Sex & Rage - Eve Babitz - E-Book

Sex & Rage E-Book

Eve Babitz

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Beschreibung

Der große Roman der aufregendsten Autorin Hollywoods: »Eve Babitz' Genialität ist zu offensichtlich, zu strahlend, zu wahr, um ein Geheimnis zu bleiben.« Vanity Fair Eve Babitz zählt zu den aufregendsten Wiederentdeckungen der letzten Zeit. Lange wurden ihre gleichzeitig scharfsinningen und leichthändigen Texte übersehen. Erst kurz vor ihrem Tod wurde eine Generation auf sie aufmerksam, die heute so jung ist, wie Eve Babitz zu Beginn ihrer Karriere. In Sex & Rage erzählt sie von Glamour und tiefen Abgründen – und von einer Muse, die in den 1970er-Jahren die Unverfrorenheit besitzt, selbst Künstlerin zu werden. Atemlos folgen wir der jungen Jacaranda, aufgewachsen am Strand von Los Angeles, wie sie sich durch die Höhen und Tiefen des Lebens trinkt, tanzt und feiert – und dabei mit spitzer Zunge und unbestechlicher Beobachtungsgabe ihren Zielen folgt.  »Intensiv, glamourös, rauschhaft und berauschend« The New York Times »Eve Babitz's Texte lesen sich, als hätte jemand einen Lana-del-Rey-Song in einen Roman verwandelt.« @hotliterati auf Tiktok

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Seitenzahl: 287

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Eve Babitz

Sex & Rage

Roman

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Hanna Hesse

 

Über dieses Buch

 

 

Eve Babitz zählt zu den aufregendsten Wiederentdeckungen der letzten Zeit. Lange wurden ihre gleichzeitig scharfsinningen und leichthändigen Texte übersehen. Erst kurz vor ihrem Tod wurde eine Generation auf sie aufmerksam, die heute so jung ist, wie Eve Babitz zu Beginn ihrer Karriere. In Sex & Rage erzählt sie von Glamour und tiefen Abgründen – und von einer Muse, die in den 1970er-Jahren die Unverfrorenheit besitzt, selbst Künstlerin zu werden. Atemlos folgen wir der jungen Jacaranda, aufgewachsen am Strand von Los Angeles, wie sie sich durch die Höhen und Tiefen des Lebens trinkt, tanzt und feiert – und dabei mit spitzer Zunge und unbestechlicher Beobachtungsgabe ihren Zielen folgt. 

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Eve Babitz wurde 1943 in Hollywood geboren. Ihre Mutter war Künstlerin, ihr Vater Violinist, ihr Patenonkel Igor Stravinsky. Zu Beginn ihrer Karriere  schrieb Babitz für Zeitschriften und gestaltete Albumcover. Sie verbrachte ihr ganzes Leben in Los Angeles, war dort Teil der glamourösen Party-, Musik- und Filmszene. Über diese Welt und ihre Rolle darin schrieb sie – mit scharfem Blick und doppelbödiger Leichtigkeit. So entstanden sieben, zu einem großen Teil autofiktionale Bücher. Obwohl Babitz heute oft in einem Atemzug mit Joan Didion genannt wird, wurden ihre Bücher auch in den USA erst 2019 anlässlich von Neuauflagen groß entdeckt und zu landesweiten und internationalen Bestsellern. Tragischerweise starb Eve Babitz kurze Zeit später, im Dezember 2021. Sex & Rage erscheint nun erstmals auf Deutsch.

 

Hanna Hesse, geboren 1984 und aufgewachsen in Oxford und Berlin, studierte Germanistik und Geschichte in Freiburg. Nach Stationen in der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik und im Verlagswesen lebt sie als Redakteurin und Übersetzerin aus dem Englischen in München.

Inhalt

[Widmung]

[Zitat]

Erster Teil

Jacaranda

Das Meer

Wahre Liebe

Die Sechziger

Die Wohnung

Die unschuldige Jungfrau

Max

Das kleine Schwarze

Das Sacramento

Der Kahn

Max, Max

Der Conférencier

Max, Max, Max

April

Morgens im Bungalow

Der Pier

Der Blues nach dem Kahn

Echte Arbeit

Das Bamboo Café

Das Schicksal greift ein

Eintausendzweihundert Dollar

Das Problem mit dem Alkohol

Das Problem mit »dem Buch«, Teil 1

Der siebenundvierzigste Montag

Das Problem mit »dem Buch«, Teil 2

Der 3. Juli

Nicht in New York

Währenddessen

Die Sache nimmt Gestalt an

Die Nacht war noch jung

Shelby

Das narrensichere Tableau Vivant trifft auf den Eisberg

Paradiesische Küsse und höllische Schläge

Rot & Weiß

Ab nach Mexi…

La Jolla

Whoo, whoo, whoo, whoo

Die schöne Freundin

Das Colonial Inn

Kokain und nochmals Kokain

Leere Fenster

Zweiter Teil

New York, New York

Die Beach-Boys-Mädchen

Der geheimnisvolle Osten und ein gesunder Spaziergang

Die Skelettmannschaft tritt an

Der geheimnisvolle Osten trifft auf eine L.-A.-Orange

Ein Teekränzchen

Bezahltes Mittagessen

Komplizierte Frau, komplizierter Traum

Sie kommen tatsächlich von dort?

