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Shannon Conley wächst in der Nähe von München auf, sie ist eine Musterschülerin, sehr musikalisch und sie ist schon früh bereit, die Welt und die Liebe ihres Lebens zu erobern. Durch ihre besten Freundinnen, ihre Eltern und einen engen Familienfreund hat sie Menschen um sich, die sie lieben und ihr in jeder Lebenslage zur Seite stehen.
Sie schwelgt gerne in Erinnerungen an ihre Jugend, als sie längst erwachsen ist und ihr das Leben, Beruf und Berufung offenstehen.
An einem Tag ändert sich jedoch ihr Leben. Sie erkennt, dass das, was sie bisher hatte, nicht die Erfüllung ist, die sie lebenslänglich will.
Also begibt sie sich ins eine oder andere Abenteuer, bis sie aufwacht und sich der Weg vor ihr ebnet, um glücklich zu werden.
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Veröffentlichungsjahr: 2018
(c) Colleen McCann
2017
All rights reserved.
Alle Rechte vorbehalten.
Colleen McCann
Shannon
Roman
Der Inhalt dieses Romans ist völlig frei erfunden.
Ähnliche oder identische Namen, Personen, Örtlichkeiten oder Begebenheiten in dieser Geschichte sind rein zufällig und entsprechen keinerlei wissentlicher Tatsachen oder Übereinstimmungen.
„Was ist das denn?“ Noch einmal las Shannon den Auftrag, der auf ihrem Schreibtisch lag. Und noch einmal. „Das muss ein Missverständnis sein!“ Sie schüttelte den Kopf und ihre Stirn legte sich in Falten.
„Frank?“ Sie klopfte zaghaft an die Tür ihres Chefs – Frank Merz – dem Inhaber und Leiter des Web-Design-Büros, in dem sie schon seit einigen Jahren arbeitete. Erst hatte Shannon viel Freizeit sowie ihre Ferien dort verbracht und nach dem Abitur verdiente sie weiterhin jede Menge Geld bei Merz, dem jugendlich wirkenden Mittvierziger, einem eingefleischten Junggesellen mit schwarzem, gelocktem Haar, meist mit einer Lesebrille auf der Nase. Sein blasses Gesicht war übersät von Sommersprossen und wenn er lachte, leuchteten seine sonst dunklen Augen metallisch.
Frank Merz hatte wohl mehr Geld und Verstand, als Glück in der Liebe. Keiner hatte ihn je in Begleitung einer Frau gesehen. Man hatte bereits gemunkelt, dass er auf Männer stehen könnte, aber das hatte sich in feuchtfröhlicher Runde bei einer Geburtstagsfeier als falsch erwiesen: Er bezeichnete sich selbst schlicht und ergreifend als einen der wenigen Menschen, denen der Fortpflanzungtrieb vorenthalten geblieben war. Er wollte eben keine Beziehung, weder eine lockere, noch eine feste.
„Was ist denn?“, fragte Merz, in irgendwelche Unterlagen vertieft.
„Dieser Auftrag, Frank!“ Shannon wedelte mit dem Papier in der Luft umher.
„Mhm? Das ist ein Auftrag. Richtig. Was ist damit?“
„Ist es Dein Ernst, dass ich den machen soll? Nun sieh doch mal her!“
Er sah kurz auf: „Warum nicht?“ Er widmete sich wieder seiner Lektüre.
„Aber wieso ich? Das ist nicht mein Genre!“
„Wie ich Dich kenne, hast Du auch eine kitschige Ader. Das machst Du schon!“
„Ich bin kitschig? Du hast sie wohl nicht alle? Warum kann Belen den nicht machen? Sie kennt sich bei so was viel besser aus. Ich bin nicht kitschig!“, rief sie empört.
Frank lachte: „Ich finde es niedlich, wenn Du Dich aufregst! Natürlich bist Du nicht kitschig, Liebes! Aber Dein letzter Auftrag ist erledigt, Du bist munter und erholt aus deinem Urlaub zurück, nun kannst Du Dich hinter etwas ganz Neues klemmen! Du liebst doch die Herausforderung, oder? Außerdem hat Belen noch einiges an ihrem aktuellen Auftrag zu tun, wenn sie aus Spanien zurückkommt!“
Shannon stieb ohne ein weiteres Wort aus dem Büro und knallte die Tür hinter sich zu.
„Mann! Das ist ja wohl der Gipfel!“, echauffierte sie sich und ließ sich in ihren Stuhl fallen.
„Was ist denn los?“ Ihr Kollege Marc, der an einem kniffligen Auftrag saß, und Shannons Gezeter gerade nicht unbedingt gebrauchen konnte, sah sie genervt an.
„Das ist los!“ Als konnte Marc etwas dafür, bekam er den Order vor die Nase gefeuert.
„Hey! Ich bin unschuldig, okay?“ Er las und staunte lachend: „Wow! Damit dürfte Deine Rente sicher sein!“
„Marc! Das ist der reinste Hohn, weiter gar nichts! Wie kommt er dazu, mir so etwas aufs Auge zu drücken?“
„Du machst Deinen Job und die Auftraggeber schauen, ob es in Ordnung ist! Wie immer! Wo ist das Problem?“ Marc versuchte, seine Kollegin, die er seit der Schulzeit kannte, mit beschwingtem Ton zu ermutigen. Sein hellblonder Haarschopf hing ihm weit ins Gesicht. Die hellblauen Augen konnte man nur sehen, wenn er das Haar hinter die Ohren streifte. Dann sah er allerdings aus wie ein Milchbub und das wusste er. Sich eine andere Frisur zuzulegen, daran war nicht zu denken. Er fühle sich beobachtet, meinte er, wenn ihm jemand den Rat gab, das Haar stutzen zu lassen.
„Du hast leicht Reden!“ Shannon setzte sich an ihren Schreibtisch und blinzelte in die Winterlandschaft hinaus.
Das Büro, in dem Shannon Conley saß, war zu ihrer zweiten Heimat geworden. Nur fünf Gehminuten von ihrem Elternhaus – in dem sie immer noch wohnte – entfernt, befand sich der Luxusbungalow von Frank Merz, am Rande eines dichten Waldes, der allerlei Freizeit- und Sportmöglichkeiten bot.
Frank Merz brauchte für sich selbst nicht viel Platz. Der Kerl saß Tag und Nacht an seinen Computern und bastelte und kreierte. Das war sein Leben. Das riesige, ursprüngliche Wohnzimmer war zu einem Großraumbüro umgestaltet worden, in dem jeder der drei Angestellten seine eigene Ecke hatte. Nur der Chef selbst hatte ein separates Büro.
Außer dem Bad und der Küche gab es noch sein Schlafzimmer, dem schließlich einzig wirklich Privatem in diesem Haus, zu dem keiner außer ihm Zugang hatte. Warum zusätzlich teure Miete bezahlen, wenn er sein Geschäft im eigenen Heim haben konnte?
Shannons Blick schweifte aus dem Fenster. „Es schneit schon wieder!“
Marc schüttelte mit hochgezogenen Brauen den Kopf. „Das haben die Wintermonate so an sich, Shannon! Allerdings könnte es Sommer werden, bis Du den Auftrag fertig hast, wenn Du nicht in den nächsten Tagen damit anfängst!“
Sie ließ einen Laut des Missfallens ab.
Vor ihren Augen erstreckte sich eine herrliche Gegend. Das kleine Tal war weiß bedeckt und die klitzekleinen Häuser im Nachbarort wirkten wie die einer Modelleisenbahn. Die Bäume glitzerten von Eiskristallen bestäubt. Und zu jeder vollen Stunde bahnte sich ein langer Zug den Weg durch das idyllische Dörfchen.
Zum ersten Mal in ihrer Karriere als Webdesignerin war sie sprachlos und ohne jegliche Ideen. In die Gegend zu starren war sicher nicht die beste Möglichkeit, um einen dienlichen Einfall zu gewinnen, aber was sollte sie sonst tun?
Zu ihrem Job gehörte es jeweils aufs Neue, Homepages zu entwerfen. Sonst war das nie ein Problem für sie. Doch was jetzt vor ihr lag, war für sie, als würde sie als Laie in ein fremdes Land ziehen müssen, um dort irgendwelche Ausgrabungen zu dokumentieren. Ihre Stärke lag darin, für ganze Städte, riesige Konzerne, namhafte Produktionsfirmen oder Auto- und Warenhäuser die Internetpräsenz aufzubauen und zu betreuen. Heute wusste sie nicht, wo sie anfangen sollte.
Kurz vor Feierabend kam Frank und legte ihr einen Ordner auf den Tisch.
„Da sind ein paar Sachen drin, die Du brauchen könntest! Die Auftraggeber sind momentan nicht zu erreichen! Aber das hier sollte Dir für den Anfang reichen!“ sagte er salztrocken, mit einem auffordernden Blick über seine Brille hinweg.
Shannon blätterte.
Ihr Boss schaffte es bereits ein zweites Mal an diesem Tag, sie zu ärgern.
„Hättest Du mir den nicht heute Morgen schon geben können?“
„Ich habe die Kurierpost erst vorhin bekommen!“ erklärte er kühl und ging.
„Feierabend! Tschüss ihr beiden!“ Marc warf die Haustür hinter sich ins Schloss.
„Ich gehe auch!“ Shannon knipste den Computer aus und packte ihre Sachen.
„Liebes?“ rief es aus Franks Büro.
