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Willkommen i m Haus Sonnenuntergang Nur mit Mühe schafft es Pflegerin Sybille, den Betrieb in ihrem Seniorenheim zusammen mit ihren Kolleginnen am Laufen zu halten. Und dann taucht plötzlich auch noch Rüdiger Otterle, Nachfolger und Erbe des Heims und gelernter BWLer, auf. Der Neue hat zwar keinen Schimmer von Pflege, geschweige denn von Senioren, aber ein großes Ziel: Er möchte Haus Sonnenuntergang zum „Heim des Jahres“ machen. Sybille setzt alles daran, ihr überarbeitetes Team zu motivieren. Neben dem täglichen Pflegewahnsinn muss sie zwischen den beiden verfeindeten Seniorengangs Bandidos und Rollator Angels schlichten, den verwirrten Senior Herrn Bellies im Moulin Rouge abholen und sich gegen Otterles verrückte Marketingideen zur Wehr setzen. Und dann ist da auch noch Sybilles Singleleben. Wo kriegt man einen Mann her, wenn zwischen Schichtdienst und beruflichem Engagement keine Zeit mehr bleibt? Richtig. Man nimmt seine Senioren einfach mit zum Speeddating. Das Chaos ist vorprogrammiert …
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Seitenzahl: 476
Zum Buch:
Sonnenuntergänge. Hm. Sind jetzt auch net so meine Spezialität. Ich denke immer: Wenn sie weg ist, ist sie weg, die Sonne. Morgen kommt sie doch wieder. Warum machen manche Leute da so eine Welle? Gebannt lese ich weiter und sehe die Antworten der Männer. Zwölf gefällt das. Acht haben ihr im Kommentarfeld ein Bild mit einem Sonnenuntergang angehängt. Und wie ich noch so nachdenke, warum Männer so gern Frauen mögen, die Sonnenuntergänge mögen, kommt mir DIE Idee. SONNENUNTERGANG!!! Das ist es! Die Lösung! Haus Sonnenuntergang muss unser Heim heißen. Wenn so viele Leute das gut finden, dann kann es doch nicht verkehrt sein.
Zur Autorin:
Ramona Schukraft ist Comedienne und Autorin und setzt sich seit 13 Jahren humorvoll in ihrer Rolle als Altenpflegerin Sybille Bullatschek auf der Bühne und in Youtube-Videos für ein besseres Image des Pflegeberufs ein. Sie bringt Menschen in Theatern, Heimen und auf Pflegekongressen mit ihren Geschichten aus dem Haus Sonnenuntergang zum Lachen. Schukraft hat in den 90er-Jahren ein Freiwilliges Soziales Jahr im Pflegebereich absolviert. Sie ist Preisträgerin des »Herz & Mut«-Awards »Pflegerin des Jahres 2022« in der Sparte »Humor in der Pflege« und wurde vom Comedy Arts Festival in Moers für ihren Einsatz als »Comedy-Botschafterin für den Pflegeberuf« ausgezeichnet. »Sie haben Ihr Gebiss auf der Hüpfburg verloren« ist ihr erster Roman.
Für meine geschätzten Lieblingsmenschen in der Pfläge.
© 2023 by Sybille Bullatschek Deutsche Erstausgabe © 2023 by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Umschlaggestaltung von Hafen Werbeagentur, Hamburg Umschlagillustration von © Peter Bartels E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783749905317www.harpercollins.de
Alles auf Anfang – oder wie alles begann
Besprechungszimmer, 10.00 Uhr
Heute ist Meeting. Meeting mit Brainstorming. Brainstorming ist englisch und heißt so viel wie »Gehirnsturm«. Und damit unser Gehirn gut stürmt, sitzen wir alle im Besprechungszimmer. Ich weiß zwar nicht, warum unser Gehirn im Besprechungszimmer besser »stürmt« als im Aufenthaltsraum, aber wir fügen uns. Schließlich hat unser neuer Chef das angeordnet. Herr Otterle. Sorry, Herr Rüdiger Otterle. Blöder Name. Vornamen mit »ü« klingen meistens blöd. Wie Jürgen. Oder Günter. Aber der passt irgendwie zu ihm.
Ich habe viel erwartet. Ute hatte ihn schon vor ein paar Tagen auf dem Flur gesehen und rumerzählt, »der sieht fast aus wie der letzte James Bond!«. Find ich überhaupt net. Groß, schlaksig, dunkelblonde gewellte Haare und so eine Geiernase, die von vorne harmlos aussieht, aber im Profil an eine Hexe erinnert. Einen grauen Anzug hat er an mit einer lila Krawatte, auf der ineinander verschlungen seine Initialen gestickt sind: RO. Rüdiger Otterle.
Gerade als ich überlege, ob er wohl zu Hause eine Frau hat, die die Muße hat, mit flinken Fingern und silbernem Stickgarn eine lila Krawatte zu verzieren, flüstert Sascha: »Guckt mal, der rennt mit dem Logo von Röder/Oramed auf der Krawatte rum. Crazy! Und das nach dem Herzmittel-Skandal. Der traut sich was!« Dann haben wir ihm alle die ganze Zeit auf die Krawatte geglotzt und überlegt, ob es nun mutig oder armselig ist, mit der Krawatte eines Skandal-Pharmakonzerns rumzulaufen.
Die Pharma-Krawatte ist auch schuld, dass ich mich überhaupt nicht mehr konzentrieren konnte, »Wir sind jetzt eine Business Company im Health-and-Care-Sektor«, sagt Otterle, »und ein hervorragendes Self-Marketing sollte unsere Leading Ambition sein.« Vielleicht hat er auch was anderes gesagt, keine Ahnung. Niemand blickt bei dem Deutsch-Englisch mehr durch. Er hätte auch sagen können, dass wir jetzt »Nuclear Weapons« bei den Senioren »under the bed hiden«. Da hätten wahrscheinlich trotzdem alle genickt.
Dann hat er im Besprechungszimmer die Runde gemacht und jedem nacheinander die Hand gegeben. Na ja, fast jedem. Der Frau Berthold, die in der Küche mithilft, nicht. Gut, die hatte auch so rote Hände von den Erdbeeren, die sie kurz vorher geschnitten hat, und eine dreckige Schürze um. Die wollte ja eigentlich nur kurz Hallo sagen und hat ihm freundlich die Hand entgegengestreckt, aber da hat er seine ganz schnell auf dem Rücken verschränkt und ihr nur kurz zugenickt und »Freut mich, Frau, äh … Bertram!« genuschelt. »Frau Bertram! Frau Bertold!!!«
Da ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass er sich überhaupt keine Namen merkt.
Mich grinst er auch an. Aber nur weil der Eddy vom Pfleidelsheimer Tageblättle auf den Auslöser drückt. Den hat er übrigens persönlich eingeladen, damit alle im Ort wissen:
Das Seniorenheim hat jetzt einen neuen Chef. Einen tollen, neuen, dynamischen Chef. Einen mit vielen innovativen Ideen fürs Marketing. Das hat er im Interview immer wieder betont. INNOVATIV, das war sein Hauptwort. Die Evelyn und ich standen an der Glastür und haben gelauscht.
Da saß er dann im Besprechungszimmer, hat sich Kaffee bringen lassen, von seinen »Visionen« erzählt und ab und zu in einen Diabetikerkeks gebissen. Der Eddy vom Tageblättle hat immer nur genickt und irgendwas auf seinen Block gekritzelt.
Wahrscheinlich hat er bloß »Schwätzer« draufgeschrieben.
Der Otterle denkt, er ist was Besseres, nur weil er studiert hat. Marketing. An der London Business School. Das hat er, bevor die Presse kam, groß auf die neue Magnettafel geschrieben, die er mitgebracht hat. Oder »Flip-Chart«, wie er sagt. Mit einem blauen Edding: »Rüdiger Otterle, Head of Pflege«, und seinen Lebenslauf. »Head of Pflege« – selten so gelacht. Irgendjemand hat das Head später weggewischt und mit »Depp« ersetzt. Das hat er aber nicht mehr mitgekriegt, da saß er schon in seinem neuen Büro. Oder Office.
Zum Pressetermin mussten wir dann ein paar Senioren reinschieben, die mit aufs Foto sollten. »Aber nur die, die noch einigermaßen frisch aussehen und sich benehmen können«, hat er mir zugeraunt. Unverschämtheit! Unsere Senioren sehen alle fit aus! Wie sich schnell rausstellte, war das mit den Senioren keine gute Idee. Frau Spielmann fuhr aus Versehen mit dem Rollator über Otterles Fuß, woraufhin er sie angeblökt hat: »Passen Sie doch auf, wo Sie hinfahren!« Zum Glück hörte Frau Spielmann schlecht, guckte ihn bloß an und rief ganz aufgeregt: »Fahren? Wo fahren wir denn hin?« Der Kämmerer streckte dem Fotografen aus Spaß die Zunge raus, und als der Seifert wieder die Kriegsgeschichten rausgekramt hat, wurden die Senioren auf die Zimmer gebracht. Otterle hakte sich mit einem »Hach, alte Leute sind schon eigen!« beim Lohmüller unter und lenkte ihn auf den Flur.
