Sicher und verbunden - Katja Baumer - E-Book

Sicher und verbunden E-Book

Katja Baumer

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Beschreibung

Präventionsarbeit an Schulen ist kein Weg, über den sich das Verhalten von Schülerinnen und Schülern einseitig verändern ließe. Erfolgreiche Prävention setzt ein Gefühl von Verbundenheit und Sicherheit voraus, das aus einem respektvollen Umgang miteinander erwächst. Das gilt gleichermaßen für die pädagogische Haltung wie für den Kontakt der Kinder und Jugendlichen untereinander. Katja Baumer siedelt schulische Präventionsarbeit auf drei Ebenen an: beim Individuum, bei der Klasse und beim "System Schule" als Ganzes. Den oft linear-kausalen Arbeitsweisen und Betrachtungen im Unterrichtsgeschehen setzt sie ein Konzept entgegen, das den Blick auf wechselseitige Einflüsse und auf Prozesse der Selbstorganisation richtet. Das Buch vermittelt diesen systemischen Ansatz sowohl im Hinblick auf Haltungen und Methoden als auch ganz konkret in Form von Anregungen und Übungen für die tägliche Praxis. Vom Grundsätzlichen wie der Definition von Prävention und Wohlbefinden zoomt der Blick der Autorin auf Rahmenbedingungen, Wünsche und Ziele der Beteiligten bis zur Zusammenarbeit im Präventionsteam. Im Ergebnis entsteht daraus ein umfassendes Konzept für die Organisation von Prävention an Schulen.

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Systemische Pädagogik

Was treibt Menschen zum Lernen an? Was hält sie davon ab? Wie kann eine funktionierende Lehrer-Schüler-Eltern-Beziehung entstehen? Wie gelingen Erziehung und Bildung? Was sind Kompetenzen und wie lässt sich deren Reifung unterstützen? Wie fördert man Persönlichkeiten?

Diese und ähnliche Fragen stehen im Mittelpunkt der Systemischen Pädagogik. Das Ziel ist ein von wechselseitigem Respekt geprägter Umgang von Schülern, Lehrern, Erziehern und Eltern. Gemeinsames Lernen mit Zuversicht und Spaß, der Blick auf die Potenziale und Fähigkeiten – zwei Grundannahmen der Systemischen Pädagogik. Gleichzeitig ist sich die Systemische Pädagogik der Tatsache bewusst, dass Menschen lernfähig, aber unbelehrbar sind. Welche Konsequenzen sich daraus für gelingende Lern- und Bildungsprozesse für Lehrende bzw. Lernbegleiter ergeben, ist eine wichtige Zukunftsfrage der Systemischen Pädagogik.

Der Ansatz der Systemischen Pädagogik verbindet systemtheoretische Erkenntnisse, Sicht- und Handlungsweisen mit dem Forschungsstand und den Erkenntnissen der Erziehungswissenschaften und macht sie für den pädagogischen Alltag nutzbar. Auch im familiären Erziehungsalltag lässt sich systemisches Denken und Handeln gut nutzen, ohne Kinder zu disziplinieren oder ihnen mit Anpassungsforderungen zu begegnen. Selbstkritische und selbststeuerungsfähige Menschen benötigen sehr spezifische Möglichkeiten der Reifung und Auseinandersetzung beim Aufwachsen. Welche das sind und wie das gehen kann, zeigen anerkannte Therapeuten, Pädagogen und Berater in den Büchern dieser Reihe.

Prof. Dr. Rolf ArnoldHerausgeber der Reihe Systemische Pädagogik

Katja Baumer

Sicher und verbunden

Ein systemisches Konzept für Prävention und Gesundheitsförderung an Schulen

Mit Beiträgen von Elke Dörflinger und Beate Lorenz

2021

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe »Systemische Pädagogik«

hrsg. von Rolf Arnold

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlaggestaltung: Heinrich Eiermann

Umschlagfoto: cc pixabay

Redaktion: Dr. med. Nicola Offermanns

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Erste Auflage, 2021

ISBN 978-3-8497-0396-7 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8332-7 (ePUB)

© 2021 Carl-Auer-Systeme Verlag und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Carl-Auer Verlag GmbH

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Tel. + 49 6221 6438 - 0 · Fax + 49 6221 6438 - 22

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Inhalt

Vorwort

1Prävention und Gesundheitsförderung – eine Aufgabe der Schule?

1.1Was ist Prävention?

Grundprävention

Primärprävention

Mehrebenenmodell

Einbezug aller Beteiligten

Präventionsarbeit an Schulen

1.2Was ist Gesundheit?

Prinzipielle Ansatzpunkte zur Gesundheitsförderung in der Schule

Kriterien für eine gute und gesunde Schule

1.3Ziele und Verständnis von Prävention und Gesundheitsförderung in Schulen

Stärkung der Präventionsarbeit

Modernes und effektives Präventionskonzept

1.4Präventionsarbeit und Resilienz

2Systemische Sichtweisen auf Schulen

2.1Systemverständnis und die Beeinflussbarkeit von Menschen

2.2Exkurs: Muster

2.3Schulen als autopoetische Systeme

2.4Ressourcenorientierung und Konstruktivismus

2.5Zur Autonomie von Schulen

Gestaltungsautonomie und deren Organe

3Beratung zur Präventionsarbeit an Schulen

3.1Beratungs- und Unterstützungssystem

3.2Präventionsbeauftragte und ihre Aufgaben

Das Prinzip Neutralität und Allparteilichkeit

Prinzip Realitätspluralismus

Das Prinzip Zirkularität

Das Prinzip Ressourcenorientierung

3.3Professionalisierung der Beratungstätigkeit

3.4Haltungen und Methoden

Möglichkeitsräume vergrößern

Wie beobachtet man ein (zukünftiges) Problem?

