Sie sagte sie sei Alma - Gila Hayo Mortensen - E-Book

Sie sagte sie sei Alma E-Book

Gila Hayo Mortensen

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Beschreibung

Alma zog in das kleine Haus mit dem großen Garten. Niemand wusste woher sie kam. Im Dorf fantasierten sich die Leute Geschichten über die Alte, weil alles, was ihnen anders und fremd erscheint, unheimlich ist. Ama war anders. Sie diskutierte mit jungen Leuten über soziale Missstände. Sie erzählte der Journalistin in ihrer Nachbarschaft von vielen unterschiedlichen Leben aus verschiedenen Zeitepochen und ihren vielen Reisen. Eine Spur führte auch zur Nachbarin. Erinnerungen bedeuteten für Alma Trost und Last. Bis zu ihrem selbstgewählten Tod schrieb sie Tagebuch.

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„Alma zog in das kleine Haus mit dem großen Garten, das seit wenigen Jahren leer stand, in meine Nachbarschaft. Niemand wusste so genau, woher sie kam. Im Dorf fantasierten sich die Leute Geschichten über die Alte, weil alles, was ihnen anders und fremd erscheint, was sich ihrer Kontrolle zu entziehen droht, unheimlich ist.

Ich, die sehr viel jüngere Nachbarin und angehende Journalistin wurde neugierig auf diese Alte, auf ihr Leben. Wir begegneten uns öfter, freundeten uns an. Mich überraschte sie immer wieder mit Sätzen, die mir neu und manchmal unverständlich waren.“

Gila Hayo Mortensen studierte Philosophie und Psychologie, arbeitete viele Jahre als Psychotherapeutin. Sie lebt und schreibt im Allgäu. Im süddeutschen Raum liest sie aus ihren Gedichten und Kurzgeschichten mit Musik und Theater. Aus dem ersten Gedichtband “ Linien einer Zeit“ las sie 2008 auf der Leipziger Buchmesse.

 

www.gila-hayo-mortensen.de

INHALT

Prolog

Alma

Dschani und Janet

Dschani lebt in einer Welt voller Bedrohung

Janet kämpft mit den Bräuten Christi

Die Eifelkindheit und der besondere Onkel

Janet versucht, das Leben zu verstehen

Juana und die Männer

Michael liebt Beethoven

Bernd sagt Frauchen

Hans der Treulose

Peter leugnet die Liebe

Thomas und die feine Gesellschaft

Markus liest im Telefonbuch

David träumt in Griechenland

Tom und der missglückte Kuss

Alvaro und Cervantes

Ole mit Zahnbürste

Mütterfrauen

Die Ur-Ur-Großmutter

Frau sein ist ein Fehler

Revolte

Das zweite Leben der Hannah

Die Außer-Haus-Frau

Die Psychologin kämpft

Alltag in der Klinik

Greta und ihre Zweifel

Abschied von Psychotherapie

Angekommen

Epilog

Prolog

Alma lag an einem Tag im Herbst tot in ihrem Bett.

Sie wollte sterben, war erinnerungsmüde und bis zum Schluss lebensfroh. Das kleine Haus, in das sie vor einigen Jahren eingezogen war, trauert mit geschlossenen Läden. Ihr wilder, bunter Garten verwildert endgültig. Die Johannisbeeren ernten die Vögel, und die Äpfel reifen, als wüssten sie von nichts.

Meine Verbundenheit mit Alma bleibt über ihren Tod hinaus bestehen. Ich schreibe alles, was ich von ihr weiß und was sie mir erzählte auf.

Wir wollten es so.

Dass sie mir ihre Tagebücher vererbte, überraschte mich.

Ich blättere mich durch die Tage, Wochen, Jahre.

Die letzte Seite des Tagebuches:

Ja, so war es. Vielleicht auch nicht.

Die Erinnerung mit ihren langen Schattenfäden liegt über meiner Seele, wie ein Gespinst. Es hätte auch alles ganz anders sein können. In dieser langgezogenen Spur des Lebens abbiegen, anstatt geradeaus zu schauen, vielleicht nach links auf den Feldweg, am Maisfeld vorbei und durch den dichten Laubwald zum See, eintauchen bis zum Grund und erst wieder an die Oberfläche kommen, wenn die Zeit sich verirrt hat und die Welt sich neu entfaltet. Nicht immer die Erde unter den Füßen festhalten, sondern in der einbrechenden Dunkelheit mit den Fledermäusen umherziehen bis ans Ende der Nacht. Ich stehe am Fenster und schaue in die Dämmerung, in der die Konturen der Büsche sich dunkel im Teich spiegeln. Ich spiele, während ich mir den letzten Schluck Rotwein gönne mit Gedankenfäden, die alles verbinden wollen, was passierte. In welche Abhängigkeiten bin ich gezwungen worden, freiwillig hineingeraten? Im Nachklang erscheint alles so notwendig und wahrhaftig.