Unser Heim ist das zweite Unternehmen, das er übernimmt. Das erste hat er angeblich gegen die Wand gefahren, hat mir die Evelyn unter vorgehaltener Hand erzählt. Er hat vorher in Finnland eine Firma für Eis und Fertiggerichte geleitet. Aber Eis läuft wohl in Finnland net so gut. Das hätte ich ihm auch sagen können. Da ist doch neun Monate im Jahr Winter. (Da braucht man nicht für studieren, um das zu wissen.)
Na ja, und jetzt haben wir ihn an der Backe. Eigentlich sollte ja der andere Sohn vom Herrn Otterle senior – das ist unser alter Chef – das Heim übernehmen. Aber der musste ablehnen, weil er sich der Aufgabe nicht gewachsen fühlt. Deshalb hat der Otterle senior notgedrungen an den drei Jahre jüngeren Rüdiger übergeben, damit »die Firma« in der Familie bleibt. Ganz wohl war ihm bei der Sache auch nicht, schließlich hat er sich mit dem Rüdiger nie gut verstanden. Ich mag den Otterle senior gern. Bei dem hab ich damals meine Ausbildung gemacht, Ende der 90er. Eine Seele von Mensch, aber mittlerweile selbst schon pflegebedürftig. Ins Heim wollte der aber nie. Der hat eine Bosnierin, die ihn zu Hause pflegt. »Ein Platz im Seniorenheim isch viel zu teuer, Frau Bullatschek!«, hat er mal gesagt. Schwabe halt.
Jetzt sitzen wir also im Besprechungszimmer beim Meeting. Ich sitz nicht gern im Besprechungszimmer. Die Stühle sind schlecht gepolstert, und nach zehn Minuten tut einem der Hintern weh, als hätte man drei Stunden auf einem Gaul ohne Sattel gesessen. Aber unser Hintern sitzt nicht lang. Wir haben ja gar keine Zeit. Wir müssen gleich Essen verteilen.
Der ovale Holztisch ist riesig. Fast so riesig wie die Möbel, die man manchmal im Fernsehen sieht, wenn sich irgendwo die Politiker treffen und was aushecken. Nur, dass bei uns nicht der Scholz, der Lindner oder der Lauterbach am Tisch sitzen. Schade eigentlich. Die sollten mal zu uns kommen, denen würd ich was erzählen! Was in der Pflege so los ist und dass wir endlich mehr Unterstützung und mehr Leute brauchen und eine bessere Bezahlung, damit der Beruf attraktiver wird. Und dann sollten sie mal eine Woche mitlaufen und net immer bloß fünf Minuten irgendwo reinschneien. Politiker, die interessieren sich doch gar net für uns. Dafür sitzt bei uns am Tisch jetzt der Herr Otterle. Auch net besser.
Zuerst begrüßt uns der Otterle wie immer ganz förmlich, guckt auf seine teure Armbanduhr und versichert, dass es nicht lang dauern wird, weil wir ja alle viel zu tun hätten (WIR!!!).
Beim Erzählen läuft er immer auf und ab und fuchtelt bedeutsam mit den Händen. Meistens guckt er ins Leere, wenn er was erzählt. Oder auf das Bild mit dem Schwan, das neben der Tür hängt. Das hat vor Jahren mal ein Senior gemalt und mir gewidmet. Als er es mir übergeben hat, hat er gesagt: »Frau Bullatschek, Sie sind wie ein Schwan. So groß und stolz. Sie verteidigen alles, was Ihnen lieb ist, und sehen dabei so harmlos aus, aber wenn Ihnen jemand blöd kommt, kann es sein, dass Sie ganz schön fest zubeißen!«
Nur ganz selten schaut er einen direkt an. Also, der Herr Otterle, net der Schwan. Er erklärt uns, dass es aus marketingstrategischer Sicht besser ist, dem Heim einen neuen Namen zu geben. Damit die Leute draußen wissen, dass hier jetzt ein neuer Wind weht. Und aus diesem Grund hat er eine große Werbeagentur aus Stuttgart beauftragt. »Image ist heutzutage alles, es geht um die Außenwirkung!«
Wir schauen ihn erwartungsvoll an. »Ich find den Namen Seniorenresidenz Otterle eigentlich ganz schön«, murmle ich. »Schön vielleicht, Frau Bullatschek, aber nicht effektiv! Wir brauchen was, das Emotionen auslöst! Was Großes! Ich dachte an BLUESKY oder HEAVEN’S GATE!«
Da schaltet sich plötzlich Sascha ein, der neben mir sitzt und die ganze Zeit nur gelangweilt eine Papierserviette in Fetzen gerissen hat: »Heaven’s Gate war eine Sekte, die haben alle in den Neunzigern Selbstmord begangen!« Beim Wort »Selbstmord« guckt Otterle kurz irritiert auf den Schwan, und dann beginnt sein rechter Mundwinkel, unkontrolliert zu zucken. So als ob er lachen wollte, aber seine andere Gesichtshälfte gelähmt wäre.
Sascha weiß so was, der hängt die meiste Zeit am Tag im Internet. Er ist jetzt schon seit fünf Jahren bei uns. Angefangen hat er mal als Bufdi und wollte dann studieren, irgendwas mit Medien. Aber dazu ist es nie gekommen. Vielleicht auch ganz gut so. Er passt gar nicht ins Mediengeschäft mit seinen langen, zotteligen Rasta-Locken und seinen Armeehosen. Sascha trägt immer diese olivgrünen Armeehosen mit dem Tarnmuster. Dabei war er doch nie beim Bund. »Sybille, das sind die bequemsten Hosen, die du dir vorstellen kannst!«, hat er mal zu mir gesagt. »So eine sollte jeder im Schrank haben, total unempfindlich, da siehst du keinen Fleck drauf!« In dem Moment hab ich mir vorgestellt, wie es aussehen würde, wenn wir alle statt der weißen Hosen Armeehosen tragen würden. Und Jacken. Wenn schon, denn schon. Seifert wäre wahrscheinlich der Einzige, der das gut fände. Der ist auch der Einzige, der leuchtende Augen kriegt, wenn jemand vom Krieg erzählt. Der würde wahrscheinlich im Flur auf und ab marschieren und uns bei der Tablettenausgabe salutieren. Nein, keine Armeehosen. Auch wenn das mit den Flecken natürlich ein Argument ist. Ich frag mich immer, was für ein Idiot sich die Farbe Weiß für Pflegekleidung ausgedacht hat. Der hat entweder noch nie in der Pflege geschafft oder einen Deal mit der Waschmittel-Lobby.
Sascha ist mittlerweile eine Art Hausmeister bei uns im Heim. Immer wenn was kaputt ist, kommt Sascha und repariert es. Er arbeitet bei uns auf 450-Euro-Basis, ist aber fast immer vor Ort. Gut, den hält daheim nichts. Er wohnt in einer winzigen Wohnung, weil er es bei seinen Eltern nimmer ausgehalten hat. Sein Vater trinkt ä bissle zu viel und wird dann handgreiflich. Da ist Sascha ganz froh, wenn er bei uns gebraucht wird. Er hat sich neben dem Speisesaal die kleine Kammer ein bisschen hergerichtet. Da ist sein Werkzeug drin und ein großer Tisch mit seinem Computer, und da spielt er dann gern mal seine Ballerspiele. Die Senioren finden das spannend und gucken manchmal zu, wenn er wieder irgendwelche Aliens abmurkst. Besonders Herr Seifert, der alte Waffennarr. Der brüllt dann immer ganz laut: »Schieß doch! Schieeeeeß!«, was auch schon zu heller Aufregung bei den anderen Senioren geführt hat, die im Speisesaal nebenan beim Mittagessen saßen.
Otterle hat jetzt seine Fassung wieder.
»Aber ›Heaven‹ heißt ›Himmel‹«, fährt er unbeeindruckt fort. »Das ist doch was Schönes!«
Evelyn und ich gucken uns an und müssen lachen. Otterles Mundwinkel zuckt wieder gefährlich nervös. Diesmal gehen sogar die Augenbrauen mit nach oben, als wäre eine unsichtbare Schnur daran befestigt, an der jemand gerade gezogen hat wie bei einer Marionette. Otterle ist noch nicht lange bei uns im Heim, aber eines weiß ich mittlerweile: Wenn er was auf den Tod nicht ausstehen kann, dann, wenn jemand lacht und er net weiß, worüber.
Evelyn kriegt sich überhaupt nicht mehr ein und hält sich eine Hand vor den Mund, damit sie nicht laut losprusten muss. Wir kennen den Begriff »Heaven’s Gate« auch. Aber von woanders. Aus unserer Stammdisco, dem Starlight. Da gehen wir gerne mittwochs hin, wenn wir keinen Nachtdienst haben. Das Starlight liegt am Ortsausgang von Pfleidelsheim, direkt neben der Gärtnerei Scheuerle. Das ist auch gut so, die Blumen stört es nicht, wenn es mal ein bisschen lauter ist. Also zumindest hat sich noch keine Geranie beschwert …
Das Starlight ist ein umgebauter Schweinestall, sieht und riecht man aber nicht mehr. Da gibt’s mittwochs immer die »Rushhour mit den Knallerhits aus den 80ern und 90ern«. Und wenn wir keinen Nachtdienst beziehungsweise am nächsten Tag keinen Frühdienst haben, trinken wir da manchmal einen Cocktail oder auch zwei. Ich mag ja gern Hurricane oder irgendwas mit Batida de Coco. Und jetzt kommt’s: Die Evelyn trinkt immer »Heaven’s Gate«. Und so manches mal auch einen zu viel. Mittwochs ist immer »All you can drink«.