Problem- und Lösungssprache

Reframing

3.5Wer entscheidet über Präventionsangebote?

3.6Polyvagal-Theorie, Spiegelneurone und Beziehungen

Die polyvagale Leiter

Gesundheitserhaltende Lernprozesse auf Individual- und Klassenebene

Selbstreflexion

Etwas anders machen

Gruppendynamik

Die vier Felder des Johari-Fensters

Verhalten ist kontextabhängig

»Besucher«

(Un-)Freiwilligkeit

Kommunikationsabläufe anders betrachten – Prävention von Eskalationen

Versöhnungskompetenz entwickeln

Krisenmanagement

Einsamkeit

3.7Neue Wege gegen Mobbing

von Beate Lorenz

Eine Annäherung an den Begriff und ableitbare Handlungsstrategien

Setzung eines normativen Rahmens: Klassenregeln und Guidelines für die Kommunikation in den neuen Medien

Präventives und reaktives Verhalten im Umgang mit Regelverstößen

Beziehungsgestaltung durch gezieltes Feedback

Förderung des Klassenklimas durch Partizipation des Unterstützungsteams

3.8Kommunikation in Präventionteams

3.9Verantwortung

Nutzung von Problemkonstruktionen

Musteraufstellung

3.10Zusammenarbeit in Präventionsteams

Entwicklungsphasen

1) Orientierungsphase

2) Konfliktphase

3) Arbeitsphase

4) Abschlussphase

Konflikte

Heiße und kalte Konflikte

Selbstreflexion

Das Bewusstheitsrad

Vorgehensweise

Perspektivenwechsel

Ziele

Macht

Wirkung von Macht

Umgang mit »Machtspielchen«

Umgang mit Blockierern

Chancen für die Schulleitung

Vorbehalte von Teilnehmern

Team und Leitung

Von Anfang an Klarheit schaffen

Grundhaltung

Zwickmühlen

Tetralemma

Ressourcen

3.11Zusammenarbeit wertschätzen und verstärken

3.12System »Lehrer«

Nachklang

Literatur

Über die Autorinnen

Vorwort

Prävention und Gesundheitsförderung – das sind Begriffe, die jeder kennt und deren Bedeutung eigentlich ganz klar ist, oder? Die Meinungen und Standpunkte dazu können jedoch sehr vielfältig sein, und genauso bunt sind auch die Angebote, die Schulen in ihr Sozialcurriculum integrieren können. Oftmals geht es darum, Schüler und Schülerinnen durch diese Angebote in ihrer Haltung und Sichtweise dahingehend zu verändern, dass sie (neue) Informationen bspw. zum Thema Alkohol erhalten und dadurch nicht in Versuchung kommen, diesen übermäßig zu konsumieren.

Dabei geht man ganz klar von einer linearen Betrachtungsweise aus: Präventionsprojekte schützen, indem sie Schüler1 informieren, schulen und verändern. Aus systemischer Sicht lässt sich hierbei jedoch nie voraussagen, wer ein Alkoholproblem entwickeln und wer aus oft nicht erkennbaren Gründen davon verschont bleiben wird.

Wir als systemische Beraterinnen wollen mit diesem Buch durch die sogenannte »systemische Brille« einen Blick auf Prävention und Gesundheitsförderung an Schulen werfen, um bestehende Ansätze zu hinterfragen, neue Ideen zu kreieren und alternative systemische Denk- und Handlungsweisen für Personen aufzuzeigen, die an dieser Arbeit in Schulen beteiligt sind.

Ein Beispiel soll verdeutlichen, wie wir mit diesem Buch neue Anregungen geben möchten, die den Fokus auf Präventionsarbeit ändern können: Betrachten Sie das Schema in der Abbildung am Ende des Vorwortes. Es besteht aus neun Punkten. Verbinden Sie diese neun Punkte mit vier geraden Linien, ohne den Stift abzusetzen. (Die Lösung dazu finden Sie im Nachklang auf S. 187.)

Möglicherweise erleichtern ergänzende »systemische Perspektiven« die Präventions- und Gesundheitsförderung, indem sie zum »richtigen« und »falschen« Handeln Sowohl-als-auch-Möglichkeiten bieten und übliche Denkweisen erweitern oder diese sogar ganz verlassen.2Weiterhin lässt sich eine größere Professionalität in der Zusammenarbeit aller Beteiligten ermöglichen, indem man die Handlungsfelder erweitert und »systemische« Blicke auf die Kommunikation zwischen Lehrern, Schülern, Schulleitung, Präventionslehrkräften, Präventionsbeauftragten, ZSLs3 und Schulsozialarbeiterinnen richtet, um neue Gestaltungsräume der Zusammenarbeit zu schaffen. Dazu zeigen wir auf, welche Problemsysteme wie auch Lösungssysteme wir beobachtet haben, und thematisieren diese im Folgenden. Im Fokus steht hierbei das System Schule mit den darin arbeitenden Lehrern (in verschiedenen Rollen wie Schulleitung, Präventionsbeauftragte und -lehrkräfte, Kollegen), Schulsozialarbeitern, Schulpsychologen und Schülern. Natürlich gehören vor allem auch noch die Eltern dazu, für die eigentlich ein eigenes Buch angebracht wäre und die wir immer wieder als Systemmitglieder ansprechen werden. Wir hoffen, dies führt dazu, dass Sie bestehende Kommunikationsmuster und daraus resultierende Wechselwirkungen betrachten und ggf. hilfreich verändern können, was zu mehr Wertschätzung, Wohlbefinden, Sicherheit und Effektivität in dieser schulischen Landschaft der Präventions- und Gesundheitsarbeit führen kann.