Avant Elaine’s

La Mer

Après Elaine’s

Die letzte Nacht

Der letzte Sonnenaufgang

Winis wildes Durcheinander

Die Patentante

Für Paul, Vicky und Sarah

Ich habe in meinem Leben drei verschiedene, aufeinanderfolgende Phasen beobachten können. In der ersten lauteten die Fragen etwa so: »Aber, meine Liebe, wer ist sie denn eigentlich? Wo kommt sie her? Ist sie eine von den Yorkshire Twiddledos? Natürlich geht es ihnen schlecht, sehr schlecht sogar, aber sie ist eine geborene Wilmot.« Darauf folgte dann: »Ach ja, natürlich sind es schreckliche Leute, aber reich.« – »Haben die Leute, die ›The Larches‹ gekauft haben, Geld?« – »Na ja, dann sollten wir sie eigentlich besuchen.« Die dritte Phase war wieder anders. »Aber sind es auch amüsante Menschen?« – »Natürlich geht es ihnen nicht sehr gut, und niemand weiß, wo sie herkommen, aber sie sind sehr, sehr amüsant.«

Agatha Christie: Die Autobiographie

Erster Teil

Jacaranda

Jacaranda wurde »Tschekka-renn-da« ausgesprochen, die gleiche Betonung wie bei »schnelles Rennpferd«. Es ist der Name eines mittelamerikanischen Blütenbaums, der in Los Angeles wächst, und auf Spanisch lautete er ursprünglich »Chakka-rahn-da«. Es passte zu ihren Eltern, dass sie sie Jacaranda genannt hatten. Ihr Vater war ein trotzkistischer Spross bombenwerfender russischer Anarchisten und ihre Mutter ein uneheliches Kind, weil deren Mutter sich geweigert hatte, den Mann zu heiraten, der der Vater ihres Kindes war. »Ich heirate keinen Vergewaltiger«, hatte Jacarandas Großmutter mütterlicherseits erklärt. Sie zog nach Texas und verlor von jetzt auf gleich ihren Glauben in die katholische Kirche – man exkommunizierte sie, nicht ihn!

Das Meer

Sie lebten am Meer in Santa Monica. Jacarandas Vater war Studiomusiker, und sie wohnten in einem hypothekenbelasteten Bungalow ungefähr zwei Häuserblocks vom Strand entfernt. Als Kind war Jacaranda stets braun gebrannt, hatte sonnengebleichtes blondes Haar und Teer an den Fußsohlen. Ihre Schwester April war drei Jahre jünger, hatte dunklere Haut und dunklere Haare mit rötlichen Strähnen und Teer an den Fußsohlen. Sie sahen sich kein bisschen ähnlich.

Von Anfang an war Jacaranda die Große mit dem riesigen Kopf, die man bis zu ihrem dritten Lebensjahr in Pink hüllen musste, damit die Leute nicht sagten: »Was für einen prächtigen Jungen Sie da haben …« April war ein Mädchen, ein mädchenhaftes Mädchen mit braunen Ringellocken und roten Apfelbäckchen, einer zarten Figur und einem kleinen Kopf. Weder Jacaranda noch April wiesen irgendeine Ähnlichkeit mit ihren Eltern Mort und Mae Leven auf, abgesehen davon, dass Jacaranda und Mort beide Hutgröße 64 hatten – größer ging es kaum, auch nicht für Männer.

Die beiden Mädchen wuchsen am Rande des Meeres auf und wussten, dass dies das Paradies war, sogar besser als Eden, denn das war schließlich nur ein Garten. Bei Jacaranda drehte sich alles ums Surfen. Zunächst war sie ohne Board unterwegs, sie starrte auf den Rand des Wassers und beobachtete die Wellen, um zu sehen, wo sich die Brandungsrückströmung bildete; dann zwang sie sich langsam dem Meer auf, obwohl es Widerstand leistete. Sie lief ins hüfthohe Wasser, bis sie mitten im Geschehen war. Jetzt rollten die Wellen heran, und sie konnte entscheiden, ob sie unter ihnen hindurch- ins flaschengrüne Wasser tauchen und ignorieren sollte, dass sie hinter ihr in Richtung L.A. krachten – oder sich dem Meeresrhythmus anpasste, gerade weit genug hinausschwamm, stehen blieb, wartete und sich dann vorwärtswarf, um die Welle zu erwischen und am Ufer ausgespuckt zu werden. Manchmal verschätzte sie sich, geriet unter den Brechpunkt und wurde in den Sand gedrückt. Mit zwölf bekam Jacaranda ihr erstes Surfboard.

Egal, was die Wellen anstellten, egal, welche Strömungen und Dramen sich unter ihr abspielten, sie blieb auf dem Board. Auch wenn es wegrutschte und sie abschütteln wollte, die ganze Welt plötzlich zur Seite kippte oder das Board, ehe sie es sich versah, unter ihr hinwegsauste – entscheidend war, es sich zurückzuholen und weiterzumachen.

Jacaranda surfte vor und nach der Schule, und wenn sie die Möglichkeit hatte, wenn der Tag einfach zu schön war, auch währenddessen. Mae Leven war eine verständnisvolle Mutter und entschuldigte ihre Tochter in solchen Fällen, sie liege mit einer schweren Erkältung darnieder. Doch wenn Jacaranda den Bogen überspannte, verwandelte sich Mae in eine Schwarze Mamba, wirbelte peitschenschnell umher und zischte wüste Worte aus dem tiefsten Süden.

Mort Leven war Ensemblemitglied im Twentieth-Century-Fox-Orchester. Er verdiente hundertfünfzig Dollar die Woche, was damals, als man ihn 1949 einstellte, gutes Geld war. Es erlaubte ihm, eine Anzahlung auf das Haus in Santa Monica zu tätigen, auf dass sie dort glücklich miteinander bis ans Ende ihrer Tage leben könnten, wann auch immer dieses Ende sein würde. Mort Levens Großtante Sonia war in den Zwanzigern und Dreißigern ein großer Star gewesen und zwei Jahrzehnte später immer noch so eng mit den Studio-Granden verbandelt, dass sie Mort den Job verschafft hatte. (Wenn man schon keinen Vater mit Hollywood-Beziehungen hat, dann wenigstens eine Großtante.) Dass Mort Leven Solist gewesen war, bei den Koryphäen seiner Zeit studiert und Konzerte in ganz Europa gegeben hatte, spielte keine Rolle; dass er wahrscheinlich einer der besten Geiger der Welt war, auch nicht – das alles war Twentieth Century-Fox egal. Entscheidend war Sonia, Jacarandas Urgroßtante und Patin. Sonia war diejenige, die Mort ein Bewerbungsgespräch bei Harry Katz, dem Chefmusiker des Studios, vermittelte, was zu damaligen Zeiten nur durch ein Wunder oder einen Vater mit entsprechenden Verbindungen geschah.

