Ein kalter Fall - Anne Holt - E-Book

Ein kalter Fall E-Book

Anne Holt

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Beschreibung

Seit ihrem letzten Einsatz sitzt die ehemalige Kommissarin Hanne Wilhelmsen im Rollstuhl und hat sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Auch Billy T. hat den Polizeidienst mittlerweile verlassen – doch dann bittet er Hanne aus dem Nichts inständig um Hilfe: Er fürchtet, dass sein Sohn in terroristische Kreise geraten sein könnte. Noch während ihres Gesprächs detoniert plötzlich ganz in der Nähe eine Bombe, die 29 Menschen in den Tod reißt …

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Seitenzahl: 522

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Anne Holt

Ein kalter Fall

Hanne Wilhelmsens neunter Fall

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs

Die deutsche Erstausgabe erschien 2017 im Piper Verlag, München.

This translation has originally been published with the financial support of NORLA, Norwegian Literature Abroad

© Atrium Verlag AG, Zürich, 2024

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © Anne Holt 2015

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Offline bei Cappelens Forlag, Oslo.

Für die vorliegende Ausgabe wurde die deutsche Übersetzung von der Übersetzerin überarbeitet.

Published by agreement with Salomonsson Agency

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: Arcangel Images / Ewa Kalinowska, Shabby vintage grain Struktur: FinePic®, München

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03792-218-7

 

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Für Kristenn und Kari, in Dankbarkeit

Kapitel 1

Eine Brieftaube flog über Oslo.

Der Besitzer nannte seinen Täuberich »Oberst«, weil der Vogel drei sternförmige Flecken auf der Brust hatte. Der Oberst war ein kleiner, kräftiger Vogel und fast zwölf Jahre alt. Alter und Erfahrung hatten ihn selbstsicher gemacht, aber auch sehr vorsichtig. Er flog niedrig, um Raubvögeln zu entgehen. Hellwach durchschnitt er die Luft, kam vom Fjord herein und flog zwischen den Rathaustürmen weiter, ehe er ein wenig nach Osten abdrehte.

Dort stand die Ruine eines Hochhauses. Der Oberst setzte zur Landung an.

Er war schon weit geflogen.

Das Heimweh bohrte in der breiten grauen Brust mit den Ehrenzeichen, die so schön und so deutlich waren, dass der Oberst seinen Besitzer mehr gekostet hatte, als sein Stammbaum hätte erwarten lassen, als er damals als kleiner Federwuschel gekauft worden war. Seine Eltern waren schlichte Arbeitstiere. Liebevolle Pflege und große Erwartungen hatten den Oberst dennoch zum Champion gemacht. Es war eine der meistprämierten Brieftauben Nordeuropas, die jetzt ganz oben auf einem vor knapp drei Jahren an einem Julitag zerstörten Hochhaus saß.

Der Oberst wollte nach Hause. Er wollte zu Ingelill, die seit über zehn Jahren seine Gefährtin war. Er wollte seinen Besitzer zur Fütterungszeit heranpfeifen und dazu das beruhigende Gurren der anderen Brieftauben hören. Der kleine graue Vogel mit den scharfen Augen fühlte sich zu dem Taubenschlag im Apfelgarten hingezogen, zu dem Nistkasten, in dem Ingelill wartete. Den Weg dorthin kannte er genau. Es war jetzt nicht mehr weit. Minuten nur, wenn er nur endlich wieder in die Luft käme.

Hoch oben unter der kalten Aprilsonne flog ein Raubvogel. Er war noch so jung, dass er ab und zu aus den Wäldern im Norden der Stadt hereinkam, um sich an den trägen Türkentauben in den Parks der Stadt gütlich zu tun. Er entdeckte den Oberst in dem Moment, in dem der alte graue Vogel die Flügel ausschüttelte und sich an einer Brustfeder zupfte, ehe er abhob.

Der Habicht ließ sich fallen.

Ein magerer Mann stand vor der Absperrung um die Gebäuderuine und beschattete die Augen mit der Hand, um besser sehen zu können. Ein Habichtvogel, wie er sah. Ein Sperber, da war er sich sicher, auch wenn die hier unten in der Innenstadt ein seltener Anblick waren. Der Mann blieb stehen. Der Sperber mit seinen kürzeren, kräftigen Flügeln machte eigentlich nicht auf diese Weise Jagd auf seine Beute. Er brauchte Hügellandschaft, um sich verstecken zu können. Der Sperber war eher Meuchelmörder denn Jagdflieger.

Nun stürzte der Vogel jählings auf etwas zu, das der Mann nicht erkennen konnte. So, wie er dastand, noch immer mit der Hand über den Augen, merkte er, wie ihm sein eigener strenger Körpergeruch in der Nase brannte. Er hatte sich seit einer Woche nicht mehr gewaschen. Es war ihm noch immer peinlich, so unrein zu sein, selbst nach all den Jahren im hektischen Wechsel zwischen Rausch und Herbergen und der Kirchlichen Stadtmission.

Vor Jahren hatte er alles über Vögel gewusst. Damals hieß er Lars Johan Austad und trug eine Militäruniform. Jetzt wurde er nur Schuh genannt, wenn sich ein seltenes Mal überhaupt jemand die Mühe machte, ihn beim Namen zu nennen. Er hatte schlimme Füße und trug fast immer zu große Schuhe.

Bestimmt hatte der Sperber eine Taube geschlagen, dachte er, als eine kleine Wolke aus grauen Federn über dem Rand des Daches dort oben aufstob. Schuh mochte Tauben. Sie waren eine gute Gesellschaft, vor allem im Sommer, wenn er meistens im Freien schlief.

Er ließ den Arm sinken und ging los. Ein schöner Tod, dachte er, als er, die Hände tief in die Taschen geschoben, in Richtung Karl Johans gate schlurfte. Im einen Moment genießt man die Aussicht. Im nächsten wird man für einen anderen zum Mittagessen.

Lars Johan Austad wünschte sich insgeheim dasselbe Schicksal. Er fröstelte in der Aprilkälte, als er den Schatten des Finanzministeriums erreichte, und merkte, dass es an der Zeit war, sich etwas zu essen zu besorgen. Es war Mittagszeit, und vom Rathaus her konnte er das Glockenspiel hören.

 

Eine Messingglocke bimmelte schrill.

»Komm doch, Oberst, puiiit!«

Das Pfeifen ließ die anderen Tauben unruhig gurren. Es ging auf den Abend zu, die Fütterungszeit war längst vorüber.

»Oberst! Puiiit!«

»Ich glaube, du solltest für heute Schluss machen.«

Eine schmächtige ältere Frau kam über die Schieferplatten zwischen den noch immer schmutzig braun auf dem Rasen vor dem Taubenschlag liegenden Schneeflecken.

»Oberst!«, wiederholte er dennoch und pfiff noch einmal, ehe er die kleine Glocke schwenkte.

Die Frau legte ihm vorsichtig den Arm um die Schulter.

»Komm jetzt, Gunnar. Der Oberst findet den Weg auch ohne dass du lockst, das weißt du doch.«

»Er müsste schon längst hier sein«, jammerte der Mann und trat steif von einem Fuß auf den anderen. »Der Oberst müsste schon seit vielen Stunden hier sein.«

»Er verspätet sich eben«, tröstete die Frau. »Du wirst sehen, morgen früh, wenn du aufwachst, sitzt er im Kasten. Bei Ingelill. Der Oberst lässt seine Ingelill nicht im Stich, das kannst du dir doch denken. Komm jetzt. Ich habe Tee gekocht. Und Scones gebacken. Deine Lieblingssorte.«

»Will nicht, Mama. Will nicht!«

Sie lächelte und ignorierte seinen Protest. Behutsam nahm sie ihn bei der Hand und zog ihn in Richtung Haus. Er trottete widerwillig hinter ihr her.

»Du hast morgen Geburtstag«, sagte die Frau. »Fünfunddreißig Jahre. Wo ist die Zeit geblieben, Gunnar?«

»Der Oberst«, wimmerte der Mann. »Dem muss was passiert sein!«

»Nicht doch. Komm jetzt. Ich habe einen Tortenboden gebacken. Morgen kannst du mir beim Verzieren helfen. Mit Sahne und Erdbeeren und Kerzen.«

»Der Oberst …«

»Wo ist nur die Zeit geblieben«, wiederholte sie, vor allem an sich selbst gerichtet, und öffnete die Haustür, ehe sie ihren Sohn in die Wärme schob.

Kapitel 2

Die Zeit bewegte sich in einer Schleife.

Er hatte sich so verändert. Vielleicht lag es an den zusätzlichen Kilos, die ihn seltsamerweise kleiner wirken ließen als seine zweihundertzwei Zentimeter. Die breiten Schultern hingen schlaff herunter. Der Gürtel spannte unter dem Hängebauch. Gesicht und Schädel waren glatt rasiert.

»Hanne«, sagte er.

»Billy T.«, antwortete sie nach einigen Sekunden. Ohne Anstalten zu machen, mit dem Rollstuhl die Türöffnung freizugeben und ihn einzulassen. »Lange nicht mehr gesehen.«

Billy T. legte den Arm an den Türrahmen, lehnte sich dagegen und verbarg sein Gesicht hinter seiner riesigen Pranke.

»Elf Jahre«, murmelte er.

Draußen im Treppenhaus fiel eine Tür ins Schloss. Von der Nachbarwohnung bewegten sich energische Schritte in Richtung Fahrstuhl. Sie wurden langsamer, als sie sich Hanne Wilhelmsens Wohnungstür und dem riesigen Mann näherten, dessen Haltung leicht als drohend gedeutet werden konnte.

»Alles in Ordnung hier?«, rief eine tiefe Männerstimme.