„Was?“ kam es langgezogen von ihr, dabei verdrehte sie die Augen genervt.
„Setzt Du bitte noch eine Kanne Kaffee für mich auf, bevor Du gehst?“
„Du gehst mir heute auf den Zeiger!“ Sie ließ ihre Tasche zu Boden sinken und schlappte in die Küche. „Erst der Hammer heute früh und nun stellt er auch noch Ansprüche!“
„Wer wird denn hier fluchen?“ brummte plötzlich die tiefe, ruhige Stimme des Chefs hinter ihr, dass sie nur so erschrak und sich bei der Gelegenheit der inzwischen kalte Rest Kaffee, den sie gerade aus der Kanne gießen wollte, großflächig über ihren hellen Pullover verteilte.
„Oh nee!“ Nun war jeder gute Wille hinüber. „Mann!“ Sie stampfte mit dem Fuß auf den Boden, wie ein kleines, trotziges Mädchen. Ihre stahlgrünen Augen leuchteten gefährlich.
„Was ist denn mit Dir los? Ist Dir Dein Urlaub nicht bekommen?“ Frank legte freundschaftlich den Arm um ihre Schulter.
„Mein Urlaub war sehr schön! Kann ich jetzt gehen?!“ Shannon löste sich von ihm.
„Klar! Sieh zu, dass Du heimkommst!“ Er schaute ihr verdutzt hinterher.
Der Heimweg erschien ihr heute länger als gewohnt. Es war bereits dunkel und bitterkalt. Die ausgedehnte Straße, auf deren anderem Ende ihr Zuhause lag, war von Bäumen gesäumt. Schöne Villen zierten die Gegend und nostalgische Straßenlaternen beleuchteten den still fallenden Schnee.
Sie zerbrach sich den Kopf über die Arbeit, die in den nächsten Wochen vor ihr lag.
Die Klienten, für die sie arbeiten sollte, war eine der beliebtesten Musikgruppen Deutschlands, bestehend aus mehreren jungen Leuten. Shannon wusste, dass man diese Band nicht uneingeschränkt leiden konnte. Man hörte und las viele negative Nachrichten über sie. Sie selbst kannte diesen Verbund aus Zeitungsberichten, einzelnen Fernsehauftritten, die sie nebenbei verfolgt hatte, und von Gerede, das die jungen Leute ins schlechte Licht rückte: Drogenkonsum, Alkohol, Gewalt gegen Fans und Fotografen.
Zum ersten Mal hatte sie absolut keinen fixen Punkt, wo sie hätte ansetzen können.
„Irland! Daher sollen die ursprünglich stammen. Vielleicht wäre das eine Idee? Ich könnte es keltisch gestalten, das sollte ich hinkriegen!“ grübelte sie laut vor sich hin. „Aber Merz will es ja kitschig! Außerdem sind wir hier in Germany! Da passt Celtic wohl nicht!“ Ihre Gedanken drehten sich im Kreis.
„Hoppla!“ rief jemand, den Shannon gerade umrennen wollte.
„Entschuldigen Sie!“ murmelte sie.
„Hallo? Ich bin es, Paul! Erinnerst Du Dich an mich?“ Shannons Freund rieb sich das Schienbein, gegen das sie gerade gelaufen war.
„Oh, Schatz! Verzeihung, das wollt ich nicht! Was machst Du denn hier?“ Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie bereits vor ihrem Zuhause stand.
Paul sah sie verwirrt an und dann auf seine Uhr: „Wir haben heute Abend Probe! Hast Du das etwa vergessen?“
„Auch das noch!“
Paul öffnete die Gartentür.
Im Haus – ihren Jacken entledigt – nahm Paul seine Freundin fest in seine Arme. „Was ist los? Du wirkst so fahrig!“
Sie schmiegte ihren Kopf an seine Brust: „Nicht so wild! Lass uns essen! Die beiden warten bestimmt schon!“
Sie zog Paul ins Esszimmer, wo Shannons Eltern bereits mit dem Essen angefangen hatten.
Wie fast jeden Abend, seit ein paar Jahren, aß Paul bei Conleys zu Abend.
Michael Conley – der Herr des Hauses – ein hochgewachsener, sportlich gut gebauter Mann, mit eigentlich mittelblondem, allerdings bereits leicht grau meliertem, kurzem Haar, Grübchen und netten Lachfalten um die jeansblauen Augen, war Chefarzt der chirurgischen Station in einem privaten Krankenhaus am Stadtrand Münchens.
Sylvia – Shannons Mutter – arbeitete als Fachdozentin an einer Abendschule für Erwachsenenbildung. Sie hatte dunkelbraunes, fast schwarzes, langes Haar, feurig grüne Augen und, wie Shannon fand, für ihr Alter eine Figur wie ein Top-Model. Von ihr hatte Shannon nicht nur die Gestalt geerbt, sondern auch die Begabung, Fremdsprachen ohne Probleme zu erlernen. Wenn Shannon mit den Eltern alleine war, sprach man fast ausschließlich Englisch, die Muttersprache ihres Vaters.
Shannon hatte Ahnen aus allen Himmelsrichtungen. Ihr dunkles Haar und ihr kaffeebrauner Teint, sowie ihre Musikalität und ihre Tanzmanie mussten aus den südeuropäischen und den lateinamerikanischen Gegenden stammen. Ihre Mutter war halb Brasilianerin, halb Spanierin. Nicht zu vergessen, rührten Shannons väterliche Wurzeln aus den skandinavischen Ländern, sowie Großbritannien und Irland her, die Shannon wohl ihre schier endlose Ruhe und doch jede Menge Ehrgeiz in die Wiege gelegt hatten. Shannon sah ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Die gerade Nase, die Form der Augen und die Grübchen, wenn sie lachte, sowie der Mund und die akkurate Anordnung ihrer Zähne, wiesen sie eindeutig als Michaels Tochter aus.
Sylvia war als Kind mit ihren Eltern und Geschwistern aus Spanien nach Deutschland gekommen. Michael hatte es als jungen Studenten aus dem irischen Dublin nach München gezogen.
Man unterhielt sich üblicherweise bei Tisch über die Erlebnisse des Tages. Diesmal war Shannon dezent bei ihrem Bericht geblieben, wie sie sich den riesigen Kaffeefleck auf ihrem Oberteil zugezogen hatte.
Paul und Shannon harmonierten hervorragend miteinander. Sie waren ein Traumpaar in den Augen aller, die sie kannten. Noch nie hatten sie sich ernsthaft gestritten. Es war einfach eine wunderbare Beziehung.
Shannon hatte makellose Haut, eine weibliche, schlanke Figur und ihr Haar, dessen Farbpalette von dunkelblond bis mittelbraun schimmerte, reichte weit den Rücken hinunter.
Pauls Gesicht war sehr markant, seine Haut vernarbt, er hatte braune Augen, eine muskulös-sportliche Figur. Er ließ sein Haar – Naturfarbe blond – manchmal kurz scheren, manchmal ließ er es wuchern; einmal schwarz gefärbt, dann wieder hellblond gesträhnt, wirr durcheinander gegelt, ab und zu ließ er es, wie es fiel, je nach Lust und Laune. Er trug eine kantige Brille und er ließ manchmal einen Bart um Mund und Kinn stehen, den Shannon gerne an ihm sah. Er war fast einen Kopf größer als sie.
Nachdem sie sich kennen gelernt hatten, dauerte es eine ganze Weile, bis sie sich auf eine feste Bindung einlassen konnten. Jeder, der die Geschichte kannte, beurteilte es als ein kleines Wunder und so wurden sie auch behandelt: Wie ein Prinzenpaar aus einem Märchen, für das es einfach keinen Vergleich gab.
Die beiden gingen nach dem Essen in Shannons Wohnung unter dem Dach. Hier verbrachten sie ihre Freizeit zusammen, soweit vorhanden.
Shannon kochte unheimlich gerne und sie nutzte ihre geringe arbeitsfreie Zeit meist dazu, leckere Kuchen zu backen oder die köstlichsten Gerichte zuzubereiten. Wenn beide mit Arbeit eingespannt waren, wie es in den letzten Monaten der Fall gewesen war, kam es ihnen wie gerufen, wenn sie bei seinen oder ihren Eltern essen konnten. Entsprechend faul waren die letzten drei Wochen Urlaub ausgefallen: Nichts tun, und wenn überhaupt, dann nur etwas Angenehmes oder was eine entspannende Nebenwirkung hatte.
Shannon zog sich um.
„Sag mal, Schatz! Sagt Dir die Glenn-Truppe was?“, rief sie aus dem Bad.
„Flüchtig, wieso?“, kam gelangweilt von Paul, der in einer Zeitschrift blätterte: „Wie kommst Du darauf?“
„Hast Du sie mal kennen gelernt?“, interessierte sie weiter, während sie sich nach der Dusche abtrocknete.
„Wir haben sie mal bei einem Festival getroffen, das ist einige Zeit her!“
„Wie sind die so?“ Shannon ließ nicht locker.
„Keine Ahnung, ich kenne sie ja nicht. Wieso willst Du das so genau wissen?“ Paul stand nun neben ihr.
„Ich soll die Homepage für sie erstellen!“ Shannon betrachtete ihr hübsches, ebenmäßiges Gesicht im Spiegel.
„Das ist doch nicht die erste Homepage, die Du baust, ohne die Auftraggeber persönlich zu kennen!“ Paul rasierte sein Gesicht.