Die Evelyn und ich, wir verstehen uns super. Sie ist eigentlich meine beste Freundin. Gut, auch meine einzige. Evelyn hat vor fünf Jahren bei uns im Heim angefangen. Mehr aus Verzweiflung, weil sie mit ihrem abgebrochenen Medizinstudium nichts anderes gefunden hat. Das Studium hat sie auch nie richtig interessiert, zumindest war sie kaum an der Uni. Und dann ist sie auch noch schwanger geworden von ihrem damaligen Freund, den sie im Urlaub kennengelernt hat. Ihr Sohn, der Jan-Niklas, ist jetzt sechs. Den liebt sie heiß und innig, aber natürlich muss sie auch ab und zu abends mal raus. Dann passen ihre Eltern auf den Bub auf. Und dann heißt es: Sybille und Evelyn mischen das Starlight auf!
Otterle schaut mahnend zu Evelyn, die jetzt mit dem Kopf auf der Tischplatte liegt und hysterisch in sich reinkichert. Wahrscheinlich denkt sie gerade an letzten Mittwoch, als sie nach drei Heaven’s Gate so einem aufdringlichen Typen weisgemacht hat, dass sie Schauspielerin ist und in einer Soap mitspielt und dass das alles unglaublich anstrengend ist. Und der hat immer nur wichtig genickt und gesagt: »Ja, ja, das glaub ich, ich bin in der Immobilienbranche, hach, ein Stress ist das!« Da hab ich gesagt: »Und ich bin Altenpflegerin. Des isch auch sehr anstrengend.«
Dann hat er sich kurz zu mir gedreht und so komisch sein Gesicht verzogen und ganz abfällig gemeint: »Altenpflegerin. Aha. Alte Leute. Hm. Den ganzen Tag Hintern abwischen und dann zugucken, wie sie das Zeitliche segnen?«
Da sind die Sicherungen bei mir durchgebrannt. Ich liebe meine Senioren, und ich liebe meinen Job in der Pflege, auch wenn er nicht immer einfach ist und es einem keiner dankt, dass man sich auf gut Deutsch den Arsch aufreißt. Aber so was sagt keiner zu mir! Schon gar nicht so ein Möchtegernhäusleverkäufer. Ich hab ihn an seinem teuren Designerhemdkragen geschnappt und ganz dicht an mich rangezogen.
»Bürschle«, hab ich gesagt – na ja, ich hab’s gebrüllt, weil der DJ in dem Moment total laut »Born to be Alive« gespielt hat. »Bürschle«, sag ich, »wenn du so schnell net des Zeitliche segnen willscht, dann sieh zu, dass du Land gewinnscht!«
Gut, dass ich ihm den Rest von der Evelyn ihrem Heaven’s Gate über den Kopf gekippt habe, hätte vielleicht net sein müssen – aber ich war so in Rage. DJ Robin ist irgendwann dazwischengegangen und hat mich ä bissle beruhigt. Allerdings hat die Sache ein Nachspiel: Am nächsten Mittwoch hab ich Hausverbot im Starlight. Egal, ich hab eh Nachtdienst. Die Evelyn hat sich auf dem Heimweg gar nimmer eingekriegt. »Geil, Sybille! Sooo geil!« Und dann hat sie gelacht, so wie jetzt. Und wahrscheinlich dabei halb Pfleidelsheim aufgeweckt.
Otterle macht das Gekichere sichtlich nervös. »Frau Neumann, was ist denn so komisch? Wollen Sie uns vielleicht an Ihrem privaten Witz teilhaben lassen?«
Alle gucken jetzt auf Evelyn. Sascha wirft nur trocken ein: »Neuberger, nicht Neumann!« Aber Evelyn winkt nur ab und murmelt: »Tschuldigung!«
»Ich möchte bis zum nächsten Meeting Ergebnisse«, fährt Otterle fort und klopft mit seinem Kuli ungeduldig auf den Tisch. »Wir sind eine Business Company im Health-and-Care-Sektor, da hat jeder ein Mitspracherecht. Das bedeutet für Sie«, fährt er eifrig fort, »dass Sie mir alle einen neuen Namen für unser Heim präsentieren dürfen!«
Die Begeisterung hält sich bei uns Pflegekräften in Grenzen. Schließlich haben wir tausend wichtigere Sachen zu tun, als uns irgendeinen neumodischen Namen für unseren Arbeitsplatz auszudenken. Otterle scheint das zu merken und macht schnell ein Angebot: »Die Pflegekraft, deren Name genommen wird, bekommt einen Preis!«
Triumphierend blickt er in unsere demotivierten Gesichter. Nach ein paar Sekunden Stille fragt Evelyn schließlich das, was uns alle interessiert: »Und was ist der Preis?«
Otterle lacht. »Oh, da möchte ich nicht zu viel verraten, aber es hat mit einem fernen Land zu tun!« Ein Raunen geht durch den Besprechungsraum. Irgendjemand ruft: »Eine Reise?«
Otterle zieht nur vielsagend seine Augenbrauen hoch. »Ihre Vorschläge hätte ich gern bis morgen 17 Uhr in einem verschlossenen Kuvert. Beim nächsten Mal werde ich dann den Sieger verkünden! Ach und …« Dann wendet er sich an mich: »Frau Bullerbü, sagen Sie bitte auch den anderen Pflegekräften Bescheid, die heute nicht da sind – jeder soll mitmachen.«
»Bullatschek! Ich heiße Bullatschek!! Sybille Bullatschek!« Doch das hört Otterle schon gar nicht mehr. Er klappt zufrieden sein ledergebundenes Notizbuch zu, schiebt den Stuhl an den Tisch, schnappt sich seinen Laptop und verabschiedet sich mit einem kurzen: »Meeting beendet! An die Arbeit! Volle Pflegekraft voraus!« Und dann lacht er wieder so blöd. So ein Lachen, das er bestimmt auf der London Business School gelernt hat. So würde ich nie lachen, so künstlich. Ich lache, wenn’s witzig ist, oder ich lasse es. Es gibt viele Momente zum Lachen in der Pflege. Aber die kennt der Otterle halt nicht.
Und der Satz, über den er sich gerade so amüsiert, der ist außerdem gar net von ihm. Ein Aufkleber mit dem Spruch »Volle Pflägekraft voraus« mit »ä« klebt auf meinem Spind und einer auf dem Spiegel in der Personaltoilette. Den hat er vor ein paar Tagen gesehen und mich prompt angesprochen: »Was soll das denn? Es heißt ›Pflege‹, nicht ›Pfläge‹!« Typisch! Aber woher soll er’s wissen. Wir sagen »Pfläge«, schließlich sind wir in Schwaben. Wir sagen ja auch »Spätzle« und net »Spetzle«.
Falsch ist das, wenn der Otterle diesen Satz sagt. Dann klingt das so »Ich-bin-auch-einer-von-ihnen«-mäßig. Nein. Er ist keiner von uns. Er kennt uns überhaupt net.
***
Eine Reise? Eine Reise!
Ehe man sich verguckt, hat Otterle wie ein Phantom den Raum verlassen. Da wir zum Essenausteilen schon wahnsinnig spät dran sind, rennen Evelyn und ich gemeinsam die Treppe hoch in unseren Wohnbereich.
Evelyn und ich arbeiten beide in Südcorega. Zusammen mit Ute, Claudia, Cat, Steffi, Elke und Milena und Beate. Natürlich sind nie alle auf einmal da, und jeder hat seine Favoriten, mit denen er am liebsten zusammenarbeitet (auf Beate könnte ich zum Beispiel sehr gut verzichten).
Eigentlich heißt es auch nicht Südcorega, sondern Wohnbereich 1. Abgekürzt WB1. Aber wir sagen immer Südcorega. Wir sind auf der Südseite vom Gebäude – da wo mittags immer die Sonne rein knallt. Im Sommer ist es manchmal unerträglich. Dann laufen allein im Fernsehzimmer drei Ventilatoren, die so laut surren, dass man kaum versteht, was im Fernsehen gesagt wird. Und dann drehen die Senioren den Fernseher noch lauter, sodass man teilweise sogar in Nordcorega hören kann, was in Südcorega geguckt wird, und im Nachbarort wahrscheinlich auch. Alles in allem sind die Bewohner bei uns in Südcorega um einiges fitter als die in Nordcorega.
Oben angekommen, bleibt Evelyn plötzlich unvermittelt stehen und fragt völlig außer Atem: »Und? Schon ’ne Idee?«
»Essen austeilen!«, sag ich knapp. Aber sie wehrt bloß ab und meint: »Nein, wegen dem Namen!«
Alles, was mir einfällt, ist: »Ach, der spinnt doch!«
Evelyn sieht das ein bisschen anders. »Also ich mach mit! Ich will die Reise!!«, und ihre Augen beginnen zu funkeln.