»Wie bist du da unten reingekommen?«, fragte Hanne, ohne dem Nachbarn zu antworten. »Die Gegensprechanlage, wir haben …«

»Großer Gott«, stöhnte Billy T. und ließ die Hand vor seinem Gesicht sinken. »Ich war länger bei der Polizei als du. Ein verdammtes Scheißhaustürschloss! Du hättest mich ja nicht reingelassen, wenn ich geklingelt hätte, so, wie du mich jedes verfluchte Mal abgewiesen hast, wenn ich Kontakt zu dir aufnehmen wollte.«

»He«, sagte der Nachbar mit schroffer Stimme und versuchte, sich zwischen Billy T. und den Rollstuhl zu drängen, er war fast genauso groß wie Hannes alter Kollege. »Frau Wilhelmsen scheint nicht gerade begeistert von diesem Wiedersehen mit Ihnen zu sein.«

Billy T. sah sie fragend an. Sie gab keine Antwort.

Elf Jahre.

Und drei Monate.

Plus einige Tage.

»Oder was?«, fragte der Nachbar irritiert und legte eine Hand auf Billy T.s Brustkasten, um ihn weiter auf den Gang hinauszudrücken.

»Stimmt«, entgegnete Hanne endlich. »Ich habe kein Interesse. Wäre nett, wenn du ihn rausbringen könntest.«

»Hanne …«

Billy T. schob die Hand des Mannes fort und fiel auf die Knie. Der Nachbar trat einen Schritt zurück. Vor Erstaunen darüber, den riesigen Mann knien und mit gefalteten Händen flehen zu sehen, konnte er nur noch glotzen.

»Hanne. Bitte. Ich brauche Hilfe.«

Sie gab keine Antwort. Versuchte wegzuschauen, aber sein Blick hielt ihren jetzt fest. Er hatte Husky-Augen, genau wie in ihrer Erinnerung, ein braunes und ein blaues. Es waren seine Augen, vor denen sie sich am meisten fürchtete. So wenig sonst an dieser Gestalt erinnerte an den Mann, der Billy T. einmal gewesen war. Die Jeansjacke mit dem Teddyfutter war zu klein, und ein großer Fleck, vermutlich Ketchup, verunzierte die eine Brusttasche. In beiden Mundwinkeln klebten schwarze Tabakränder, das Gesicht war aufgedunsen und winterbleich.

Sein blau-brauner Blick aber war unverändert. Nur wenige Zentimeter von ihren unbrauchbaren Beinen entfernt starrten die vielen vergessenen Jahre sie an. Drängten sich auf. Sie wehrte sich dagegen und merkte, dass sie aufgehört hatte zu atmen.

»Kommen Sie schon«, sagte jetzt der Nachbar, so laut, dass Hanne zusammenzuckte. »Sie sind hier unerwünscht, das hören Sie doch. Wenn Sie jetzt nicht mitkommen, muss ich die Polizei anrufen.«

Billy T. reagierte nicht. Er hatte die Hände noch immer gefaltet. Das Gesicht noch immer zu ihr erhoben. Hanne schwieg. Ein Krankenwagen näherte sich draußen in der Kruses gate, und durch das Fenster am Ende des Ganges fegte ein blaues blinkendes Licht über die eine Wand, dann verblasste es, und der Lärm verklang.

Wieder wurde es still.

Endlich erhob sich Billy T. Steif, mit einem leisen Stöhnen. Er wischte sich die Knie seiner Hose ab und versuchte, die enge Jacke gerade zu ziehen. Dann ging er wortlos in Richtung Fahrstuhl. Der Nachbar lächelte Hanne selbstsicher zu und folgte ihm.

Sie blieb sitzen und blickte den beiden nach. Billy T. Sie sah nur ihn. Lautlos ließ sie die Räder ihres Rollstuhls ins Treppenhaus hinausrollen.

»Billy T.«, sagte sie, als er gerade auf den Fahrstuhlknopf drückte.

Er drehte sich um.

»Ja?«

»Du kennst Ida noch gar nicht.«

»Nein.«

Er fuhr sich mit der Hand über den Schädel und lächelte zaghaft. »Aber ich habe gehört, dass du … dass ihr ein Kind bekommen habt. Wie alt ist sie jetzt?«

»Zehn. Wird im Sommer elf.«

Die Fahrstuhltür öffnete sich mit einem Pling. Billy T. blieb stehen, obwohl ihm der Nachbar auffordernd zuwinkte.

»Sie ist jetzt sicher in der Schule«, sagte er.

»Ja.«

»Wollen wir?«, fragte der Nachbar auffordernd und stellte einen Fuß in den Fahrstuhl, damit sich die Tür nicht schloss.

»Ich brauche Hilfe, Hanne. Ich brauche Hilfe bei etwas, das …« Billy T. schnappte nach Luft und schien mit den Tränen zu ringen. »Es geht um Linus. Erinnerst du dich an Linus, Hanne? Meinen Jungen? Weißt du noch …«

Er riss sich zusammen und schüttelte den Kopf. Zuckte mit den Schultern und machte einen Schritt in den Fahrstuhl.

»Komm«, hörte er hinter sich und blieb stehen.

»Was?«

Er wandte sich um. Hanne war nicht mehr zu sehen. Aber ihre Tür stand offen, die Wohnungstür lud ihn ein, und er war sicher, dass er sich nicht verhört hatte.

»Schönen Tag noch«, murmelte er dem Nachbarn zu und ging zögernd, fast ängstlich, zu Hannes Wohnung zurück.

 

Symbolischerweise lagen die Räumlichkeiten des ISAN, des Islamischen Zentralrates in Norwegen, gleich neben der amerikanisch-lutherischen Kirche in Frogner. In einer von Oslos besten Wohngegenden hatte die stetig wachsende und immer einflussreichere Organisation zwei Wohnungen in der Gimle terrasse aufgekauft und zu einem beeindruckenden Büro zusammengelegt. Anwohnerproteste und politisches Hin und Her hatten das Vorhaben verkompliziert, aber inzwischen lag die Einweihung schon eine Weile zurück, und die meisten Nachbarn waren zufrieden. Anlässlich des fünfjährigen Jubiläums des ISAN war eine Dame, die zwei Stock höher wohnte, vom Norwegischen Rundfunk interviewt worden. Sie hatte erklärt, sie freue sich, weil im Büro nicht gekocht werde, wie sie vorher befürchtet hatte. Die Organisation hatte zudem auf eigene Kosten die gemeinschaftlich genutzten Flächen renovieren lassen, was dringend nötig gewesen war. Und die achtzig Jahre alte Dame betonte auch, dass ihre Muslime sich anständig anzogen. Keiner von ihnen sah aus wie dieser Mullah Krekar, weder Turban noch Kaftane hatten in dem respektablen Wohnhaus ihren Einzug gehalten.

Diagonal gegenüber, auf der anderen Seite der Kreuzung, lag die amerikanische Kirche, die aus der Vogelperspektive aussah wie eine ziemlich rundliche Topfblume. Sie war vor allem aus Beton. Die heftige Explosion richtete deshalb nur begrenzten Schaden an.

Das Haus, in dem der ISAN sein Büro hatte, kam nicht so glimpflich davon.

Als man danach an diesem eiskalten und verregneten Morgen die gesamte Umgebung absuchte und mehrere Hundert Zeugen befragt wurden, berichteten mehrere von einer für diese elegante Gegend ungewöhnlichen Beobachtung.

Ein junger Mann, gekleidet in »traditioneller islamischer Kleidung«, hatte sich dem Büro des ISAN genähert. Er trug eine Tasche. Die Tasche wurde immer größer, je mehr Tage nach der Explosion vergingen, die Kleidung immer ausgefallener. Einige Zeugen meinten, er habe einen Turban getragen, andere wollten unter den lockeren Gewändern etwas wie ein Maschinengewehr gesehen haben. Wieder andere glaubten, zwei Gestalten beobachtet zu haben, und drei Zeugen schilderten eine ganze Bande fremdartiger Vögel in den Minuten vor dem großen Knall.

Es war schwer zu sagen. Die Bombenexplosion war so gewaltig gewesen, dass die Identifizierung der Toten alles andere als einfach war.

Aber auf Grundlage der vielen Informationen von den Angehörigen der Hausbewohner und den zahlreichen Mitgliedern des ISAN konnte die Polizei noch am selben Abend die ungefähre Anzahl der Toten bekannt geben. Oder der Vermissten, wie die meisten korrekterweise genannt wurden.

In den Räumlichkeiten des ISAN hatten sich sechzehn Menschen aufgehalten. Außerdem war ein unglückseliger Postbote ebenfalls verschwunden. Von den Nachbarn aus den Wohnungen über den ISAN-Büros war nur die alte Dame zu Hause gewesen. Als sie gefunden wurde, hingen noch alle Körperteile am Rumpf, ihre Brust jedoch war von zahllosen Glassplittern durchbohrt worden, und eine Türklinke steckte vier Zentimeter tief in ihrer Schläfe. Drei Fußgänger auf der Gimle terrasse und zwei in der Fritzners gate waren ebenfalls ums Leben gekommen, konnten aber identifiziert werden und erhielten wenige Tage später eine anständige Beerdigung. Eine Frau aus der tschechischen Botschaft ein Stück weiter die Straße hinunter hatte sich auf dem Weg zu einem frühen Mittagessen befunden. Auch sie hatte nicht überlebt.

Zusätzlich zu den vermutlich dreiundzwanzig Todesopfern gab es acht mehr oder minder schwer Verletzte. Unter ihnen der amerikanische Pastor der Kirche schräg gegenüber, der mit dem kleinen Jack Russel seiner Frau unterwegs gewesen war. Der Hund war sofort tot, der Pastor erlitt Gesichtsverletzungen, die ihm mehrere plastische Operationen einbringen würden. Die wenigsten interessierten sich in den kommenden Tagen für die materiellen Schäden, aber die waren gewaltig.