Harry Katz hatte seine ersten Schritte im jiddischen Theater auf der Lower East Side gemacht und einen Bruder, der in der Filmindustrie arbeitete und ihn 1931 per Zug nach Hollywood holte. Denn die Tonfilmära hatte begonnen, und Harry sollte das Orchester dirigieren. Schließlich hatte er so etwas schon von Kindesbeinen an getan, in Toronto, ein jüdischer Flüchtling wie all die anderen auch, ein Freund von Sonia, die er noch »von damals« kannte, noch vor Toronto, aus Kiew. Also hatte er »für Sonias Großneffen alle fünfe gerade sein lassen« und »einen Unbekannten« zum Vorspiel eingeladen.

Man hatte Mort gebeten, »etwas mit einer Klavierstimme« mitzubringen, so dass Harry mitspielen und sehen konnte, wie gut Mort mithalten würde. So ganz konnte Mort Leven seinen musikalischen Wert jedoch nicht unter den Teppich kehren. Also entschied er sich für ein neues Stück von Igor Strawinsky, die Noten hatte er in Paris gekauft, ein Stück, das in Amerika noch gar nicht veröffentlicht worden war, ein Stück, das ständig den Takt wechselte – von einem Zweivierteltakt zu einem Dreiviertel-Walzertakt zu einem Siebenachteltakt zu einem Zweihalbetakt zu einem Fünfachteltakt … Mort Leven händigte Harry beiläufig die Klavierstimme aus und platzierte seine Geigenstimme auf dem Notenständer.

»Wer ist dieser Strawinsky?«, fragte Harry. »Spreche ich ihn richtig aus?« Er warf einen Blick auf die Noten und brach in lautes Lachen aus. »Soll das ein Scherz sein?« Für Harry Katz war das das Lustigste, was ein Bewerber je gemacht hatte – sich auf diese Weise ein ganzes Stück auszudenken! (Als Harry später herausfand, dass es diesen Igor Strawinsky tatsächlich gab und er ein musikalisches Jahrhundertgenie war und eben mit seiner beeindruckenden Frau Vera Jacarandas sechzehnten Geburtstag verlassen hatte, fragte er: »Morty, mal ganz ehrlich, so einer wie der macht doch bestimmt nicht mehr als 25 Riesen im Jahr, oder?«)

 

Jacaranda hatte eine entspannte Kindheit am schönen Meer, mit ihrer sonnengebräunten Schwester, der schönen Mutter und dem schwarz gelockten genialischen Vater, dem Geld von Twentieth Century-Fox, das jede Woche in schöner Regelmäßigkeit eintraf und es Mort erlaubte, genug zu sparen, um ein Haus in Santa Monica zu kaufen. Ein »Renditeobjekt« nannte man so etwas. (Kaum ein Studiomusiker besaß nicht irgendein Mietshaus oder einen Innenhof, so dass die Frage »Irgendwelche Mieter anwesend?« irgendwann zum Running Gag unter ihnen wurde.)

Jacaranda besuchte drei verschiedene städtische Schulen, wobei sie im Unterricht die meiste Zeit Bilder zeichnete, bevorzugt Frederick-of-Hollywood-Dessousmodels mit comichaften Stiefeln und Masken, Strapsen, Messern und Peitschen, mit hüftlangen blonden Mähnen, einer beeindruckenden Oberweite und Schönheitsflecken neben dem linken Auge. Sie war nicht religiös erzogen worden, nahm aber an, jüdisch zu sein. Denn an Pessach versteckten ihre Großeltern in ihrem Haus in West Los Angeles immer Matze hinter den Sofakissen aus Brokatstoff. Sie war der festen Meinung, dass die großen Weltreligionen entstanden waren, bevor irgendwer je am Meer aufgewachsen war. Sie glaubte an das Meer. Jacaranda glaubte daran, dass das Meer ein gigantischer, Wiegenlied singender Gott war, den sie dazu bringen konnte, die Dinge so zu sehen, wie sie es wollte, und der Riesenwellen produzieren konnte. »Riesenwellen, Riesenwellen, Riesenwellen«, rief sie beschwörend bei Flaute. Und an Tagen mit großen Wellen verbeugte sie sich schweigend vor dem Meer und dankte ihm. Sie sprach zum Wasser, rief es dazu auf, wilder zu werden. Und wenn es wild war und die Surfbedingungen stimmten, kulminierte alles in einem einzigen herrlichen Strudel, der perfekten Einheit von Körper, Wellen und Ewigkeit. »Ihr kalifornischen Kinder«, hörte sie immer wieder, »ihr kennt das wahre Leben gar nicht. Eines Tages werdet ihr schon noch mit dem Kopf gegen die Wand laufen.«

»Was für eine Wand?«, fragte sie zurück. »Eine aus Schnee?«

Den ersten Sommer nach ihrem Schulabschluss verbrachte Jacaranda damit, in der Garage ihrer Eltern für fünfundzwanzig Dollar das Stück Surfboards zu bemalen, von dem Geld kaufte sie sich einen neuen gebrauchten 59er Plymouth Kombi.