Ich kann sie ja verstehen, das Geld reicht bei ihr hinten und vorne net, und da wäre so eine Reise bestimmt wie ein Lottogewinn für sie und den Jan-Niklas.
Mir ist es nicht so wichtig. Ich bin gern daheim, auch wenn ich Urlaub habe. Dann mach ichs mir mit einem spannenden Krimi oder einem Liebesroman auf meinem Balkon gemütlich, trink abends einen Batida de Coco und guck mir »Harry und Sally« oder irgendeinen anderen Film mit Meg Ryan an. Mich hat’s noch nie raus in die weite Welt gezogen. Liegt vielleicht daran, dass ich mal mit 14 beim Schüleraustausch in Frankreich war. Blöderweise hatten wir aber gar kein Französisch in der Schule. Aber die 8c, die ursprünglich fahren sollte, hatte so ein Magen-Darm-Virus erwischt, und dann haben sie einfach uns geschickt. Das war ein einziger Horrortrip. Die Familie hat kein Wort Deutsch gesprochen, und nach einer Woche hab ich mir einen Wirbel ausgerenkt, weil ich pantomimisch darstellen wollte, dass die Toilette verstopft ist.
Dann hat mich der Bus auf dem Rückweg noch an der Autobahnraststätte vergessen, weil ich zu lang auf dem Klo war. Die Klasse hat es erst gemerkt, als sie auf dem Parkplatz vor der Schule ihr Gepäck ausgeladen haben und noch ein Koffer übrig war. Mein Vater musste dann vier Stunden fahren, um mich abzuholen. Entsprechend gut war seine Laune, als er ankam. Auf der Rückfahrt hat er kein Wort gesprochen. Mir war eh nicht nach einem Gespräch zumute. Ich hatte in den vier Stunden Wartezeit sechs große Fanta getrunken und fünf Schokoriegel gegessen, und mir war speiübel. Ich war schon froh, dass ich in einer scharfen Rechtskurve meinem Vater nicht auf den Schoß gekotzt hab.
Mein Reisefieber hält sich seither in Grenzen.
Milena hat den Essenswagen schon aus dem Fahrstuhl geholt. Mit einem vorwurfsvollen »Wo wart ihr denn so lange?« mit ihrem typischen polnischen Akzent kommt sie uns mit einem Tablett entgegen. Auf dem Teller dampfen Kartoffelbrei mit Hackfleischsoße und passiertes Gemüse. Na ja – es dampft nur noch ä bissle. Der Weg von der Küche ist halt net gerade kurz, und es gibt viel zu tun. Da müssen die Teller manchmal warten. Die Küche gibt alles, damit auch eine zusammengemanschte Pampe nicht aussieht, als wäre jemand mit dem Bagger drübergefahren. Frau Berthold hat auf dem Kartoffelpüree noch liebevoll etwas Petersilie drapiert. Das ist der Teller von Frau Bongartz, des sehe ich sofort. Die hat momentan wieder Probleme beim Kauen. Ihre Dritten hat sie jetzt zum wiederholten Mal irgendwo im Heim verloren. Bisher sind sie immer wiederaufgetaucht, mal im Regal im Bücherzimmer, mal in der Ritze vom roten Sessel im Fernsehzimmer, und einmal sogar in der Wäscherei, weil sie sie einfach in ihre Blusentasche gesteckt hat und es nicht gemerkt hat, als die Bluse in die Wäsche kam. Aber auch nach 40 Grad mit Schleudergang sahen die Beißerle noch erstaunlich gut aus. Nur, wie gesagt, momentan sind die Zähne mal wieder verschollen, und so lange kriegt Frau Bongartz passierte Kost.
Ich hab heute morgen überall im Heim Plakate aufgehängt: Oben steht WANTED! GESUCHT!, drunter ist ein Foto von Frau Bongartz’ Gebiss abgebildet und wann es zuletzt gesehen wurde. Solche Plakate sieht man ja öfter an Bäumen, wenn jemand seinen Hund oder seine Katze vermisst. Warum soll es dann nicht auch mit dritten Zähnen funktionieren, hab ich mir gedacht.
Bisher hat noch niemand angebissen – im wahrsten Sinne des Wortes – und einen Zettel mit meiner Durchwahl abgerissen. Vielleicht hat das Gebiss auch wirklich keiner gesehen. Schade, ich hätte mir auch eine schöne Belohnung überlegt.
Ich schnappe mir ein Tablett und renne ins nächste Zimmer. Manche Senioren essen gern im Zimmer, die stört das viele Geschwätz im Speisesaal. Oder sie können halt nicht raus aus ihrem Bett. Manche essen allein, denen muss man nur beim Kleinschneiden helfen, anderen muss man ihr Essen anreichen. Und loben, gerade die, die net wirklich essen wollen. Immer wieder loben. Und wenn sie ihren Brei oder ihre Suppe dann schaffen, dann ist man ä bissle stolz. So, als hätte man es selbst gegessen. Und dann freuen die sich auch, weil man sich selbst so freut. Es gibt auch einen internen Wettbewerb bei uns. Wer es schafft, dass der Herr Maurer sein Mittagessen isst (und es auch drin behält), darf sich im Aufenthaltsraum ein Toffifee nehmen.
Aber so ist es halt mit den Senioren und Senioras. Manche essen manierlich, andere spucken dir die Soße auf den Kittel. Senioras schreib ich, weil Senioren bei uns nur die Männer sind. Die Frauen sind Senioras, also die über 80, und die drunter sind die Senioritas. Wir haben das irgendwann mal eingeführt, weil es schöner klingt.
Ich guck aufs Namensschild vom nächsten Tablett. Friedhelm Seifert steht drauf. Oha. An Seiferts Zimmertür klebt ein pinkfarbener Zettel: »Achtung! Seifert spinnt heute wieder! Lieber zu zweit reingehen! Ute.«
Ins Zimmer vom Herr Seifert geht niemand gern. Der Seifert ist ein Tyrann. Deshalb schnapp auch ich mir sein Tablett, weil ich genau weiß, dass die Evelyn regelmäßig einen halben Nervenzusammenbruch hat, wenn sie aus dem Zimmer kommt, und Milena aus Angst schon gar nicht reingeht. Der Seifert hat eine Boshaftigkeit am Leib, die sich gewaschen hat. Da braucht man ein dickes Fell. Er muss im Zimmer essen, weil er sich im Speisesaal nicht benehmen kann. Sein Zwei-Zimmer-Appartement bezahlt sein Sohn, der hat ihn auch ins Heim gebracht, weil er daheim einfach nicht mehr mit ihm zurechtgekommen ist.
Ich hab keine Angst vorm Seifert. Trotzdem klopf ich vorsichtig an, bevor ich sein Zimmer betrete. Keine Antwort. Ich öffne schwungvoll die Tür. Als ich reinkomme, trifft mich fast der Schlag: Seifert hat wohl wieder seinen Chaos-Tag. Überall fliegen alte Zeitungen rum, teilweise sind Bilder rausgerissen. Socken, Teetassen, zerfledderte Taschentücher, alles auf dem Boden verteilt. Aus seinem kleinen Radio, was auf der Fensterbank steht, dröhnt laute Marschmusik. Seifert sitzt aufrecht in seinem Bett, seine Augen sind geschlossen. Er trägt immer noch seinen blau gestreiften Schlafanzug, weil er sich heute morgen wohl mal wieder geweigert hat, sich anzuziehen. Ich mache Platz auf dem völlig zugemüllten Tisch und stelle laut polternd mein Tablett ab. »Mittagessen!«, brüll ich gegen die Marschmusik an. Dann find ich endlich den Knopf, um das Radio leise zu drehen.
Seifert schreckt aus seinem Bett hoch und brüllt: »Keine Bewegung«, eine unsichtbare Waffe auf mich gerichtet.
»Ich bin’s doch, die Sybille!« Er lässt langsam die nicht vorhandene Knarre zu Boden sinken. »Können Sie nicht anklopfen, Sie Trampel?«, fährt er mich an. »Sie sind wie ein großer Elefant! Wie ein dicker großer Elefant! Nur nicht so hübsch!« Ich mach einmal kurz »Törööööö« wie Benjamin Blümchen und schneide ihm erst eine Grimasse und dann sein Schnitzel. »Der Elefant hat ihnen was zu essen gebracht!«, sage ich und versuche, ihn anzulächeln.
»Ich will Ihren widerlichen Fraß nicht, den können Sie sich sonst wohin stecken!«
Das bin ich schon gewohnt. Seifert will offiziell nie was von dem Essen. Er sagt immer, selbst im Krieg hätte das bisschen Essen, was sie hatten, noch besser geschmeckt als das, was wir im Heim servieren. Und im Krieg hätte er sogar einmal einen ganzen Pappkarton gegessen. Ich weiß aber, dass er wie ein hungriger Tiger über den Teller herfallen wird, sobald ich das Zimmer verlassen habe. Schnell versuche ich noch mit drei Handgriffen, ein bisschen Ordnung zu schaffen.