1Wir möchten darauf hinweisen, dass wir Bezeichnungen wie Lehrer oder Schüler geschlechtsneutral verstehen und verwenden. Das heißt, dass bei Nennung eines grammatischen Geschlechts immer alle realen Geschlechter gemeint sind.

2Dies bietet beispielweise die Methode »Tetralemma« mit der fünften Position (s. Kap. 3.10, S. 173).

3Zentren für Schulqualität und Lehrerbildung. Diese wurden im Rahmen einer Reform 2019 in Baden-Württemberg gebildet, es gibt sechs Regionalstellen. Die Präventionsarbeit bzw. die Präventionsbeauftragten sind hier zugeordnet.

1Prävention und Gesundheitsförderung – eine Aufgabe der Schule?

1.1Was ist Prävention?

Die Umsetzung von Präventionsarbeit in der Schule, die alle Schülerinnen und Schüler in den Blick nimmt, fußt auf einem Verständnis von Prävention, bei dem wir insbesondere die folgenden Aspekte differenzieren:

•die Grundprävention als Grundlage aller Präventionsmaßnahmen

•die Primärprävention mit einer spezifischeren Ausrichtung und Thematik.

Grundprävention

Die Grundprävention ist die Grundlage für alle Präventionsmaßnahmen. Sie zielt auf ein Unterrichts- und Klassenklima, das beim Schüler zu einer gesunden und positiven Persönlichkeitsentwicklung beiträgt und ihn dazu befähigt, verantwortungsbewusst mit sich selbst und anderen umzugehen (Hartke 2005; Handreichung für Schulen, Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2013). Grundprävention hat eine unspezifische Ausrichtung und wird von Lehrenden durch Vorbildverhalten geleistet. Ziel der Grundprävention ist die Förderung von Lebenskompetenzen. Zum Beispiel sind bei der Gesundheitsförderung damit alle allgemeinen Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensführung und der Lebensbedingungen gemeint.

Beispiele hierfür sind: gutes Arbeitsklima, Gemeinschaftsdenken, passendes Lernangebot, konsequente Klassenführung, Wertschätzung und Zugewandtheit.

Primärprävention

Primärprävention betrifft alle Schüler und Schülerinnen und wird z. B. durch Programme wie stark.stärker. Wir geleistet. Sie bezieht sich auf bestimmte Themen. Zu diesen in Schulen eingesetzten Konzepten zählen z. B. Ernährungsprogramme (Gesundes Boot), Mobbing- und Gewaltprogramme (Mobbingfreie Schule, Klassenrat, Streitschlichter) sowie Sucht und Abhängigkeit (Bauchgefühl).

Damit schulische Prävention wirksam sein kann, ist sie immer gleichzeitig auf drei sozialen Ebenen innerhalb von Schulen zu verankern:

•auf der Schulebene

•der Klassenebene und

•der individuellen Ebene.

Nach dem Präventionsverständnis zielt sie sowohl auf das gesundheitsförderliche Verhalten jedes Einzelnen (Verhaltensprävention) als auch darauf, in diesem Sinne förderliche Strukturen zu schaffen (Verhältnisprävention).

Mehrebenenmodell

Schulen verfügten zwar bereits vor 20114 über Präventionskonzepte und -programme, die sie im Rahmen ihrer Präventionsarbeit umgesetzt haben, allerdings sind und waren diese Maßnahmen meist unkoordiniert aneinandergereiht und nur wenig aufeinander abgestimmt (was in der Literatur auch als fragmentiertes, unkoordiniertes Vorgehen beschrieben wird). Entsprechend ist Präventionsarbeit auf mehreren schulischen Ebenen zu verankern. Die Rahmenstruktur des schulischen Präventionskonzeptes ssW (stark.stärker.Wir) geht von der Notwendigkeit einer Verankerung des Präventionskonzeptes auf allen schulischen Ebenen aus:

•gesamtschulische Ebene

•Klassenebene

•individuelle Ebene.

In Anlehnung an Dan Olweus, den norwegischen Persönlichkeitsforscher mit Forschungsschwerpunkt Mobbing und Gewalt an Schulen, spricht man hier auch gerne vom »Mehrebenenmodell«. Gemeint ist damit, dass Schulen ein umfassendes Präventionskonzept erarbeiten und die einzelnen Maßnahmen in ihren Schulen auf allen drei Ebenen aufeinander abstimmen und parallel etablieren – auf der schulischen Ebene, der Klassenebene und der persönlichen Ebene (Schülerebene).

Einbezug aller Beteiligten

Des Weiteren geht es darum, alle am Schulleben beteiligten Personengruppen in das Präventionskonzept einzubeziehen. Entsprechend wird vonseiten der Beratungs- und Unterstützungssysteme im Rahmen der Schulberatung das Einverständnis/die Zustimmung durch die Gesamtlehrerkonferenz (GLK) ebenso wie durch die Schulkonferenz eingefordert. Dadurch sind Eltern, Lehrkräfte und Schüler von vornherein informiert und sollen darüber hinaus einbezogen werden. Die Arbeit am Präventionskonzept einer Schule ist damit Teil der Schul- und Unterrichtsentwicklung. Nur dadurch ist von einer nachhaltigen Präventionsarbeit auszugehen, die sich auch in den Haltungen der Lehrkräfte äußert und zeigt.