„Es ist ein himmelweiter Unterschied, ob ich für Produkte oder Firmen arbeite, bei denen es um Design, Innovation und Qualität geht, als wenn ich über musizierende Menschen etwas veröffentlichen soll!“
„Fang bei ihrer Herkunft an!“ Paul grinste zuerst, wissend, dass Shannon die mit den Glenns gemein hatte, legte aber sogleich seine Stirn in Falten, weil er sich eben geschnitten hatte. „Außerdem: Unsere Homepage machst Du doch auch super. Wir sind ebenfalls Musiker! Wieso nimmst Du nicht das Konzept unserer Page für sie als Vorlage?“
Shannon holte ein kleines Pflaster und verklebte seine Schnittwunde.
Währenddessen murmelte sie: „Ja, die sind aus Irland, ich weiß. Trotzdem kann ich nicht einfach etwas aus dem Stegreif bauen, über das ich kaum Infos habe! Abgesehen davon, darf mir kein Fehler unterlaufen, weil die momentan viel Ärger an der Backe haben. Jedenfalls wird das behauptet!“
„Deswegen scheint es ihnen gerade jetzt sehr wichtig zu sein, ihr Image aufzumöbeln, nach allem, was über sie spintisiert wird!“, meinte Paul. „Dann sind sie ja bei Dir an der richtigen Adresse! Du machst das schon, meine Süße!“
„Was willst Du damit sagen? Bist Du etwa der gleichen Meinung wie Frank, ich wäre kitschig, oder …“
Paul nahm sie in die Arme und ihr damit verbunden die Luft zum Weiterplappern, weil er selbige in einem innigen Kuss erstickte.
„Nun fahr mal ein paar Gänge herunter! Immerhin hast Du heute gerade den ersten Tag gehabt! Morgen wird es anders aussehen! Und die Probe nachher sollte wegen so etwas nicht negativ beeinflusst werden! In Ordnung?“
Sie atmete tief durch und nickte.
Shannon wohnte schon von Kindesbeinen an in Sonnenstein, diesem kleinen Ort, ein paar Kilometer außerhalb Münchens, einem Dorf am Hang einer Senke, umgeben von Feldern, Hügeln und Wäldern. Gerade in der Winterzeit war es hier so malerisch, dass Shannon dankend ablehnte, in dieser Saison in die Sonne zu fliegen. Sie fuhr gerne Ski und ging leidenschaftlich gern eislaufen.
Im Sommer war sie dann mit ihren Eltern oder Paul in der weiten Welt unterwegs. Allerdings war es eher selten, dass sie und Paul zusammen Urlaub oder frei hatten, umso mehr genossen sie dann natürlich diese Phasen der harmonischen Einigkeit und Ruhe.
Paul wirkte seit vielen Jahren in einer Musikgruppe mit, den „Green Sleeves“, die im Großraum München bekannt und sehr beliebt waren.
Shannon war vor kurzem ebenfalls angeheuert worden, da sie hervorragend Geige spielte, und somit ein guter Nachfolger für Tim sein würde. Außerdem war sie mit Gitarre und Klavier gut Freund. Was aber das Allerwichtigste war, war ihre schnelle Auffassungsgabe, bei den vielen schnellen Stücken mit teilweise komplizierten Akkorden und Harmonien, die bei dem Stil der Band nicht ganz einfach zu spielen waren. Seit sie mit Paul zusammen war, hatte sie viel Zeit im Proberaum mit ihm und den anderen Musikern verbracht und sich für jedes Instrument begeistern können.
In stillen Stunden, in denen die Band Auftritte hatte und Shannon nicht zum Konzert wollte oder konnte, klimperte, zupfte oder geigte sie die ihr bekannten und geläufigen Stellen nach.
Im Proberaum wartete man bereits auf die beiden, dann ging es zügig los.
Shannon murxte anfangs ein paar Mal, konnte aber schnell den Anschluss finden, wodurch man nicht ständig von vorn anfangen musste. Sie war sehr konzentriert.
„Perfekt!“, fand Ben, Leadsänger, Songschreiber und unausgesprochener musikalischer Boss der Band. Es war inzwischen beschlossene Sache, dass Shannon bei den nächsten Auftritten, beginnend am ersten Wochenende des kommenden Monats, spielen würde. Die ersten Schritte hatte die Band mit irischen und schottischen Traditionals gemacht, untermalt von unterschiedlichen Rhythmen und mit der Zeit ab und zu auch mit kommerziellen Takten, die man, um dem ursprünglichen Stil treu zu bleiben, in Grenzen hielt.
Die Gruppe bestand aus fünf Männern: Ben und Paul spielten verschiedene Gitarren und sangen, Tobias spielte Akkordeon, Flöte und Bodhrán², Stefan saß am Schlagzeug und bediente die Percussions. Jörg bediente den Bass.
Die anderen hatten gezweifelt, allen voran Paul, als Ben den Vorschlag brachte, Shannon in die Band zu holen. Tim hatte seinen Ausstieg angekündigt und Ben war sofort Pauls Freundin eingefallen. Er war sicher, sie würde die schwierigen Passagen spielen können und den Jungs eine große Hilfe sein. Wenigstens so lange, bis sie jemanden gefunden hätten, der es übernehmen konnte, wenn Shannon es nicht auf Dauer machen wollte.
„Wir können Shannon zumindest fragen! Sie kennt Tims Taktik und ich bin sicher, sie würde daran arbeiten!“, meinte Ben nachdrücklich.
Die anderen erklärten sich einverstanden, Shannon in ihrer Runde aufzunehmen. Natürlich nur, wenn sie selbst auch wollte und den Ansprüchen genügen würde.
Als Paul ihr die Nachricht übermittelte, war sie völlig perplex und konnte zuerst gar nicht antworten.
„Ich werde es gerne versuchen. Aber meinst Du wirklich, ich habe das nötige Geschick dazu? Geige spielen ist gut und schön, aber so, wie Ihr das braucht, so wie Tim das macht?“
„Man kann alles, wenn man es will! Es wird viel Zeit in Anspruch nehmen, ich weiß nicht, ob Du das mit Deinem Job auf die Reihe bekommst. Aber einen Versuch ist es wert!“ Paul war also zuversichtlich, auch wenn es ihm nicht so ganz in den Kram passte, dass sein Mädchen in Kürze neben ihm „arbeiten“ sollte. Nicht, dass er sie nicht dabei haben wollte. Ihm schwirrten allerdings einige Sachen im Kopf herum, die passieren könnten, wenn sie bald auf diese Weise Fans haben würde. Männliche Fans vorwiegend. Die weiblichen machten ihm kein Kopfzerbrechen.
² Eine Bodhrán ist eine irische Rahmentrommel, normalerweise wird die Bodhrán im Sitzen gespielt, wobei sie auf dem Knie des Spielers steht. Der Rechtshänder berührt mit seiner linken Hand die Innenseite des Fells und kann so durch Druck und verschiedene Handpositionen die Tonhöhe variieren oder Dämpfungseffekte erzielen. Mit der rechten Hand wird die Bodhrán mit einem Holzschlägel, dem „Tipper“, „Beater“, oder „Stick“, gespielt. Quelle: www.wikipedia.de
Shannon übte in jeder freien Minute, teilweise unter den wachen Ohren von Tim, dem sehr viel daran lag, dass nicht irgendwer in die Truppe einsteigen würde.
Das „Vorspielen“ fand unter Ausschluss von Paul statt. Verständlich, wie Shannon fand, und ungerecht, Pauls Meinung nach. Die Jungs hatten es so gewollt. Immerhin hätte Paul aus privaten Gründen seine Zustimmung geben können. Tim war selbstverständlich auch dabei und sollte mit urteilen, ob Shannon sein Erbe fortführen sollte.
„Das schaffst Du schon!“, ermutigte Paul sie, weil sie auf dem Weg nach Hause anzweifelte, ob sie das wirklich hinkriegen würde. „Überleg' mal, wie oft wir alles durchprobiert haben! Das klappt! Auf jeden Fall!“ Er war sicher.
„Liebst Du mich?“, fragte sie, mit einem schelmischen Grinsen.
„Das weißt Du ganz genau!“ Paul fasste hinüber zu ihr und kraulte ihren Nacken.
„Zeig’ es mir!“ Ihre Augen funkelten ihn eindeutig an.
Kurzerhand lenkte Paul den metallblauen Käfer in einen abgelegenen Wald. Kaum war der Motor abgestellt, fiel Shannon über ihn her. Leidenschaftlich und voll sinnlicher Gefühle gaben sie sich einander hin.
Natürlich waren sie nicht auf ein Stelldichein in diesem Wald im Auto angewiesen, aber außergewöhnliche, spontane Situationen hatten eben ihren gewissen Reiz.
Shannon stand am nächsten Morgen zuerst auf. Ihr Tag begann stets um fünf Uhr dreißig. Sie setzte Kaffee auf und ging dann für mindestens eine halbe Stunde joggen, egal ob Regen, Schnee oder Sonnenschein. Sie brauchte das, um munter zu werden, meinte sie lächelnd, wenn man sie für verrückt erklärte. Wenn sie besonders gut drauf war, durchlief sie sogar den Trimm-dich-Parcours und wenn es draußen trocken war und sie einen gewissen Kick brauchte, war sie auf Inlinern unterwegs.