»Lassen Sie Ihre verdammten Finger von meinen Sachen, sonst sag ich der Heimleitung, dass Sie klauen, und dann kriegen Sie eine Abmahnung.«
»Jaja!«, besänftige ich ihn und sammle unbeeindruckt ein paar Zeitschriftenschnipsel vom Fußboden auf. »Wollen Sie heute Mittag mal zum Singkreis gehen?«, frag ich noch, bevor ich das Zimmer wieder verlasse.
Die Waltraud vom Singkreis hat angeboten, dass sie ihm noch eine Chance geben will. Sie ist vom örtlichen Musikverein und kommt immer dienstags, um den Senioren ein bisschen Abwechslung zu bieten. Eigentlich will den Seifert keiner mehr dabeihaben, weil er mit allem und jedem Streit anfängt und man sicher sein kann, dass er irgendjemanden beleidigt oder sogar handgreiflich wird. Beim letzten Mal hat er die Waltraud angespuckt.
»Zum Teufel mit dem Singkreis! Ich hab keine Lust, mit diesen alten gebrechlichen Affen blöde Volkslieder zu singen!«, schreit mich der aggressive Senior an. Seine Augen funkeln gefährlich. Ich schließe die Tür von außen und atme tief durch. Irgendwas fliegt polternd von innen dagegen. Seifert halt.
Als ich kurze Zeit später zur Mittagspause in den Aufenthaltsraum komme, ist das Hauptthema immer noch das Meeting von Otterle. »… oder Zum Silberblick«, sagt Elke, und alle lachen. Die Namensdiskussion ist offensichtlich in vollem Gange.
Ich nehme mir einen Kaffee und setze mich dazu.
»Also, ich würde gern nach Paris, wenn ich die Reise gewinne, da soll es so schön sein!«, ruft Evelyn und kriegt ihren verklärten Blick. Schlagartig kommt mir wieder die Klassenfahrt nach Frankreich in den Kopf. Wie der Jean-Claude, der Vater von der komischen Familie, mir damals erklärt hat, was ich gerade gegessen habe. Quak, Quak, hat er immer gemacht. Quak. Und ich sage: »Ah, Ente!« Und hab mit meinen Armen einen schwimmenden Vogel nachgemacht.
»Non!«, hat er daraufhin gesagt und gelacht. Und dann hat er mir ein Bild von einem Frosch gezeigt. Mich würgt es jetzt noch, wenn ich dran denke.
»Italien«, sagt Sascha jetzt. »Italien wär cool.«
»New York!«, ruft Steffi.
»Und wer macht dann euren Dienscht, wenn ihr weg seid?«, frag ich, als kurz Ruhe ist, und komme mir vor wie ein Spielverderber.
»Na, der Otterle!«, brüllt Sascha. Schallendes Gelächter bricht aus. Der Otterle in Seiferts Zimmer. Da würde ich gern Mäuschen spielen.
Milena sitzt in der Ecke und hat bisher noch gar nichts gesagt. Sie rutscht unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, hält in der rechten Hand ihren Früchtetee und guckt wie ein Häschen auf der Landstraße, dem gerade ein 7,5-Tonner entgegenbrettert.
»Aber, was ist, wenn man niemanden darf mitnehmen und muss alleine fahren?«
»Was soll schon sein?«, fragt Sascha und zuckt mit den Schultern. »Dann fährt man halt allein. Wird ja nicht für vier Wochen sein!« Wieder erntet er Gelächter.
»Um Gottes willen! Um Gottes willen!«, ruft Milena. »Was da alles passieren kann! Vielleicht du wirst entführt, oder Flugzeug stürzt ab! Um Gottes willen!«
Erst jetzt fällt mir auf, dass Milenas Hände zittern und es ihr nur beim Gedanken an eine Reise allein schon kalt den Rücken runterläuft. Milena ist sehr speziell. Sie ist 28 und kommt aus Polen. Sie hat Pflege in Warschau studiert und ist seit vier Jahren bei uns. Milena würde wahrscheinlich nie allein irgendwo hinfahren. Ihr Lebensmotto: Die Welt ist böse, und überall droht einem Gefahr. Für sie ist es schon schlimm genug, dass sie momentan so weit weg von ihrer großen Familie ist. Meistens macht sie Früh- oder Spätdienst, weil sie nachts mit ihrer Paranoia das ganze Heim in Aufruhr versetzt.
Einmal hat sie, als sie Nachtdienst hatte, irgendwo ein Geräusch gehört und sich dann auf der Toilette eingeschlossen.
Und bei mir klingelt dann nachts um drei des Telefon und eine heulende Milena erzählt mir starr vor Angst, dass Einbrecher im Heim sind und was sie denn nun machen soll. Am Anfang hab ich noch Witze gemacht und gesagt: »Gib ihnen den Seifert mit, dann isch Ruhe!« Aber das konnte sie auch net beruhigen. Ich hab dann den Peter Spielmann von der Polizei angerufen. Mit drei Streifenwagen sind die angerauscht und haben des ganze Heim auf den Kopf gestellt. Und dann war’s bloß eine dicke Katze, die versucht hat, sich durch das halb offene Flurfenster ins Heim zu schleichen, dann aber weder vor noch zurück konnte.
Und selbst das hat Milena nicht beruhigen können, denn schwarze Katzen, die nachts ins Haus eindringen, bringen Unglück, hat sie gesagt. Alte polnische Weisheit oder so. Und als dann am nächsten Tag in Nordcorega ein Senior einen Herzinfarkt hatte und nicht mehr zu retten war, da hat sie sich vor mir aufgebaut und gesagt: »Siehst du, Sybille! Ich hatte recht! Katze hat Mann getötet!«
»Ich mache nicht mit bei dieser Sache«, sagt Milena schließlich. »Mir ist es egal, wie unser Heim heißt, Hauptsache, ich habe Arbeit.« Aber ihr Satz geht im Stimmengewirr völlig unter. Länder- und Städtenamen werden weiter wild in die Runde geworfen.
Schließlich mischt sich noch Steffi, unsere Auszubildende, ein. Sie wirft ihren blonden Pferdeschwanz energisch zurück und verkündet, dass sie sich professionelle Hilfe von außen holt. »Mein Freund Fabian macht gerade ein Praktikum in ’ner total hippen Agentur, der weiß bestimmt was! Und dann fahr ich nach New York zum Shoppen!«
Ute rollt mit den Augen. Wir gucken uns an. War ja klar, dass Steffi zum Shoppen will. »Handy-Steffi«, wie sie von uns heimlich genannt wird, hat im letzten Sommer eine Ausbildung bei uns angefangen. Eigentlich wartet sie aber darauf, als Model entdeckt zu werden. Ganz viele Leute hätten ihr schon gesagt, sie wäre die neue Schiffer. Keine Ahnung, wer die alte Schiffer ist, aber wenn die sich auch so dämlich angestellt hat, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass sie es weit gebracht hat.
Steffi ist eine Notlösung. Wir brauchen dringend neue Pflegekräfte, und ihre Bewerbung war die einzige. Ich frag mich bis heute, ob die sich per WhatsApp beworben hat, denn Nachrichten auf WhatsApp zu tippen, scheint alles zu sein, was sie kann und was sie auch den ganzen Tag macht. Ach, und Instagram natürlich. Stündlich. Minütlich. Immer. Und bei den Senioren rumsitzen und ihnen irgendwelche Geschichten von Stars und Influencern erzählen, die sie sowieso net kennen. Steffi kommt net aus Schaffhausen, wie man bei uns zu jemandem sagt, der auf gut Deutsch eine faule Socke ist.
Wenn es was zu tun gibt, kann man davon ausgehen, dass von Steffi weit und breit keine Spur ist. Dann hockt sie beim Sascha im Kämmerle und schaut ihm zu, wie er World of Warcraft spielt, oder sie tippt auf ihrem Handy rum.
World of Warcraft. Was für ein blödes Spiel. Ein Spiel, das man mal erfinden könnte, wäre doch »World of Pflägekraft«! Da muss man dann immer mit einer Schnabeltasse navigieren und die Rentner ins Bett bringen. Und die Aufgabe ist, möglichst viele Rentner in einer Minute zu schaffen. Das wäre doch mal praxisnah.
Mein Blick gleitet zur großen Uhr über der Tür. Zehn vor. Ich klatsch kurz in die Hände und sag aufmunternd zu meinem Team: »So, Leute! Wir müssen wieder! Endspurt! Volle Pflägekraft voraus!« Und dann stelle ich mich vor den großen Holztisch und äffe den Gang von Otterle nach. »Wir sind doch eine Business Dings im Hell-und-Care-Sektor«, sage ich und zucke kurz mit dem Mundwinkel. Und dann lache ich albern.
Aber keiner lacht mit. Stattdessen starren alle auf irgendwas hinter mir. Als ich mich umdrehe, sehe ich Otterle im Türrahmen stehen. Er hat die Arme vor dem Körper verschränkt und mustert mich mit zusammengekniffenen Augen von oben bis unten.
Es ist mucksmäuschenstill. Otterle räuspert sich schließlich und sagt nur süffisant lächelnd: »Company, Frau Bullatschek. Company. Nicht Dings. Aber Ihr Englisch scheint ja nicht so ausgeprägt zu sein wie Ihre komödiantischen Fähigkeiten.« Rumms. Das hat gesessen. Wenn ich rot anlaufen könnte, hätte mein Gesicht jetzt die Farbe von einer reifen spanischen Tomate.
