Sicher miteinander - ein Schutzkonzept für die heterogene Schule entwickeln - Michelle Lok-Yan Wichmann - E-Book

Sicher miteinander - ein Schutzkonzept für die heterogene Schule entwickeln E-Book

Michelle Lok-Yan Wichmann

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Beschreibung

Gewalt - auch sexualisierte Gewalt - hat viele Gesichter und ist nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen. Sie kann verbal oder körperlich, versteckt oder auch offensichtlich sein und den Schul- bzw. Berufsalltag der Betroffenen zur Hölle werden lassen. Das Praxisbuch bietet am Beispiel sexualisierter Gewalt einen kompakten Überblick, wie ein Schutzkonzept in der Schule erarbeitet werden kann - egal für welche Schulform. Neben Basiswissen u. a. zu Kinder- und Jugendrechten, rechtlichen Rahmenbedingungen des Kinderschutzes in der Schule und sexualisierter Gewalt, gibt es Hinweise zur Arbeit mit SchülerInnen mit Behinderungen bzw. Förderbedarfen, mit Fluchtgeschichte und LSBTIQA*-Personen. Verschiedene Arbeitsmaterialien erleichtern die nachhaltige Implementierung eines lebendigen Schutzkonzeptes.

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Michelle Lok-Yan Wichmann M.Sc. ist Psychologin und forscht im Department Erziehungswissenschaft an der Universität Siegen u.a. zu (Prävention von) interpersoneller Gewalt.

Lisa Tölle LL.M. ist Sonderpädagogin und Kriminologin an der Universität Siegen. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist u.a. sexuelle und politische Bildung mit marginalisierten jungen Menschen.

PD Dr. Silke Pawils, Dipl. Psych., leitet seit 2008 die Forschungsgruppe „Prävention im Kindes- und Jungendalter“ am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.

Prof. Dr. Daniel Mays lehrt und forscht in der Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Förderpädagogik („Emotionale und soziale Entwicklung“) an der Universität Siegen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03176-4 (Print)

ISBN 978-3-497-61769-2 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61770-8 (EPUB)

© 2023 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Printed in EU

Cover unter Verwendung eines Fotos von iStock.com/JackF

(Agenturfoto. Mit Models gestellt)

Satz: JÖRG KALIES – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

Inhalt

Vorwort des Kinderschutzbundes (Landesverband Hamburg)

Vorwort der Verfassenden

Einführung

1Basiswissen I: Kinder- und Jugendschutz in der Schule

1.1Zur Orientierung: Schule als sicherer und „feuerfester” Ort

1.1.1Der Auftrag von Schule: Bildung und Schutz

1.1.2Schule: Frühwarnsystem und emotionaler Anker

1.1.3Was kann ein Schutzkonzept leisten?

1.2Weiterführend: Kinder und Jugendliche haben Rechte!

1.2.1Die UN-Kinderrechtskonvention

1.2.2ALLE heißt ALLE – die UN-Behindertenrechtskonvention

1.2.3Rechtliche Rahmenbedingungen des Kinder- und Jugendschutzes an Schulen

1.3Stimmen aus der Praxis

2Basiswissen II: Sexualität und sexualisierte Gewalt

2.1Ganz selbstverständlich: Sexualität im Kontext Schule

2.2Zum Verständnis: Sexualisierte Gewalt

2.2.1Sexualisierte Gewalt – was ist das denn jetzt?

2.2.2Wer ist wie häufig betroffen?

2.2.3Wo geschieht sexualisierte Gewalt?

2.2.4Welche Folgen hat sexualisierte Gewalt für Betroffene?

2.2.5Wer übt sexualisierte Gewalt aus?

2.2.6Wie gehen Täterinnen bzw. Täter vor?

2.2.7Vulnerable Gruppen

2.2.8Kontakte und Ansprechstellen

3Fachkundigenwissen: Auf dem Weg zum lebendigen Schutzkonzept

3.1Zur Strategie: Wie entwickeln wir unser Schutzkonzept?