Was für ein absurdes Theater.

Alles nur Zufall?

Wieviele andere Leben hätte ich leben können, kann man leben?

Die Begegnung mit dieser jungen Frau, die zu meiner Gegenwart und Vergangenheit gehört, wie schön, das alles noch erlebt zu haben.

Ihr werde ich meine Tagebücher überlassen.

Meine Gedanken verzweigen sich endlos, und ich muss Grenzsteine setzen, den Geschichten einen Anfang, aber auch ein Ende gönnen.

Ich habe kein Heimweh mehr nach meinen Erinnerungen. Ich werde heute Nacht mit den Träumen entschwinden.

Ich habe alles gesagt, was es zu sagen lohnt.

Alles, und noch viel mehr.

Alma

Alma zog in das kleine Haus mit dem großen Garten, das seit wenigen Jahren leer stand, in meine Nachbarschaft. Niemand wusste so genau, woher sie kam.

Im Dorf fantasierten sich die Leute Geschichten über die Alte, weil alles, was ihnen anders und fremd erscheint, was sich ihrer Kontrolle zu entziehen droht, unheimlich ist.

Alma war anders.

Sie war laut und lustig, diskutierte mit jungen Leuten über Politik und soziale Missstände, schimpfte mit den Bauern über die niedrigen Milchpreise und deren kleine Rente.

Langsam verloren die Dörfler die Scheu vor dieser freundlichen Fremden.

Ich, die sehr viel jüngere Nachbarin und angehende Journalistin, wurde neugierig auf diese Alte, auf ihr Leben. Wir begegneten uns öfter, freundeten uns an. Mich überraschte sie immer wieder mit Sätzen, die mir neu und manchmal unverständlich waren:

„Schweigen am Rande der Erfahrung und Schweigen an der Grenze der Erkenntnis müssen wir achten. Wir bewegen uns mit unserem Bewusstsein und den geistigen Fähigkeit im Grenzgebiet. Ich habe immer gefragt: Was will ich vom Leben? Jetzt erst frage ich: Was will das Leben noch von mir? Und es antwortet: Schreibe und erzähle, was sich ereignete, um zu verstehen, was gewesen ist und was jetzt ist, um zu ahnen, was kommen wird. Deine Kinder, Enkel, Urenkel und alle Generationen nach dir tragen mit, was du getan und nicht getan, so wie du alles von den Generationen vor dir in dir trägst, um dein Leben leben zu können.“

Dabei schaute sie mich an, als prüfe sie meine geistige Auffassungsgabe und sagte in leicht ironischem Ton:

„Hast du dich mal gefragt, wie viele Generationen notwendig waren, damit du sein kannst?“ Ihre Stimme klang fest und erreichte mich.

Erinnerungen, denen sie ihre eigene Form gab und so deren Überleben sicherte, bedeuteten für sie Nahrung und Trost, Lust und Last. Erzählen verstand sie als Kunst einer vergessenen Kultur. Und sie schrieb bis zu ihrem selbstbestimmten Tod Tagebuch.

Sie erzählte von unterschiedlichen Leben, als handele es sich um eine lose Schnur, die überall mit allem verbunden werden kann. Ich ahnte nicht, dass eine Spur zu mir führen würde.

Sie wusste es. Als ich ihr meinen Namen nannte, schaute sie mich prüfend und interessiert an und schwieg. Erst sehr viel später erinnerte ich mich wieder an diesen kurzen Moment und verstand ihr Schweigen.

„Ich bin auf vielen Haupt- und Nebenstrecken gereist, bin auch da angekommen, wo ich nicht hinwollte, was das Schicksal für mich wählte. In der Ferne sind unterschiedliche Ziele sichtbar gewesen, aber die Geschwindigkeit des Zuges blieb nicht gleich, und manchmal habe ich auf einem oder mehreren Nebengleisen warten müssen, wie auf Verschiebebahnhöfen. Ich wusste nicht, wo die Reisen enden würden, aber ich fuhr, bis auf wenige Ausnahmen, gerne weiter. Hatte ich eine Wahl?

Ich reiste freiwillig und zwangsweise in Namibia, lernte voller Neugier Costa Rica kennen, suchte Abenteuer in Marokko, verliebte mich in Spanien, in New York und Paris, vergnügte mich in Italien und war nirgendwo endgültig zu Hause. Ich weiß nicht mehr, woher ich den Satz kenne: Nicht die Sprache ist das Zuhause, sondern das, was gesprochen wird. In diesem Sinne fühlte ich mich an vielen Orten zu Hause.

Ich habe die vielen Stationen der Reise, auf die man mich schickte, oder die ich mir selbst aussuchte, jetzt hinter mir. Ich will mit meinen Geschichten und Erinnerungen die immer schneller vorbeifließende Zeit vielleicht anhalten, dem Vergangenen einen eigenen Raum öffnen.“

Wenn Alma erzählte schaute sie in eine andere Gegenwart. Sie strich sich über die Stirn, als wolle sie für das Kommende Platz schaffen, nahm mich mit in Zeiten und an Orte, die ich ohne ihre Erzählungen anders wahrgenommen und verstanden hätte.