»Bevor Sie nachher Schluss machen, würde ich Sie gern noch in meinem Büro sehen.« Und dann verlässt er zügig den Raum. Die anderen Pflegekräfte stehen hektisch auf, Sascha geht mit einem »Oh, oh« im Teletubbie-Stil an mir vorbei.
Evelyn packt mich kameradschaftlich an der Schulter und flüstert nur: »Scheiß drauf!«
Alle stellen brav ihre Tassen in die Spüle. Beate rauscht mit einer Zigarette und einem Feuerzeug in der Hand an mir vorbei und nuschelt: »Los, fangt schon an, ich komm gleich!«
***
Denk nach, Sybille! Denk nach!
Es ist erst das zweite Mal, seit er angefangen hat, dass ich in Otterles Büro bin. Beim ersten Mal war die Stimmung irgendwie positiver. Da hat Otterle alle Pflegekräfte in sein Büro gebeten, und jeder hat ein Glas Sekt gekriegt. Und dann haben wir auf eine gute Zusammenarbeit angestoßen.
»Das macht man so in großen Unternehmen«, hat er gesagt. Gut, vielleicht war es ein Fehler, den Sekt vor Dienstbeginn zu trinken. Evelyn und ich hatten beide Spät und haben uns, weil’s so gut geschmeckt hat, noch ein zweites Glas genehmigt. Evelyn hat sich das von der Milena geschnappt, die trinkt ja keinen Alkohol. »Alkohol macht hemmungslos«, sagt sie immer. »Du trinkst zwei Schlucke, und dann bist du nicht mehr du selbst, weil der Teufel in dich fährt!«
Evelyn und ich waren ziemlich beschwingt. Ich möchte nicht sagen, dass wir die Lage am Nachmittag nicht mehr unter Kontrolle gehabt hätten, aber es gab schon einfachere Schichten.
Heute gibt es keinen Sekt. Otterle lässt mich zehn Minuten warten, bis er schließlich aufkreuzt. Als das Büro noch dem Otterle senior gehört hat, hat es mir besser gefallen. Da stand so ein dicker, schwerer Eichentisch drin und ein großer Gummibaum. Und hinten an der Wand hing ein bunter Kalender, in dem alle Geburtstage der Bewohner und des Pflegepersonals vermerkt waren. Und wenn man Geburtstag hatte, hat man immer ein Blümchen und was Süßes gekriegt. Das war eine schöne Zeit. Damals war ich oft im Büro. Manchmal haben wir einfach nur geplaudert, der Otterle senior und ich.
Jetzt steht da ein weißer Ikea-Tisch, und überhaupt ist alles ganz hell. Auf dem Tisch liegen Pflegezeitschriften und eine Zeitung, die Der Manager heißt. Vorne drauf ist ein schicker Endvierziger mit sonnengegerbter Haut und blauen Augen im Anzug abgebildet.
»Sören Smalgard« steht drunter. »Manager des Jahres.« Und dann steht da noch »Top-Gehälter im Überblick«, »Verdienen Sie genug?«, »Wie Sie die 500.000-Euro-Grenze knacken«.
Als ich gerade einen Blick reinwerfen will, geht die Tür auf.
»Ah, da ist ja unsere Unruhestifterin!«, begrüßt mich Otterle. Er lässt sich in seinen Ledersessel plumpsen und guckt mich herausfordernd an. »Frau Bullatschek, wie lange arbeiten Sie jetzt hier?«
»Zwölf Jahre«, sage ich wahrheitsgemäß.
»Zwölf Jahre«, wiederholt Otterle. »Und Sie wollen doch auch noch ein bisschen bleiben, stimmt’s?«
Ich merke, wie ich unruhig werde. »Klar, das ist mein Traumjob! Auch wenn ich keine 500.000 Euro verdiene«, sag ich mit Blick auf die Zeitung.
Otterle räuspert sich. »Dann leg ich Ihnen nahe, dass Sie sich vielleicht mehr auf Ihre Arbeit konzentrieren und nicht immer den Kasper machen. Wir sind schließlich eine Business Company hier und keine Comedyshow.«
Manchmal schon, denk ich bei mir, halte aber den Mund. »Da Sie ja heute so kreativ waren im Aufenthaltsraum, erwarte ich mir von Ihrem Namensvorschlag Großes. Abgabe ist morgen 17 Uhr. Aber das wissen Sie ja.«
Ich will schon aufstehen, da fährt er fort: »Ach, und noch was, Frau Bullatschek. Nur weil mein Vater Sie ständig protegiert hat, heißt das nicht, dass ich das auch tue. Sie sollten sich vorsehen. Hier weht jetzt ein anderer Wind.«
Ich nicke kurz und stehe dann kurzerhand auf. »War’s das?«, frage ich ein bisschen frech. »Ich würde jetzt gern Feierabend machen.«
»Nur zu, nur zu«, knurrt Otterle und widmet sich seinem Computer.
Evelyn wartet unten am Tor auf mich. Ich bin mit Fahren dran und muss sie noch bei der Nachmittagsbetreuung rumfahren, wo sie Jan-Niklas abholt. Als wir in meinem Fiesta sitzen, bricht es aus ihr raus.
»Und?«, fragt sie erwartungsvoll. »Was hat er gesagt?«
»Ich wäre kompetenter als er und deshalb soll ich jetzt das Heim übernehmen.«
Evelyn guckt für einen kurzen Moment, als hätte sie es geglaubt. Dann lacht sie, und ich stimme mit ein.
»Nee, aufgeplustert wie ein Gockel hat er sich … Was sonst?«
»Ach, schade, dass unser alter Otterle nicht mehr da ist, was?«
»Allerdings!«
Wir stoßen einen gemeinsamen Seufzer aus. Ich lasse Evelyn am evangelischen Kindergarten raus und winke noch kurz, bevor ich davondüse. Die drohenden Worte von Otterle gehen mir nicht aus dem Kopf: »Ich erwarte Großes von Ihrem Namensvorschlag!« Großes! Pah! Dabei will ich die blöde Reise doch gar net! Trotzdem muss ich mir was ausdenken. Die Ermahnung heute hat den Ernst der Lage gezeigt.
Ich fahre noch kurz beim Supermarkt vorbei und kaufe mir ein paar Erdnusskräcker, eine Packung Schokokekse, Brausebonbons, Kartoffelchips und eine Maxi-Tüte Gummibärchen. Wenn ich nachdenken soll, muss ich knabbern.
Den ganzen Abend sitze ich auf meiner Couch und starre an die Wand. Seniorenresidenz Abendwind. Nee.
Spätzünder. Nee.
Waldfriede. Nee, klingt nach Friedhof.
Dämmergarten. Nee.
Mir fällt und fällt nichts ein. Auch nach dem zehnten Schokokeks und dem 82. Gummmibärchen ist in meinem Kopf nur Leere – im Gegensatz zu meinem Bauch.
Dann kommt mir die Idee: Ich mache einfach mal meinen Computer an. Vielleicht weiß Google ja was. Der Herr Google weiß doch sonst immer alles. Das ist doch so ein »Gscheiterle«, wie man bei uns sagt. Aber auch der spuckt bloß den üblichen Mist aus.
Dann schweife ich ab. Ich logge mich kurz bei »Pflegeliebe.de« ein, nur um zu gucken, ob ich eine neue Nachricht habe. Auf dem Monitor erscheint der gleiche Schriftzug wie immer: »Besucher Ihres Profils in den letzten 24 Stunden: null.«
Ich bin frustriert. Was mache ich falsch, dass die anderen Pflegerinnen so viele Zugriffe haben und ich keinen? Ich klicke mich durch die Profile meiner Mitbewerberinnen.
Sabrina, 29, ist eine blonde Krankenschwester mit Haaren bis zum Arsch.
»Hübsch, so ein Rapunzel-Typ«, denk ich. Bei der ist jede Menge los auf der Seite. Gegen die komm ich eh net an. Dann klicke ich ein weiteres Profil an. Das abgebildete Mädchen mit den braunen kurzen Haaren sieht bei Weitem nicht so gut aus wie ich. Viel dicker. Viel. Und eine extrem große Nase. Trotzdem 28 Zugriffe. Ich scrolle nach unten. Was hat die denn für Hobbys?
»Ich mag Pferde«, steht da. Gut, das kann ich net schreiben, ich hab ein gespaltenes Verhältnis zu Gäulen, seit ich als Kind mal von einem Pony gefallen bin. »Und spiele in meiner Freizeit Badminton.« Oje. Ich kann nicht mal einen Medizinball fangen. »Außerdem bin ich total romantisch. Ich liebe Sonnenuntergänge«, steht da.
Sonnenuntergänge. Hm. Sind jetzt auch net so meine Spezialität. Ich denke immer: Wenn sie weg ist, ist sie weg, die Sonne. Morgen kommt sie doch wieder. Warum machen manche Leute da so eine Welle? Gebannt lese ich weiter und sehe die Antworten der Männer. Zwölf gefällt das. Acht haben ihr im Kommentarfeld ein Bild mit einem Sonnenuntergang angehängt.