Gut gelaunt pfiff sie morgens für gewöhnlich Songs von den Green Sleeves, während sie duschte und anschließend ihr Haar föhnte.
Dann brachte sie Paul den Kaffee ans Bett, weckte ihn zärtlich auf und ging anschließend zur Arbeit.
Wenig später saß Shannon in ihrem Büro. Sie las sich durch den Wust an Berichten in dem Ordner, der ihr seit dem Vorabend vorlag.
Langsam bekam sie ein Bild von der Band. Dennoch fehlten ihr die Ideen, wie sie die Seite aufbauen sollte. Sie fing an, löschte wieder, sie versuchte etwas anderes, verwarf dies wieder. Zuerst die Idee mit den einzelnen Mitgliedern, aber dafür hatte sie zu wenige und zu unterschiedliche Informationen. Dann versuchte sie es mit den Instrumenten. Aber jeder spielte jedes, also klappte das auch nicht. So ging es die ganze Zeit. Ein paar Wochen lang.
Am Abend ihres ersten Auftrittes mit den „Greens“ kamen auch Marc und ausnahmsweise Frank – der sonst nie Zeit hatte – sowie Shannons Eltern mit Ralf, einem Kollegen ihres Vaters und gutem Freund der Familie, zum Konzert.
Auf dem Weg dahin musste sich Shannon etwas anhören, das ihr gar nicht gefiel: „Denk’ bitte daran: Wir sind bei den Gigs nur Kollegen!“, kam von Paul höchstpersönlich.
Shannon legte die Stirn in Falten. Sie war es bereits gewohnt, vor und nach Konzerten Paul nicht ungehemmt zu umarmen oder abzuküssen, wenn sie als Zuschauerin dabei war, aber jetzt, wo sie zur Band gehörte, sollte sie Pauls nächste Nähe die ganze Zeit meiden? Wortlos nahm sie die Anweisung hin, wobei sie es nicht ganz verstand, aber es würde schon seine Richtigkeit haben, wenn Paul selbst das so wollte.
Nervös schlich Shannon hinter der Bühne auf und ab, während sie ihre Geige stimmte und die schwierigsten Passagen zum schier tausendsten Mal probte.
„Bist Du bereit?“, fragte Paul leise.
„Ja, klar!“ Shannon schnaufte tief durch.
Man konnte von draußen schon eifriges Geplapper und Gelächter hören.
„Was ist, wenn die da draußen eine Frau an Tims Stelle gar nicht akzeptieren?“, murmelte sie vor sich hin.
„Dann hast Du noch immer sechs Männer hinter Dir stehen, einschließlich Tim!“, hörte sie Tobias' beruhigende Stimme.
Ein kurzes, nervöses Lächeln huschte ihr über die Lippen. Er zwinkerte ihr zu.
Shannon richtete ihr Shirt und ihre Hose, sie zog ihren Haarzopf zurecht, holte tief Luft und folgte den anderen zur Bühne.
Applaus, Freude, Jubel taten sich auf, wie Shannon es von so vielen Auftritten der Band bereits kannte, doch diesmal stand sie auf der anderen Seite.
Stefan schlug die ersten Takte mit den Drumsticks an, dann ging es los ... und Shannon hatte nichts Dümmeres zu tun, als ihren allerersten Einsatz vor Publikum ganz gepflegt zu verpassen. Amüsiert schauten Ben und Paul zu ihr hinüber.
Sie wusste, sie hatte die Musiker auf ihrer Seite, also fuhr sie bestärkt fort.
Sie sah ihre Lieben unten stehen, die sie genau beobachteten. Bereits nach dem ersten Lied kam ihr Solo. Die treuen Fans waren bereits über die Umbesetzung im Bilde gewesen und Tim war bei seinem letzten aktiven Konzert hoch lobend verabschiedet und gefeiert worden. Er wollte zum Studium und der Liebe wegen in den hohen Norden des Landes ziehen. Sie hörte aus dem Hintergrund eine weitere Geige erklingen. Das war nicht geplant, oder besser gesagt, sie wusste nichts davon, dass noch jemand arrangiert wurde. Etwas verwirrt schaute sie sich um, ohne sich unterbrechen zu lassen: Es war Tim, der fiedelnd und grinsend auf sie zukam und ihr noch mehr Ansporn gab. Sie spielten im Duett einige Teile des eigentlichen Solos im Duett. Und es war sowas von synchron, dass sogar die anderen staunten. Tim blendete sich dezent wieder aus, bevor das langsamere Zwischenstück kam.
„Soeben habt Ihr eine ganz neue Bekanntschaft in unserer Runde gemacht!“, stellte Paul nach dem Solo klar. „Tim, unser Geigerist – viele wissen es ja schon – hat die Band verlassen, um sich wichtigeren Dingen des Lebens zu widmen und deshalb mussten wir uns nach Ersatz für ihn umsehen. Dabei sind wir bei einer bezaubernden jungen Dame hängen geblieben, die ab heute seine Stelle einnimmt. Herzlich Willkommen: Shannon Conley!“ Er wies mit beiden Händen zu ihr hin, Shannon lachte amüsiert, weil seine Stimme bei dem Wort „bezaubernd“ etwas weit hoch geraten war. „Und zusammen sind wir „Green Sleeves!“
Applaus. Und schon ging der nächste Song los. Es wurde ein tolles Konzert.
In der kleinen Pause vor den Zugaben, hörte sie von Paul ein dickes Lob. Zu gerne hätte sie es mit einem Bussi bestätigt bekommen, aber nicht einmal annähernd so etwas kam von ihm. Allerdings hatte sie die ganze Nacht mit ihm vor sich, in der sie sich so viel Bestätigung in Form von Küssen und mehr holen konnte, wie sie wollte.
Auf Shannons „Danke, mein Schatz!“ legte sie, wie selbstverständlich, erschrocken die Hand auf den Mund und erntete prompt einen mahnenden Blick von ihm. Warum konnte sie das, was sonst völlig normal war, nicht auch jetzt tun? Hier, hinter der Bühne, würde es niemand sehen! Musste sie sich wirklich dafür entschuldigen? Leicht angesäuert bewältigte sie die letzten Lieder des Abends.
Eltern und Freunde freuten sich nach dem Konzert mit Shannon und ihren Kollegen über ihr gelungenes Debüt in der Band. Jeder klopfte ihr die Schultern und bestätigte persönlich, wie meisterhaft sie sich in das zuweilen recht wirre Gehoppse und Getümmel der Männer während der Show eingefunden hatte. Teilweise war es gar nicht so leicht, dem unkontrollierten Durcheinander der Musiker Stand zu halten. Ein Wunder, dass die sich noch kein einziges Mal die Köpfe gegenseitig eingerannt oder sich tiefblaue Flecke zugezogen hatten.
Sie war auf jeden Fall akzeptiert worden, denn die ersten Autogramme musste sie geben, nachdem sie gerade aus dem Backstage nach vorne gekommen war.
Sie unterschrieb bereitwillig auf CD-Hüllen, T-Shirts, Taschen, Eintrittskarten und anderem Schnickschnack.
„Kleine, Du warst wundervoll!“ Michael war stolz auf seine Tochter und drückte sie fest an sich.
Sylvia wirkte skeptisch. Sie war erfreut und stolz, natürlich, aber vielleicht waren Mütter so: immer Angst um die Jungen.
Die Situation als solche, sich vor Publikum präsentieren zu müssen, oder besser gesagt, zu dürfen, kannte sie bislang nur von langweiligeren Auftritten, als sie früher im Schulorchester gespielt hatte. Das hier war etwas ganz anderes. Schon allein deshalb, weil sie einen Mann ersetzen sollte, der seine Sache bisher sehr gut, fast immer fehlerfrei, über die Bühne gebracht hatte.
Dass sich nun so viele mit und über sie freuten, gab ihr Mut.
Shannon genoss ihr erstes Bad in der Öffentlichkeit als Musikerin.
„Shannon, kommst Du bitte?!“, entriss Paul sie – nach über einer Stunde witziger, teilweise anstrengender Gespräche – einer Unterhaltung mit einem jungen Mann, der sie für eine Schülerzeitung im Ort interviewt hatte.
„Ich bin gleich da!“, winkte sie fröhlich.
Sie verabschiedete sich freundlich und ging zum Bus.
Auf der Heimfahrt plapperte sie aufgeregt über die netten Leute und über das Interesse, das viele an ihr, der „Neuen“, gezeigt hatten. Die Männer grinsten sich vielsagend an und gönnten Shannon ihre Begeisterung, nachdem sie ihre Sache so glatt absolviert hatte.
Paul und Shannon duschten zusammen. Shannon fühlte sich gut. Sie hatte einmal mehr bewiesen, dass sie es konnte, und Paul zeigte ihr tatsächlich mit mehr, als nur ein paar Küssen, wie begeistert er von ihr gewesen ist und wie sehr er sie begehrte. „Die Bühne steht Dir gut! Du warst richtig sexy!“ hauchte er in ihr Ohr, als sie sich unter dem prasselnden Duschstrahl liebten. Sie lächelte verzückt und dankbar.
Sie hatte in ihrem Leben fast alles erreicht, was sie erreichen wollte. Sie hatte vor kaum etwas Angst und sie ging alles mit gesundem Optimismus an. Was ihr nur noch fehlte, was aber keine Eile hatte, war Paul irgendwann zu heiraten und in noch weiterer Ferne, einmal ein Kind.