3.1.1Los geht’s – erste Schritte

3.1.2Weiter geht’s – Durchführen der Potenzial- und Risikoanalyse

3.2Zur Übersicht: Welche Bausteine hat unser Schutzkonzept?

3.2.1Kooperation

3.2.2Partizipation

3.2.3Fortbildung

3.2.4Personal- und Leitungsverantwortung

3.2.5Interventionsplan

3.2.6Verhaltenskodex und Verhaltensregeln

3.2.7Ansprechstellen und Beschwerde- und Hilfestrukturen

3.2.8Präventionsangebote

3.2.9Leitbild

3.3Zur Differenzierung: Schutzkonzepte für die heterogene Schule – Arbeit mit vulnerablen Zielgruppen

3.3.1Lernende mit Behinderungen bzw. Förderbedarfen

3.3.2LSBTIQ*-Lernende

3.3.3Lernende mit Fluchtgeschichte

3.4Zur Reflexion: Schutzkonzept als nachhaltiger Schutzprozess

4Literatur

Sachregister

Das Online-Material zum Buch können Sie auf der Homepage des Ernst Reinhardt Verlags unter https://www.reinhardt-verlag.de herunterladen. Auf der Homepage geben Sie den Buchtitel oder die ISBN in der Suchleiste ein.

Vorwort des Kinderschutzbundes (Landesverband Hamburg)

Viele Akteure im Setting Schule haben sich bereits auf den Weg gemacht! Das Ziel: der bestmögliche Schutz vor Vernachlässigung, sexualisierter, körperlicher und emotionaler Gewalt, sowie Handlungssicherheit für Fachkräfte in Fällen von Gewalt durch Mitarbeitende an Kindern und Jugendlichen.

Gesellschaftlich und politisch herrscht seit Jahren Einigkeit darüber, dass der Schutz vor Gewalt in allen Institutionen gewährleistet sein muss, in denen Kinder und Jugendliche Zeit verbringen. Schule spielt dabei eine besondere Rolle, da die dort verlebte Zeit im Leben der jungen Menschen quantitativ viel Raum einnimmt und zudem der Schulalltag durch vielfältige Macht­asymmetrien gekennzeichnet ist.

Mit einem Schutzkonzept können alle schulischen Akteure ein gemeinsames Konzept von Kinderschutz schaffen, das für alle, Mitarbeitende der Schule, Lernende und Sorgeberechtigte, verbindlich ist und Teil des schulischen Leitbildes sein soll. Die entwickelten Grundsätze geben außerdem allen pädagogischen Fachkräften Orientierung und Handlungssicherheit im Kontakt mit den ihnen anvertrauten jungen Menschen.

Sie übernehmen in Ihrer Schule die Verantwortung, für die Sicherheit der Lernenden zu sorgen, indem Sie sich auch einem vermeintlich unangenehmen Thema nähern und sich mit potenziellen Risikofaktoren für Machtmissbrauch auseinandersetzen. Schutzkonzepte dienen dabei immer auch der Prävention, indem sie Haltungen, Methoden und Maßnahmen beschreiben, die dazu beitragen, Grenzverletzungen, Übergriffe und anderen Formen von Gewalt vorzubeugen. Nur wer diesen sicheren Handlungsrahmen und einen gemeinsam getragenen klaren Verhaltenskodex hat, kann wirksam schützen.

Aus langjähriger Erfahrung in der Kinder- und Jugendhilfe wissen wir, dass es keine leichte Aufgabe ist, bei der Entwicklung des Schutzkonzeptes nicht im Dialog steckenzubleiben, sondern in der alltäglichen Praxis (präventive) Hilfsmittel und -angebote zu verankern und darüber hinaus das Thema Kinderschutz beständig in all seinen Facetten ernst zu nehmen und im Schulalltag zu leben. Aus diesem Grund soll die vorliegende Handreichung Sie bei der Umsetzung dieser großen Herausforderung – gemeinsam mit Ihren Fachkräften, den Lernenden und den Eltern – ermutigen und unterstützen.