Und wie ich noch so nachdenke, warum Männer so gern Frauen mögen, die Sonnenuntergänge mögen, kommt mir DIE Idee.
SONNENUNTERGANG!!!
Das ist es! Die Lösung! Haus Sonnenuntergang muss unser Heim heißen. Wenn so viele Leute das gut finden, dann kann es doch nicht verkehrt sein.
Ich logge mich aus und gehe beschwingt Zähne putzen. Bevor ich mich ins Bett lege, kritzle ich noch fünfmal auf meinen Notizblock: Sonnenuntergang. Haus Sonnenuntergang.
Dann reiße ich einen Zettel ab, schreib den Namen in Großbuchstaben drauf, pack ihn in einen Umschlag und klebe ihn zu. Eat this, Herr Otterle!
Besprechungszimmer, 10.00 Uhr, eine Woche später
Es herrscht Unruhe im Raum. Diesmal sind noch mehr Pflegekräfte da als in der Woche davor. Die Stühle reichen nicht für alle, deshalb stehen Sascha, Steffi und noch ein paar andere an der Wand neben dem Bild mit dem Schwan. Ich bin früh genug gekommen und habe mir einen Sitzplatz gesichert. Eigentlich habe ich heute Spätdienst und bin nur wegen der Bekanntgabe des neuen Namens schon da. Und weil Otterle gesagt hat, dass Anwesenheitspflicht ist. Letzte Woche hab ich noch stolz kurz vor Ablauf der Frist den Umschlag mit meinem Vorschlag in die Pappbox vor Otterles Büro geworfen.
Alle sind in großer Erwartungshaltung. Immer noch fallen Urlaubsziele, zu denen der potenzielle Gewinner reisen will. Steffi hat Muffins gebacken mit amerikanischen Flaggen drauf und sogar schon einen Reiseführer von New York mitgebracht, den sie wahrscheinlich stolz rumgehen lassen will, wenn es sie trifft. Sie gibt sich siegessicher: »Ich bring euch allen was mit vom Big Apple!«
Ich hab mir noch gar keine Gedanken gemacht, wo ich überhaupt hinwill. Vielleicht mal nach Prag, da war ich erst einmal, und da hat es geregnet. Aber fliegen will ich nicht.
Gegen 10.10 Uhr betritt Otterle mit einem riesigen Paket den Raum. Er zieht sein Jackett aus und schlägt mit einem Kugelschreiber gegen eine Kaffeetasse, was so viel heißen soll wie »Ruhe jetzt!« – und es klappt. Keiner sagt mehr ein Wort.
»Sehr geehrte Pflegekräfte«, setzt er an. »Wie Sie wissen, ist heute ein großer Tag für uns alle, denn unser schönes Heim soll einen neuen Namen bekommen!«
Ein kleiner Applaus, von Otterle angeklatscht, brandet auf. »Die Wahl ist uns sehr schwergefallen! Ich habe letzte Woche die Box mit allen Zetteln nach Stuttgart zu den Herren von der Werbeagentur mitgenommen, und in einem gemeinschaftlichen Auswahlverfahren haben wir letztendlich den Gewinnernamen ermittelt. Der Name, der gewählt wurde, wird jetzt unser Seniorenheim repräsentieren. Er taucht in Anzeigen und auf Briefpapier auf, auf dem Geschirr, auf T-Shirts und auf großen Werbeplakaten, die überall in der Gegend hängen werden. Und natürlich wird er in großen Leuchtbuchstaben über unserem Heim prangen! Schon heute Mittag wird der Name an der Außenfassade befestigt. Und ich habe hier in dieser Mappe von einem Kurierdienst die ersten Werbematerialen geschickt bekommen.«
Otterle packt umständlich das große Paket aus. Steffi beugt sich neugierig vor, damit sie ja nichts verpasst. Evelyn beißt sich nervös auf die Unterlippe.
»Ich werde jetzt den Namen bekanntgeben! Vielleicht können Sie eine Art Trommelwirbel machen?« Alle Pflegekräfte trampeln jetzt mit den Füßen auf den Boden und stimmen in ein gemeinsames Ooooooooooooh ein, was klingt, als würde ein Indianerstamm seinen neuen Häuptling begrüßen. Otterle reißt das fest zugeklebte Papier weg und legt bedeutungsschwanger eine DIN-A3-Pappe mit der Vorderseite auf den Tisch. Dann gibt er uns Zeichen, den Trommelwirbel abzubrechen.
Langsam hebt er die Pappe vom Tisch, sodass er sie zuerst sehen kann. Mit einem freudigen »Das ist unser neuer Name!« starrt er plötzlich fassungslos auf die Pappe und stammelt: »HAUSSONNENUNTERGANG …«
Dann dreht er mit zittrigen Händen die Pappe um. Alle jubeln, und lautes Gegackere, von wem dieser verrückte Name wohl stamme, setzt ein.
Ich starre auch auf die Pappe und brülle laut: »Des bin ich! Des isch mein Vorschlag!!«
Evelyn fällt mir als Erste um den Hals. Steffi entgleiten alle Gesichtszüge. Kein Big Apple, kein Shopping. Genau wie Otterle. Der lässt sich auf einen Stuhl fallen und stammelt nur: »Aber das ist nicht der neue Name, das ist er nicht! Der Name ist Haus Sonnenschein! Schein!!!«, brüllt er uns jetzt an, als wär er wahnsinnig geworden.
Milena schaut ängstlich zu Otterle, Evelyn entgeistert zu mir. Alle anderen schauen, als würden sie nur Bahnhof verstehen.
»Diese Idioten! Diese gottverdammten Werbe-Idioten!«
Hektisch sucht er sein Handy in der Hosentasche und tippt in einer Geschwindigkeit, die Steffi zur Ehre gereichen würde, eine Nummer ein.
»Otterle hier«, brüllt er, so laut, dass wir alle mithören können. »Was ist das denn, was Sie mir da geschickt haben? Nein, das wollte ich bestimmt nicht so. Nein, das haben wir nicht. ›Sonnenschein‹ hab ich gesagt. Nein, das stand auf keinem Zettel. Das ist MIR eingefallen. MIR!! Als wir die Besprechung hatten. Wie, falsch verstanden? Aber das gibt es doch nicht! Ja, ja, ja, auf dem Zettel stand ›Sonnenuntergang‹, aber so nennt man doch kein Seniorenheim! Da hätten Sie doch auch mal mitdenken müssen, Sie Schwachmaten! Ich bin nicht beleidigend! Hier geht es nicht nur um eine Menge Geld, das verplempert wurde, hier geht es auch um den deutschlandweiten Titel ›Heim des Jahres‹, den wir anstreben.«
Beim Satz »Heim des Jahres« schauen sich alle fragend an. Wir sind Anwärter auf den Titel »Heim des Jahres«? WIR? Unser kleines, piefiges Seniorenheim? Ich hab zwar schon von der Auszeichnung gehört, aber hätte nie gedacht, dass wir überhaupt eine Chance hätten, ins Auswahlverfahren zu kommen. Eine zwölfköpfige Jury aus Pflegefachleuten, Ärzten, Journalisten, Prominenten und ein paar Willy Wichtigs von der Krankenkasse wählt erst mal 25 Heime aus. Dann werden wieder zehn ausgesiebt und so weiter. Von daher ist es relativ unwahrscheinlich, dass wir den Titel holen. Wir haben zwar erfolgreich achtmal die goldene Bettpfanne gewonnen, aber das ist nur ein Scherzpreis, den sich die Pflegeheime im Umkreis abwechselnd verleihen, um ein großes Sommerfest zu rechtfertigen, bei dem immer viel getrunken wird (besonders beliebt bei Evelyn!).
Otterle hat jetzt seinen linken Arm wie ein bockiges Kind, das nicht zu Mittag essen will, auf den Tisch gestützt und seinen Kopf in die Handfläche gelegt. Mit der rechten Hand hält er zitternd das Telefon.
»10.000 Flyer, 30 Großplakate und die ganzen anderen Werbematerialien und die Leuchtschrift! Wer zahlt das denn jetzt?! Ich? Nein, ganz bestimmt nicht! Ganz bestimmt nicht. Unterschrieben? Ach, lecken Sie mich doch!«
Otterle schmeißt das Handy knapp an Milenas Kopf vorbei Richtung Wand. Die duckt und bekreuzigt sich sofort. Minutenlang liegt Otterle regungslos mit dem Kopf auf der Tischplatte. Irgendwann traue ich mich, zu fragen: »Herr Otterle, isch alles okay?«
Sein Kopf hebt sich langsam, er findet die Fassung wieder.
»Ja, alles bestens. Danke der Nachfrage!«
Dann steht er auf, streicht kurz seinen Anzug glatt, und als wäre nichts gewesen, verkündet er mit einem zähen Lächeln: »Das bedeutet, dass Frau Bullatschek gewonnen hat! Herzlichen Glückwunsch!«
Alle klatschen, und Sascha pfeift sogar auf seinen Fingern.