Nach ihrem High School-Abschluss sah man sie meist am Strand, eine schlanke Figur in zerrissenen blauen Shorts oder einem abgewetzten blauen Bikini. Von weitem sah sie aus wie Treibgut, ein Stück Holz mit blondem Seegras an einem Ende. Sie hatte mit Kalzium gefüllte Knoten an den Knien und Fußrücken, die sich durch den Druck beim Paddeln auf großen, älteren Boards gebildet hatten. (Sie wurden »Surferknoten« genannt, und selbst die Wissenschaftler am Scripps Institute in La Jolla wussten nicht so recht, was es damit auf sich hatte.) Von weitem sah sie wie alle anderen Mädchen in ihrem Alter aus, die am Meer aufwuchsen.

Aus der Nähe wirkte ihr Gesicht – wenn sie nicht lächelte – so, als wäre sie brandneu – fast noch ein Kind. Wenn sie lächelte, leuchtete mit ihren perfekten weißen Zähnen plötzliche Schönheit auf und umgab sie mit einem selbstbewussten Glanz, der fast schon unverschämt war, so unbesiegbar erschien sie. (Meist kam dann die Frage: »Sind das echte Zähne?«) Ihr Pony war zu lang (er hing ihr ins Gesicht) und verdeckte die Augen. (Sie hatte sich immer blaue Augen gewünscht – so blau wie der Himmel nachkolorierter Postkarten.)

Wenn Jacaranda und April in der Abenddämmerung vom Strand zurückkamen, mit verfilztem, salzigem Haar und Sand an den straffen Armen und Beinen, den sie ins Haus schleppten, pflegte Mae Leven sie anzuschauen und zu flöten: »Da sind ja meine beiden Bohnenstangen.«

Mit achtzehn sah Jacaranda nicht mehr wie ein Junge aus, nicht einmal im Vergleich zu April.

Die Leute sagten ihr, sie könne sich glücklich schätzen.

Aber Glück ist wie Schönheit oder Diamantenohrringe: Es reicht nicht, nur zu Hause sitzen und Komplimente entgegenzunehmen, es sei denn, man empfindet ein enormes Pflichtgefühl der Öffentlichkeit gegenüber. Jacaranda wollte etwas sehen, bevor ihr das Glück abhandenkommen und sie gegen die prophezeite Wand laufen würde.

Sie stellte sich vor, dass sie eine Abenteurerin sein würde, die nicht auf die UCLA, noch nicht einmal aufs Chouinard Art Institute gehen müsste, so wie Shelby Coryell, ihr einziger Freund in ihrem Alter. Sie würde eine Künstler-Abenteurerin werden und einfach malen, denn darin würde sie gut sein. Hauptsache, alles würde sich um die Farbe Blau drehen.

In diesem 1. September hatte sie draußen, nachdem alle wieder zurück zur Schule gegangen waren, den ganzen Strand für sich. Bis zum Horizont lag alles klar und blau vor ihr.

Wahre Liebe

Colman mochte das Meer nicht.

»Es ist zu kalt«, erklärte er und schüttelte sich in seinem schwarzen Rollkragenpullover. »Wie kann man sich nur freiwillig in diese Kälte begeben? Deswegen bin ich doch aus New York weggezogen.«

»Kalt?«, fragte sie.

»Kalt«, entgegnete er überbetont.

Aber sie war verliebt, also zog sie zu ihm, weit ins Landesinnere nach West Hollywood, wo er eine von Passionsblumen überwucherte Bruchbude gemietet hatte. Er besaß vier struppige Katzen namens Harry, Dean, Stan und Tentoes. Seine Frau ließ sich gerade von ihm scheiden. Vor den Fenstern hingen schwarze Vorhänge, weil er die Sonne L.A.s hasste, grundsätzlich kein Freund von Tageslicht war.

Er hatte schwarze Locken und war schlicht und ergreifend ein Genie – so wie ihr Vater. Er unterrichtete Schauspiel, und jeder, der bei ihm Unterricht nahm, schwärmte von ihm. Er war neunundzwanzig und sie achtzehn, als sie sich kennenlernten, in Barney’s Beanery, einer heruntergekommenen Bar in West Hollywood, wo Jacaranda gerne abends ihr Bier trank und mit Künstlern flirtete. Barney’s war eine der ältesten Bars West Hollywoods. Die meisten Künstler waren Surfer, die am Strand lebten.

Colman stand in der Nähe der Bar und zog die Augenbrauen leicht hoch, als er Jacaranda zum ersten Mal sah. Alles, was er tat, brachte sie zum Lachen, er musste nur anfangen, einen Witz zu erzählen, schon konnte sie nicht mehr an sich halten.

Nach drei Wochen teilte er ihr mit, dass seine Frau es sich anders überlegt hatte und wieder bei ihm einziehen würde, zusammen mit ihren beiden Katzen Fred und Rooster.

»Noch mehr Katzen?«, fragte Jacaranda. »Und deine Frau?«

Er zog die Augenbrauchen hoch und machte eine »Was soll ich tun?«-Geste.

Colman log sie ständig an, und lange Zeit dachte Jacaranda, dass Schauspieler das abseits der Bühne nun mal so machten. Aber dann fand sie heraus, dass die meisten Schauspieler so etwas nur taten, wenn sie in Filmen dafür bezahlt wurden. Er verdrehte jeder Frau den Kopf, sogar Jacarandas Großmutter, die rot wurde, als sie ihn zum ersten Mal sah, und danach sagte: »Die Iren sind wirklich ein wunderbares Völkchen.«

»Aber, Großmutter, ich dachte immer, du magst Iren nicht wegen der roten Haare.«

»Er hat ja schwarze.«

Er war mit seinen eins achtzig nicht zu groß, hatte helle irische Haut und wunderschön elegante, äußerst einnehmende Augen – nichts von der rauen Schönheit, die man typischerweise mit Irland in Verbindung brachte. Selbst seine Lügen waren nicht wild und rau. Sie kamen eher brav daher. Er log, wenn er sagte, ohne Jacaranda sei alles langweilig und öde. Wenn sie ihn dann fragte, was er »Neues, Großartiges, Aufregendes« erlebt habe, gähnte er und seufzte: »Ruhe und Frieden, meine Liebe, nichts als Ruhe und Frieden …« Und sie wusste – von gleich drei verschiedenen Quellen –, dass er am Abend zuvor mit irgendeinem Sternchen auf einer Party am Meer gewesen war.