Im Sinne der Kinder und Jugendlichen wünschen wir Ihnen dabei gutes Gelingen.

Ralf Slüter

Geschäftsführer Hamburger Kinderschutzbund

Ulrike Minar

Leitung Kinderschutzzentrum Hamburg

Vorwort der Verfassenden

Damit Kinder und Jugendliche sich bestmöglich entwickeln können – ihnen Flügel wachsen können – benötigen sie ein Umfeld, in dem es möglich ist, neugierig auf Unbekanntes zu sein, Wagnisse eingehen und gelegentlich auch die eigene Komfortzone verlassen zu können. Solche Schritte können von Kindern und Jugendlichen nur gegangen werden, wenn sie sich sicher und geborgen fühlen und ein Grundvertrauen in ihr soziales Umfeld – sei es im Privaten oder im schulischen Bereich – erworben haben. Demgegenüber steht ein Spektrum von möglichen Gewalterfahrungen – von verbalen Angriffen oder dem Erfahren psychischer Gewalt bis hin zu körperlichen Übergriffen – die auch in Schule durch- und erlebt werden. Die Nachrichten der letzten Zeit zu Missbrauchsskandalen, die alarmierenden Statistiken zu Mobbingerfahrungen und vermehrte Berichte über die hohe Gefahr von ausgrenzenden Dynamiken insbesondere in heterogenen Lerngruppen machen dieses Problem überdeutlich.

Aufgrund des hohen bestehenden Dunkelfeldes muss davon ausgegangen werden, dass damit nur die Spitze des Eisberges beschrieben ist. Das sollte uns allen eine eindringliche Warnung davor sein, das Thema „Schule als sicherer Ort” in der Schulentwicklungsplanung nachrangig zu behandeln. Der Rückzug auf die Position „Das betrifft uns nicht!” ist auf Grundlage der vorhandenen statistischen Daten nicht mit gutem Gewissen möglich. Der Erziehungs- und Bildungsauftrag von Schule kann nur dann in vollem Umfang erfüllt werden, wenn in unseren Schulen neben der Vermittlung von unterrichtsbezogenen Inhalten auch der emotionalen und sozialen Entwicklung sowie dem Schutz (!) der Lernenden ein hoher Stellenwert zugestanden wird – gerade weil dieser Schutz für nicht wenige Kinder und Jugendliche außerhalb von Schule nicht oder nur unzureichend besteht.

Eine moderne Schule braucht gerade in Hinblick auf die aktuellen vielfältigen Herausforderungen an Schule mehr denn je ein Schutzkonzept, das die oftmals schon vorhandenen und erprobten präventiven Bausteine wie Anti-Mobbing-, Anti-Diskriminierungs- oder „Notfall”-Konzepte sowie Konzepte zum emotionalen und sozialen Lernen oder der Arbeit in multiprofessionellen Teams zusammenführt und in ein umfassendes und lebendiges Schutzkonzept integriert, das bereits weit vor einem sexuell motivierten oder körperlichen Übergriff einen maximal-präventiven Schutzwall vor jeglicher Form von Gewalterfahrung in Schule darstellt.

Dieser Ratgeber richtet sich an alle in der Schule tätigen Mitarbeitenden, die sich auf den Weg zu einem solchen Schutzkonzept machen möchten. Möge dieser Ratgeber Sie dazu ermutigen, Schule zu einem (noch) sicheren Ort zu machen, an dem jetzt und in Zukunft viele Flügel wachsen können.

An dieser Stelle möchten wir unseren Interviewpersonen Rebecca Herzberg, Frauke Kessler-Betz, Ulrike Minar, Dr.in Claudia Schauerte, Dr.in Laura Schlachzig, Dr.in Katharina Urbann, Katharina von Lehmden und Patrick Wolf danken, die diesen Ratgeber mit ihrem Blick aus der Praxis und mit unterschiedlichen Perspektiven bereichert haben.