Die Bombe explodierte am Dienstag, dem 8. April 2014, um 10.57 Uhr.

Hanne Wilhelmsen schaute auf ihre Armbanduhr, die drei Minuten vor elf zeigte.

»Was zum …«

»Was war das, verdammt?«, brüllte Billy T.

Er legte die Hände auf den großen Couchtisch aus getöntem Glas. Der zitterte noch immer. Ein riesiges Fenster zur Kruses gate war diagonal geborsten, ein scharfer Riss verlief von einer Ecke zur anderen.

»Nicht schon wieder«, flüsterte Hanne, rollte zu dem Fenster und schaute vorsichtig hinaus. »Das kann doch keine …«

»Eine Bombe? Nein …«

Billy T. erhob sich von dem tiefen Sofa und machte sich an seinem Handy zu schaffen.

»Bei VGsteht nichts online«, murmelte er und ging ans Fenster.

»Das Internet ist schnell«, sagte Hanne säuerlich. »Aber nicht blitzschnell.«

»Gasexplosion? Unglück?«

Hanne fuhr zurück zum Glastisch und griff nach der Fernbedienung. Ein riesiger, schwach gebogener Flachbildschirm tauchte hinter einer Holzvertäfelung auf, die sich lautlos nach oben und in die Wand zurückzog. Nach einigen Sekunden erschien die Website von Twitter.

»Twitter? Bist … bist du bei Twitter, Hanne?«

»Nur als anonymer Eierkopf. Ich twittere niemals selbst. Aber es ist das schnellste Medium der Welt, und in solchen Augenblicken … Schau mal.«

Sie deutete mit der Fernbedienung auf den Bildschirm.

Die drei letzten Tweets handelten von dem Knall. Hanne drückte auf Refresh.Sieben Mitteilungen. Noch ein Tastendruck. Elf Mitteilungen. Sie fing an zu scrollen. Bald tauchte ein Hashtag auf, und sie fuhr mit dem Cursor zu #osloexpl, um mehr zu erfahren.

»Da«, sagte sie und ließ die Hand mit der Fernbedienung langsam auf ihren Oberschenkel sinken. »Oh, verdammt.«

Billy T. fuhr sich mit beiden Händen über den Schädel.

»Scheiße«, sagte er leise. »Das ISAN-Büro. Kreuzung Fritzners gate und Gimle terrasse. Wieder so ein verdammter Tempelritter?«

Hanne gab keine Antwort, sie war in den anwachsenden Strom von Mitteilungen vertieft. Viele wirkten reichlich verwirrt. Einige behaupteten, es handle sich um einen misslungenen Überfall auf die amerikanische Kirche. Einzelne Mitteilungen waren in einer Sprache, die Hanne für Tschechisch hielt, als ihr einfiel, dass die tschechische Botschaft in der Nachbarschaft des ISAN-Büros lag.

»Aber gerade der ISAN kann doch eigentlich niemandem Angst machen«, meinte Billy T. entsetzt. »Die sind doch norwegischer als ich. Und sie wollen mit allen und jedem zusammenarbeiten. Außerdem ist ihr zweiter Vorstand eine Frau, ganz ohne Kopftuch.«

»In den alten Tagen wärst du hingerannt«, stellte Hanne trocken fest und schaltete den norwegischen Rundfunk ein. Aber der NRK hatte bisher noch nichts zu bieten, er sendete eine Wiederholung von Reportagen aus der norwegischen Provinz.

»Gerannt?«

»Die Gimle terrasse ist nur ein paar Hundert Meter von hier entfernt. Du könntest vor der Polizei dort sein. Vor den Rettungswagen.«

»Ich bin nicht mehr bei der Polizei. Ich dachte, wenigstens das hättest du mitgekriegt.«

»Billy T.«

Ihre Stimme klang resigniert, und sie drehte den Stuhl zu ihm um.

»Das war ein gewaltiger Knall. Es kann Verletzte geben. Wenn ich nicht in diesem Stuhl säße, wäre ich schon fast dort. Da gibt es Menschen, die Hilfe brauchen.«

Er starrte sie an, kniff die Augen zusammen und biss sich auf die Unterlippe.

»Komm danach zurück«, sagte sie ruhig. »Dann können wir weiterreden. Ich lass dich rein, versprochen.«

Jetzt war Billy T. schon aus der Tür. Er rannte die Treppe hinunter und war bereits außer Atem, als er die Straße erreichte.

 

Als Billy T. bei der Gabels gate die Bygdøy allé im Zickzack zwischen den Autos überquerte, die im Chaos nach der Explosion nur schrittweise vorankamen, ging ihm die Luft aus. Widerwillig drosselte er sein Tempo. Seine Lunge brannte, und er hatte heftiges Seitenstechen. Er griff sich an die Milz und schob sich durch die Menschenmenge, die sich auf dem breiten Bürgersteig versammelt hatte. Leute stiegen zögernd aus ihren stehenden Autos. Zwei Taxifahrer stritten sich lauthals mitten auf der Straße, alle wirkten vollkommen verwirrt. Niemand wusste genau, was geschehen war. Die meisten schauten in den Himmel, als glaubten sie an eine Flugzeugexplosion. Eine ältere Frau weinte und wurde von einem Anzugträger mittleren Alters ungeschickt getröstet, der alle fünf Sekunden auf die Uhr sah. Die Sirenen waren immer lauter zu hören.

Billy T. bereute es sofort. Er hatte an einem Tatort nichts zu suchen. Es war nur eine Frage von Minuten, dann würden Polizei, Krankenwagen und Löschfahrzeuge vor dem ISAN-Büro eintreffen und mehr als genug damit zu tun haben, die Schaulustigen zurückzuhalten. Da brauchte er sich nicht auch noch aufzudrängen. Er war nutzlos, wie schon seit vielen Jahren.

Er verlangsamte seine Schritte.

Ein junger Mann kam auf dem Bürgersteig auf ihn zugelaufen, eng an die braune Klinkermauer gepresst. Er hatte einen dunkleren Teint, und unter seiner abgenutzten offenen Windjacke trug er ein militärgrünes Qamis. Die Hose darunter war zu lang, und an den verschlissenen Turnschuhen war ein Schnürsenkel aufgegangen. Der ungepflegte Bart des jungen Mannes reichte bis über die Wangenknochen hinauf und breitete sich zudem auf seinem Hals aus.

Er war der einzige Mensch in der Bygdøy allé, der sich von der Explosionsstätte entfernte.

Billy T. war seit fast fünf Jahren nicht mehr bei der Polizei. Statt das Ergebnis der drei Disziplinaruntersuchungen abzuwarten, die er sich in den letzten vier Monaten seiner Laufbahn eingebrockt hatte, hatte er im Juni 2009 seine Kündigung eingereicht, um einem Rauswurf zuvorzukommen.

Das Problem war jedoch, dass er nie aufgehört hatte, Polizist zu sein.

Rasch musterte er die Umgebung. Und ehe der Mann auch nur einen weiteren Schritt gemacht hatte, wusste Billy T., wie viele Menschen auf dem Bürgersteig standen, welche Autos verbotenerweise zwischen den Kastanienbäumen schräg auf dem Bordstein parkten und welche im Verkehr auf der Straße feststeckten. Er hatte außerdem das Tempo und damit die künftige Position aller beweglichen Elemente im Umkreis von hundert Metern berechnet. Ohne weiter nachdenken zu müssen, machte er einen großen Schritt nach links.

»He, du.«

Der Mann starrte ihn an. Er war jetzt vielleicht acht Meter von Billy T. entfernt auf der Höhe einer Frau mit Kinderwagen, die stehen geblieben war, um dem lautstarken Gespräch einer Gruppe älterer Frauen zuzuhören, das jetzt abrupt verstummte.

»Du, ja!«

Billy T. ging mit energischen Schritten auf den Jungen zu, bereit, ihm den Weg abzuschneiden, falls er losrennen wollte.

»Ich?« Der junge Mann blieb stehen und schlug sich auf die Brust. »Meinen Sie mich?«

»Ja. Wo willst du hin? Was hast du … Aber … Shazad? Bist du das?«

Der Blick des Mannes flackerte. Billy T. hatte ihn jetzt erreicht. In ihrer Nähe wurden immer mehr Menschen auf sie aufmerksam.

»Ich glaube, ich muss weiter«, sagte Shazad gepresst.

»Wohin willst du?«

»Nach Hause. Das ist hier gerade kein guter Ort für mich.«

»Ich finde«, erklärte Billy T. leise, »dass du dich jetzt am besten an mich halten solltest. Komm.«

Er legte einen Arm um die schmalen Schultern des Jungen, der einen Kopf kleiner war als er. Dann drehte er den Frauen entschlossen den Rücken zu und ging in Richtung Gabels gate los. Die Ampel blinkte jetzt nur noch gelb, als ob sie vor dem nicht mehr regelbaren Verkehr kapituliert hätte.

»Den da sollte sich mal die Polizei vorknöpfen«, rief ein Mann in Designerjeans und enger Lederjacke. »He! Sie da! Die Mistkerle haben halb Frogner in die Luft gesprengt.«

Aus dem rechten Augenwinkel sah Billy T. drei Männer seitlich auf sie zulaufen. Sie waren aus einem Fotoladen an der Ecke gekommen, und einer hielt ein Kamerastativ in der Hand.

»Halt!«, schrie die Lederjacke und wurde schneller.