Sie liebte Colmans New Yorker Dialekt. Er klang wie eines der Dead End Kids. Seit Jacaranda als kleines Mädchen zum ersten Mal ferngesehen hatte, war der Schauspieler Leo Gorcery für sie der Inbegriff eines echten Mannes. In vielem glich er Mort Leven, aber statt jüdisch zu sein, war er Ire, und sein New Yorker Irentum bereitete Jacaranda das reinste Vergnügen. New Yorker Iren wirkten auf Jacaranda so exotisch, dass selbst Elvis Presleys gemütliches Südstaatenamerikanisch kaum dagegen ankam. Eines Tages – wenn sie Leo Gorceys unergründlichem Charme nicht mehr erliegen würde – würde Jacaranda, da war sie sich sicher, eine entspannte Reise durch den Süden machen. Sie liebte den dortigen Dialekt, aber jedes Mal wenn sie jemandem verfiel, der so sprach, rief Colman an und legte los: »Hey, meine Schöne, was gibt’s Neues, Großartiges, Aufregendes heute, schieß los, komm schon.«

In Colman verliebt zu sein, machte sie noch schöner. Er mochte es, wenn sie Lila trug, und so trug sie Lila, was ihr sehr viel besser stand als alte T-Shirts und zerschlissene Shorts. Die Farbe Lila ließ ihre Haare rotgolden schimmern und ihre Haut glühen. Mit ihrem lila Cordmantel hätte sie selbst auf der Via Veneto in Rom, wo in La Dolce Vita zweitklassige Sternchen laue Sommernächte zum Tag machten, alle Blicke auf sich gezogen.

Wenn Colman einen Schritt zurückging, um sie zu betrachten, war es, als küsste er sie mit den Augen, und Jacaranda wusste, wie es sich anfühlte, wahrhaft bewundert zu werden – sie war eine fliederfarbene Palme.

»Liebling«, sagte Colman, »liebst du mich?«

»Unsterblich«, sagte sie.

Dann steckte er ihr ein paar Red Hots zu, diese Zimtbonbons, und fuhr mit ihr den Laurel Canyon Boulevard hoch, denn für ihn war das eine Landstraße; und er mochte Landpartien.

Colman stellte sie seinem Freundeskreis vor, Junkies und Schauspielern und Trinkern und Dieben und Jazzmusikern. Chet Baker war sein großes Idol.

Colman hatte sich in seiner Jugend ausgelebt und vollstes Verständnis dafür, dass auch sie sich in ihrer Jugend ausleben wollte.

»Nutze die Zeit, solang du noch jung bist, Kleines«, sagte er.

Aber das Beste, was sie je von ihm hörte, war die Antwort auf eine Bemerkung, die sie über zwei gemeinsame Bekannte machte, die miteinander verheiratet waren, was sie sich kaum vorstellen, es erst recht nicht verstehen konnte. »Schätzchen«, sagte er, »versuche nie, die Beziehung zwischen zwei Menschen zu verstehen.«

Nachdem sie ausgezogen war, richtete er sich wieder in seinem Leben als Ehemann ein, und angesichts dessen erschien es nicht richtig, dass sie sich immer noch liebten.

»Aber was wird denn dann aus Colman?«, fragte April. »Wie wird das Ganze ausgehen?«

»Ausgehen?«, antwortete sie. »Warum sollte es je zu Ende sein?«

Eine Weile (fünf Jahre lang) trafen sie sich in einer Wohnung in West Hollywood, die einem von Colmans Schülern gehörte, Gilbert Wood, den Jacaranda in den ganzen Jahren, die sie und Colman dort ihre Nachmittage verbrachten, nie kennenlernte. Sie wusste nur, dass Gilbert Schauspieler war, Marihuana verkaufte und sein Surfboard auf seinem Fernseher lagerte.

Die Sechziger

In den Sechzigern, als das Leben ein einziger Rock ’n’ Roll war, ließ es sich in West Hollywood mit seinen Dreizimmerwohnungen für hundertzwanzig Dollar im Monat und Vermietern, die alles tolerierten, gut leben. Zwar gab es auch dort Eltern mit Kindern und Haustieren, doch die meisten Bewohner West Hollywoods dealten mit Drogen, waren Rock-’n’-Roll-Musiker, Tourmanager oder Groupies, Schauspieler, die sich als Kellner verdingten und sich in ihrer Freizeit Drehbücher ausdachten, oder Schriftsteller, die tatsächlich ohne Ende Drehbücher verfassten und arbeitslos waren. Auch Friseure, Models, die sich mit Fernsehwerbung über Wasser hielten, und Berufsjugendliche ohne erkenn-bare Einkommensquellen wohnten in dieser Gegend zwischen Melrose und Sunset Boulevard, La Brea und Doheny. West Hollywood in den Sechzigern war wie eine offene Stadt, ein Hafen, von dem aus man in alle Richtungen ausschweifen konnte.