Alma hatte ihre grauen Haare im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Die Falten in dem schönen Gesicht zeichneten einen besonderen Schmuck, den nur alte Frauen mit Würde tragen können. Sie hatte exotisch bunte Kleidung aus Marokko, Namibia, Costa Rica mitgebracht. Ich brachte ihr aus der Stadt alles mit, was sie in ihrem großen Vorratskeller neben eigenem Gemüse und Obst aus dem Garten brauchen wollte. Ihre selbst gekochte Marmelade, ich glaube hundert Gläser, reihten sich ordentlich nebeneinander. Alles, was sie außer ihren vollen und leeren Weinflaschen noch aufbewahrte, fand seinen Platz. Vorratshaltung betrieb sie als Hobby.

So, wie sie Geschichten immer auf Vorrat hatte.

„Alle erwarteten und unerwarteten Besucher wollen essen und trinken“, schimpfte sie mich aus, wenn ich ihren Vorratskeller bestaunte und lachte.

„ und wollen deine Geschichten“, ergänzte ich, und es gefiel ihr.

Alma die Weltfrau, wie ich sie manchmal nannte, redete nicht ohne Zorn und Ironie, wenn sie von Ihm sprach:

„Der Spielverderber, der Miesmacher, schimpfte sie, der die Melancholie ins Haus brachte, der mich besuchte, auch wenn ich nicht wollte.“

Als ich sie fragend anschaute, fuhr sie fort: „Ich rede von dem als Klischee bekannten Ernst des Lebens, den Ernst, den ich schon in früher Kindheit gezwungen wurde zu akzeptieren. Ihn, den ich gerne verleugnete und doch respektieren musste. Ich hatte oft das Empfinden, dieser Weggefährte lege mir Fuß- und Handfesseln an, verbinde mir die Augen und verstopfe mir die Ohren oder vernebele mein Hirn. Dann kochte meine Wut und mein schwarzer Zorn jagte ihn. Ich lernte viele Tricks, ihn abzuschütteln, erzählend ihm zu entkommen, mich gleichsam davon zu reden. Diesem Ernst konnte ich auch untreu werden, wie meinen Liebhabern“, lachte sie. „Ich musste oft genug mit ihm verhandeln“, fuhr sie zögernd fort, „wenn er das, was ich liebte und was mir Vergnügen bereitete, stören wollte, sich darüber legte und mir die Luft nahm. Und er ließ mit sich handeln. - Nicht immer.

Als ich mich, achtzehnjährig, einige Tage vor Weihnachten für viele Wochen nach einem Unfall im Krankenhaus einrichten musste, spielte ich mit meinem zerschundenen Gesicht in dem großen Krankensaal Weihnachtslieder auf der Blockflöte. Ernst versteckte sich hinter der jugendlichen Zuversicht. Langsam, neben Hoffnung und Lebensfreude fand er seinen Platz in meinem Leben. Ich lernte ihn zu akzeptieren.

Es gab keinen Partner in meinem Leben, der sich mit Ernst nicht angefreundet hätte, ihn oft als Verbündeten gegen mich nutzte. Auch die sechsunddreißig Jahre Mutterrolle waren für mich mit und ohne diesen Miesmacher frei und gebunden, heiter und schwer. Als ich einen Freund verlor, von dem ich glaubte, ohne ihn nicht leben zu können, brauchte ich alle Kraft den Kopf zu heben, das Leben wieder als lebenswert zu erkennen.“

Alma konnte lange erzählen, weil ich alles genau wissen wollte und mir bei ihr Zeit gönnte, ihre Geschichten aufsog, träumend alle Rollen-Lebens-Räume mit ihr durchstreifte. Ernst war immer schattengleich anwesend.

„Ernst musste zur Seite treten, als meine Tochter in Namibia, den Tod in den Augen, einfach nur spielen wollte. Ich setzte mich an ihr Bett und spielte, spielte mit ihr gegen den Tod, jeden Tag. „Der große Wurf“ mit fünf Würfeln, ein Zufallsspiel, das die Tochter in ihrem erbarmungswürdigen Zustand gewann. Der Tod machte sich davon. Und Ernst schaute ihm noch lange hinterher.

Die psychologisch gedeutete Welt, in die ich tief eindrang, mich professionell schulte und aus der ich nach mehr als dreißig Arbeitsjahren mit müden Augenlidern wieder ausstieg, das war die bevorzugte Welt von Ernst. Hier konnte er sich entfalten, seine Berechtigung beweisen, mich unterstützen, mich allerdings auch oft vergessen machen, dass Freude und Liebe zum Leben, zum Überleben notwendig sind. In der Erinnerung erscheint mir diese Berufswelt wie ein Museum, angefüllt mit bewegten Bildern kranker, schwer beladener Menschen, auf der Suche nach Heilung und Lebenssinn. Der Raum füllt sich immer neu, der Zustrom bricht nicht ab. Und viele finden, nach mehreren Irrwegen und mit oder ohne individuelle Unterstützung, getröstet den Ausgang.“

Alma schaute umher, als sei die Vergangenheit anwesend.