Der Lärm der Sirenen war jetzt ohrenbetäubend. Billy T. registrierte zwei uniformierte Motorradfahrer auf der gegenüberliegenden Straßenseite und wusste nicht, ob er erleichtert oder besorgt sein sollte. Shazad, der sich immer enger an ihn gedrückt hatte, ergriff die Flucht, indem er plötzlich stehen blieb, unter Billy T.s Arm durchtauchte und losrannte. Als das erste Motorrad den Zebrastreifen erreichte und beschleunigte, weil sich eine fünfzig Meter lange Lücke zwischen den Autos offenbarte, war Shazad schon auf der Straße.

Der Polizist versuchte, sein Motorrad herumzuwerfen. Das schwere Zweirad schlingerte, kippte um und rutschte auf der Seite weiter. Billy T. stand wie erstarrt. Er brachte keinen Laut über die Lippen. Nur der Lärm der Sirenen war zu hören, als das Vorderrad des Motorrades Shazads Beine dicht oberhalb der Knöchel traf. Sein Körper wurde hochgeschleudert und landete vier Meter weiter auf der Motorhaube eines BMW.

Langsam ging Billy T. dorthin.

Shazad lag auf dem Bauch, die Arme ausgestreckt, wie um die Motorhaube zu umarmen. Sein Blick aber war starr auf etwas oben am Himmel gerichtet. Seine Füße hingen in einem unnatürlichen Winkel von den Beinen.

Eine stark übergewichtige Frau mit stahlgrauen Haaren kam mit kurzen Schritten und pfeifendem Atem angelaufen. »Ich bin Ärztin«, schrie sie und stieß alle beiseite. »Ich bin Ärztin.«

Drei Meter vom Auto entfernt blieb sie stehen.

Billy T. hätte der Leiche am liebsten die Augen geschlossen. Er holte tief Luft und murmelte etwas, das niemand hörte.

»Billy T.«, sagte jemand hinter ihm. »Was machst du denn hier?«

Der Polizist hatte das Visier hochgeschoben. Sein Kollege saß ein Stück entfernt auf dem Boden, die Knie angezogen und den Helm als Stütze im Kreuz. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, er schien den Unfall aber unversehrt überstanden zu haben.

»Gundersen.« Billy T. nickte, ohne ihm die Hand zu reichen.

»Was ist passiert? Wer zum Teufel ist … was haben wir denn hier?«

Der Polizist zeigte auf eine Ausbeulung unter dem Jabador.

»Hier haben wir Shazad Beheshdi.«

»Was? Ich hatte eher das hier gemeint.«

Gundersen griff nach einem Zipfel des Jabador, der im Reißverschluss der Windjacke festklemmte. Er musste die Handschuhe ausziehen und beide Hände zu Hilfe nehmen, um ihn loszureißen.

»Wir sollten vielleicht nicht zu viel durcheinanderbringen«, sagte Billy T. leise. »Und zuerst ein paar Fotos machen?«

»Was ist das hier?« Gundersen zog ein Plastikspielzeug aus den weiten Gewändern. »Darth Vader«, antwortete er selbst und musterte die Figur genauer. »Ich muss schon sagen. Ein Scheißspielzeug.«

Die Figur war vielleicht fünfundzwanzig Zentimeter groß und überaus aufwendig gestaltet. Die Schalttafel über der Brust war bis ins kleinste Detail nachempfunden, und als Billy T. sich vorbeugte, glaubte er zu sehen, dass man die Schalter ein- und ausknipsen konnte. In der rechten Hand hielt Darth Vader ein Lichtschwert. Das war allerdings zerbrochen.

»Was ist denn passiert?«, fragte Billy T., ohne den Blick von der Figur zu nehmen.

»Das weißt du besser als ich. Hast du gesagt, du kennst den Typen? Warum ist er auf die Straße …«

»Ich meine dahinten. Gimle terrasse.«

»Explosion. Ganz schön heftig. Angeblich beim ISAN. Ziemlich chaotisch das Ganze. Kannst du …«

Er unterbrach sich und reichte Billy T. die Figur.

»Krogvold ist zwar ein bisschen mitgenommen.« Er nickte zu seinem Kollegen hinüber, der sich jetzt vom Asphalt erhoben hatte und offenbar prüfte, ob noch alle seine Knochen intakt waren. »Aber er kann sich um das hier kümmern. Kannst du ihm helfen? Ich muss sehen, dass ich weiterkomme. Da vorn ist offenbar in jeder Hinsicht die Hölle los.«

Zögernd nahm Billy T. das Spielzeug an.

»Ich kann ja nicht viel tun. Ich habe kein Funkgerät, und wir müssten wohl …«

Aber Gundersen hörte ihn schon nicht mehr. Er saß bereits wieder auf seinem Motorrad und bellte Krogvold einen kurzen Befehl zu, dann ließ er den Motor an.

Billy T. starrte noch immer auf die dunkle Figur.

Es war kein Spielzeug, das wusste er. Es war ein Sammlerstück, und es wäre sehr wertvoll gewesen, wenn das rote Lichtschwert nicht zerbrochen wäre. Früher, vor vielen Jahren, hatte er auch so einen Darth Vader gekauft. Dieselbe Haltung. Die gleichen Schalter auf der Brustplatte. Der gleiche schwarze, gewellte Umhang.

Krogvold kam näher. Billy T. kehrte ihm für einen Moment den Rücken zu. Seine Jeansjacke war eng, er musste sich eine neue besorgen, aber immerhin konnte er die Figur in die Achselhöhle unter das Teddyfutter quetschen.

Ohne zu grüßen, ohne abzuwarten, ohne noch mit irgendwem zu sprechen, ging er ruhig los. Hinter sich konnte er hören, wie der Polizist den Umstehenden befahl, größere Distanz zu halten. Das Funkgerät knisterte, als er einen Rettungswagen herbeirief, und Billy T. beschleunigte seine Schritte. Erst als er den Frognervei auf Höhe der Kruses gate erreicht hatte, blieb er stehen. Vorsichtig zog er die Figur hervor. Er hatte unterwegs den Arm an den Körper gepresst, um Darth Vader nicht noch mehr zu beschädigen, und abgesehen von dem zerbrochenen Lichtschwert war die Figur unversehrt.

Der Helm konnte abgenommen werden, stellte Billy T. fest.

Genau wie bei der Darth-Vader-Figur, die er vor langer Zeit gekauft hatte.

Seine Zunge prickelte unangenehm, als er die Figur schließlich umdrehte. Billy T. versuchte zu schlucken, aber auf einen Schlag wurde ihm schlecht.

In den Sockelboden war ein Name eingeritzt.

Mit kindlichen Buchstaben und einer Nagelschere, Billy T. wusste noch, wie wütend er gewesen war, als der wertvolle Sammlergegenstand aus der Originalverpackung genommen und ruiniert worden war, von einem Jungen, dem er streng befohlen hatte, dieses viel zu schöne Geschenk nur zur Ansicht in ein Regal zu stellen.

Linus Bakken, stand da in Krakelschrift.

Billy T. klemmte sich Darth Vader wieder unter den Arm. Er hob den Blick und wandte sich nach Westen. Eine dicke schwarze Rauchsäule stieg gen Himmel, ehe sie sich mit einer immer tiefer hängenden Wolkendecke verband.

 

Das Teelicht war heruntergebrannt, und der schmale Rußfaden, der sich zur Decke hinschlängelte, veranlasste Hanne Wilhelmsen, sich vorzubeugen und zwei Finger um den qualmenden Docht zu pressen.

»Du kommst sehr spät«, sagte sie zu Billy T.

»Ja.«

»Tee? Ein Bier?«

»Nichts, danke. Ich habe das hier.«

Er deutete müde auf eine Flasche Cola light und ließ sich in einen Sessel fallen.

Der Fernseher lief lautlos. Hanne ließ den Bildschirm nicht aus den Augen. Die Bilder von der Gimle terrasse waren entsetzlich. Obwohl die Presse offenbar zurückgedrängt worden war, als die Polizei den Ort der Explosion abriegelte, tauchten immer neue Szenen auf, die in den Minuten des vollständigen Chaos mit Smartphones aufgenommen worden waren. Viele Schaulustige waren so dicht an das ISAN-Büro herangelangt, dass die Fernsehanstalten Leichen und Körperteile unkenntlich machen mussten.

»Hast du etwas tun können?«

»Wie?«

»Da.«

Sie nickte zum Bildschirm hinüber.

»Nein. So weit bin ich nicht gekommen.«

Er schüttelte den Kopf und sah sich in dem eleganten Zimmer um. Es war so frisch renoviert, dass vom Boden noch der Duft von frischem Holz aufstieg.

»Tolle Bude«, murmelte er. »Ich wusste ja, dass sie ganz schön was hermacht, aber jetzt ist sie wirklich irre. Nefis hat ja Kohle, aber was hat der Spaß hier eigentlich gekostet?«

Hanne griff nach der Fernbedienung und stellte den Ton an. Einige Experten für das gesamte Spektrum von Bomben bis Extremismus waren jetzt mit ernster Miene im Studio versammelt. Hanne seufzte resigniert, als sie sah, dass auch Kari Thue eingeladen worden war, als einzige Frau in der Runde.

»Die Frau leidet doch an Verfolgungswahn«, sagte Billy T. und öffnete die wütend zischende Flasche. »Total verrückt. Aber wenn sich wirklich herausstellen sollte, dass Muslime auf ihre eigenen Leute einen Anschlag verübt haben, dann ist das natürlich Wasser auf die Mühlen solcher Leute. Jedenfalls ist das im Moment die Theorie. Arme Teufel. Immer sollen die an allem schuld sein. Als es die Regierung und die Arbeiterjugend erwischt hat, dachten ja auch alle, die wären es gewesen, bis dann dieser jämmerliche Kotzbrocken aus dem Villenviertel gefasst wurde. Und jetzt, wenn sich der Angriff gegen Muslime richtet, sollen schon wieder sie die Täter sein.«

Hanne gab keine Antwort. Sie hatte sieben Jahre zuvor das zweifelhafte Vergnügen gehabt, einige dramatische Tage in Finse in Kari Thues fanatisch antiislamischer Gesellschaft zu verbringen. Der Zug, in dem sie beide unterwegs gewesen waren, war beim Tunnel durch Finsenuten entgleist. Dann wurden zwei Menschen ermordet, als sie allesamt im Hotel 1222 festsaßen, und Hannes Antipathie gegen die kleine Krähe war so stark gewesen, dass sie die Frau anfangs und zu Unrecht für eine Doppelmörderin gehalten hatte.