Paul erzählte ihr im Bett von ein paar Begebenheiten des Abends, die sie nicht wirklich interessieren. Sie war glücklich, erschöpft und müde.
Paul war schon eine Weile wach, wie meistens, wenn Shannon nicht früh morgens raus musste, und hatte das Frühstück vorbereitet, als sie die Augen öffnete. Sie lag noch eine Weile in den Kissen und sann über den vergangenen Abend nach. Irgendwie war es wie in einem Film gewesen. In einem Film mit ganz vielen Emotionen und Spannung. In ihrem Hals steckte ein dicker Kloß, wenn sie an Pauls Blick nach ihrem kleinen, verbalen „Ausrutscher“ und an diese komische Auflage dachte, die er ihr höchstselbst aufs Auge gedrückt hatte.
Sie saß später schweigend am Tisch. Paul studierte die Sonntagszeitung. Sie sah ihn eindringlich an.
„Was ist?“, fragte er, nachdem er es endlich bemerkt hatte.
„Was ist?“, gab sie leise wieder. „Das fragst Du mich?“
Paul sah sie verdutzt an. „Wegen der Knutscherei?“, fiel ihm dann ein.
„Knutscherei? Wie das klingt! Ich finde das blöd! Es ist mir vollkommen klar, dass ich mich nicht vor den Augen der Fans an Deinen Hals hängen kann! Aber ...“
„Shannon! Das ist doch nicht schlimm! Es geht nur ...“
„Ich weiß sehr gut, worum es geht! Ich finde es trotzdem doof! Ich verstehe es irgendwie, aber dass ich Dich nicht einmal mehr mit dem Namen anreden darf, den ich schon immer für Dich habe, ist heftig, und dass ich Dir nicht einmal hinter der Bühne ein Bussi geben darf, ist auch nicht in Ordnung!“
Paul schluckte. „Ich weiß, dass es blöd für Dich ist ...“
„Für Dich ist es nicht blöd? Nein? Für Dich ist es okay so?“, fiel sie ihm erneut ins Wort.
„Natürlich ist es für mich auch nicht schön, aber es geht nicht anders!“ Seine ruhige Stimme wollte sie beschwichtigen.
„Wieso nicht?“ Sie wurde lauter.
„Shannon! Wir konnten uns noch nie küssen, wenn Du bei Konzerten dabei warst. So neu ist das nicht! Wir haben uns nie geküsst oder offensichtlich miteinander geflirtet, wenn Du da warst! Da hast Du es verstanden!“
„Das ist etwas ganz anderes! Bisher war ich als Fan dabei. Ich hätte mich im Leben nicht getraut, Dir zu nahe zu kommen und ich hatte kein Problem damit, jedes Mal mit Belen, Ralf oder sonst wem hinter dem Tourbus herfahren zu müssen wie manche Groupies, nur, um nach dem Konzert mit Dir zusammen sein zu können, das weißt Du ganz genau! Zuerst habe ich es als spannend empfunden, so heimlich zu tun. Keiner wusste, dass wir nach den Konzerten die Nächte zusammen verbracht haben. Heute bin ich erwachsen und ich bin seit langer Zeit Deine Freundin, nicht erst seit zwei Wochen! Wieso kann jemand, der halbwegs im Rampenlicht steht, nicht offiziell eine Freundin haben? Ist das verboten? Liebe? Ist Liebe verboten im Showgeschäft? Dann pfeif' ich auf den Job in der Öffentlichkeit!“
„Shan ...“
„Im Übrigen habe ich mich darauf gefreut, an den Wochenenden öfter mit Dir zusammen sein zu können und nicht etwa noch mehr Abstand nehmen zu müssen!“ Ihre Stimme wurde immer zorniger und ihr Gesicht wirkte erhitzt und verbittert.
„Na, dann sei doch froh, dass Du mich privat hast und mit mir machen kannst, was Du willst!“ Dieser Satz traf Shannon wie ein Schlag ins Gesicht.
Er wollte überspielen, wie nahe ihm ging, dass sie sich an diese Anfangszeit ihrer Romanze noch so genau erinnerte; an diese Liebelei, von der keiner überzeugt war, dass sie lange halten würde, sogar er hatte Zweifel gehabt, und er wollte sich nicht anmerken lassen, dass ihm nie zuvor so bewusst war, was sie damals empfunden und wie sehr sie manchmal gelitten haben musste.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen der Enttäuschung. Sie stand auf, zog ihre Trainingsklamotten an und wollte joggen gehen.
Noch wütender, weil ihm nun nichts mehr einzufallen schien, zog sie von dannen. Alleine. Sonst waren sie an den Wochenenden zusammen unterwegs, auch beim Frühsport. Heute ging sie eben ohne ihn, wie sonst wochentags auch.
Sie lief durch den Parcours, zurück, durch den Wald, sie sog die Luft tief in ihre Lungen und schnaufte sie kraftvoll wieder aus. Ihr Herz raste. Nicht, weil sie sich zu viel zumutete. Nein. Es raste vor Wut. Paul war ein wunderbarer Mann. Er hatte sie noch nie enttäuscht, war immer für sie da ...
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Sehr oft, vor allem wenn Shannon alleine war, egal ob traurig oder schlecht gelaunt, lustig, glücklich oder in Hochstimmung, schweiften ihre Gedanken in die Vergangenheit zurück. In bereits mehreren Tagebüchern hatte sie alles akkurat festgehalten, was sie erlebt hatte und für sie wichtig gewesen war, selbst wenn es für andere scheinbare Kleinigkeiten waren...
Die beiden hatten sich kennengelernt, als Shannon noch zur Schule gegangen war, Paul längst studierte und sogar bereits kurz vor seinem Abschlussexamen stand. Sie war von der ersten, unbedeutenden Begegnung an fasziniert von diesem Mann, von dem sie ab diesem Moment tags und nachts träumte. Wenn sie ihn sah, polterte ihr Herz in sämtlichen Oktaven, wenn er sie ansah, war es um sie geschehen und wenn es vorkam – was allerdings sehr selten war – dass sie ein paar Worte wechselten, war Shannon so verzweifelt, dass sie ein Königreich gegeben hätte, um mit diesem Kerl nur ein paar Minuten allein zu sein:
Er kam damals in ihrer Schule während einer Pause eine Treppe herunter, an der sie vorbei musste und dummerweise so eilig und knapp aneinander vorbeigelaufen, dass ein paar Blätter, die er lose, auf einem Ordner liegend, getragen hatte, herunter flatterten.
„’tschuldigung!“, hatte sie gemurmelt, worauf er lediglich einen missmutigen Laut von sich gegeben hatte.
Shannon konnte nicht einmal den Versuch starten, ihm zu helfen, die Papiere wieder aufzuheben. Sie sah ihn an und war wie gelähmt. So müsste er sein: Der Mann, dem sie einmal ihr Herz schenken würde. Er hatte allerdings den Kopf voll mit anderen Dingen, sodass er das Mädchen mit dem Stechschritt gar nicht registriert, die Blätter wortlos aufgehoben hatte und weggegangen war, ohne Shannon auch nur eines Blickes zu würdigen.
Sie hatte hart daran zu knabbern, dass sie sich ausgerechnet in diesen Mann verliebt hatte. Er war älter und er hätte leicht und locker bereits zwei oder drei Kinder haben können, verheiratet mit einer attraktiven Dame aus hoch angesehenen Gesellschaftskreisen.
Er war für Shannon der absolute Hammer. Er war der erste Mann, für den sie sich überhaupt interessierte. Während sich gleichaltrige Mädchen – wie ihre beiden besten Freundinnen Belen und Kathrin – Poster von Boygroups, nett aussehenden Sängern oder süßen Schauspielern über ihre Betten kleisterten und von denen schwärmten, versuchte Shannon – und meist gelang ihr das auch – einfach ganz fest an diesen Mann zu denken, bis sie das Gefühl hatte, er stünde direkt vor ihr. Ein Foto von ihm hatte sie nicht, wie hätte sie auch an eines kommen sollen?
Jungs in ihrem Alter fand sie durchwegs kindisch und viel zu pubertär. Mit keinem von denen, die sie kannte oder bei altersgemäßen Partys kennengelernt hatte, hatte sie etwas anfangen können. Natürlich gab es den einen oder anderen, nach dem sie, ihre Freundinnen und Kameradinnen sich umschauten, den sie ganz süß und ab und zu nett fanden, aber um sich mit diesen Buben abzugeben, hatte sie keine Lust und nicht die Zeit, die sie – für ihre Begriffe – sinnvoller nutzen konnte:
Täglich hatte sie ihr Tagebuch malträtiert und sich darin über ihre unerfüllte Liebe zu einem Mann ausgeweint. Einem erwachsenen Mann, kein halbes Kind mehr, so wie sie, mit dem sie für Prüfungen lernen oder in Kinofilme für ab Zwölfjährige hätte gehen können.
War sie etwa nicht normal?
Diese Frage hatte sie sich sehr oft gestellt, bis sie sich Ralf – dem mit der Familie sehr eng befreundeten Arzt, einem Kollegen ihres Vaters – anvertraute. Ralf war, seit sie denken konnte, mehrmals wöchentlich bei Conleys ein- und ausgegangen, er hatte während seines Studiums auf Michael Conleys Station praktiziert und nach seinem letzten Examen eine Stelle im gleichen Klinikum angenommen.