Bedanken möchten wir uns auch beim Kinderschutzbund (Landesverband Hamburg) und insbesondere bei Ulrike Minar für den kritischen und beratenden Blick „von außen” und für die hilfreichen Rückmeldungen im Schreibprozess, sowie bei Viola Niemeier (Mitarbeiterin im Schulverwaltungsamt Dortmund, Kommunale Koordinierungsstelle Schulsozialarbeit, Fachberatung mit Schwerpunkt Kinderschutz) für ihren prüfenden Blick.

Unser Dank gilt auch unserer Mitarbeiterin im Sekretariat, Ellen Stein, für ihre Unterstützung in bürokratischen Angelegenheiten, sowie unseren studentischen Mitarbeitenden: Julia Richters für ihre Recherchearbeit und das Anlegen des Literaturverzeichnisses, Marie Sahm und Mona Loof für ihre Recherche und die Gestaltung von Abbildungen und Tabellen, Lara Hoevels für die Formatierung des Literaturverzeichnisses sowie Jens Egle für die Formatierung des Manuskripts.

Zuletzt möchten wir auch Sarah Schröppel, Ina Pauckstadt und Mirjam Kraupe vom Ernst Reinhardt Verlag für ihre freundliche und hilfreiche Unterstützung während des gesamten Entstehungsprozesses danken.

Siegen und Hamburg, im Juli 2022

Michelle Lok-Yan Wichmann

Lisa Tölle

PD Dr. Silke Pawils

Prof. Dr. Daniel Mays

Einführung

In den letzten zehn Jahren ist das Thema „Gewalt gegen Kinder und Jugendliche“ und insbesondere sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige immer mehr in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Mit der Aufdeckung prominenter „Missbrauchsskandale“ und der Einrichtung eines Bundesbeauftragten gegen sexuellen Missbrauch (UBSKM) wurde der Schutz von Kindern und Jugendlichen sowohl im privaten als auch öffentlichen Raum stärker in den Fokus gerückt. Mit der von allen Bundesländern unterstützten Initiative „Schule gegen sexuelle Gewalt“ richtete der Arbeitsstab des UBSKM 2016 ein Online-Fachportal ein, auf das Schulleitungen, Lehrkräfte und andere Mitarbeitende von Schulen insbesondere bei der Entwicklung eines eigenen Schutzkonzeptes zurückgreifen können (UBSKM 2016). In 2019 setzte die Mehrheit der rund 1.500 befragten Schulen in Deutschland lediglich einzelne Bestandteile von Schutzkonzepten um, ein umfassendes Schutzkonzept wies nur etwa jede zehnte Schule auf (Kappler et al. 2019). Bei jeder zweiten Schule gaben erst tatsächliche (Verdachts-)Fälle den Ausschlag zur Entwicklung von Schutzmaßnahmen bzw. -konzepten (Kappler et al. 2019). Schutzkonzepte sind jedoch als Teil einer präventiv gegen Gewalt arbeitenden Schulkultur unverzichtbar und sollten nicht erst entwickelt werden, wenn Lernende Gewalt erfahren (haben).