»Noch weiß niemand etwas«, sagte sie. »Es gibt nur Spekulationen. Das war voriges Mal auch in den ersten Stunden so, und das ist immer dumm. Du weißt schon, alle Möglichkeiten offenhalten, sich nicht auf eine Theorie versteifen, das ist die Devise. Deshalb waren wir so … unschlagbar, du und ich.«

Sie lächelte ihn an. Zum ersten Mal seit mehr als elf Jahren. Nicht strahlend, nicht einmal sonderlich freundlich. Aber sie lächelte. Er grinste zurück.

»Das waren Zeiten.«

Sie nickte kurz, und das Lächeln verschwand.

»Du brauchst Hilfe, hast du gesagt. Etwas mit Linus. Ich begreife ja nicht, wie ich dir überhaupt bei irgendwas helfen kann, es sei denn, du benötigst Geld. Allzu viel habe ich zwar auch nicht, aber ich kann mit Nefis sprechen. Sie hat, wie du eben bemerkt hast, genug Kohle.«

Er kniff die Augen zusammen und drehte mit wütenden Bewegungen den Verschluss auf seine Flasche.

»Wofür hältst du mich, verdammt noch mal? Ich komm ja wohl nicht her und demütige mich vor Gott und der Welt …«, die Colaflasche zeigte zur Nachbarwohnung hinüber, »… weil ich dich um Geld anhauen will! Oder schlimmer noch, deine Frau um Geld anhauen!«

Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern. Dann stellte sie den Fernseher wieder leiser. Billy T. starrte sie an, als suchte er etwas, während sie, statt ihn anzusehen, offenbar die Sendung verfolgte.

Nicht nur er hatte sich im Laufe der Jahre verändert. Hannes Haare waren grau geworden, vor allem an den Schläfen. Sie trug sie schulterlang mit einem schiefen Pony, der ihr immer wieder über das eine Auge fiel. Vor dem schicksalhaften Tag kurz nach Weihnachten 2002, als sie eine Hütte in Nordmarka gestürmt hatte und dort von einem verbrecherischen Polizisten angeschossen worden war, hatte sie immer Gewichtsprobleme gehabt. Jetzt war sie schlank, fast mager. Ihr Nasenrücken wirkte schärfer als früher, ihre Wangenknochen höher. Ihre Hände waren sehnig und schmal, die Adern zeichneten sich unter der dünnen Haut deutlich ab. Die toten Beine waren dünn wie Pfeifenreiniger.

Sogar die Augen waren verändert, fand er. Auch wenn sie noch immer eisblau waren, mit demselben markanten schwarzen Ring um die Iris. Billy T. konnte nicht genau festmachen, was sich an ihren Augen verändert hatte, bis Hanne ihm plötzlich ins Gesicht starrte und sagte: »Na gut. Wenn du nicht um Geld bitten willst, was willst du dann?«

Er erstarrte.

Sie hatten ihre Ausbildung zusammen absolviert und waren Kollegen gewesen, Hanne Wilhelmsen und Billy T. Sie waren befreundet gewesen, mehr als nur befreundet, einmal fast sogar ein Paar. Eines Nachts war sie ihm nähergekommen, als das jemals irgendeinem anderen Menschen gelungen war. Aber sie hatte ihn auch oft abgewiesen. Verletzt. Hatte sich verschlossen, war weggelaufen und hatte ihn mit Schweigen und Geheimniskrämerei in den Wahnsinn getrieben.

Aber sie war ihm nie mit Kälte begegnet. Niemals hatte sie ihn dermaßen verhöhnt.

Er schlug die Augen nieder.

»Was ist eigentlich mit dir passiert?«, fragte er, als er sicher war, dass seine Stimme wieder trug.

»Mit mir? Ich bin angeschossen worden. Mein Rückgrat wurde zerstört. Ich habe den Dienst quittieren müssen. Water under the bridge.«

»Ich versteh das einfach nicht. Nach all den Jahren. Allem, was wir hatten. Und dann einfach …« Er versuchte, mit den Fingern zu schnippen, aber das gelang ihm nicht ganz. »Wupps«, sagte er deshalb. »Wupps, und schon war ich einfach aus deinem Leben gestrichen. Ohne Erklärung. Ohne auch nur irgendeinen Vorwurf zu hören, der es mir vielleicht ein bisschen leichter gemacht hätte …«

»Billy T.!«

Ihre Stimme war so scharf, dass er verstummte.

»Du hast ein Problem mit Linus«, sagte sie etwas sanfter, ohne den Bildschirm aus den Augen zu lassen. »Ich schlage vor, du erzählst mir, worum es geht. Dann kann ich den naheliegenden Schluss ziehen: Ich kann dir nicht helfen. Und du kannst wieder gehen. Ich würde mir eigentlich gern diese Sendung ansehen.«

»Die werden rund um die Uhr berichten. Jede Menge Wiederholungen.«

»Da hast du recht.«

»Etwas stimmt nicht mit Linus.«

Hanne griff nach ihrer Brille und setzte sie auf. Sie warf noch einen Blick auf den Fernseher, dann wandte sie sich Billy T. zu und musterte ihn über den Brillenrand hinweg.

»Ist er krank?«, fragte sie.

»Nein.«

»Wie alt ist er inzwischen? Zwanzig, einundzwanzig?«

»Zweiundzwanzig.«

»Und es geht ihm nicht gut?«

»Nein. Doch … Das ist vielleicht das Problem. Er würde dir sicher sagen, dass es ihm noch nie so gut gegangen ist. Falls er überhaupt antwortete. Zu mir hat er im vergangenen halben Jahr kaum ein Wort gesagt.«

»Was macht er denn so?«

»Er will den Schulabschluss nachholen. Er hat damals die Schule einfach abgebrochen. Hat nur Unsinn getrieben.«

»Hat Iris sich das bieten lassen?«

»Grete. Seine Mutter heißt Grete.«

»Fünf Kinder mit fünf verschiedenen Frauen, Billy T. Da kannst du mir kaum einen Vorwurf machen, dass ich sie nach all den Jahren nicht mehr auseinanderhalten kann.«

»Sechs«, murmelte er.

»Sechs? Kinder? Hast du mit Tone-Marit noch eines bekommen?«

»Nein. Mit Tone-Marit habe ich nur Jenny. Wir haben uns in dem Sommer getrennt, nachdem du …«

Er deutete mit einem Nicken auf den Rollstuhl.

»Niclas habe ich mit … einer anderen.«

Wieder glaubte er, die Andeutung eines Lächelns zu sehen. Dann schüttelte sie kurz den Kopf.

»An Linus erinnere ich mich«, sagte sie nach einer Pause und ohne sich nach der Mutter seines sechsten Kindes zu erkundigen. »Er war ein feiner kleiner Bursche. Ich bin auch überzeugt davon, dass er sich zusammenreißt. Dass er die Schule fertig macht, um …«

»Er ist ein anderer geworden, Hanne.«

»Menschen verändern sich. Vor allem in dem Alter.«

»Nicht so wie …«

»Es ist schon halb elf, Billy T. Als die Bombe hochgegangen ist, habe ich gesagt, du könntest später zurückkommen. Nicht in der Nacht. Und jetzt ist es für mich Nacht. Nach dem, was du bisher erzählt hast, kann ich wohl kaum etwas für Linus tun. Es klingt eigentlich auch nicht so, als ob er überhaupt Hilfe brauchte. Was meint der Junge denn selbst?«

»Wie gesagt, er ist nicht gerade gesprächig. Meine Güte, Hanne! Weißt du noch, wie er immer drauflosgeplappert hat? Unaufhaltsam, er …«

»Hammo!« Ein schlankes Mädchen war in der Tür erschienen. Hannes Tochter war relativ groß für ihre zehn Jahre. »Ich kann nicht schlafen. Glaubst du, es gibt noch eine Explosion?«

»Ida«, sagte Hanne. »Komm her.«

Die Kleine lief barfuß durch das Zimmer. Flink und geschmeidig kletterte sie auf Hannes Schoß.

»Hallo«, sagte sie ernst und starrte Billy T. mit den größten, braunsten Augen an, die er jemals gesehen hatte. »Ich heiße Ida Wilhelmsen.«

»Hallo. Ich heiße Billy T. und bin ein Freund von …«

»Billy T. und ich waren vor sehr langer Zeit zusammen bei der Polizei«, unterbrach ihn Hanne. »Aber jetzt wollte er gerade gehen.«

Sie küsste Ida auf den Scheitel und streichelte ihre Wange.

»Du musst versuchen zu schlafen, Herzchen. Morgen ist Schule. Es gibt keine Explosion mehr. Geh wieder ins Bett, dann komm ich gleich und sag noch mal Gute Nacht. Okay?«

Ida lief zurück zur Tür und verschwand so schnell irgendwo in der Wohnung, wie sie aufgetaucht war. Billy T. glaubte, ihren Duft noch wahrnehmen zu können, den Duft nach Kind und Bettwäsche und vielleicht Shampoo.

»Reizendes Mädchen«, sagte er.

