Bass aus einer kräftigen Stereoanlage in irgendeinem Nachbarhaus ließ den Boden unter ihren Füßen leise erbeben.

Die Tür hatte zwei Sicherheitsschlösser. Eine alleinstehende junge Frau mitten in der Stadt könne einfach nicht vorsichtig genug sein, hatte ihr Vater gemeint und die Schlösser selbst montiert. Sie benutzte nur das eine. Auch der Pessimismus musste seine Grenzen haben.

Warmer, heimeliger Geruch stieg ihr zur Begrüßung in die Nase, und sie stolperte über die Schwelle. Kaum war sie in der Wohnung, stand er da.

Der Schock war größer als der Schmerz bei ihrem Sturz. Sie hörte, wie hinter ihr die Tür ins Schloss fiel. Die eiserne, kalte Hand auf ihrem Mund lähmte sie vollständig. Hart spürte sie sein Knie im Kreuz, ihr Kopf wurde an den Haaren nach hinten gezogen. Ihr Rücken schien durchbrechen zu wollen.

»Mund halten und brav sein, dann geht alles gut.«

Seine Stimme war jetzt ganz anders als noch vor drei Minuten. Aber sie wusste, dass er es war. Und sie wusste, was er wollte. Eine vierundzwanzig Jahre alte Frau in einem Mietshaus mitten in Oslo hatte keine nennenswerten Wertsachen. Außer der, auf die er scharf war. Das wusste sie.

Aber sie hatte keine Angst davor. Sollte er doch machen, was er wollte. Solange er sie nicht umbrachte. Sie fürchtete sich vor dem Tod. Nur vor dem Tod.

Bei dem heftigen Schmerz wurde ihr schwarz vor Augen. Oder kam es daher, dass sie schon seit einer Weile keine Luft mehr bekam? Langsam lockerte sich sein Griff über ihrem Mund, während er seinen Befehl, sie solle die Klappe halten, wiederholte. Das war nicht nötig. Ihr Kehlkopf war zu einem riesigen schmerzenden, stummen Geschwür herangewachsen, das alles blockierte.

Lieber Gott, mach, dass ich nicht sterben muss. Mach, dass ich nicht sterben muss. Mach, dass er bald fertig ist, bald, bald.

Das war ihr einziger Gedanke, und er wirbelte wie ein Mahlstrom durch ihren verängstigten Kopf, wieder und wieder.

Er kann machen, was er will, aber lieber, lieber Gott, mach, dass ich nicht sterben muss.

Die Tränen kamen ganz von selbst, ein lautloser Strom. so als reagierten ihre Augen aus eigener Initiative. Sie trauerten auf eigene Faust und registrierten nicht, dass sie im Grunde doch gar nicht weinte. Plötzlich sprang der Mann auf. Ihr Rücken jammerte, als er in seine ursprüngliche Lage zurücksackte; nun lag sie platt auf dem Bauch. Aber nicht lange. Er packte ihren Kopf, eine Hand ihr rechtes Ohr, die andere die Haare, zog sie hinter sich her ins Wohnzimmer. Das tat unendlich weh, und sie versuchte zu kriechen. Er war zu schnell, ihre Arme konnten nicht Schritt halten. Ihr Hals streckte sich verzweifelt, um nicht zerrissen zu werden. Wieder wurde ihr schwarz vor Augen.

Liebster Gott. Mach, dass ich nicht sterben muss.

Er knipste keine Lampe an. Eine Laterne vor dem Fenster gab genügend Licht. Mitten im Zimmer ließ er sie los. Zusammengekrümmt, in Embryostellung, fing sie wirklich an zu weinen. Leise zwar, aber sie schluchzte und zitterte. Sie schlug die Hände vors Gesicht, in der vergeblichen Hoffnung, der Mann könnte verschwunden sein, wenn sie sie wieder wegnähme.