Mit diesem Ratgeber erhalten Sie einen kompakten und praxisnahen Überblick, wie Sie ein Schutzkonzept, das auf Ihre schulischen Bedingungen zugeschnitten ist, erarbeiten können. Dieser Ratgeber fußt dabei erstens auf den grundsätzlichen Empfehlungen des UBSKM, die wir – wann immer es uns möglich erschien – konkretisiert und um adaptierbare Praxisbeispiele, Empfehlungen und Vorlagen ergänzt haben. Um Ihnen den Einstieg in das Thema so leicht wie möglich zu gestalten, haben wir zweitens vielfältige weiterführende Informationen zu Fortbildungen oder zu (zum Teil frei verfügbaren) Informations- und Unterrichtsmaterialien sowie Literaturempfehlungen, Checklisten, Fragenkataloge, Gesprächsleitfäden, Fallbeispiele und Hinweise zur Formulierung von Schutzkonzept-Bausteinen übersichtlich und nachvollziehbar für Sie zusammengestellt. In vielen Fällen verweisen wir dabei auf Webseiten oder Online-Dokumente. Daher haben wir Ihnen eine Sammlung aller Weblinks in den Online-Materialien zur Verfügung gestellt – so können Sie leicht auf alle Ressourcen zugreifen, auch wenn Sie diesen Ratgeber als Print-Fassung erworben haben. Drittens war es uns wichtig, dass auch Fachkundige aus der Praxis zu Wort kommen, die sich zum Teil seit Jahren mit dem Thema Schutz vor sexualisierter Gewalt auseinandersetzen und über ein praxiserprobtes Handlungswissen auf diesem Gebiet verfügen. Die unverfälschten und vielfältigen in den verschiedenen Interviews benannten Hintergrundinformationen und Erfahrungen aus „erster Hand” stellen einen weiteren Mehrwert dieses Ratgebers dar und können Ihnen als „Steinbruch” für die Arbeit an Ihrem Konzept dienen.

Viertens haben wir während unserer Vorbereitungen feststellen müssen, dass es unserer Ansicht nach noch an spezielleren Informationen und Empfehlungen für die Schutzkonzeptentwicklung für vulnerable Zielgruppen fehlt. Somit haben wir konkrete Tipps, Hinweise und Impulse zu den folgenden drei besonders vulnerablen Gruppen erarbeitet:

■Lernende mit Behinderungen bzw. Förderbedarfen

■LSBTIQ*-Lernende

■Lernende mit Fluchtgeschichte

Und fünftens haben wir es uns zum Ziel gesetzt, Ihnen und Ihrem multiprofessionellen Team einen niedrigschwelligen und vorausschauenden Zugang zu einem Thema zu ermöglichen, das zum einen in vielen Aspekten emo­tional belastend sein kann und zum anderen die Mitnahme vor allem auch der Eltern bzw. Sorgeberechtigten erfordert. In einigen Bundesländern (wie z.B. in Nordrhein-Westfalen) muss das Schutzkonzept per Schulgesetz von der Schulkonferenz – dem höchsten Entscheidungsgremium in Schule – mitgetragen und mitentwickelt werden. Die intensive Beteiligung der Eltern bzw. Sorgeberechtigten und auch der Lernenden an der Konzeptentwicklung ist somit gesetzlich vorgeschrieben und erfordert eine angepasste Entwicklungsstrategie, da im Projektverlauf auch auf diese beiden relevanten Akteursgruppen (z.B. bei der Terminplanung oder der inhaltlichen Vorbereitung und Mitnahme) Rücksicht genommen werden muss.

Schutzkonzepte können grundsätzlich in die Schwerpunktbereiche Prävention und Intervention gegliedert werden. Zur Heranführung und vor allem zur Motivation und Mitnahme eines großen Teils aller pädagogischen und nicht-pädagogischen Mitarbeitenden empfehlen wir, geeignete „Einstiegsthemen” auszuwählen (z.B. Kinder- und Jugendrechte oder allgemeine Gewaltprävention im Schulalltag) und über eine breite erste Übersicht über das Thema „Schule als sicherer Ort” (z.B. in Form einer „Mind-Map” oder eines „Advance Organizers”, Kap. 3.1) frühzeitig die zwingende Notwendigkeit und die Komplexität eines lebendigen und wirksamen Schutzkonzeptes transparent zu kommunizieren. Die Auseinandersetzung mit dem Themenfeld „(sexualisierte) Gewalt” – auch wenn dies natürlich ein ganz zentraler Bestandteil des Konzeptes sein muss – und den damit verbundenen und zu konzipierenden intervenierenden Aufgaben und Ablaufprozesse sollte unserer Auffassung nach erst nach einer gedanklichen Einarbeitungsphase erfolgen, um mögliche Widerstandsdynamiken („Was hat das denn mit uns zu tun? Das gibt es doch an unserer Schule nicht! Welche Aufgaben sollen wir denn noch alles übernehmen? Dafür bin ich nicht qualifiziert!”) bereits möglichst weit im Vorfeld oder zu Beginn des Entwicklungsprozesses zu verringern.