„Ich habe lange nicht verstanden, warum Probleme so attraktiv für viele Menschen sind, was das Leiden so erstrebenswert sein lässt, dass sie es nicht loslassen können oder wollen. Ernst war oft ratlos. Wenn die Menschen schließlich bereit waren sich und ihre Umwelt genau wahrzunehmen, ihren Verstand und ihr Gefühl in Einklang zu bringen und das „Entweder Oder“ durch „Sowohl als Auch“ zu ersetzen und sich mit ihrem Körper lustvoll in Bewegung setzen konnten und wollten, dann hatten sie und wir eine Chance.“

Nach zu vielen Jahren Arbeit hatte sich Alma, wie sie es beschrieb, aus dem Museum und seinen bewegten Bildern verabschiedet. Sie und Ernst waren dort ein zu enges Paar geworden.

Sie kaufte sich in der wunderbaren Welt der Berge und Seen ein Holzhaus in unserem kleinen Dorf, in dem Kühe und Kinder noch auf der Straße umherlaufen können. Sie verwandelte ein Stück ungenutzte Wiese in einen großen Garten, indem Blumen und Sträucher, Schnecken und Vögel, Katzen und Frösche sich behaglich fühlten, wo Schafe und Hühner der Nachbarn aus eben diesem Garten gelegentlich verjagt werden mussten.

Sie hatte sich ihre Welt neu geschaffen, in der auch die buddhistische Weisheit Platz fand. Sie fand neben dem Erzählen eine Form, ihre Erfahrungen und Gefühlsgedanken in Poesie zu verwandeln. Ihr öffneten sich Räume, in denen sie umherging, deren Weite und Tiefe sie auslotete und mit Sinn füllte.

„Meine heimliche Liebe war lange die Philosophie“, erzählte sie. „Während des Studiums verpasste ich keine Diskussionsrunde. Mit sechzig Jahren wurde diese Liebe neu belebt und ich entdeckte Kant und verabschiedete mich nach vier Semestern wieder von ihm, las erneut griechische Philosophen, griechische Tragödien. Ernst zeigte sich auch als wichtiger Gesprächspartner bei der Interpretation und Formulierung philosophischer Texte. Die Vernunft hatte einen nicht geringen Platz in meinem Leben beansprucht, ich hatte sie willkommen geheißen und ihr ebenso oft Grenzen und Alternativen aufgezeigt.

Ernst wurde allmählich alt und gebrechlich, forderte laut gesehen und gehört zu werden, quälte mich mit alten Geschichten. „Verpasstes Leben“, sagte er mit Blick in die Vergangenheit. Dann bewegte ich mich langsamer als gewöhnlich, legte die Stirn in Falten, redete so lange gegen ihn an, bis er sich zurückzog. Er besucht mich heute nur noch selten.

Ich genieße es Worte in Gedichten zu verbinden, sie in die gewählten Zusammenhänge zu zwingen, damit sie mir dienen, indem sie das widerspiegeln, was den Bildern und den Empfindungen in meinem Kopf entspricht.“

Alma, lachend, schimpfend, gütig, wachsam, schärfte ihren Blick an dem, was aus der Vergangenheit auftauchte, sich in der Gegenwart realisierte und für die nicht mehr allzu üppige Zukunft Fakten schuf. Mit achtundachtzig warf sie ihren Führerschein in die Mülltonne. Ihr Fahrrad verschenkte sie nach einem Sturz. Jeden Tag konnte man sie auf dem Feldweg, der gleich hinter ihrem Haus beginnt, in Richtung Wald gehen sehen. Jedes Wetter war ihr recht. Ihre Kinder und Enkelkinder, einige von weit her, besuchten sie mehrmals im Jahr. Sie gingen wieder mit Geschenken aus dem Vorratskeller oder mit Gedichten und Geschichten.

Jugendliche des Dorfes, für die sie immer ein freundliches Wort hatte, kickten im Sommer auf der Wiese neben ihrem Haus, prosteten ihr zu, auch wenn die „Alte“ ihnen zunächst in ihrer Buntheit unheimlich war. Sie setzte sich schon mal zu ihnen ins Gras, nahm die Flasche Bier, die sie ihr anboten, erzählte ihnen, wenn sie fragten, Geschichten von früher, wie die über eine Frau Frey:

„Frau Frey lebte in einem kleinen Dorf im Saargebiet, das nach dem Krieg von Franzosen für viele Jahre besetzt war. Frau Frey war eine sehr liebenswürdige, beleibte Frau mit einem weiten Herzen, die mit einem dünnen, großen Mann eine kleine Ewigkeit verheiratet war, die ihn und zwei ihrer sechs Kinder überlebte. Eine Frau, die ihren Kühlschrank und ihre Tiefkühltruhe für Besucher gern öffnete. Sie, die mit Schulwissen nicht gerade gesegnet war, musste ihren sechs Kindern Französisch, Pflichtfach in der Volksschule, beibringen. Einen französischen Offizier, der zur Kontrolle gelegentlich das Dorf inspizierte, fragte Frau Frey, ob sie denn ihre Kuh auch auf Französisch ansprechen müsse. Mit den Kindern zurechtzukommen sei doch schon schwer genug.