Die Etablierung einer entsprechenden Lob-, Anerkennungs- und Wertschätzungskultur stärkt die Lebenskompetenzen (z. B. Konfliktlösekompetenzen) der Schüler genauso wie die der Erwachsenen. So ist neben vielen anderen Zielen sicherlich auch an erster Stelle die Erhaltung der Gesundheit von Schülern wie von Lehrkräften zu benennen.

Seine gesetzliche und bildungspolitische Verankerung findet das Präventionskonzept

•in der Verwaltungsvorschrift (VwV) aus dem Jahr 2014 »Prävention und Gesundheitsförderung«: Darin sind die Prinzipien ebenso wie Struktur, Ziele und Umsetzung der Präventionsarbeit in den Schulen benannt (siehe VwV 2014).

•in der Leitperspektive »Prävention und Gesundheitsförderung« im Rahmen des neuen Bildungsplanes von 2016, als eine von sechs weiteren Leitperspektiven: Darin wird die Thematik Prävention nicht wie bislang als Schulentwicklung und als Aufgabe von bestimmten Personengruppen wie Präventionsbeauftragten oder Präventionslehrkräften an den Schulen thematisiert, sondern als Aufgabe von allen Lehrkräften direkt in der Unterrichtsgestaltung formuliert und damit in allen Fächern verankert.5

Die Verankerung eines schulischen Präventionskonzeptes benötigt Zeit. Dabei gibt es folgende Ziele:

•Schule ist als Raum zu betrachten, in dem die Würde und die Gesundheit jedes Einzelnen geachtet werden. Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte sollen sich sicher fühlen.

•Präventionsarbeit an Schulen erfolgt nachhaltig, zielgerichtet und systematisch.

•Das Rahmenkonzept stellt die vielfältigen Aktivitäten im Bereich der Prävention an Schulen in einen größeren Zusammenhang.

Die meisten Schulen arbeiten bereits mit bestehenden Konzepten. Im Rahmen der Entwicklung eines speziellen schulischen Präventionskonzeptes ist es unser Anliegen, die bereits bestehenden Programme zu würdigen, einen weiteren Handlungsbedarf zu erkennen und ggf. ergänzende Aktivitäten in einem schulspezifischen Präventionskonzept zu verankern (z. B. die Entwicklung eines vorhandenen Sozialcurriculums).

Präventionsarbeit an Schulen

Lange Zeit richtete sich Präventionsarbeit an Schulen vornehmlich an den vermeintlich größten Bedrohungen für Schülerinnen und Schüler aus: Sucht und Gewalt. Angefangen mit Abschreckungskampagnen in der Suchtprävention, die wenig Erfolg zeigten, entwickelte sich ein System aus Aufklärung, Gesprächsangeboten, Vermittlung von Lebenskompetenzen und konkreten Hilfen bis hin zu Strafmaßnahmen zum Schutz Dritter (Intervention). In der Gewaltprävention bildeten sich, angepasst an unterschiedliche Problemlagen, verschiedene Programme zur Primärprävention, aber auch zum Umgang mit problematischem Verhalten heraus. Die Zunahme von Zivilisationserkrankungen sowie von psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter und bei jungen Erwachsenen hat zusätzlich den Blick auf die Vermeidung von Krankheiten gelenkt. Die Förderung von Bewegung im Rahmen des Schulsports und weitere Angebote sowie die Vermittlung von Wissen über gesunde Ernährung haben Eingang in die Bildungspläne gefunden.

In der Prävention lag der Schwerpunkt bisher auf der Vermeidung von problematischem Verhalten oder dem Beseitigen von Risiken. In der Gesundheitsförderung liegt der Schwerpunkt auf der Förderung von Ressourcen, man spricht hier von Resilienzförderung (Fröhlich-Gildhoff, Becker u. Fischer 2012). Die Grundlage bildet der salutogenetische Ansatz, der erforscht, welche Fähigkeiten und Eigenschaften die Menschen gesund erhalten.

Beide Strategien treffen sich im Bereich der Lebenskompetenzen. Deren Vermittlung zielt darauf ab, dass sich Kinder und Jugendliche zu eigenverantwortlichen, starken Persönlichkeiten entwickeln. Das gemeinsame Miteinander, das Wir in der Gruppe, Klasse und Schule, wird dabei als Superlativ angestrebt.

1.2Was ist Gesundheit?

Alle sozialen Systeme – so die hier vertretene These – lassen sich einem Kontinuum zwischen gesund und ungesund zuordnen. Die damit verbundene Annahme lautet: Je häufiger sich das soziale System einer Organisation auf den genannten Dimensionen dem ungesunden Ende des Kontinuums nähert, umso zahlreicher werden entsprechende Symptome auftreten – wie hoher Krankenstand, hohe Fluktuation, Mobbing, Burn-out, innere Kündigung usw. mit negativen Konsequenzen für Qualität, Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit.

Forschung und Praxis zur gesunden Schule sollten den hier aufgeführten objektiven Merkmalen der Schulorganisation hohe Aufmerksamkeit schenken, da aufgrund des vorliegenden Kenntnisstandes zu erwarten ist, dass sie für Wohlbefinden und Gesundheit von Lehrern und Schülern sowie für die Erreichung der gesetzten Bildungsziele von erheblicher Bedeutung sind.

Gesund sind Organisationen, wenn sie beiden Zielen dienen: ihrem Erfolg und dem Wohlbefinden ihrer Mitglieder.