„Ich steh total auf einen Kerl, den ich niemals erreichen werde, Ralf! Er ist viel älter als ich! Ich weiß einfach nicht mehr weiter! Ich meine, das ist doch nicht normal, oder? Gleichaltrige Jungs interessieren mich nicht, weißt Du. Und dann erscheint ER und ich kenne mich langsam nicht mehr aus!“, seufzte sie herzzerreißend, während sie in dem schwarzen Lederstuhl vor Ralfs Schreibtisch saß und ihrem Leid Luft machen wollte.
Ralf sah sie zunächst nachdenklich an. Es war eine Schwärmerei, aus seiner Sicht, für sie schien sich allerdings die Welt um diesen ominösen Mann zu drehen. „Das kann verschiedene Ursachen haben, Shannon! Häufig ist es der mangelnde Kontakt zum eigenen Vater. Vielleicht hat Michael zu selten Zeit für Dich und Du wünschst Dir, er wäre öfter für Dich da? Das kann ein Punkt sein, der einen reiferen Mann für Dich interessant macht! Aber das ist nur eine Theorie.“
„Das glaube ich nicht! Dad hat schon genug Zeit für mich und andere Väter können doch auch nicht rund um die Uhr bei ihren Kindern sein! Dann müssten ja alle Mädchen, die geschiedene oder berufstätige Eltern oder gar keinen Vater haben, auf ältere Männer stehen!“ Sie schüttelte entschieden den Kopf.
Ralf Martens saß Shannon mit gespanntem Blick gegenüber, als sie ihr Problem weiter schilderte: „Er ist so umwerfend! Wenn ich ihn sehe, wird mir ganz schummrig und erst recht, wenn er mir zulächelt! Dabei weiß ich noch nicht einmal, ob er mich wirklich anlacht oder ob ihn nur die Sonne blendet!“ Shannon konnte gar nicht weitersprechen, weil ihr allein beim Gedanken an sein Gesicht der Atem stockte.
„So schlimm?“ Ralf zog erstaunt die Brauen hoch.
Sie nickte und sah ihn erwartungsvoll an. „Ganz zu schweigen von den Nächten. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal anständig geschlafen habe!“
Ralf schmunzelte. Süß, wie sie da in ihrer Verzweiflung nach Luft und Worten rang, aber es tat ihm auch ein bisschen weh, dass dieses sonst, für ihr Alter, so bodenständige Mädchen völlig neben der Spur zu laufen schien: „Shannon! Mal im Ernst: Um die Ursache für Dein Problem zu finden, wenn es wirklich ein Problem für Dich ist, wäre es notwendig, mit einem Psychologen zu sprechen. Ich bin Chirurg, der leider weder Traummänner entfernen, noch zermürbten Seelen zusammenflicken kann!“
„Ich bin ein Fall für den Psychiater?“ Nun wurde Shannon mulmig.
„Na, nun mach mal langsam! So weit sind wir noch lange nicht! Ohne Deine Gefühle anzweifeln zu wollen, sehe ich es als eine Schwärmerei, aber man kann eine Analyse erstellen, wenn es Dich so sehr beunruhigt! Wenn Du gegen das vermeintliche Debakel vorgehen willst, kann man da sicher was machen! Gesprächstherapie, Beschäftigungstherapie … Da gibt es schon Möglichkeiten!“, erklärte er vorsichtig, um ihr nicht noch mehr Angst zu machen. Für Ralf klang das alles gar nicht so wild. Shannon würde über kurz oder lang merken, dass es keinen Sinn hatte und sie würde sich zu gegebener Zeit in einen Jungen verlieben, der ihrem Alter entsprach.
„Muss ich in die Klapse?“ Ihr Gesicht wurde zusehends blasser.
„Shannon!“, rief Ralf lächelnd, stand von seinem Stuhl auf, trat vor sie hin und nahm ihre Hände fest in seine.
„Wie lange kenne ich Dich? Zehn, zwölf Jahre? Du bist eines der wundervollsten Mädchen, die ich kenne!“ Ralf sah sie mit ernstem Blick an. „Weißt Du noch, als Dein Hase gestorben war? Du hast bitterlich geweint! Völlig normal! Wenn Du hingefallen bist, bist Du aufgestanden und hast mit den Schultern gezuckt, nur wenn es ganz schlimm war, hast Du geschrien vor Schmerzen. Auch völlig normal! Du bist in der Schule eine der Besten. Ich höre Deine Eltern singen, wie sie Dich des Lobes in den Himmel heben und als Du mal diese Flaute hattest, vor zwei Jahren, hast Du ein paar Vieren und sogar eine Fünf nach Hause gebracht! Auch das ist völlig normal! Und jedes Mädchen in Deinem Alter macht die ersten Erfahrungen in Sachen Verliebtsein, Schwärmerei und auch mit Liebeskummer, das gehört dazu und ist ebenfalls völlig normal! Glaub’ mir Shannon: Du bist sowas von normal! Normaler geht es nicht!“
Shannon grinste, denn immerhin waren weder Ralf noch ihr Vater während ihrer Schulzeit von schlechten Noten verschont geblieben. Das wusste sie, darüber hatte man Weihnachten vor einem Jahr gelacht, nachdem Ihr Vater mit lautem, fast ohrenbetäubendem Zähneknirschen seine alten Zeugnisse zücken musste, weil er in einem Spiel um Lüge oder Wahrheit verloren hatte und eine „Leiche aus dem Keller“ holen musste. Und das war ein Zeugnis aus alten Tagen, mit einer Fünf in Mathe.
„Dass Du in einen Mann verliebt bist, der älter ist, sollte Dich nicht beunruhigen! Es gibt viele Mädchen, die auf ihren Lehrer stehen, manche mögen den Kellner ihres Lieblingsrestaurants, den Busfahrer oder einen Bankangestellten, wieder andere, was weiß ich, die würden ihren eigenen Vater am liebsten heiraten!“
„Oh, Gott bewahre!“, lachte sie.
„Na, siehst Du! Lass Dir selbst ein wenig Zeit! Eines Tages wirst Du drüber hinweg sein und darüber lachen!“
Ralf war ehrlich gewesen. Sie fand es toll, so einen Freund zu haben. Aber er hatte Unrecht: Dieser Herzschmerz würde niemals vergehen. Sie war sicher, dass sie ihr restliches Leben daran knabbern würde.
Wenn Shannon diesen Mann sah, versuchte sie, in seine Nähe zu kommen. Ab und zu hielt er sich auf dem Schulhof auf, wenn sie gerade Pause hatte. Er stand meist mit ernster Miene da und beobachtete die Kinder, unterhielt sich mit den älteren Schülern, mit Lehrern oder schlichtete, wenn sich unter den Jüngeren Raufereien abspielten. Er war einfach nur süß. Ihre kleine, kurzweilig heile Welt stürzte ein, wenn sie einen Blick von ihm erheischen wollte, fast am Ziel war, und dann enttäuschenderweise die Glocke zum Ende der Pause schellte.
Ein oder zwei Mal hatte er sie angesehen. Ganz sicher! Aber er hatte auch gelächelt, wenn er sie gar nicht sehen konnte. Also war dieses Schmunzeln sicherlich nicht für sie bestimmt. Wahrscheinlich war es mehr ein Auslachen als ein Anlachen, bezogen auf die kleine „Rempelei“ vor einigen Wochen auf dem Schulhausflur?
Trauriger, als hätte sie ihn besser gar nicht beobachtet, zog sie sich dann ins Schulhaus zurück, um in der nächsten Schulstunde von ihm zu träumen. Lehrer konnte er nicht sein, dazu hatte sie schon viel zu häufig die Tafel im Schulhausaufgang angestarrt, wo alle Lehrer mit Bild verzeichnet waren. Er war nicht dabei. Ein Hausmeisterposten passte zu seinen Klamotten so überhaupt nicht. Wie könnte sie nur herausfinden, was er hier machte? Jemanden zu fragen, wagte sie nicht. Man hätte ja merken können, was in ihr vorging.
Am liebsten hätte sie viel mehr Zeit in der Schule verbracht, nur um die Chancen zu erhöhen, ihm zu begegnen. Aber leider war das nicht so einfach.
Natürlich blieb es nicht ohne Folgen, dass sie sich Ralf anvertraut hatte: Immer wieder – und das war nicht selten – wenn Ralf zu Besuch war, tauschten die beiden vielsagende Blicke und grinsten sich an.
Wenn sie alleine waren, fragte Ralf leise nach ihrer „Herz-Rhythmus-Störung“, wie sie es inzwischen selbst betitelt hatte.
Shannon holte tief Luft und japste Dinge wie: „Er ist so atemberaubend sexy!“ oder: „Ich weiß langsam nicht mehr, was ich tun soll!“ und: „Es tut so weh, dass er mich nicht beachtet!“
„Shannon! Ich möchte Dir Deinen Mut nicht nehmen, aber vielleicht solltest Du Dich damit abfinden, dass er tatsächlich andere Interessen hat, als sich mit fünfzehnjährigen Mädchen zu unterhalten! Mag sein, dass er freundlich lächelt, wenn Du das auch tust! Es wäre komisch, wenn sich sein Gesicht jedes Mal in eine Fratze verwandeln würde, wenn er Dich sieht, meinst Du nicht?“ Er wollte sie aus ihrer Irrealität holen. Er selbst stand altersmäßig zu Shannon wohl ähnlich wie dieser Typ. Ralf kannte sie sehr lange und hätte ihr gerne geholfen, aber wenn er sich in die Lage versetzte, kam er zu dem Schluss, dass er, für sich selbst und für sein Alter, nie auf die Idee gekommen wäre, sich in ein Mädchen zu verlieben, das so jung war wie Shannon.