Frau Frey musste also ihren Kindern, die nicht viel an Intelligenz erben konnten, die französische Sprache nahebringen, in der sie kein gutes Wort finden konnte. Sie mochte diese Besatzersprache, wie sie sie nannte, nicht. Die ist unanständig, verkündete sie jedem im Dorf, der es hören oder nicht hören wollte. La schaaiise, schrie sie, mit dem Rohrstock in der einen und dem Französischbuch in der anderen Hand, jeden Abend ihre Kinder an, nachdem die Kuh im zu engen Stall gemolken und das magere Abendessen, die Armut saß jeden Tag mit am Tisch, von den Kindern hastig gegessen war. Und ihre sechs Plagen wisperten unter Verteilung von Ohrfeigen und einigen Stockschlägen hundertmal im Chor: la schaaiise, bis endlich der Stuhl unter der fülligen Frau Frey bedrohlich wackelte und sie ermattet den Stock fallen ließ und alle ins Bett schickte. Ihr Mann schnarchte bereits.

Eines Tages beschloss diese mutige Frau in ihrer Not, den Schulunterricht in Französisch, zugunsten ihrer Kinder, zu beeinflussen. Sie schrieb dem schon etwas betagten Lehrer, Schuler genannt, dem Schorschi, den alle im Dorf schon lange kannten, einen Brief:

 

Hoch verehrter Müsiö Schuler, lieber Schorschi, ich, die Frau Frey, die Marlis aus der Schnaddergass, bitte dich untertänigst diesen Brief zu lesen und meine Bitte anzuhören.

Obwohl wir beide, mein Mann und ich, die französische Mundart sehr schätzen, fasse ich meine Bitte an dich in den Wörtern, die ich schon etwas länger kenne. Ich bin der Überzeugung, mein Mann auch, du solltest mal dringend Urlaub machen wegen der Anstrengung mit den Kindern in der Schule und sowieso.

Ich bin bereit und gut präpariert, wie du dich noch überzeugen wirst können, die Kinder in der Schule in der Zwischenzeit deines wohlverdienten Urlaubs in den französischen Sprechgewohnheiten zu belehren. Wenn ich zuhause mit den Kindern lerne und mein Mann der schewalier in der Zwischenzeit die esscagoos im Stall und auf der Wiese einsammelt (du siehst ich verstehe was von der französischen Lebensart) haben wir viel Spaß. Abends wird alles mit pommesdeterres gebraten und es schmeckt superbe. Das sind doch auch deine Lieblinge, diese kleinen Schleimerchen in viel Butter und Knoblauchgebraten. Aber ich habe noch andere Qualitäten. Ich bin lustig und die Kinder lachen, wenn ich sie marschieren lasse wie im Krieg, die Franzosen können das ja auch, aber wir doch viel besser. Dazu singen wir allonsonfontdelapatriiie. Du siehst ich kenne mich aus. Außerdem bin ich eine Respektsperson. Ich kann laut schreien und dann sind alle ruhig und ich kann auch mal draufhauen, da scheue ich nichts. Das alles sehr verehrter Müsiö Schorschi sind Sachen, die man doch in der Schule gut gebrauchen kann und die bringe ich von Natur aus mit, wenn ich dich mal für eine Zeit ablösen könnte und ich verspreche dir, die Kinder freuen sich, wenn du wieder da bist. Gönne dir mal was, aber woanders.

Jetzt muss ich noch die Giggel jage, sie fresse die ganze esscagoos.

Bis bald und orevoar,

Deine ergebene Madam Frey, die Marlis“

 

Die jungen Leute lachten. Alma nahm einen großen Schluck Bier aus der Flasche. „Ich habe keine Ahnung, ob es funktionierte“, sagte sie. „Als Frau Frey starb, zimmerten ihre Söhne ihr einen überbreiten Sarg aus eigenem Eichenholz und beweinten sie nicht.“

Alma stand mühsam vom Boden auf, bedankte sich nochmal für die Flasche Bier und winkte nach hinten, bevor sie im Haus verschwand.

Ich traf Alma einige Tage danach auf der Terrasse, einen Eimer mit Äpfeln vor sich, die sie vierteilte und entkernte.