Wissenschaftliche Erkenntnisse, wie die oben zusammengefassten, liefern durch das darin enthaltene Wissen über Zusammenhänge neue Ansatzmöglichkeiten für gesundheitsförderliche Interventionen in soziale Systeme. Was aber ist Gesundheit? Was sind mit anderen Worten die Zielwerte von Interventionen, die für sich in Anspruch nehmen, gesundheitsförderlich zu wirken?

In weiten Teilen der Bevölkerung wird Gesundheit immer noch als Abwesenheit körperlicher Krankheit begriffen. Demgegenüber plädierte die WHO bereits in ihrem Gründungsdokument für eine Definition von Gesundheit als »körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden«. In der Ottawa-Charta der WHO6 von 1986 heißt es:

»Gesundheit zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. (…) Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.«

Nach heutiger Auffassung ist Gesundheit immer zugleich Voraussetzung und Ergebnis der Wechselwirkungen zwischen Personen, Verhalten und sozialer Umwelt. Im Kern geht es um die Erschließung salutogener Potenziale in der Person (Biologie, Sozialisation, Qualifizierung), im Verhalten (z. B. gesundheitsförderliches Bewegungsund Sozialverhalten) und in den sozialen Systemen (Sozialkapital), in denen Menschen sich im Alltag und im Verlauf ihres Lebens bewegen.

Folgt man den Erkenntnissen der Stress- und Coping-Forschung (z. B. Bodenmann 1997), ist Gesundheit kein somatischer oder psychischer Zustand, sondern eine Kompetenz zur aktiven Situationsbewältigung – mit anderen Worten etwas, was erlernbar ist und zu dem Menschen befähigt werden können. Aus dieser Perspektive lässt sich Gesundheit definieren als

»Fähigkeit zur Problemlösung und Gefühlsregulierung, durch die ein positives Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen und ein unterstützendes Netzwerk sozialer Beziehungen erhalten oder wiederhergestellt wird« (Badura u. Hehlmann 2004, S. 18).

Subjektiv erfolgreiche Situationsbewältigung erzeugt ein positives Befinden (»Wohlbefinden«). Wird sie hingegen subjektiv als nicht erfolgreich bewertet, erzeugt dies negatives Befinden in Form von Gefühlen der Angst, Wut oder Hilflosigkeit.

Als Kriterium zur Messung, ob die Ziele gesundheitsförderlicher Interventionen erreicht werden, beginnt sich das subjektive Befinden durchzusetzen, weil hohes Wohlbefinden bzw. positive Emotionen (Stolz, Freude, Selbstwertgefühl usw.)

•Verhalten und soziale Funktionsfähigkeit positiv beeinflussen (z. B. Arbeitsverhalten, Gesundheitsverhalten)

•physische Gesundheit erhalten bzw. schützen

•Lebensqualität und Beschäftigungsfähigkeit verbessern und

•die Lebensdauer verlängern.

Mit diesem neuen Gesundheitsverständnis verbindet sich auch eine neue Auffassung von Krankheit. Krankheit beinhaltet mehr als nur körperliche Fehlfunktionen oder Schädigungen. Auch eine beschädigte Identität, länger anhaltende Angst oder Hilflosigkeitsgefühle sind wegen ihrer negativen Auswirkungen auf Denken, Motivation und Verhalten, aber auch auf das Immun- und Herz-Kreislauf-System, als Krankheitssymptome zu begreifen (ebd., S. 19). Aus dieser Definition sollen folgende Punkte betont werden:

1.Gesundheit ist ein Zustand, der Menschen Wohlbefinden und Lebensfreude vermittelt.

2.Die eigene Lebensführung und die Umwelt sind veränderbar und nicht statisch.

3.Als gesund in diesem Sinne lässt sich jemand beschreiben, der sich aktiv, planvoll und zielgerichtet weiterentwickelt und nicht auf seinem Entwicklungsstand verharrt. Nach Ducki und Greiner (1992) gilt jemand dann als gesund, wenn er sich eigene (langfristige) Ziele setzt und sich durch Lernen neue Handlungs- und Lebensbereiche erschließt.

4.Eine Person steht nicht für sich alleine, sondern befindet sich in ständiger Interaktion mit der Umwelt (materiell wie auch sozial).

5.Gesundheitsförderung bezieht sich damit nicht nur auf die Person (Verhaltensänderung), sondern auch auf die sie umgebende Umwelt (Verhältnisänderung).

6.Es wird ein Zusammenhang zwischen Leistungsfähigkeit und Gesundheit erkannt und benannt.

Wichtig ist jedoch, dass Gesundheit nichts Statisches, sondern etwas Dynamisches ist, und dass sie kein einmal erreichtes und unveränderbares Ziel darstellt, sondern eine immer wieder neu herzustellende Balance.

Prinzipielle Ansatzpunkte zur Gesundheitsförderung in der Schule

•Verhalten der Personen/Lehrkräfte/Schulleitungen (Verhaltensmanagement): bezieht sich auf das Verhalten einzelner Personen – also von Ihnen oder Ihren Lehrkräften – und dessen Veränderung, z. B., wenn es darum geht, Kompetenzen zu erweitern, Entwicklungsperspektiven zu schaffen oder Ressourcen zu aktivieren

•Arbeitsbedingungen an der einzelnen Schule (Verhältnismanagement): bezieht sich auf Veränderungen an der Schule insgesamt wie z. B. Ruheräume, Schallschutz, Leitbilder entwickeln

•Rahmenbedingungen des Schulsystems (Verhältnismanagement): bezieht sich auf die Vorgaben, die im Schulsystem gegeben sind, z. B. Schulgesetze wie Klassengrößen etc.