»Ja. Sie ähnelt Nefis. Da haben wir Glück gehabt.«

»Wie hat sie dich genannt? Hammo? Warum das? Und warum hat sie nur deinen Nachnamen?«

Hanne warf demonstrativ einen Blick auf ihre Armbanduhr.

»Du findest selbst zur Tür, ja?«

Er blieb sitzen.

Sie drehte den Rollstuhl zum Bildschirm um.

»Warum bist du hergekommen?«, fragte sie so leise, dass er nicht sicher war, ob er sie richtig verstanden hatte.

»Wie gesagt, ich mache mir Sorgen um Linus, dass er in irgendwas hineingerutscht sein könnte und …«

»Nein«, fiel sie ihm ein wenig lauter ins Wort. »Warum bist du hergekommen? Gerade zu mir? Nach all diesen Jahren, warum um alles in der Welt bittest du ausgerechnet mich um Hilfe?«

Billy T. erhob sich langsam. Er steckte die halb leere Colaflasche in die Jackentasche.

»Ich glaube, Linus ist in irgendeine kriminelle Szene hineingeraten«, stieß er laut hervor, in der Angst, abermals unterbrochen zu werden. »Ich will nicht zur Polizei. Ich habe auch keine konkreten Anhaltspunkte. Aber ich brauche Hilfe beim Nachdenken. Beim Überlegen. Ich brauche Hilfe von einem Menschen mit Polizeierfahrung. Der aber nicht bei der Polizei arbeitet. Der nichts mit der Polizei zu tun hat. Du hast zu niemandem dort mehr Kontakt, wenn ich das richtig verstanden habe. Außerdem hast du Linus früher gekannt. Damals, als alles noch …« Er zuckte mit den Schultern. »Whatever. Ich bin ziemlich verzweifelt und dachte, es wäre eine gute Idee. Hab ja jetzt kapiert, dass das ein Irrtum war.«

»Ja. Das war ein Irrtum.«

Er zuckte abermals mit den Schultern und ging auf die Tür zu.

»Das war ein Irrtum«, wiederholte sie etwas lauter, und er blieb stehen und drehte sich um.

»Ja«, antwortete er gereizt. »Das hast du schon gesagt.«

»Nicht nur, weil ich dir nicht helfen kann.«

»Na gut. Von mir aus. Ich habe geschnallt, dass das ein Schuss in den Ofen war.« Er hob resigniert die Hand und schaute sich in dem riesigen Wohnzimmer um. »Verdammt, Hanne. Du hast dich aus freien Stücken in diesem kackfeinen Gefängnis verbarrikadiert. Du hast alle alten Freunde fallen lassen. Du verlässt diese Wohnung kaum, nach dem wenigen zu urteilen, was ich in diesen elf Jahren über dich gehört habe. Du arbeitest nicht. Du …«

»Falsch.«

»Falsch?«

»Ja. Ich arbeite jetzt wieder.«

»Was?«

In seinem Gesicht kämpften Skepsis und Unglauben miteinander.

»Ja«, wiederholte sie. »Ich arbeite jetzt wieder.«

»Du? Du warst doch heute Morgen zu Hause, und … wo … wo um alles in der Welt arbeitest du denn?«

»Bei der Polizei«, antwortete Hanne Wilhelmsen. »Ich arbeite wieder für die Osloer Polizei, Billy T., und ich kann dir nicht helfen.«

 

Die Osloer Polizeidirektorin Silje Sørensen warf eine leere Dose zuckerfreies Red Bull in den Papierkorb, dann ging sie zum Fenster und lehnte die Stirn an die Fensterscheibe. Ihr Atem ließ die Scheibe leicht beschlagen. Draußen war es dunkel, und das Wetter war noch schlechter geworden. Im Laufe der Jahre fiel es ihr immer schwerer, auf den Frühling warten zu müssen. Der April war am schlimmsten. Große nasse Schneeflocken fielen dicht an dicht und bedeckten jetzt den frühlingsgrünen Rasen vor dem Gefängnis.

»Es ist nach Mitternacht«, sagte ihr Stellvertreter, als er ohne anzuklopfen ihr Zimmer betrat. »Irgendwer von uns kann doch nach Hause gehen.«

»Geh du. Ich bin wirklich nicht müde.«

»Vielen Dank. Ich wollte dich aber vorher noch kurz auf den aktuellen Stand bringen.«

Silje Sørensen drehte sich um. Håkon Sand, einer ihrer drei Stellvertreter und zugleich der Leiter der Kriminalabteilung, gähnte ausgiebig und unternahm dabei gar nicht den Versuch, es zu verbergen.

»Ganz schön schwieriger Fall, und das jetzt schon«, sagte er, während er energisch den Kopf schüttelte. »Du hast deinen Posten doch erst vor vier Wochen angetreten, oder?«

»Fünf«, entgegnete sie knapp, ging zu ihrem Bürostuhl und setzte sich. »Und ja. Ganz schön schwieriger Fall.«

»Bisher bestätigte Todesfälle«, sagte er mit demonstrativ sachlicher Stimme, »zehn. Dazu kommen dreizehn Vermisste, die vermutlich tot sind. Eine Zahl, die noch steigen kann, aber das ist wenig wahrscheinlich. Außerdem …«

»Das weiß ich schon seit mehreren Stunden, Håkon. Wenn du nicht mehr berichten kannst, dann geh besser gleich nach Hause.«

»Muhammad Awad.«

»Was?«

»Es gibt Hinweise darauf, dass hinter der Bombe ein junger Mann namens Muhammad Awad steckt.« Er fischte eine Tabakdose aus der rechten Vordertasche seiner Hose. Sein regelmäßiger Konsum hatte einen deutlichen Ring in den Jeansstoff geprägt. »Ohne dass wir deshalb viel mehr darüber wüssten, wer er ist.«

Silje Sørensen beugte sich vor, legte die Unterarme auf den Schreibtisch und faltete die Hände. Sie schaute ihn mit ausdrucksloser Miene an.

»Muhammad Awad«, wiederholte Håkon und schob seinen Priem mit der Zunge zurecht. »Dreiundzwanzig Jahre alt. Hier geboren, seine Eltern kommen aus dem Sudan. Flüchtlinge. Seit 1988 in Norwegen. Als Muhammad geboren wurde, war seinen Eltern gerade eine Wohnung in Groruddalen zugewiesen worden, und dort wuchs der Junge mit drei älteren und zwei jüngeren Geschwistern auf. Allesamt Mädchen.«

Wieder gähnte Håkon Sand so nachdrücklich, dass ihm die Tränen kamen. Er schnappte sich eine Tasse vom Schreibtisch und warf einen kurzen Blick hinein, ehe er sich den Rest des zimmertemperierten Kaffees einverleibte, ohne auch nur eine Miene zu verziehen.

»Die Mädels machen sich gut. Die beiden ältesten studieren. Mit den jüngeren gibt es auch keine Probleme. Der Vater hat eine Tankstelle in Furuset, und die Mutter ist Hausfrau.«

Die Polizeidirektorin schwieg noch immer.

»Auch Muhammad war zuerst ein braver Junge«, fuhr Håkon Sand fort und massierte sich den Nacken. »Lange. Hat die Gesamtschule mit ziemlich guten Noten beendet. Das ist jetzt vier Jahre her, und wir wissen nicht so genau, was er seitdem gemacht hat. Aber wir haben Grund zu der Annahme, dass er einen Radikalisierungsprozess durchlaufen hat.«

»Sind Leute aus dem Sudan nicht oft Christen? Oder haben eine Stammesreligion?«

»Aber Silje. Fast achtzig Prozent sind Muslime. Das ist eine islamische Republik.«

»Was sagt der PST?«

»Der Sicherheitsdienst sagt das, was ich dir gerade erzähle. Wir haben Glück gehabt.«

»Glück?«

»Der PST hatte ihn schon auf dem Schirm. Die haben ein kleines Dossier über den Kerl, wie bei vielen Typen seines Schlages.«

»Und das sind …«

Die Polizeidirektorin machte eine fragende Handbewegung.

»Wie meinst du das?«, fragte Håkon Sand.

»Typen seines Schlages. Was sind das denn für welche?«

Er zuckte kurz mit den Schultern.

»Zuwandererkinder. Kriegen hierzulande alle Möglichkeiten. Radikalisieren sich trotzdem. Beißen die Hand, die sie füttert, um das mal so zu sagen.«

»Wie du das geschildert hast, haben diesem Jungen wohl eher seine Eltern zu essen gegeben. Aber sprich weiter.«

»Wie du weißt, wird die Identifizierungsarbeit am Tatort Zeit brauchen.« Er spuckte eine Tabakflocke auf den Handrücken, dann redete er weiter: »Aber es gibt auch noch andere Spuren. Die amerikanische Kirche schräg gegenüber hat Überwachungskameras, die auf die Straße gerichtet sind, zwei davon sind leider außer Betrieb. Aber sie haben eine gerade hier …«

Ohne zu fragen, zog er das eingeschaltete MacBook auf dem Schreibtisch der Polizeidirektorin zu sich herum. Nach einem kurzen Tastendruck drehte er das MacBook wieder um und beugte sich zu Silje vor. Der Bildschirm zeigte eine Luftaufnahme von Frogner.