Jacaranda bot einem Freund von Colman an, ihm einige Tage die Woche bei der Arbeit zu helfen. Ihre Aufgabe war es, den Hollywood Reporter, Billboard und lauter »Wichsvorlagen für Teenies«, wie sie sie nannte, nach den Namen seiner Klienten zu durchforsten und sie herauszukopieren. Daraus wurde ein mehr oder weniger fester Job. Sie verdiente genug Geld, um sich eine eigene Wohnung, Benzin und Drogen leisten zu können, und niemand verlangte von ihr, in einem normalen Büro zu sitzen und Schuhe zu tragen. Colmans Freund Hal zahlte ihr hundertfünfundsiebzig Dollar die Woche, um auf Rock-’n’-Roll-Konzerten hinter der Bühne herumzulungern, ein Beruf, den ihre Groupie-Freunde für den besten der Welt hielten.

Sie trank Southern Comfort mit schönen, reichen Jünglingen, die oft auch noch klug waren, und verbrachte immer mehr Nächte in den Villen, die über Hollywood und Beverly Hill thronten, dort, wo die Krankenwagen sich verfuhren und gut aussehende Teufel auf ihren Verstärkern herumlümmelten und sich gegenseitig mit Songs, Blondinen und Drogen zu überbieten versuchten.

Sie ging aufs Monterey Pop Festival, auch wenn sie im Nachhinein weder wusste, wie sie hingekommen, noch, wie sie zurückgekommen war, geschweige denn, was sie in den zwei Tagen dazwischen getan hatte. Alle nahmen Orange-Sunshine-LSD und rauchten Gras, das Icepack hieß. Und dann gab es da natürlich noch Tequila und Rum und Courvoisier, die der Rock ’n’ Roll für sich entdeckte, als ihm das Gras nicht mehr ausreichte.

Sie trug hautenge Satinhosen und lila Satinblusen. Ihre blonden Haare fielen ihr in ausgeblichen-verfilzten Strähnen über die Schultern. Sie verbrachte viel Zeit vor dem Spiegel, wo sie braunen Eyeliner und fliederfarbenes Rouge auftrug und zwischen ihrem Pony hindurchzuschauen versuchte, der ihr immer noch bis zur Nase reichte und mit dem sie noch süßer und verletzlicher aussah, wenn sie schwieg und nicht lächelte.

»Ich hasse Rock ’n’ Roll«, sagte sie eines Abends während eines Stones-Konzerts im Forum und ging.

 

Ihr Surfboard war auf dem Dach ihres neuen gebrauchten 59er Plymouth Kombis befestigt, doch gefühlt hatte sie, seit sie sich dem Rock ’n’ Roll verschrieben hatte, kein einziges Mal die Sonne gesehen. Sie war so blass wie die Erwachsenen, kein bisschen braun.

»Wahrscheinlich kann ich nicht einmal mehr drauf stehen«, beklagte sie sich bei April.

»Ja, wahrscheinlich. Selber schuld«, antwortete April.

»Verdammt, ist das schwer«, stöhnte Jacaranda, als sie ihr Surfboard zum Strand schleppte, in dessen Nähe April in Santa Monica wohnte. Jacaranda hatte das Gefühl, ihre Lunge würde gleich platzen.

Am Ufer tauchte sie die Zehen ins Wasser. Es war Februar und nicht sonderlich heiß. Aber kaum war Jacaranda draußen, wo die Wellen brachen, merkte sie, dass sie doch noch stehen konnte und bald wieder ihr Gleichgewicht fand. Und sie erinnerte sich daran, wie nichts anderes gezählt hatte.

»Siehst du, du kannst es noch«, rief April ihr vom Ufer aus zu.

April war jetzt zwanzig, und da sie ein großes Herz und eine reine Seele hatte, wurde sie regelmäßig von Stars und gut aussehenden Teufeln belagert, die zu ihr kamen, wenn sie die Nase voll von ihrem glanzvollen Leben hatten und sich nach Unverstelltheit sehnten. Am Ende wurde April Matrosin und ging zu See.

»Ich glaube, ich ziehe wieder ans Meer«, sagte Jacaranda, nass und außer Atem von ihrem Kampf mit den kalten Wellen. »Ob ich wohl mit dem Bemalen von Surfbrettern noch Geld verdienen kann?«

Sie schwiegen zusammen und warfen einen abschließenden Blick aufs Meer.

»Mein Gott«, sagte Jacaranda, »wie freue ich mich darauf, endlich mal wieder ein richtiges Buch statt die Daily Variety zu lesen.«

»Mutter wird unglaublich erleichtert sein, dass du dich niederlässt«, sagte April.

»Niederlassen? Ich?«, fragte Jacaranda.

Die Wohnung

Die Wohnung lag auf der Third Street in Santa Monica, nur ein paar Straßen vom Meer entfernt an einem Hang voller Schmetterlinge und Katzen. Sie bestand aus einem langen Rechteck, das man mit zwei Wänden in Schlafzimmer, Wohnzimmer und Küche unterteilt hatte. Alle drei Zimmer gingen auf den blaugraugrünen Pazifik hinaus, der sich bis zum Horizont erstreckte und im Sommer die Sonne knallorange und im Winter glühend pink untergehen ließ. Das Bad war winzig und die ganze Wohnung eher ein baufälliges Provisorium mit undichtem Dach, doch das war nur dann ein Problem, wenn es regnete, und Jacaranda, Kind L.A.s, nahm für das Meer nur allzu gern feuchte Teppiche und Pfützen in der Küche in Kauf.

Drei Highschool-Freunde von ihr hatten die Eye of God Surf Company gegründet, und für fünfunddreißig Dollar pro Board sprühte sie die glatten Oberflächen neuer Boards in verwaschenen Tertiärfarben und Regenbogenmustern an.

Ihre Vermieterin überließ ihr für zwanzig Dollar monatlich eine Garage im Hinterhof, in der sie ihrer Arbeit nachgehen konnte.