Im Folgenden seien noch einmal zehn zentrale Gründe genannt, warum Sie ein Schutzkonzept für Ihre Schule dringend brauchen und warum es sich lohnt, diesen Ratgeber zu nutzen.

■Agile Schulentwicklungsplanung – Schule muss ein sicherer Ort für Alle sein und bleiben! Schutzkonzepte benötigen eine regelmäßiges Update an neue Herausforderungen (z.B. digitale Medien, heterogene Lerngruppen).

■Relevanz des Themas – (sexualisierte) Gewalt betrifft nach aktuellen Erkenntnissen viel mehr Lernende und Mitarbeitende, als gemeinhin angenommen.

■Handlungssicherheit – lebendige und umfassende Schutzkonzepte stellen einen sicheren Handlungsrahmen für Schulleitungen und Mitarbeitende dar.

■Sensibilisierung – Alle wissen, wie gefährliche Situationen erkannt werden können und wie dem präventiv begegnet werden kann.

■Praxisnähe – nützliche und umsetzbare Tipps, Anregungen und Vorlagen, Arbeitsmaterialien und Hilfestellungen auf dem Weg zum eigenen Schutzkonzept.

■Beispiele – vielfältige Erfahrungsberichte, anschauliche Beispielsituationen und -materialien für die Entwicklung Ihres Schutzkonzeptes.

■Onlinematerialien – direkt nutzbare Materialien erleichtern die Umsetzung und stehen jederzeit kostenfrei zum Download bereit.

■Fachliche Fundierung – Basis auf Empfehlungen des UBSKM, des Paritätischen Wohlfahrtverbandes sowie des Kinderschutzbundes (Landesverband Hamburg).

■Klimaverbesserung – über die gemeinsame Arbeit am Schutzkonzept kann sich das Arbeitsklima im Kollegium und die Elternarbeit verbessern.

■Heterogenität – wichtige und vulnerable Zielgruppen werden in den Fokus aller gerückt und finden Berücksichtigung.

Abschließend möchten wir Sie noch darauf hinweisen, dass wir in diesem Ratgeber mit zahlreichen anonymisierten und zum Teil fiktiven Fallbeispielen arbeiten. Diese Beispiele sind hervorgehoben, so dass Sie selbst darüber entscheiden können, ob Sie sich damit auseinandersetzen möchten. Wir möchten mit der Auswahl sehr konkret die Bandbreite möglicher „Vorfälle” aufzeigen und Ihnen zugleich reflexive Impulse zur Analyse der bestehenden (präventiven) Schutzstrukturen an Ihrer Schule anbieten. Um Sie mit diesen Fällen nicht „allein” zu lassen, haben wir auf präventive und interventive Methoden im Ratgeber verwiesen. Wenn in einigen Fällen ein „falsches” oder ausbleibendes Verhalten oder Fehleinschätzungen einzelner Personen und damit verbundener Berufsgruppen beschrieben wird, dann ist daraus keineswegs eine Verallgemeinerung abzuleiten.

Hinweise zur Lesendenführung:

Die Kapitel des Ratgebers sind so aufgebaut und inhaltlich ausgearbeitet, dass Sie bei Bedarf auch direkt zu einzelnen Kapiteln springen können. Somit ist sichergestellt, dass Sie einen ökonomischen Einstieg in für Sie relevante Themenschwerpunkte wählen können.

Im ersten Teil des Ratgebers (Basiswissen I) möchten wir Ihnen notwendiges Basiswissen zum Thema „Schule als sicherer Ort” sowie zu Kinder- und Jugendrechten in der Schule näherbringen und unter Einbezug der Erfahrungen von Fachkundigen darüber informieren, in welcher Breite ein lebendiges Schutzkonzept in der Schule wirken kann oder sollte.