»Da«, sagte er und deutete auf einen Punkt am Nordbogen der Kirchmauer. »Und wie durch ein Wunder wurde sie durch die Explosion nicht ausgeschaltet. Sie zeigt leicht nach Westen und nimmt den Verkehr auf der Westseite der Gimle terrasse und dem Anfang der Fritzners gate auf.«

»Komisches Gebäude, diese Kirche. Sieht aus wie ein Weihnachtsbaum.«

»Und da liegt ein 7-Eleven«, fuhr Håkon Sand unbeirrt fort und zeigte auf eine Stelle in der Bygdøy allé. »Die haben ja bekanntlich auch Kameras. Der vorläufige Vergleich der Aufnahmen beider Kameras ergab nur eine Gemeinsamkeit.«

»Muhammad Awad, vermute ich mal.«

»Genau. Er wurde um zwanzig vor elf im 7-Eleven-Kiosk gesehen. Eine Viertelstunde danach, nur Minuten vor der Explosion, spaziert er hier …«, Håkon Sands Finger folgte der Gimle terrasse nach Osten und dann der Fritzners gate, »… und hier. Vermutlich ist er von der Bygdøy allé durch die Thomas Heftyes gate gegangen.«

»Dafür braucht er keine Viertelstunde. Das sind höchstens vier, fünf Minuten.«

»Stimmt. Seh ich auch so. Aber er war jedenfalls, kurz bevor die Bombe hochging, in der Nähe, und seitdem ist er verschwunden.«

»Wann haben wir angefangen, ihn zu suchen?«

»Gegen fünf Uhr heute Nachmittag. Bis jetzt haben wir den Namen und auch den Verdacht unter Verschluss gehalten. Es ist aber sicher nur eine Frage der Zeit, bis das an die Öffentlichkeit dringt. Früher oder später wird die Familie irgendwem erzählen, dass wir unbedingt ihren Jungen finden wollen.«

»Er könnte also eine Art … Selbstmordattentäter sein, meinst du? Der mit einer Bombe unter dem Arm durch Frogner schlendert, mal kurz im 7-Eleven eine Limo trinkt und sich und den ISAN dann gen Himmel sprengt?«

»Er hat eine Flasche Wasser gekauft.«

»Na dann.«

Silje Sørensen blies die Wangen auf und ließ die Luft dann langsam entweichen.

»Das ist alles, was wir haben, Silje. Vorerst.«

»Es ist immerhin etwas.«

»Wir stehen noch am Anfang der Ermittlungen.«

»Wir sind verdammt spät dran, das sind wir.«

Jetzt gähnte sie selbst, verbarg aber den Mund mit ihrer schmalen Hand, an der ein großer Diamant im Licht der Schreibtischlampe funkelte. Danach ließ sie sich im Sessel zurücksinken und schloss die Augen.

»Gehört er irgendeiner Gruppe an?«, murmelte sie.

»Davon weiß der PST nichts. Er hat irgendeine vage Verbindung zur Umma des Propheten, durch einen Jugendfreund aus Furuset, aber er ist nicht als vollwertiges Mitglied registriert, oder wie immer das heißen mag.«

»Umma des Propheten«, sagte sie resigniert.

»Die spinnen doch.«

»Wer sind die?«

»Jetzt hör auf, Silje.«

Håkon presste die Hände ins Kreuz und lehnte sich ein wenig zurück.

»Du bist einfach zu empfindlich. Nach all den Jahren musst du mich doch gut genug kennen, um zu wissen, dass ich kein Rassist bin. Im Gegenteil, ich habe in aller Bescheidenheit die ganze Zeit über aktiv versucht, andere ethnische Gruppen als uns Bleichgesichter zur Polizei zu holen. Meine Kinder haben viele Freunde aus muslimischen Familien. Reizende Kinder, gut im Fußball und in der Schule und was weiß ich noch alles. Die gehen bei uns zu Hause ein und aus. Also hör schon auf.«

»Ich finde es nicht gut, die zu sagen.«

»Ich meine doch die, die nichts taugen, Silje! Genauso wie ich die verdammten Dealer nicht leiden kann, die Pädowichser und den gewalttätigen Pöbel, egal, aus welcher Ecke der Welt die nun kommen. So stören mich auch die jungen Männer, die das große Los gezogen haben, weil ihre Eltern es nach Norwegen geschafft und ihnen Möglichkeiten gegeben haben, die sie selbst niemals hatten, und die uns dann mit ihrem religiösen Gegeifer ihren Hass vor den Latz knallen.«

»Deine Sprache ziemt sich aber gar nicht für einen stellvertretenden Polizeidirektor.«

»Scheiß doch drauf. Das muss ich jetzt nicht haben.«

Håkon Sand lief zur Tür und wäre fast über die Kante eines dicken Teppichs gestolpert, der viel mehr gekostet hatte, als die öffentlichen Budgets zuließen. Er blieb stehen und schaute sich wütend im Raum um, als merke er erst jetzt, mehrere Wochen nachdem Oslos neue Polizeidirektorin in das zweitoberste Stockwerk von Grønlandsleiret 44a gezogen war, dass das Büro ein wenig zu sehr wie ein Showroom wirkte.

»Hast du das alles selbst gekauft?«

»Ja.«

Er schüttelte kurz den Kopf.

»Manche haben’s wirklich gut. Geerbtes Geld und den Posten der Polizeidirektorin. Polizeidirektorin. Obwohl du erst vor drei Jahren deinen Master in Rechtswissenschaft gemacht hast. Ich geh nach Hause, wenn du nichts dagegen hast. Komme in ein paar Stunden wieder.«

Er machte auf dem Absatz kehrt.

»Wie lange kennen wir uns schon?«, fragte sie seinen Rücken.

»Was?«

»Du und ich. Wie lange kennen wir uns schon?«

»Äh … fünfzehn Jahre?«

»Achtzehn. Wir haben uns kennengelernt, als ich hier in den Dienst eingetreten hin und du ein Polizist warst, der nebenbei Jura studierte. Und seit über elf Jahren sind wir befreundet. Seit Hanne Wilhelmsen angeschossen wurde und ihr, du und Karen und Billy T., versucht habt, eine Art Arbeitsgemeinschaft zusammenzutrommeln, um eine Bresche in die Mauer zu schlagen, mit der sie sich umgeben hatte.«

»Na gut.«

»Weißt du, wie oft du schon betont hast, dass ich zufällig reich bin?«

»Nein. Bis morgen früh …«, er blickte kurz auf eine prachtvolle Wanduhr mit einem Zifferblatt aus polierter und geflämmter Eiche, »um sieben.«

»Jede Woche einmal. Mindestens. Einmal pro Woche in über elf Jahren. Eine Spitze hier, ein sarkastischer Spruch da. Und es ist schlimmer geworden, Håkon. Du bist schlimmer geworden, seit ich einen Posten bekommen habe, den du mehr verdient zu haben glaubst als ich. Weil du ein juristisches Staatsexamen hast und nicht nur einen ›Master der Rechtswissenschaft‹?« Ihre Finger malten Anführungszeichen in die Luft. »Weil du älter bist als ich? Weil du ein Mann bist?«

Håkon Sand zuckte mit den Schultern und legte die Hand auf die Türklinke.

»Ich hab das falsche Geschlecht. Das hab ich schon begriffen, als ich mich beworben habe. Und wenn du jetzt …«, er fuhr sich langsam mit der rechten Hand über das Gesicht, »… aus mir zusätzlich zu dem Rassisten auch noch einen Antifeministen machen willst, möchte ich dich daran erinnern, dass ich seit fast einem Vierteljahrhundert mit einer Frau verheiratet bin, die jetzt Richterin beim Obersten Gericht sein könnte, wenn sie nicht wegen meiner Stellung für befangen gehalten worden wäre. Das weist doch nicht gerade darauf hin, dass ich etwas dagegen habe, wenn ihr Karriere macht.«

»Aber dir eine andere Stellung zu suchen, damit Karen Richterin werden könnte, ist dir nicht in den Sinn gekommen?«

»Jesus, Silje, jetzt bist du wirklich gemein. Ich bleibe bei dem, was ich gesagt habe. Bis morgen.«

Håkon Sand wollte jetzt endgültig gehen, doch in dem Moment erschien ein Mann von Mitte dreißig in der Tür. Er trug einen Nadelstreifenanzug, ein kreideweißes Hemd und einen so straff sitzenden Schlips, dass man meinen könnte, er wäre erst vor einer Stunde gebunden worden.

»Mach mal den Fernseher an«, sagte der Mann und strich sich mit einer nervösen, fast femininen Handbewegung die üppige Mähne nach hinten. »Jetzt haben sie ein Video an TV 2 geschickt.«

»Wer denn?«

Silje griff zu einer Fernbedienung und schaltete einen Fernseher in der Ecke ein, einen großen Bang & Olufsen, der auf einem schwarz lackierten Untersatz stand. Dann wiederholte sie ihre Frage.

»Wer denn?«

Ihr Sekretär gab keine Antwort. Stattdessen riss er ihr die Fernbedienung aus den Händen und drückte auf einen Knopf.

»… Namen, der Barmherzige, der Gnadenreiche.«

Ein ernster Mann mit Takke auf dem Kopf und einem Schal vor dem Gesicht blinzelte.

»Norwegisch«, sagte Håkon Sand leise. »Er spricht Norwegisch.«

»Allahu akbar«, sagte der Mann auf dem Bildschirm.

Das Bild wurde für einen Moment schwarz, dann war ein tiefernster Moderator in einem Studio zu sehen.

»Dieses Video ist vor zwanzig Minuten bei uns eingetroffen. Es wurde selbstverständlich sofort der Polizei ausgehändigt, aber wir hier bei TV 2 halten es für unsere Pflicht, jedes Detail, das wir in einem dermaßen schwerwiegenden Fall in Erfahrung bringen können, an unsere Zuschauer weiterzugeben.«

»Verdammt«, flüsterte der stellvertretende Polizeidirektor.

»Mist«, sagte die Polizeidirektorin. »Ist das ein Bekennervideo?«

»Ja«, antwortete der Sekretär. »Bisher haben wir noch keine Ahnung, wer dieser Mann ist. Aber der PST-Chef bittet um eine Besprechung. Soll ich darauf bestehen, dass die hier im Haus stattfindet?«

»Ja. Was hat er eigentlich gesagt?«

Sie zeigte auf den Bildschirm.