Kriterien für eine gute und gesunde Schule

Unter arbeitspsychologischer Perspektive ist ein erfolgskritischer Punkt des Lehrerberufes in der sozialen Interaktion und Kommunikation zwischen Kollegium, Schülern, Eltern und vor allem auch der Schulleitung zu sehen (s. Tab. 1). Gelingen Kommunikation und Interaktion nicht, werden sie zu einer großen Belastung. Bezüglich der Zufriedenheit mit Kollegien und Schulleitungen und ganz besonders in der Qualität der Kommunikation unterscheiden sich Schulen sehr stark.

Hier liegt ein großes Potenzial für gesundheitsförderliche Veränderungen. Aus diesem Grund beziehen wir uns an dieser Stelle vornehmlich auf die kommunikativen Aspekte im Kollegium und zwischen der Schulleitung und den Kollegen – und da zum Großteil auf den Themenbereich der Gesprächsführung.

Dabei haben wir zwei Ziele vor Augen:

a)Die Schule ist erfolgreich.

b)Ihre Mitglieder fühlen sich wohl und gesund.

Bedingungen für die Erreichung dieser beiden Ziele:

1.vertrauensvolle und stabile soziale Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer Schule

2.gegenseitige Hilfe und Unterstützung – wodurch soziale Ressourcen und soziale Bedürfnisse befriedigt werden

3.gemeinsame, transparente Überzeugungen, Werte, Regeln und Ziele der Lehrkräfte

4.Identifikation mit der Schule und deren Zielen

5.mitarbeiterorientierte Führung, die sich um eine effiziente und bedürfnisgerechte Gestaltung von Arbeit und Organisation sowie um klare Ziele und Transparenz bemüht.

 

gesunde Organisation

ungesunde Organisation

Vertrauen und Zusammenar beit unter Organisationsmitglie dern (»Klima«)

stark

gering

sinnstiftende Aufgabenstellung

stark verbreitet

wenig verbreitet

Identifikation der Organisationsmitglieder mit Aufgaben und Organisationszielen (»commitment«)

hoch

gering

Handlungsspielräume bei der Arbeit

groß

gering

fachliche Qualifikation der Organisationsmitglieder

hoch entwickelt und weit verbreitet

gering entwickelt und wenig verbreitet

soziale Kompetenz

hoch entwickelt und weit verbreitet

gering entwickelt und wenig verbreitet

Ausmaß sozialer Ungleichheit (Bildung, Status, Einkommen)

moderat

hoch

Vorrat an gemeinsamen Überzeugungen, Werten, Regeln (»Kultur«)

groß

gering

Transparenz von Entscheidungen und Prozessen für Organisationsmitglieder

hoch

gering

Beteiligungsmöglichkeiten an Willensbildung und Entscheidungsfindung (»Partizipation«)

häufig

selten

Qualität der Führung

hoch

gering

Stabilität und Qualität der sozialen Beziehungen

hoch

gering

team-/abteilungsübergreifende Vernetzung der Organisationsmitglieder

hoch

gering

Tab. 1: Merkmale gesunder Organisationen (in Anlehnung an Badura 2004)

Schulische Präventionsarbeit und Gesundheitsförderung zielt heute auf die Förderung von Lebenskompetenzen und die Stärkung persönlicher Schutzfaktoren ab. Heranwachsende sollen dabei unterstützt werden, dass sie altersspezifische Entwicklungsaufgaben bewältigen und sich im täglichen Handeln als selbstwirksam erleben können. Die erfolgreiche Lösung dieser Aufgaben führt zu Kompetenzen und Ressourcen, die wiederum zur Lösung der nächsten Aufgaben befähigen.

1.3Ziele und Verständnis von Prävention und Gesundheitsförderung in Schulen

Folgende Ziele stehen bildungspolitisch im Vordergrund:

Stärkung der Präventionsarbeit

Eine Stärkung der Präventionsarbeit im Schulsystem hat das Präventionskonzept insbesondere durch die personelle Aufstockung und Neuqualifizierung von Präventionsbeauftragten, Präventionslehrkräften und Lehrkräften erfahren.

Auf die Etablierung speziell des schulischen Unterstützungssystems durch Präventionsbeauftragte gehen wir später nochmals ein. Bereits existierende Beratungs- und Unterstützungssysteme im schulischen Bereich sollten bei der Neustrukturierung des Präventionskonzepts synergetisch genutzt werden. 2011 gab es Gewaltpräventionsberater und Suchtbeauftragte. Diese beiden Personengruppen wurden zu Präventionsbeauftragten zusammengefasst und entsprechend personell durch neu qualifizierte Präventionsbeauftragte ergänzt.

Durch die formalen gesetzlichen und bildungspolitischen Vorgaben sollte 2011 eine zielgerichtete und systematische Präventionsarbeit an den Schulen entstehen, die nicht nur punktuell stattfindet, sondern umfassend und aufeinander abgestimmte Maßnahmen und Instrumente beinhaltet.

Modernes und effektives Präventionskonzept

Die Etablierung eines Rahmenkonzeptes zur schulischen Präventionsarbeit gilt als weiteres Ziel – ein modernes Präventionskonzept, welches bestehende Strukturen sinnvoll zusammenführt, diese angemessen vereinheitlicht und weiterentwickelt. Entsprechend sind wesentliche Kennzeichen dieses Präventionskonzeptes:

•Prävention und Gesundheitsförderung zielen heute auf die Förderung von Lebenskompetenz und die Stärkung persönlicher Ressourcen. Heranwachsende sollen darin unterstützt werden, altersspezifische Entwicklungsaufgaben bewältigen und sich im täglichen Handeln als selbstwirksam erleben zu können, d. h. als Urheber von positiven Handlungen und deren Ergebnis.