Im zweiten Teil (Basiswissen II) liegt der Fokus auf dem zentralen Thema des Schutzkonzeptes: sexualisierte Gewalt. Ausgehend von einer Einführung in das Thema Sexualität als etwas Natürliches können Sie in diesem Abschnitt auf übersichtlich zusammengestelltes Hintergrundwissen und weiterführende Informationen zugreifen.

Ganz konkret wird es im dritten Teil (Fachkundigenwissen). Hier erhalten Sie alle grundlegenden Informationen, um mit der (Weiter-)Entwicklung eines schuleigenen Schutzkonzeptes beginnen oder fortfahren zu können.

Wir freuen uns, Sie und Ihre Schule ein Stück bei der Entwicklung eines Schutzkonzeptes begleiten zu dürfen und wünschen Ihnen eine erkenntnis- und impulsreiche Lektüre!

1Basiswissen I: Kinder- und Jugendschutz in der Schule

1.1Zur Orientierung: Schule als sicherer und „feuerfester” Ort

Lassen Sie uns mit einem Vergleich zur Verdeutlichung unseres Anliegens beginnen. Jede Schule verfügt über ein Brandschutzkonzept: Welche Schritte unternehmen wir, wenn ein Feuer ausgebrochen ist? Wo stehen wie viele Feuerlöscher? Wo sind die Feuermelder? Wo sind sichere Orte, an denen wir uns sammeln, wenn es brennt? Aber auch: Welche Risiken bestehen, dass an unserer Schule ein Feuer ausbrechen kann? Was tun wir konkret, damit gar nicht erst ein Brand entsteht? Wie häufig überprüfen wir unsere Sicherheitsmaßnahmen – entsprechen sie noch unseren Bedarfen und den gesetzlichen Bestimmungen, oder müssen sie an neue Rahmenbedingungen angepasst werden? In Schulen müssen im Vorfeld eines Brandes – um in diesem Bild zu bleiben – die Schultische, der Boden, die Decken und die Wände „feuerfest” gemacht werden, um präventiv schützen zu können.

Konzept schützt und gibt Sicherheit

Ebenso wie Gefährdungslagen im Kontext Schule durch Brände bestehen, können sie auch durch (sexualisierte) Gewalthandlungen entstehen. Um Kinder und Jugendliche wirksam und bestmöglich vor (sexualisierter) Gewalt schützen zu können und allen Mitarbeitenden der Schule Sicherheit zu geben, braucht es auch ein Konzept, damit alle genau wissen: Was ist zu tun, damit es nicht „brennt”, oder was, wenn es (doch) „brennt”? Dazu sind tiefgreifende, feste Strukturen und Regeln, die als präventive Maßnahmen einen dauerhaften Grundschutz vor jeglicher Form von Gewalt garantieren, nötig. Damit in Verbindung stehen z.B. die folgenden Fragen:

■Wie präsent sind die Themen Kinder- und Jugendrechte an unserer Schule?

■Welche Strukturen und Regeln garantieren, dass Kinder und Jugendliche ihre Rechte kennen und auch wahrnehmen können?

■Wie gehen wir an unserer Schule grundsätzlich mit Beschwerden von Lernenden um? Gibt es hier klar kommunizierte Abläufe und Zuständigkeiten, oder existiert das schuleigene Beschwerdemanagement doch eher nur „auf dem Papier”?

■Welche Kompetenzen zur Prävention von Übergriffen jeglicher Art, darunter auch sexualisierte Gewalt, sind in unserer Schule eigentlich vorhanden und wo haben wir noch inhaltlich-fachlich oder auch organisatorisch-strukturell Nachholbedarf?

■Was machen wir eigentlich, wenn wir den Verdacht haben, dass Lernende zu Hause oder in der Freizeit (sexualisierte) Gewalt erfahren?