»Wenn ich es richtig verstanden habe, übernehmen die die Verantwortung für die Explosion. Die Wahre Umma des Propheten. Von dieser Organisation habe ich noch nie gehört. Um ehrlich zu sein, verstehe ich diese ganzen Konflikte unter den Muslimen ohnehin nicht.« Er wischte sich ein unsichtbares Staubkorn von der linken Schulter. »Das ist nicht negativ gemeint, das nun wirklich nicht, aber es ist doch wirklich unbegreiflich, was diese Menschen so alles treiben.«

Jetzt riss er die Augen auf, als wäre er von seiner eigenen Bemerkung geschockt.

»Aber dazu darf ich mir natürlich keine Meinung erlauben. Die Besprechung findet also hier statt. Ich gebe das sofort weiter.«

»Die Wahre Umma des Propheten«, murmelte Håkon Sand und schlug die Hände vors Gesicht. »Was zum Teufel ist das denn?« Er schob sich den feuchten Priem höher unter die Oberlippe. »Schmeißt sie raus, so seh ich das. Kopf über Arsch. Raus.«

Aber das sagte er so leise, dass niemand sonst ihn hörte.

Kapitel 3

Linus gab sich offenbar alle Mühe, nicht gehört zu werden. Jedenfalls schlich er sich am Garderobenschrank in dem engen Flur vorbei, ohne seine Jacke herauszuholen. Vorsichtig öffnete und schloss er die Wohnungstür, ohne zu bemerken, dass sein Vater ihn aus seinem eigenen Zimmer heraus beobachtete und dabei ein Auge an den Türspalt presste.

Billy T. ließ eineinhalb Minuten verstreichen. Vermutlich würde Linus die Treppe nehmen, der Fahrstuhl polterte, und es war nach zwei Uhr nachts.

Dann streifte er blitzschnell in der Diele seine Turnschuhe über und nahm die Jeansjacke von einem Nagel neben dem Schrank. Er überzeugte sich davon, dass er die Schlüssel in der Jackentasche hatte, und lief aus der Wohnung.

Die nächtliche Kälte schlug ihm entgegen, als er aus dem Haus kam. Die Meteorologen hatten für das Wochenende Frühling verheißen, aber die Wettergottheiten hatten offenbar beschlossen, sich vorher noch einmal querzustellen.

Die Temperatur lag jedenfalls unter null, mindestens drei Grad. So dünn, wie Linus angezogen war, wollte er offenbar nicht weit. Der feuchte Schnee, der am Vorabend gefallen war, war jetzt harsch. Er erzählte ihm, in welche Richtung Linus unterwegs war und dass er lief. Billy T. trabte die gut sichtbaren Abdrücke entlang und schaute abwechselnd zu Boden und in die Nacht vor sich.

An der Ecke der Wohnblocks angekommen, sah er, dass Linus jetzt langsamer ging. Billy T. drosselte sein Tempo ebenfalls, und als er sich dem Refstadvei näherte, blieb er ganz stehen. Er beobachtete, wie Linus die Treppen zu dem Plateau vor der Bibliothek und dem kleinen Chinarestaurant hochlief. Billy T. wartete, bis der Junge nicht mehr zu sehen war, ehe er die Verfolgung wieder aufnahm. Sein Sohn überquerte jetzt gerade den Parkplatz vor dem REMA-Supermarkt. Offenbar wollte Linus die Brücke über die Schnellstraße nehmen. Er fror, das konnte Billy T. sehen, der Junge bohrte die Hände in die engen Hosentaschen und zog die Schultern bis an die Ohren hoch. Dadurch wurde er so langsam, dass Billy T. mehrere Male stehen bleiben musste, um nicht zu dicht an ihn heranzukommen.

Der Junge blickte sich kein einziges Mal um.

Auf der anderen Seite des Trondheimsvei ging er weiter in Richtung Årvoll. Billy T. folgte ihm im Abstand von etwa hundertfünfzig Metern.

Er wusste noch immer nicht, ob Linus von seiner Mutter hinausgeworfen worden war, als er vor einigen Monaten plötzlich in der Tür gestanden hatte und in die heruntergekommene Dreizimmerwohnung seines Vaters einziehen wollte. Da der Sohn, jedenfalls auf dem Papier, erwachsen war, hatte Billy T. sich nicht die Mühe gemacht, deshalb Kontakt zu Grete aufzunehmen. Aus seiner Sicht hatte jegliche Notwendigkeit, mit ihr zu sprechen, am achtzehnten Geburtstag des Jungen geendet. Wenn sie sich ihrerseits wegen ihres Sohnes Sorgen gemacht hätte, hätte sie ja wohl von sich aus angerufen.

Linus hatte als Erklärung nur gemurmelt, dass er den neuen Mann seiner Mutter nicht ausstehen könne. Das mochte der Wahrheit entsprechen. Oder auch nicht. Billy T. war es ziemlich egal. Anfangs hatte er sich auf eine seltsame Weise gefreut, dass Linus bei ihm wohnen wollte, und sich in den ersten Wochen alle Mühe gegeben, um das Zusammenleben angenehm zu gestalten. Er hatte gekocht und geputzt und einen neuen Fernseher und eine PlayStation gekauft, in der Hoffnung, das alte Gefühl von Zusammengehörigkeit wieder ein wenig aufleben zu lassen.

Aber Linus hatte meistens in seinem Zimmer gesessen. Wenn er überhaupt zu Hause gewesen war. Häufig schützte er die Schule vor. Gruppenarbeit, antwortete er mürrisch, wenn Billy T. ein seltenes Mal fragte, wo er hinging. Dass Linus den Schulabschluss machen wollte, schien jedenfalls zu stimmen. Wenn er bisweilen doch mit seinem Vater zusammen essen mochte, hatte er die Schulbücher neben dem Teller liegen und blickte kaum auf, wenn er um Nachschlag bat.

Die Veränderung des Jungen hatte wohl schon eingesetzt, ehe er bei Billy T. eingezogen war. Linus trug zwar noch immer Baggy Jeans und eine Militärjacke mit Löchern in den Ärmeln, aber er hatte sich die Haare kurz schneiden lassen. Mit den Wochen und Monaten tauschte er auch seine hoffnungslos jugendliche Kleidung aus. Ein dunkelblauer, halblanger Mantel war sein einziger Weihnachtswunsch gewesen, und Billy T. war zu Ferner Jacobsen gegangen und hatte viel zu viel Geld ausgegeben, um Linus eine Freude zu machen. Das war allerdings gelungen: Sein Sohn hatte sich für den Boss-Mantel mit einer schlaffen Umarmung und einem schiefen Lächeln bedankt.

Er lächelte nur dann. Wenn er etwas wollte. Oder etwas bekam. Ein Hemd. Sogar einen Schlips. Er bat oft um Geld fürs Kino oder eine Busfahrkarte. Letzteres hatte Billy T. erstaunt. Linus hatte seine ganze Jugendzeit über eine Monatskarte gehabt.

In dieser Nacht ging er zu Fuß, und er trug eine feine blaue Hose und einen passenden Pullover mit Zopfmuster. Allerdings schien er immer ärger zu frieren, jetzt trabte er wieder dahin, weiterhin mit den Händen in den Taschen. Und fast hätte er das Gleichgewicht verloren.

Aber er blickte sich nicht um.

Billy T. ließ die Entfernung zwischen ihnen kleiner werden.

Sie folgten für einige Hundert Meter dem Årvollvei. Zwei Taxis fuhren an ihnen vorbei. Ein angetrunkener Mann mit einem Hund veranlasste Linus, bei Årvoll gård den Bürgersteig kurz zu verlassen. Im Übrigen hielt er sich mit einer Zielstrebigkeit auf der rechten Straßenseite, die Billy T. zu der Überlegung brachte, ob sie vielleicht doch einen weiteren Weg vor sich haben könnten. Doch da bog der Junge nach rechts ab und lief über den Rødbergvei. Etwa ein Dutzend heruntergekommener niedriger Wohnblocks umstand aufgeweichte, halb verschneite Grünflächen. Beim zweiten Block rannte Linus so schnell über die Straße, dass Billy T. jäh stehen blieb aus Angst, entdeckt zu werden. Er befand sich jetzt nur fünfzig Meter hinter seinem Sohn, und er duckte sich rasch hinter einen Mazda, der halb auf dem Bürgersteig im Parkverbot stand.

Sowie Linus hinter dem Gebäude verschwunden war, lief Billy T. weiter. Er überquerte die Straße, und im Schutz eines grünen Abfallcontainers hatte er freien Blick auf den ersten der drei Eingänge des Rødbergvei 2.

Linus schien zu zögern, jedenfalls blieb er eine Weile auf einer kleinen Betontreppe stehen. Er trat nervös von einem Fuß auf den anderen, doch dann hob er die Hand zum Klingelschild. Billy T. kniff die Augen zusammen und beugte sich hinter dem Abfallcontainer ein wenig vor.

Die zweite Klingelknopf von unten. Links.

»Die zweite von unten links«, murmelte er vor sich hin. Das Geräusch des Türsummers erklang. Linus öffnete die Tür und ging ins Haus. Billy T. zählte bis zwanzig, dann lief er hin. Dicht an der Mauer näherte er sich der Tür, die sich hinter seinem Sohn geschlossen hatte.

»Die zweite Wohnung von unten links«, flüsterte er und beugte sich zu den Klingeln vor.

Ein Adrenalinstoß jagte durch seinen Leib, als er den kleinen Zettel sah, den irgendwer mit Klebeband befestigt hatte. Der Zettel war handgeschrieben, aber leicht zu lesen. Billy T. schluckte. Ihm war beinahe übel, und er versuchte, ruhig zu atmen.