•Prävention und Gesundheitsförderung als Leitperspektive im Bildungsplan 2016 bedeutet absichtsvolles Handeln und die Entwicklungsförderung des Einzelnen. Mit fünf zentralen Lern- und Handlungsfeldern sowie Grund- und Primärprävention ermöglicht diese Leitperspektive neue Zugänge zu den Bereichen Prävention und Gesundheitsförderung.7

Im Mittelpunkt des pädagogisch-präventiven Handelns steht die Frage, was Schülerinnen und Schüler lernen müssen, um Lebenskompetenzen entwickeln zu können, und in welchen schulischen Feldern dies möglich ist. Deshalb werden die Lebenskompetenzbeschreibungen der WHO sowie personale und soziale Schutzfaktoren in fünf zentrale Lern- und Handlungsfelder zusammengefasst:

•Selbstregulation: Gedanken, Emotionen und Handlungen selbst regulieren

•ressourcenorientiert denken und Probleme lösen

•wertschätzend kommunizieren und handeln

•lösungsorientiert Konflikte und Stress bewältigen

•Kontakte und Beziehungen aufbauen und aufrechterhalten.

Selbstregulation spielt für eine positive Entwicklung in den Lern- und Handlungsfeldern eine grundlegende Rolle.8

1.4Präventionsarbeit und Resilienz

»Mitten im Winter habe ich erfahren, dass es in mir einen unbesiegbaren Sommer gibt.«

Albert Camus

Die Präventionsarbeit an Schulen erhielt durch Amokläufe – wie der in Winnenden – einen neuen und wichtigeren Stellenwert im Bildungssystem Schule. Hierbei liegt der Fokus auf aktiver Förderung bzw. Herstellung von Kompetenzen bei den am Schulleben beteiligten Personen. Dies setzt voraus, dass etwas am Menschen »hergestellt« werden soll, was noch nicht da ist. Das fördert jedoch auch einen defizitären Blick auf diese Projekte und Menschen, weil man davon ausgeht, dass der aktuelle Sollzustand nicht ausreichend ist und in einen gewünschten Istzustand zu überführen ist. Um aufzuzeigen, dass auch ein Vertrauen in die Fähigkeiten des Einzelnen, insbesondere in die der Schüler, alleine schon hilfreich sein kann und somit zugleich auch eine Neuerung in Systemen darstellt, die etwas bewirken kann, werden die Themen Resilienz und Sicherheit9 dargestellt und in Bezug zur Präventionsarbeit gesetzt.

Bei diesem Thema wird der Blick auf hilfreiche Einflüsse wie Schule, Arbeit, religiöse Gemeinschaften, Sportvereine und Nachbarn geweitet10 und das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte von Menschen vertieft. Eine Grundlage hierfür bietet auch die Traumaforschung, die untersucht, wie viel Prozent der von einem traumatischen Ereignis Betroffenen überhaupt ein Trauma entwickeln und unter welchen Umständen sie das selbst erfolgreich verarbeiten. Sozialisationsaspekte werden zwar beachtet, aber die in einem Menschen innewohnenden eigenen Kräfte stehen im Zentrum der Beobachtungen, wobei es nicht darum geht, Krisen und Schicksalsschläge zu vermeiden, sondern diese zu überleben und mit ihnen zurechtzukommen. Somit ist Resilienz ein Prozess von Menschen, der die Wiederherstellung körperlicher und geistiger Gesundheit durch Selbstwirksamkeit beschreibt.

Folgende Schutzfaktoren und Eigenschaften helfen Kindern und Jugendlichen, widrige Lebensumstände zu überwinden:

1.Individuum: aktiv, freundlich, anschmiegsam, sprachlich und motorisch weit entwickelt, die Fähigkeit, auf sich selbst stolz zu sein und anderen bereitwillig zu helfen

2.Familie: Bindung zu einer emotional stabilen Person, Religiosität

3.Umfeld: Möglichkeit, sich in Krisen Rat und Hilfe zu holen, Lieblingslehrer11 oder fürsorgliche Nachbarn, Trainer, Pfarrer usw.

Aber auch diejenigen, die in jüngeren Jahren Probleme hatten, Krisen zu bewältigen, erholen sich bis ins Erwachsenenalter oft wieder.

Hilfreich waren dabei:

•Eröffnung von Chancen: Ausbildungen, stabile Ehen, aktives Engagement in Glaubensgemeinschaften, Genesung nach einer Krankheit oder einem Unfall sowie manchmal Psychotherapie (Welter-Enderlin u. Hildenbrand 2012, S. 33 f.).

Diese Ausführungen können dazu beitragen, dass Projekte und Angebote der derzeitigen Gesundheits- und Präventionsarbeit nochmals überdacht werden. Ein wichtiger Hintergrund hierfür waren Studien, die das Aufwachsen unter schwierigen Bedingungen auch im Langzeitverlauf untersucht haben und Variablen für risikomildernde Entwicklungsverläufe identifizieren konnten. Unter der Perspektive von Schutzfaktoren betrachten wir gezielt die Variablen und Ressourcen, die dazu führen, dass Individuen Entwicklungsaufgaben in verschiedenen Lebensabschnitten, aber auch Belastungen und Krisen, angemessen bewältigen. Die positive Bewältigung dieser Herausforderungen wirkt sich günstig, d. h. selbstwertstärkend auf die weitere Entwicklung aus.