Im ersten halben Jahr wollte sie nichts weiter als ehrliche Arbeit verrichten, gute Romane lesen und surfen. Sie war wieder clean, denn das salzige Meerwasser hatte einen reinigenden Effekt und eignete sich gut, um alle Verwüstungen wegzuwaschen.

»Warum ist es hier denn so hell?«, fragte Colman bei seinem ersten Besuch.

»Das Licht kommt durch die Fenster«, erklärte Jacaranda ihm.

»Aber hängt es dir nicht irgendwann zum Halse heraus, immer auf dieses Meer zu schauen? Sieh dich um, hier herrscht ja helllichter Tag, wie willst du da denn schlafen?«

»Du magst meine Wohnung nicht«, stellte Jacaranda fest.

»Nein, nein, Schätzchen«, log er. »Das hat damit nichts zu tun. Ich finde deine Wohnung großartig. Wirklich.«

Fünf ganze Jahre hatte sie im Landesinneren gewohnt, nur damit Colman tagsüber bei ihr vorbeischauen konnte. Nun konnte sie nicht mehr an sich halten. Es gab da eine Sache, die sie ihm noch nie erzählt hatte, doch nun musste er die Wahrheit wissen.

»Colman«, platzte es aus ihr heraus, »ich wache in der Regel um sieben auf. Sieben Uhr morgens.«

»Oh«, sagte er. Und dann, nachdem er darüber nachgedacht hatte: »Du schläfst also, wenn es draußen dunkel ist? Nachts?«

Bisher hatte sie ihn nur nachmittags gesehen, wenn er gerade aufgewacht war, und natürlich hatte er angenommen, dass auch sie eben erst aufgestanden war.

»Hey«, sagte er, »habe ich dir schon von dem Graffiti auf der Männertoilette im Knife and Fork erzählt? Irgendjemand hat geschrieben: ›Ich bin 25 cm lang und 7 cm breit. Interesse?‹, und dazu eine Telefonnummer. Und darunter hat jemand mit Bleistift geschrieben: ›Beeindruckend. Und wie groß ist dein Schwanz?‹«

Als Colman hinunter zu seinem alten Buick lief, wusste sie, dass er jetzt, wo Licht in ihrer Wohnung war, nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte.

Am nächsten Tag fand sie Emilio, einen Kater mit seidenweichem schwarzem Fell und sehr viel friedlicheren Träumen und Zielen als ein Colman oder West Hollywood. Emilio spezialisierte sich darauf, Sonnenflecken in der Wohnung ausfindig zu machen und seine Krallen an ihrem einzigen Sessel zu wetzen und zu schnurren, sobald sie nur seinen kameliengleichen Namen aussprach.

Ungefähr fünfzig ihrer Freunde blieben auch nach ihrer Abkehr vom Rock ’n’ Roll noch in Kontakt mit ihr und trauten sich über den Olympic Boulevard hinunter ins wilde Santa Monica (mit »Strand« meinten ihre Freunde übrigens nicht den richtigen Strand, sondern Malibu).

Doch die meisten sagten: »Ich weiß nicht, es ist so weit weg …«

»Weit weg wovon?«, fragte Jacaranda.

»Dem Troubadour, Tana’s, allem!«

Jacaranda war es egal, ob der Rock ’n’ Roll in Amerika das künstlerische Ausdrucksmittel ihrer Zeit war oder alle in ihrem Alter miteinander verband oder das Leben einer ganzen Generation prägte, die anscheinend nicht vorhatte, daran etwas zu ändern und sich stattdessen Frank Sinatra zuzuwenden. Sie hatte die Nase voll davon.

»Vielleicht wirst du erwachsen«, überlegte April.

»Erwachsen werden? Ich?«, rief Jacaranda.

Es müsste doch sicherlich noch etwas anderes als ein Erwachsenenleben geben, auch wenn man nicht mehr in West Hollywood wohnen und sich mit achtzehntaused anderen im Forum drängeln wollte, um einem weißen Jungen dabei zuzuhören, wie er für viel Kohle »Love in Vain« singt.

Aber was?

»Kannst du nächste Woche meinen Kater füttern?«, bat Jacaranda.

»Wo willst du hin?«, fragte April.

Eine Woche später saß Jacaranda in einem Flugzeug nach Oahu.

Die unschuldige Jungfrau

Jacaranda war nach Oahu geflogen, um von dort mit einer kleineren Maschine weiter nach Maui zu reisen. Sie hatte das Gefühl, dass das Leben nur noch aus Kleinkram bestand. Zwar war sie immer davon ausgegangen, dass man mit dreiundzwanzig insgesamt zu alt für alles sein würde, aber ganz so alt, um sich wie Marcel Proust, den sie auf dem Flug las, nur noch grübelnd mit der Vergangenheit zu beschäftigen, war sie dann doch nicht. Proust hatte offensichtlich nichts Besseres zu tun, als die Jahre wie ein Museum voller wunderschöner Reproduktionen verlorener Eifersüchteleien und vergangener Moden zu betrachten. Doch in dieser Hinsicht fühlte sie sich wie eine unschuldige Jungfrau – zu jung.

Langsam verstand sie, dass das Leben nicht wie in den Romanen Jane Austens irgendwann in geordneten Bahnen verlaufen würde, sondern komplizierter war. Vielleicht hatten die sechziger Jahre dem Leben endgültig seine Einfachheit ausgetrieben. Aber den Rock ’n’ Roll hatte sie jetzt hinter sich gelassen. Und unter ihr lag das unglaublich blaue Meer.

Sie trug weiße Jeans und eine weiße mexikanische Bluse mit einer großen pinken Ansteckrose aus Seide. Sie hatte kaum Gepäck dabei und wusste, dass irgendwer ihr schon ein Surfboard leihen würde.