■Was machen wir, wenn sexualisierte Gewalt z.B. auch gegenüber Mitarbeitenden in unserer Schule ausgeübt wird?

besondere Rolle von Schulen

Fakt ist: Mit Ausnahme von Schulen müssen sämtliche Organisationen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten und Verantwortung für sie übernehmen, verpflichtend über ein Schutzkonzept zur Prävention von (sexualisierter) Gewalt und der Intervention bei solcher verfügen (Schröer/Wolff 2018).

Situationen mit erhöhtem Risiko

Schulen kommt allerdings eine besondere Bedeutung zu: Sie spielen im Leben von Kindern und Jugendlichen eine wichtige Rolle und erreichen aufgrund der allgemeinen Schulpflicht täglich so viele Kinder und Jugendliche wie keine pädagogische Institution sonst: In Deutschland gibt es aktuell etwa 32.000 allgemeinbildende Schulen, an denen rund acht Millionen Lernende beschult werden (Statistisches Bundesamt 2021, 2022).

verantwortungsvoller Umgang mit Machtvorschuss

Im Rahmen der zahllosen sozialen Interaktionen, die an Schulen täglich u.a. in geringer sozialer Distanz ablaufen, gibt es auch solche Situationen, die ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von (sexualisierter) Gewalt an und zwischen Kindern und Jugendlichen bergen – sei es im Kontext des Sport- oder Schwimmunterrichts, in Pausen- oder Gesprächssituationen.

eigenes Rollenverhalten reflektieren

Aufgrund des Machtvorschusses, den Lehrkräfte und Fachkräfte an Schulen gegenüber Lernenden haben, kommt ihnen dabei eine besonders verantwortungsvolle Rolle zu: Sie müssen verantwortungsvoll und sensibel mit diesem Machtvorschuss umgehen und ihn nicht missbrauchen. Gleichzeitig können sie erste Kontakt- und Vertrauensperson sein, wenn Lernende Gewalt erlebt haben. Eine Auseinandersetzung mit einem Schutzkonzept bedeutet also immer auch eine reflektierte Auseinandersetzung mit dem eigenen Rollenverhalten in der Schule, und damit verbunden eine Arbeit an der eigenen professionellen pädagogischen Haltung wie auch der professionellen Beziehungsgestaltung. Bereits 2014 forderte der damalige Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, dass Prävention im Handlungsfeld Schule verankert wird:

„Schulen sollten künftig das Aktionsfeld Nr. 1 der Prävention sein, denn nur dort können alle Kinder erreicht werden. Schutzkonzepte müssen in Schulen selbstverständlich werden.“ (Rörig, 2014)

Mays, D., Roos, S. (2018): Prima Klima in der inklusiven Schule. Wie man auch schwierige Beziehungen positiv gestalten kann. Ernst Reinhardt, München

1.1.1Der Auftrag von Schule: Bildung und Schutz

„Die Schule hat einen Bildungsauftrag, keinen Schutzauftrag!” oder „Bildung, Erziehung, Inklusion, und jetzt auch noch Kinder- und Jugendschutz – was denn noch alles?!” – das mögen erste Gedanken sein, die Ihnen durch den Kopf gehen. Wir möchten Sie mit diesem Ratgeber ermutigen, den Kinder- und Jugendschutz und damit auch einen Schutzauftrag der Schule nicht als etwas anzusehen, das „on top”, also zusätzlich zu dem Tagesgeschäft an der Schule passieren soll.

Bildung, Erziehung und Schutz gehen Hand in Hand

Im Gegenteil gehen Bildungs- und Erziehungs- sowie Schutzauftrag Hand in Hand: Lernende sind nur dann in der Lage, an Bildung teilzunehmen und teilzuhaben, wenn sie das in einem geschützten Rahmen tun können. Lassen Sie uns erläutern, was wir meinen.

sexualisierte Gewalttaten und ihre Folgen bleiben oft unsichtbar