Schutzfaktoren lassen sich auf drei Ebenen differenzieren:

•auf der personalen Ebene (Schutzfaktoren, die im Individuum »angesiedelt« sind)

•auf der Ebene der unmittelbaren sozialen Beziehungen und

•auf der Ebene der weiteren Umwelt, bei der insbesondere die Bildungsinstitutionen eine hohe Bedeutung haben, da Kinder und Jugendliche viel Zeit in diesen verbringen (Perry u. Szalavitz 2013, S. 196 f. u. 300 f.).

Resilienzstärkende Präventionsangebote sollten dahingehend geprüft werden, ob ein einzelnes Individuum im Zentrum steht und sich im Schulsystem die Haltung beobachten lässt, dass ein einzelner Schüler oder Lehrer mehr Resilienz erlangen kann und soll und dafür die Verantwortung tragen muss. Dies würde bedeuten, dass oft komplexe Wechselwirkungen mit anderen Systemmitgliedern ausgeschlossen wären und kontextabhängiges Verhalten somit keine Beachtung fände. Die gesellschaftliche Verantwortung würde dann auf Einzelne verlagert und der Druck auf diese ebenso:

»Vergrößere deine Widerstandskräfte und werde resilienter, dann hältst du Krisen und Probleme besser aus und erlangst dadurch mehr Selbstbewusstsein, wenn du entsprechende Herausforderungen gemeistert hast« (Gebauer 2020).

Erzieherisches und therapeutisches Wirken schiene somit planbar, und das Gesamtschulsystem mit allen Beteiligten sowie die damit verbundenen Interaktionen mit der Umwelt (politische, ökonomische und soziale Einflüsse) würden kaum noch als Einflussvariablen gelten. Dies verstärkt allerdings die Haltung, dass jeder sich »nur genug anstrengen müsste«, um gesund und stark sein (Schul-)Leben in idealer Weise zu meistern. Thomas Gebauer fasst dies treffend zusammen:

»Ziel solcher Programme ist nicht mehr die Gestaltung menschenwürdiger Umstände, sondern die Anpassung der Menschen an eine (…) versagende Welt – durch Selbstoptimierung, den Aufbau von Schutzschilden und individueller Bewältigungskompetenz. (…) Klappt die Anpassung nicht, können vielleicht nicht Pädagogen oder Therapeuten zur Verantwortung gezogen werden, aber im Prinzip geht auch der Misserfolg zulasten der Individuen selbst« (ebd., S. 61).

4Vor 2011 gab es »Gewaltpräventionsberater« und »Suchtbeauftragte«, die dann zu »Präventionsbeauftragten« zusammengefasst wurden.

5Hintergrundinfo: Im Rahmen des neuen Bildungsplanes 2016 wurden insgesamt sechs Leitperspektiven (LP) benannt – eine davon ist die LP »Prävention und Gesundheitsförderung« (die anderen LPs behandeln: »Bildung für nachhaltige Entwicklung«, »Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt«, »Berufliche Orientierung«, »Medienbildung« und »Verbraucherbildung«).

6Verfügbar unter: https://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0006/129534/Ottawa_Charter_G.pdf [21.6.2021].

2Systemische Sichtweisen auf Schulen

2.1Systemverständnis und die Beeinflussbarkeit von Menschen

»Ein System ist nicht ein Etwas, das dem Beobachter präsentiert wird, es ist ein Etwas, das von ihm erkannt wird.«

Humberto Maturana

Schulen sind aus systemischer Sicht komplexe Systeme. Als System bezeichnen wir allgemein eine Gesamtheit von Elementen, die miteinander verbunden sind und sich dadurch als eine aufgaben-, sinn- oder zweckgebundene Einheit ansehen lassen – sozusagen als eine strukturierte systematische Ganzheit. In der systemtheoretischen Sichtweise stellen Systeme Interaktionszusammenhänge dar, die sich von ihrer Umwelt abgrenzen. Entsprechend lassen sie sich als sich selbstorganisierende Funktionseinheiten verstehen, die ihr Weiterfunktionieren selbst produzieren (vgl. »Schulen als autopoetische Systeme«) und sich in spezifischer Weise von ihrer Umwelt differenzieren, etwa durch die Ausprägung spezifischer Unterscheidungsweisen.

Autonomie gilt systemisch betrachtet als ein grundsätzliches Merkmal von Systemen: Sobald ein System ein System ist, d. h., sobald die einzelnen Elemente des Systems zueinander in Wechselwirkung treten und damit Selbstreferenz aufbauen, gewinnt es eine gewisse Autonomie seiner Umwelt gegenüber (vgl. Gulowson 1972; Susman 1976; Grote 1997; Pietruschka 2003; Schiepek u. Haken 2010). Die Muster12 innerhalb des Systems werden dann abgrenzbar gegenüber den Mustern der Umwelt.

Der Input in ein System ist nicht proportional zum Output des Systems, da sich das System nicht linear verhält. So können sehr kleine, systeminterne Veränderungen zu großen (nicht vorhersehbaren) Veränderungen im System führen bzw. große, systemexterne Impulse zu vergleichsweise kleinen Veränderungen, weil jedes Subsystem (wie z. B. die Einzelschule) seine eigene Dynamik besitzt und autonom handelt (vgl. Luhmann 2002; 2005; Simon 2015; Mücke 2003; Probst 1987; Schiepek u. Haken 2010).