Die Luft war seltsam, als sie landete, schwül und unheilschwanger. Man teilte ihr mit, dass wegen eines drohenden Orkans alle Flüge nach Maui gestrichen worden waren.

Auf dem Flughafen in Honolulu traf sie zufällig auf Shelby Coryell, mit dem sie damals, als sie ihre Tage ausschließlich am Strand verbracht hatte, zusammen gewesen war. Er war gerade dabei, irgendwelche Luftfracht abzuholen. Sie wusste, dass er seinen Abschluss am Chouinard Art Institute gemacht hatte und im Vorjahr nach einem zweiwöchigen Urlaub auf den Inseln einfach dortgeblieben war. Er war immer noch auf dem Meer in Hawaii unterwegs.

»Ich wohne mit einem Mädchen an der Nordküste«, sagte er, »in Sunset Beach.«

»Oh«, sagte sie.

Wie kann er nur mit einer anderen zusammenwohnen, dachte sie auf dem Weg zu Shelbys Motel. Sie war immer davon ausgegangen, dass Shelby irgendwann wieder ihr gehören würde. Sie beschloss, sich zusammenzureißen und ihn zurück nach L.A. zu bringen, wo er hingehörte, doch als sie an seinem Motel angekommen waren, machte sie einen Spaziergang am Sunset Beach – und sah Gilbert Wood.

Gilbert Wood surfte. Während der Orkan an Fahrt aufnahm und alle zu Hause Rum tranken und im Amateurfunk hörten, wie Dächer und ganze Ortschaften vom Meer verschluckt wurden, surfte er.

Die Wellen waren fünf Meter hoch und brüllten wie Löwen und dröhnten wie Vulkane. Und Gilbert Wood duckte sich auf seinem Surfboard eben noch tiefer und stellte die flachen Füße noch fester auf. Er hatte sich leicht nach links Richtung Wellen geneigt, um mit der Hand am Wasser entlangstreichen zu können, und hinterließ wie das Surfboard eine weiße Spur, zwei weiße Spuren voller Schaum und Übermut. Mit seiner Hand brachte er alles in Unordnung, das Meer, den Tag, den Orkan. Er war wie eine bildschöne Frau, die sich mitten in einem Herrenclub eine Zigarette anzündet.

Und er war in großer Gefahr. Er hatte aschblonde Haare, und seine eine Gesichtshälfte sah im Profil brutal aus. Sein Mund wirkte so, als hätte man ihm gerade mitgeteilt, dass er nur noch eine Woche zu leben hätte, und als sei es ihm egal.

Gilbert war Schauspieler; er wusste, dass er schön bis in die Fingerspitzen war. Er war eitel, wenn es um Gefahren ging, denn Orkanen ist es egal, ob einer Schauspieler oder schön ist.

*

Auf dem Rückflug nach L.A. fragte Gilbert: »Kennst du Max?«

»Welchen Max?«, fragte sie.

Zwei Dinge beeindruckten sie an Gilbert. Er konnte die Zeit stehenlassen, wenn er mit seinen scharfen Zähnen an ihrem Nacken knabberte, und er stellte sie Max vor.

Max

Kaum hatte sie Max das erste Mal zu Gesicht bekommen, war die einzige Wahrheit, die zählte, die von Max.

Jeden Morgen um sieben klingelte bei Gilbert das Telefon, und Max war dran. Beim ersten Mal sprach Gilbert eine ganze Stunde mit ihm und lachte ununterbrochen. »Wer war das so früh?«, fragte Jacaranda.

»Ach, das war nur Max«, antwortete Gilbert und zog sich wieder in sein eitles, gefährliches Ich zurück. Dort lagen sie, in Gilberts Wohnung – dort, wo Jacaranda immer mit Colman gewesen war, bevor sie West Hollywood für immer den Rücken gekehrt hatte.

»Max?«

»So ’ne Schwuchtel, die ich auf Jerry Getz’ Eröffnungskonzert kennengelernt habe.«

Max hatte sich, schon einen ganzen Monat bevor sie sich kennenlernten, für Jacaranda interessiert. Sie wusste nicht, dass Max unbedingt wissen wollte, was es mit ihrer und Gilberts Affäre auf sich hatte, aber tatsächlich war es so, dass Gilbert nur deswegen mit Jacaranda zusammenblieb, weil Max so danach gierte, Gilberts Geheimnisse aufzudecken. Ohne Max hätten Jacaranda und Gilbert nach ihrer Rückkehr aus Oahu keine zwei Tage gehalten, und jetzt zog sich das Ganze schon einen Monat hin, und Gilbert bestand darauf, dass Jacaranda jeden Abend zu ihm kam, und sie gehorchte, weil er so gefährlich war und weil sie spürte, dass es da ein Geheimnis gab, das ihr verschlossen blieb. Sie hätte niemals gedacht, dass das Geheimnis nur Max war.

»Ich habe Max zum Kaffee eingeladen«, teilte Gilbert ihr eines Sonntagmorgens mit. Bisher hatte sie nicht verkommen und liederlich gewirkt, doch in Wahrheit glaubte sie nicht nur daran, ein an der Küste angeschwemmtes Stück Treibholz zu sein, sondern auch an wilde Abenteuer und Zigaretten und schlug immer mal wieder über die Stränge. Heute war wieder einer dieser »Wie konnte ich das nur tun«-Morgen – nicht dass Gilbert das je bemerkt hätte. (Nichts zu bemerken war eine der Arten, wie Gilbert sie einengte.)

»Du hast ihn zum Kaffee eingeladen?«, fragte Jacaranda.

»Er will dich kennenlernen«, sagte Gilbert.

»Mich?«, fragte sie.

»Er ist da«, sagte Gilbert.