»Und hier ist Ihr Preis.«
»Die Reise, die Reise!«, ruft einer von den Pflegern aus Nordcorega, der an der Wand steht. Otterle lächelt schief und fragt dann irritiert nach: »Welche Reise denn?«
»Na, die Reise, die Sie versprochen haben«, sagt Evelyn unsicher.
»Ich?«, fragt Otterle. »Ich hab gesagt, es hat etwas mit einem fernen Land zu tun. Von einer Reise war nie die Rede!«
Es ist still im Raum, als mir Otterle ein schlecht eingepacktes kleines Päckchen überreicht.
Gespannt reiße ich das bunt gemusterte Geschenkpapier auf. Drin ist eine Pfeffermühle. »Original Pfeffer aus Madagaskar« steht drauf. Auf dem Boden der Mühle klebt ein halber Aufkleber von einer Pharmafirma, der nur notdürftig entfernt wurde.
»Na, freuen Sie sich wenigstens ein bisschen, Frau Bullatschek?«
»Ja«, sag ich bemüht um Freundlichkeit. »So was hab ich noch nicht.«
»Na, dann ist doch alles bestens«, erwidert Otterle. »Und jetzt alle wieder schnell an die Arbeit! Vom Rumsitzen wird man schließlich nicht ›Heim des Jahres!‹ Volle Pflegekraft voraus!«
Speed-Dating mit Folgen
1. Geh net dran!
Heute Morgen hat Mama mich um sechs Uhr aus dem Bett geklingelt. Erst hab ich gedacht es wär die Evelyn und ich hätt verschlafen und alle warten auf mich. Horror! Wenn du verschläfst und dann ins Heim kommst, empfangen dich alle mit so einem vorwurfsvollen Blick, als hättest du sie ans FBI verpfiffen. Keiner spricht mit dir, und alle denken das Gleiche: »Wegen dir schaff ich meine Runde net und hab ä kürzere Pause. Aber Hauptsache, du hascht noch ä schönes Stündle länger in deinem warmen Bettle gelegen!«
Bis zum Mittag hat sich das meistens gelegt, ein blöder Witz oder eine Packung Duplos wirkt Wunder. Wichtig ist bloß, dass es einem leidtut und dass man sich aufrichtig entschuldigt. Nicht so wie die Steffi. Die hat neulich verschlafen, kommt aber top- gestylt mit Lippenstift und einer aufwendigen Timoschenko-Zopffrisur über den Flur marschiert. In einer Hand eine Tüte vom Bäcker, in der anderen das Handy, in das sie gerade noch eine WhatsApp-Sprachnachricht quatscht: »Muss Schluss machen, bin jetzt da, die gucken schon so komisch. Bis später!« Und dann hat sie uns so arrogant gemustert und geflötet: »Soooorryyy, Leute, ich hab den Bus verpasst, chillt doch mal!«
CHILLEN? Wir sind in der Pfläge.
Die hat Nerven. Anderthalb Stunden zu spät kommen, und dann marschiert sie wie ein Model auf dem Laufsteg den Flur entlang. Ich sag noch zu Evelyn: »Na ja, immerhin hat sie uns was vom Brotkörble mitgebracht!« Da hatte ich ihr schon fast verziehen. Für eine warme Marzipanschnecke töte ich.
Aber Fehlanzeige! Nachdem sie umgezogen war, was auch noch mal ewig gedauert hat, setzt sie sich erst mal in den Aufenthaltsraum und reißt langsam die große Papiertüte auf. Zwei dicke Schokocroissants kommen zum Vorschein, die sie, wie sie uns mitteilt, dann erst mal essen muss, um genug »Energy« für den Dienst zu haben.
Die Ute hat sie sich dann zur Brust genommen und gesagt, dass des so nicht geht. Also mit dem Zuspätkommen, nicht mit den Croissants. Wir sind ja ein Team und jetzt außerdem eine Business Company im Health-and-Care-Sektor. Ich musste kurz lachen, wegen der Business Company, hab die Ute aber bewundert, weil sie so cool geblieben ist. Ich hätte ihr eine Kopfnuss verpasst.
Anderthalb Stunden zu spät kommen und sich dann so aufführen. Typisch Steffi!
Das ist mir in meiner »Karriere« (Otterle-Speech) zum Glück erst dreimal passiert, einmal 2007, da hatte ich den Wecker falsch programmiert. Die anderen beiden Male hab ich es am Abend vorher ä bissle mit dem Alkohol übertrieben. Dabei trink ich eigentlich nie zu viel. Aber wenn jemand Geburtstag hat oder ä Feschtle isch, dann hab ich mich und die Zeit nicht mehr unter Kontrolle.
Bei der Evelyn ist es weitaus schlimmer – die verschläft mindestens einmal im Monat. Und die hat es sogar schon geschafft, den Spätdienst zu verschlafen. Na ja, aber ICH hab ja heut nicht verschlafen.
Ich hätte eigentlich gleich wissen müssen, dass es Mama ist am Telefon und nicht die Evelyn, weil ich ihr letzte Woche so einen Spezialklingelton verpasst hab. Sascha hat mir dazu geraten. »Das mach ich bei allen, die mich nerven! Sparkasse, Versicherung und Otterle! Ein perfekter Trick für deine Mutter. Dann weißt du gleich – geh nicht dran«, hat er gesagt und verschwörerisch gezwinkert.
Dann hat er mein Handy genommen und irgendwas dran rumgedrückt. Und immer wenn meine Mutter jetzt anruft, kommt »Thunderstruck« von AC/DC. Ich erschrecke mich jedes Mal fast zu Tode.
AC/DC ist jetzt nicht so meine Musik. Mein Bruder hat das früher öfter gehört, als wir noch Teenager waren. In voller Lautstärke. Und dann hat mein Vater immer mit seinen Fäusten an seine Zimmertür gebollert und gerufen: »Mach die Affenmusik aus!« Kurze Zeit später haben die harten Jungs von AC/DC bloß noch halb so laut gesungen. Mein Bruder war sauer, aber er wär nie auf die Idee gekommen, zu meinem Vater zu sagen: »Chill doch mal, ich hör Musik so laut, wie ich will«, so wie die Steffi.
Einen Scherz hat sich Sascha natürlich auch noch erlaubt. Ich sitz am Dienstag im Bus nach Ludwigsburg, und plötzlich stöhnt eine französische Frauenstimme durch den ganzen Bus »Je t’aime«. Alle haben sich umgeguckt, wo das wohl herkommt. Sogar der Busfahrer hat interessiert in den Innenspiegel geglotzt, ob er die halb nackte Französin irgendwo sehen kann. Dann hat die Frau immer lauter angefangen, zu stöhnen. Die meisten haben verstohlen aus dem Fenster geguckt. Ich hab erst gar nicht kapiert, dass es aus meiner Tasche kommt. Als ich sie aufgemacht hab, ist es immer lauter geworden. Alle haben mich angestarrt. Auf meinem Display stand nur: »Otterle – geh nicht dran!« Danke, Sascha! Ich hab den Anruf dann schnell weggedrückt und das Handy auf stumm geschaltet.
Und um sechs Uhr heute Morgen schallt es dann ohrenbetäubend durch mein Schlafzimmer: »Thunder!« Das heißt Donner, hab ich rausgefunden. Passt! Mich hat es fast aus dem Bett gedonnert.
Aber warum ruft Mama mich um die Uhrzeit an? Ich hatte ihr, glaub ich, fünfmal gesagt, dass ich Spätdienst hab, aber irgendwie geht so was immer an ihr vorüber. Meine Mutter hört nie zu. Sie guckt dich an und gibt dir das Gefühl, als würde sie zuhören, weil sie dabei immer so komisch mit dem Kopf nickt wie ein Wackeldackel, aber eigentlich denkt sie schon wieder drüber nach, was sie als Nächstes sagen könnte. Man merkt das dann daran, dass ihre Sätze so gar net zu meinen passen. Beispiel:
Ich: »Beim Breuninger isch so eine schicke Jeansjacke im Schaufenster, ich glaub, die hol ich mir.«
»Ich hoff ja net, dass es noch mal kalt wird.« (Hier denkt man noch, sie hört zu.)
»Warum? Ich zieh die doch eh erscht im Frühjahr an.«
»Für die Blumen wär der Frost wirklich schlecht. Der Papa hat die doch schon gesetzt!«
»Blumen? Welche Blumen? Ich hab gesagt, ich hol mir die Jeansjacke.«
»Ja, dann hol sie dir doch, wenn dir kalt isch. Wo hängt sie denn, an der Garderobe?«
»Nein, beim Breuninger im Schaufenster!«
»Was macht deine Jacke beim Breuninger im Schaufenster?«
Ende.
Ähnlicher Gesprächsverlauf heute früh. Telefon schmettert »Thunder«.
Ich (genervt): »Mama, ich hab Spät!«
Mama (ignorierend): »Sybille, gut, dass du schon wach bischt, aber ich sag noch zum Papa, ›Klar isch sie wach, sie hat doch Dienscht!‹.«
»Mama, ich hab Spätdienscht!«
»Was? Warum gehscht du dann ans Telefon?«
»Weil es geklingelt hat.« (Na ja, weil AC/DC mir ins Ohr gebrüllt hat.)