„Ich friere sie ein, damit ich im Winter mein eigenes Obst essen kann“, sagte sie, ein Stück Apfel kauend. Mein Angebot, ihr zu helfen, lehnte sie ab.

„Wenn du mir zuhörst, hast du genug zu tun.“

Alma nahm mich mit in ihren Fantasieraum, ich wusste lange nicht, ob sie Geschichten nur erfand, weil sie gerne erzählte, oder ob sie von anderen Menschen und aus deren Leben sprach, oder von ihrem eigenen. Ich fragte sie nicht.

Nach einiger Zeit bat ich sie, ein Aufnahmegerät mitbringen zu dürfen. Sie wusste, ich war angehende Journalistin. Nach kurzem Zögern erlaubte sie es mir. Was mit den Geschichten dann geschehen würde, war ihr zu dieser Zeit nicht wichtig. Wir sprachen erst sehr viel später darüber.

Sie wollte erzählen von einem Mädchen, Dschani oder als Jugendliche Janet genannt, die sie sehr mochte, wie sie betonte, von Juana, der jungen Frau, die die Männerwelt kennen lernte, von Hannah, die sechsunddreißig Jahre zu den Mütterfrauen gehörte; von Greta, der Außer-Haus-Frau, die alles richtig und gut machen wollte. Mehr und mehr hatte ich den Verdacht, Alma erzähle von sich, aus ihrem Leben. Warum sie nicht „Ich“ sagte, wusste ich nicht. Vielleicht wollte sie die Nähe zu allem Erlebten nicht noch einmal erfahren, brauchte Distanz. Ich weiß es nicht. Wusste sie es? Als ich sie doch einmal fragte, ob sie selbst dieses Kind, die Jugendliche und die Frauen, von denen sie mir erzählte gewesen sei, und wenn ja, warum sie dann nicht Ich sagte, antwortete sie geduldig:

„Ich bin alle und keine. Ich kann nicht Ich sagen, wenn ich dir von diesen Menschen und deren Leben erzähle. Ich, das ist die, die vor dir sitzt. Das Ich der Vergangenheit ist nicht das Ich von hier, auch nicht das Ich der Zukunft, verstehst du? Sie sind nicht Ich, aber sie gehören zu den Wurzeln, die auch meine sind, die sich aus den vielen Generationen gebildet haben bis zu dem Ich heute. Mir ist wichtig, dass du das verstehst.“

Ich war nicht sicher, ob ich sie verstand.

Ihrem intensiven Blick mich zu entziehen, fiel mir schwer. Mich berührte diese Frau, die Alte hatte meine Neugier geweckt. Ihre fünf oder sechs Sinne schienen alles Schlimme, Notwendige und Schöne dieser Welt aufgenommen zu haben. Sie konnte ebenso das Mädchen mit den staunenden Augen sein, wie die erwachsene Frau, in deren Kopf sich noch immer viel zu ereignen schien und die lebenskluge Alte, die gerne schwieg.

Meine Eltern wohnen 400 km entfernt. Meine Großmutter, in deren Haus ich jetzt wohne, lebt seit 3 Jahren nicht mehr. Als mein Großvater starb, war ich noch ein Kind.

Alma war da und ich ging so oft zu ihr, wie es uns möglich war.

Tagebuch

Ich erzähle meiner jungen Nachbarin die Geschichte eines Kindes, das, seit es atmete, den zweiten Weltkrieg erlebte, das seine Ängste, Bedrohungen und die Sicherheit wegbrechenden Ereignisse - für ein ganzes Leben ausreichend - vergessen musste und das sich immer wieder, bewusst oder unbewusst, für das weitere Leben neue Sicherheiten erarbeitete.

Dschani und Janet

Dschani lebt in einer Welt voller Bedrohung.

„Dschani ist die, die mitläuft, besser, hinterherläuft, jahrelang, bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag“, begann Alma eines Tages. „Die Füße der Kleinen wissen nicht wohin, als sie endlich mit sechzehn Monaten am Boden angekommen sind. Sie ist die Dritte. Die Mutter mag das nicht, nicht auch noch eine Dritte am Rockzipfel, neben dem Vierjährigen und der Zweijährigen. Also läuft Dschani der zwei Jahre älteren Schwester hinterher.

Wenn es damals die Pille gegeben hätte, es gäbe euch alle nicht, ist einer der Sätze, die die Dritte niemals vergaß, obwohl dieser Satz im Sterben von der Mutter zurückgenommen wurde, der sollte mit ihr sterben. Sie sei, so einer der letzten Sätze, glücklich mit ihren Kindern.

Ihren Kindern erzählte sie von ihrem unerfüllt gebliebenen Wunsch, als Pianistin ihrem Leben Glanz zu geben. Rachmaninow übte sie noch mit neunzig:

Ich war für alle hörbar musikalisch hochbegabt, habe schon als Sechsjährige lieber Mozarts Klaviersonatinen gespielt, als mit anderen Kindern auf der Straße. Aber ich war ja nur ein Mädchen, das doch einmal heiraten würde. Also durften nur meine beiden Brüder studieren.