Shannon hatte es sehr getroffen, dass der einzige Vertraute, der von ihrer Schwäche wusste, so redete. Sie war verletzt. Sie wusste, Ralf hatte Recht. Aber sie lag die folgende halbe Nacht in ihrem tränennassen Kissen und wandt sich vor Herzschmerz.
Einmal fragte Ralf ganz beiläufig, wie alt eigentlich ihr Angebeteter wäre, als er kurz mit Shannon alleine am Tisch saß.
„Ich habe keine Ahnung! Er ist aber schon wirklich alt!“, sagte sie mit erhöhtem Herzschlag und wiederholt ausgiebigem Atemzug: „Er ist bestimmt schon um die dreißig!“
Ralf, der gerade einen reichlichen Zug von seinem Rotwein genommen hatte, konnte es nicht unterlassen, diesen über die neueste, schneeweiße und von Sylvia stolz präsentierte Tischdecke zu prusten.
Shannon war zuerst erschrocken, konnte sich dann aber vor Lachen kaum mehr auf dem Stuhl halten.
Michael, der durch das dazugehörende, äußerst seltsame Geräusch aufmerksam geworden war und zur Durchgangstür herein linste, entkam ein verwundertes „Oh!“
Sylvia wollte wissen, was da im Esszimmer vor sich ging, doch Michael versuchte, sie erst einmal davon abzuhalten.
„Was ist denn?“ Sylvia entwischte seinen Händen und der Bitte, sich das besser nicht anzusehen, und weil sie sah, wie Ralf und Shannon vergeblich versuchten, den tiefroten Fleck per Servietten zu vertuschen, verschlug es ihr glatt die Sprache.
Ohne Worte kam sie auf den Tisch zu. Zuerst hatte sie ihre Tochter im Verdacht. Doch der eindeutige Geruch und die noch eindeutigere Farbe des Weines war mit Shannons Apfelsaftschorle nicht in Einklang zu bringen.
„Warst Du das?“, wandte sie sich an Ralf.
Der nickte schuldbewusst mit treuherzigem Blick, konnte aber ein breites Grinsen nicht vermeiden.
„Mensch, Ralf!“ Sylvia klang enttäuscht und ernst: „Da versucht man, seinem Kind ordentliche Tischmanieren beizubringen und die auch beizubehalten, und dann kommt ein zweiunddreißigjähriger Junggeselle daher und macht dem Kind vor, wie man es NICHT tun sollte!“
Nach diesem Satz waren alle guten Vorsätze, nicht mehr zu lachen, hinüber.
Shannon sah Ralf betreten an: „Zweiunddreißig …?“, wurde puterrot und brach dann in noch größeres Gelächter aus. Er stand ihr darin in nichts nach.
Shannon liefen Tränen über die Wangen und ihr Bauch entspannte sich gar nicht mehr. Noch während mit vereinten Kräften die Tischdecke gewechselt und die Tafel neu gedeckt wurde, überkam sie immer wieder dieser heftige Lachkrampf.
Selbstverständlich waren Sylvia und Michael Conley wissbegierig darauf, was denn nun so witzig gewesen war.
„Ich habe mich mit eurer liebreizenden Tochter über das Alter unterhalten, und als ich hören musste, dass sie Dreißigjährige meint, wenn sie über alte Menschen spricht, war es mit meinen Tischmanieren leider nicht mehr weit her! Es tut mir aufrichtig leid!“
Nun verstanden ihre Eltern, dass es für Ralf schwer war, so eine Aussage leichtfertig hinzunehmen. Er war kein alter Mann, sondern einer in den besten Jahren.
Shannon war ihm dankbar, dass er eine zensierte Version genutzt hatte, um ihre kleine Unterredung geheim zu halten.
„Nein! Nein! Bitte gib diesem Menschen in diesem Haus kein Getränk mit Farbstoffen mehr!“, bettelte Sylvia ihren Mann, der gerade angesetzt hatte, Ralf diesen dunkelroten Wein nachzuschenken.
Wieder Lachen.
Später brachte Shannon Ralf hinaus. Im Windfang, nachdem die Zwischentür zum Wohnraum geschlossen war, sagte er leise zu ihr: „Komm morgen gegen 15 Uhr ins „Bailey’s“, das ist mein Stammlokal, Du weißt schon: direkt am Eingang der Fußgängerzone! Wir trinken was Farbloses zusammen und unterhalten uns weiter über alte Leute, hm?“
Shannon hatte es erst als Scherz aufgefasst, doch weil er hinzufügte, dass es sich auf neutralem Boden besser reden ließe, als hier, war das Date bestätigt.
Natürlich wusste Shannon zu schätzen, dass sich Ralf ihr angenommen hatte und sie nicht einfach abwies oder auslachte, auch wenn er anders darüber dachte und ihr das sehr wehtat. Sie hatte nur ihn, mit dem sie darüber reden konnte.
Ihre Eltern? Ausgeschlossen! Die wären an die Decke gegangen.
Ihre Freundinnen? Unmöglich. Die hätten sie ausgelacht.
Ihre Großeltern? Sinnlos. Die hätten ihr nur ein müdes Lächeln geschenkt.
Und sonst hatte sie niemanden, dem sie vertraute.
Neugierig und aufgeregt betrat Shannon am nächsten Nachmittag das Lokal, von dem Ralf ihr schon oft erzählt hatte. Hier war er, wenn er entspannen, sich unterhalten oder Mittagspause machen wollte. Sie kam sich verloren vor, weil sie scheinbar mit Abstand die Jüngste war. Ihr war bekannt, dass hier sehr viele Studenten verkehrten. Sie setzte sich an einen kleinen Tisch und schaute unsicher um sich. Ralf kam wenige Minuten später dazu. Sie unterhielten sich angeregt über den Vorabend und lachten immer noch herzlich über das lustige Farbenspiel.
Sie erzählte Ralf wiederholt von ihren Gefühlen, was sie empfand, wenn sie diesen gewissen Mann sah und dass sie bereits versucht hatte, ihn zu vergessen, was sich aber als ganz und gar nicht einfach erwiesen hatte. Sie hatte ihn lange Zeit nicht gesehen, bestimmt schon wochenlang, aber sie sah tagtäglich und jede Nacht sein Gesicht genau vor sich.
Ralf versuchte weiter, auf eine ganz sanfte Tour, ihr diesen Kerl auszureden. „Schau mal, wenn Du dreißig bist, ist er schon fünfundvierzig – vorausgesetzt, er ist nicht noch älter als alt. Okay, dann ist er immer noch nicht wirklich alt, aber das Alter lässt sich bei ihm nicht aufhalten und bei Dir nicht beschleunigen. In der Mitte ist der Unterschied vielleicht nicht so spürbar, aber jetzt und später!“
Shannon hatte ihm aufmerksam zugehört und genickt, als würde sie verstehen, was er meinte. Dann zog sie die Brauen zusammen, sah ihn von der Seite an und meinte: „Du? Momentan denke ich bei diesem Mann wirklich an gar nichts anderes, als an Sex!“
Nun war auch Ralf einmal baff: „Bitte?“, staunte er mit blitzenden Augen.
Sie wurde rot und schämte sich für ihre Aussage. Auch wenn Ralf daraus keine Affäre machen würde, so deutlich wollte sie es nicht preisgeben.
„Oh, mein Gott!“, stieß Shannon ungewollt laut aus. Sie hielt sich umgehend den Mund zu und sah mit weit aufgerissenen Augen zur Tür. Ihr Blut raste durch ihre Venen, wie ein Schumacher über den Nürburgring, nur viel, viel schneller.
Ralf, dem das nicht entgangen war, drehte sich um und verfolgte ihren Blick. Leise fragte er: „Ist er das etwa?“
Sie nickte zögernd, wurde hochrot und erwiderte: „Der mit dem weißen Hemd! Mit der Brille! Ralf! Ralf, ich glaub’, ich muss jetzt gehen! Ich fall' in Ohnmacht! Mir ist schlecht! Ich muss sofort aufs Klo!“
„Sitzen bleiben! Tief durchatmen! Ganz ruhig!“, riet Ralf grinsend.
Shannon wurde heiß und kalt.
„Was tut er denn hier, um Gottes Willen?“, winselte sie und suchte hektisch nach etwas, hinter dem sie sich hätte verstecken können. Ein Ordner vielleicht? Oder lieber etwas unauffälliger, die Karte des Lokals?
„Ich gehe davon aus, dass er etwas trinken will?!“ Ralf zuckte mit den Schultern. Er kannte diesen Mann vom Pub. Er war öfter hier und scheinbar in das Lokal involviert, denn ab und zu half er abends als Bedienung aus.
Was sollte ihr Traummann von ihr denken, wenn er sie hier sitzen sah, zusammen am Tisch mit einem etwa gleich alten Typen, ihr direkt gegenüber, der sich noch dazu recht vertraulich über den Tisch gebeugt hatte, um nicht so laut mit ihr reden zu müssen. Er würde doch denken ...
Was würde er denken? Gar nichts würde er denken! Weil er sowieso nie und nimmer etwas von ihr wissen wollte! Sie schluckte hart. Die Realität hatte sie für einen kurzen Moment wieder.