Meine Mutter, konservativer Landadel, füllte die Schränke für meine Aussteuer mit wertvollem Geschirr, Silber, Kristall und gestickten Leinendecken, kaufte Mahagonimöbel, Teppiche und Gemälde. Die wertvolle Aussteuer, bis auf wenige Einzelteile, fraß der Zweite Weltkrieg.

Mein Vater, Konrektor in einem trostlosen Grubendorf an der französischen Grenze, in das er wegen seines unsittlichen Lebenswandels strafversetzt wurde, kümmerte sich neben dem Beruf lieber um seine Liebschaften, die er auf großem Fuß in der nahen Stadt verwöhnte, dann blieb für mich wenig Interesse und kaum Geld übrig.

Die Trauer über dieses nicht gelebte Leben als Pianistin lief in den Erinnerungen von Dschanis Mutter immer mit. Am Ende ihres Lebens lachte sie über den Satz, den Dschani ihr zuflüsterte: Heute wärst du eine alte, vertrocknete Pianistin und alleine, hätte es die Pille gegeben.

Dschani wachte die letzten Tage und Nächte bei der sterbenden Mutter.

Meine Hände auf meinem angeschwollenen Bauch sind zittrig. Sie wissen, der Tumor verschafft sich immer mehr Raum. Was mich traurig macht, ist das Ausgeliefertsein, die auf Distanz gehaltene Wut, die als Resignation dem Schicksal gegenübertritt. Die Zerstörung meines Körpers geschieht. Ich kann darauf keinen Einfluss nehmen. Eine Hoffnung aufzehrende Gewissheit.

Dass ich mich hier in diesem kalten Haus aus meinem Leben in den Tod verabschiede, ist erst vor zwei Wochen in mein Bewusstsein vorgedrungen. Das Sterbebett, bequemer, leichter zu handhaben für die Nachtschwester, ist mir vor wenigen Tagen untergeschoben worden. Noch kann ich aufstehen, zwar beschwerlich gehen, aber die einundneunzigjährigen Beine tragen mich nur bis zum Tisch und zu meinem bequemen Liegesessel. Wenn Besuch von den Kindern oder Enkeln kommt, kann ich so tun, als ob ich noch „auf den Beinen“ bin. Ich fürchte und verabscheue das Im-Bett-liegen-bleiben. So schnell gebe ich noch nicht auf.

Meine Kinder sind mir im Laufe des Lebens immer näher gekommen, besonders jetzt, da ich mich verabschieden muss, aus einem Leben, das oft keinen Ausweg aufzeigte. Es gibt immer einen Ausweg, sagte meine Mutter, auch wenn ich ihn nicht selbst sah, wenn ich eher rückwärtsging, weil der Weg vor mir nicht mehr zu erkennen war. Meine Mutter, eine im Glauben verwurzelte Frau, stoppte meinen Rückwärtslauf mit ihrer lebenspraktischen, gelassenen Art, tröstete mich; sie rief auch mal den Arzt, der mir den Magen auspumpte von dem Gift, das das Leid und die Verzweiflung in mir töten sollte. Es war schon dumm von mir.

Jetzt nach all den Jahren zieht sich das Leben von mir zurück, verlässt mich, wendet sich von mir ab, zieht mich mit in einenunbekannten Zustand des Jenseitigen und – jetzt bedauere ich, gehen zu müssen.

Ich möchte mich verabschieden, aber wie macht man etwas, das man nicht will und doch tun muss? Wie verabschiedet man sich von etwas, das man festhalten will? Wie lässt man etwas los, an das man sich gebunden fühlt?

Dschani sitzt an meinem Bett. Sie ist so fürsorglich.

Ich gehe mit Fragen an der Grenze entlang, meine Antworten werden nicht mehr gebraucht, sind entbehrlich, werden zurückgelassen, aufgehoben in dem, was man mein Leben nennen wird, für mich unerreichbar geworden. Abschied von mehreren Leben, vielen, die sich in mir entfalten konnten, oder auch nicht, sich mir gelegentlich aufzwangen und mich zu ihrer Gestaltung drängten, sich entzogen, sich tarnten, um dann wieder aufzutauchen und sich jetzt endgültig, ja, mit einem Lächeln in meinem Gesicht, für immer zurückzuziehen.

Für immer? Ich weiß es nicht.

Ich gehe alle vergangenen Wege, Lebenswege, rückwärts diesmal, sie drängen sich mir auf. Ist das der Abschied, den ich brauche, Abschied von einer Geschichte, in die ich hineingeboren wurde, von einem Klan, dem ich durch Geburt zugeteilt wurde, mit allen erfahrenen und erfundenen Geschichten und Ereignissen. Ich gehörte gerne zu dieser Sippe und habe schmerzlich erlebt, wie Tragisches sich nicht vermeiden ließ, wie Leid durchlebt werden musste, habe mich amüsiert, wie Komisches, Absurdes meinen Weg begleitet hat, freue mich, wie Schönes, Wertvolles weitergegeben wird, an meine Kinder, Enkel, Urenkel und an nachfolgende Generationen.