Sie hatte ihre Augen an ihm haften, dem Mann ihrer Träume, dem ihr Herz gehörte und nur ihm, auch wenn er es nie erwidern würde ... für sie würde es niemals einen anderen geben, das war sicher.
„Hallo, junge Dame! Was führt Dich denn in dieses Lokal? Wie war doch gleich Dein Name? Shannon?“ SEINE Stimme, es war tatsächlich SEINE Stimme, die sie da hörte und es war ER höchst selbst, der sie persönlich ansprach. Und was das für eine Stimme war! Noch nie hatte sie IHN einen einzigen Ton sagen hören, außer diesem Murmeln vor langer Zeit, und jetzt sprach ER sie an? Noch dazu mit ihrem Namen! ER nickte Ralf zu.
Nein! Das konnte nicht sein! Das durfte einfach nicht wahr sein! Ein Traum? Ja! Bestimmt war es ein Traum! So einer, von denen sie schon so viele hinter sich gebracht hatte. Sie würde jeden Moment aufwachen und alles wäre vorbei. Die Frage war nur, was ihr lieber war.
Sie konnte nichts sagen, bis sie an ihrem Schienbein einen dumpfen Schmerz verspürte.
„Wooow!“, entkam ihr mit schmerzlichem Gesicht. „Na ja, also ich, ich bin hier mit… mit einem F... meinem Violinlehrer! Wir müssen ein paar neue Termine ausmachen!“ Ihr Herzschlag musste zu hören gewesen sein.
„Dass Du ein Ass an der Geige bist, weiß ich, feinfein! Weiter so!“ ER lächelte sie an, nickte Ralf wieder zu und wünschte noch viel Spaß und einen schönen Tag.
Sein Geruch! Shannon hatte in ihrem Leben noch nie so einen angenehmen Duft in ihrer hübschen Nase gehabt, noch nie! Weder ihr Lieblingsparfüm, noch die edle Pizza ihres Italieners und nicht einmal das Aroma von Vanille, das sie so liebte, konnten zusammen das aufwiegen, was sie eben vernahm. Sie schloss für einen Moment die Augen, sie zitterte und ihr Atem blieb stehen. Sie speicherte sein Gesicht, das sie derart nahe noch nie erlebt hatte. Sie nahm alles auf, was sie so direkt noch kein einziges Mal registrieren konnte. Jedes noch so winzige Detail. Die Vernarbungen auf seiner Haut, seine braunen Augen, die Form seiner Nase, seine Wimpern und die Brauen, seine Ohren. Nicht zu vergessen: die Anordnung seiner Zähne! Er hatte sie fast umarmt. Na ja, zumindest hatte seine linke Hand für ein paar Sekunden auf ihrer Stuhllehne verweilt.
Ralf biss sich angestrengt auf die Lippen.
Als Shannon wieder einigermaßen zu Sinnen gekommen war, drehte sie sich vorsichtig nach diesem Mann um.
Just im gleichen Augenblick ging alles von vorne los: ER steuerte – nach nur höchstens einem Satz, den er mit dem Barkeeper gewechselt hatte – wieder direkt auf sie zu, genau genommen eigentlich auf den Ausgang; der Weg dahin führte jedoch geradewegs an ihr vorbei.
„Paul!?“, rief ein anderer Mann hinter dem Tresen, zu dem ER sich dann umschaute.
„Hast Du gehört? Paul. Er heißt Paul!“, flüsterte Shannon Ralf aufgeregt zu und machte einen neuen Versuch, ihn von hinten zu sehen.
Doch schon kam er wieder frontal in ihre Richtung.
Dieses Schmunzeln, welches Paul (endlich hatte ER einen Namen!) jetzt auf den Lippen hatte, als sich ihre Blicke noch einmal trafen, konnte man in alle Himmelsrichtungen deuten. Er konnte soeben erfahren haben, dass er in der Lotterie gewonnen, dass seine Freundin um seine Hand angehalten hatte, oder dass er in irgendeine Fußballmannschaft aufgenommen worden war. Er lächelte. Und wie.
So ein Käse! Dieses Lächeln – oder war es eher ein Grinsen, weil er gemerkt hatte, wie erpicht Shannon auf ihn war – wieso sollte es nicht ein Lächeln für sie ganz alleine gewesen sein?
Ganz einfach deswegen nicht: Weil sie ein hysterischer, kleiner Teeny war und er ein erwachsener Mann! Basta.
„Ciao!“, sagte er flockig, als er auf ihrer Höhe war, sie weiter angrinste und schon wieder im Begriff schien, gehen zu wollen. Das tat er auch, aber nicht, ohne dass Shannon seinen Hintern genau begutachtete.
Sie war fix und fertig.
Auf ihr eben noch blasses Gesicht folgten zwei aufgeregt gerötete Wangen.
Ralf hatte alles, entspannt zurückgelehnt, mit amüsiertem Blick verfolgt.
„Wie hast Du ihn eigentlich kennen gelernt?“, fragte er nach einer Weile, die Shannon noch gebraucht hatte, um sich zu erholen und um Paul, bis er als kleiner Punkt im Gewühl der Stadt verschwunden war, nachzusehen.
„Ähm, was?“ Shannon erschien es wirklich wie ein Traum. „Ich kenne ihn eigentlich gar nicht. Er war ab und zu an unserer Schule. Keine Ahnung, was der da gemacht hat! Das erste Mal, als ich ihm begegnet bin, bin ich fast mit ihm zusammengestoßen, aber in letzter Zeit habe ich ihn dort nicht mehr gesehen! Dann treffe ich ihn hier, wo ich nur durch Deine Idee sitze, und er kennt meinen Namen! Das kann gar nicht sein und woher weiß er, dass ich Geige spiele?“ Shannon kannte sich nun überhaupt nicht mehr aus.
Shannon besuchte ein Schulzentrum, in deren riesigem Komplex sowohl ABC-Schützen, wie auch Haupt- und Realschüler, bis hin zu Abiturienten alle Altersklassen zu finden waren. Was er dort zu tun gehabt haben könnte, wusste sie bis heute nicht.
„Vielleicht ist er Referendar?“, schlug Ralf vor und trank von seinem Kaffee, den er sich noch bestellt hatte.
„Meinst Du? Er sieht nicht aus wie ein angehender Lehrer, sorry!“
„Du, einem Verbrecher sieht man seine Taten auch nicht an der Nasenspitze an!“
„Das stimmt wohl. Aber er war nie an unserer Lehrertafel aufgeführt, also kann das nicht sein!“
Ralf fiel dazu nichts mehr ein. „Aber mal ehrlich! Wie dreißig sieht er noch nicht aus. Oder findest Du wirklich?“
Shannon war so zappelig, dass sie ihm gar nicht richtig antworten konnte. Was wusste sie denn, wie dreißigjährige Männer aussahen? Außer von Ralf, der ja nun schon über dreißig war. Er sah älter aus, wie sie fand. Und ihr Vater. Na ja, der war ja schon an die vierzig, das war ja eine völlig andere Generation. Sie hatte Lehrer, von denen sie weder das Alter wusste, noch sich dafür interessierte, weil kein einziger davon auch nur im Geringsten ihrem persönlichen Geschmack entsprach.
„Ich habe keine Ahnung, Ralf. Und ganz ehrlich: Es ist mir egal, wie alt er ist!“
Ralf hatte seinen Spaß an diesem Tag, was nicht bedeutete, dass er Shannon nicht weiterhin ernst nahm.
Die war jetzt erst einmal damit beschäftigt, sich umzusehen, denn inzwischen kam sie sich selbst höchst peinlich vor und sie hatte innerlich gehofft, es hätte niemand in dem Lokal mitbekommen. Es fiel ihr sehr schwer, das „Bailey’s“ irgendwann am späten Nachmittags verlassen zu müssen. Immerhin waren die Chancen, dass Paul noch einmal hier auftauchen würde, nicht gering. Aber sie konnte wohl schlecht hier ihr Nachtlager aufschlagen, nachdem sie an diesem Tisch ihre Hausaufgaben gemacht hätte. Leider.
Ralf brachte sie nach Hause. Das Abendessen wollte Shannon an diesem denkwürdigen Tag ausfallen lassen. Sie gab vor, sie hätte noch viel zu lernen, schließlich sollten sich ihre Leistungen nicht wieder verschlechtern. In Wirklichkeit lag ihr ein dicker Stein im Magen, der für etwas zu essen gar keinen Platz ließ.
Einerseits war sie happy, wie schon lange nicht mehr, andererseits war sie derart aufgewühlt, dass sie sich fest vornahm, schon am nächsten Tag wieder, und in Zukunft sehr oft, in dieses Pub zu gehen, um die Chancen zu erhöhen, Paul zu sehen.
Ihre Mutter brachte ihr einen Teller mit belegten Broten und eine Kanne Tee aufs Zimmer und bat sie, nicht mehr allzu lange zu lernen, denn das würde das Gegenteil bewirken und sie würde am nächsten Tag in der Schule gar nichts mehr wissen. Den Satz hatte sie schon sehr oft gehört.
Sie hatte ihn sich zu Herzen genommen. Jedenfalls, seit es PAUL in ihrem Leben gab. Sonst war es immer nur ER, von dem sie schreiben und Ralf erzählen konnte. Denn seit es IHN gab, gab es auch ihr Tagebuch und das brauchte bald Verstärkung.