Bin ich jetzt bereit zu gehen?

Einen Tag vor ihrem Tod sagte sie zu Dschani: Ich träumte heute, dass ich ein Baby bekomme. Jetzt wusste Dschani, ihre Mutter ist bereit zu gehen.

Das Abschiedsgeschenk der Mutter: eine Umarmung und Tränen nur für die Dritte, für Dschani.“

Alma saß am folgenden Samstag auf der Terrasse, winkte mich herüber, schälte und entkernte die letzten Äpfel, reichte mir ein Viertel, ein anderes Viertel landete in ihrem Mund, wurde bedächtig gekaut.

Sie schien auf mich gewartet zu haben.

„Ich möchte Dir von Dschani weiter erzählen, hast du Zeit?“

Ich holte mein Aufnahmegerät und brachte Zeit mit.

„Dschani, was für ein Name, niemand in der Nachbarschaft oder Schule hieß so. Dieses Kind staunte, als es verstand, wer damit gemeint war, wusste nicht, ob sie sich freuen durfte. Aber „Dschani“ wurde vom Vater liebevoll ausgesprochen. Die Mutter ließ es gelten, die Geschwister lachten darüber. Sie trug diesen Namen mit sich herum wie ein seltenes Amulett, das man ihr umgehängt hatte. Warte einen Moment, ich will von vorne anfangen“.

Alma stand auf, Kaffee wurde frisch aufgebrüht. Sie schien in eine andere Welt zu entschwinden, als sie weitersprach.

„Dschani wurde im Kriegsgeschrei, Deutschland gegen den Rest der Welt, gezeugt. Anders als dieser sorgfältig geplante Krieg, war Dschani ein sogenannter Unfall. Sie wird später sagen: Außer mir legte niemand besonderen Wert auf mein Erscheinen. In solchen Zeiten war ein Kind ein kaum willkommener Vorfall, den die Mutter sich gerne erspart hätte. Es sei ihr neun Monate übel gewesen, erzählte sie später, nicht ohne Dramatik in der Stimme. Dann der Tag, als Dschani „ins Licht kam“, wie die Italiener sagen: Ein schwüler Augusttag zog herauf, so als ob der Sommer mit letzter Kraft Wärme einer aus den Fugen geratenen Welt spenden wollte. Alphatiere, denen ein Heer Unfreiwilliger und viele Freiwillige in den sinnlosen Tod folgten, regierten.

Auf der Geburtsstation der Klinik, in einer Grenzstadt zu Frankreich, gehen Schwestern in ihrer weißen Kleidung geschäftig hin und her, die Mienen unruhig. Die Schwangere mit den dunklen Augen und den im Nacken zusammengebunden braunen Haaren liegt ruhig in den weißen Laken, im weiß getünchten langen Krankenhausflur und wartet auf einen Platz im Entbindungszimmer, aus dem in kurzen Abständen Stöhnen und Schreie zu hören sind. Die junge Frau freut sich, den mächtigen Leibesumfang bald los zu sein. Das Baby im Bauch ist ungeduldig, drängt, drückt, hofft, dem zu eng gewordenen Ort zu entkommen.

Plötzlich Fliegeralarm! Alle Frauen werden von hin und her hastenden Schwestern eilig durch die Gänge geschoben. Von Sirenengeheul getrieben, hetzen andere schwerfällig, den Bauch stützend, mit Panik im Gesicht, die Treppen hinunter in den Keller, einige werden mit dem Bett hastig in den Aufzug geschoben und in dem notdürftig eingerichteten Gebärraum im Keller abgestellt. Die Dunkelhaarige mit den warmen Augen geht langsam die Treppen hinunter, nachdem sie das Bett verlassen hat und, ja, ja, es geht schon, der Schwester zuruft, die ihr im Laufschritt entgegenkommt. In dem fensterlosen, kühlen Kellersaal stehen zwanzig Betten und wenige Paravents, die kaum Privatsphäre schaffen. Die nahen Einschläge der Bomben zerstören endgültig die Ruhe in den Mienen einiger Schwangeren. Andere beten laut, um ihre Panik zu bekämpfen.

Die junge Frau liegt auf einer einfachen Pritsche auf dem Rücken, stöhnt jetzt ohne Scham und ohne Angst, auch wenn weitere nahe Detonationen zu hören sind und die Wände vibrieren.

Nach vielen Stunden drängt sich ein neun Pfund schweres Mädchen, neben dem erneuten Geheul von, in die Welt. Es wird nicht der letzte Fliegerangriff sein, den es schreiend überlebt.

Die Detonationen und das gedämpfte Brummen der Flugzeuge, das Stöhnen der anderen Frauen, nichts davon dringt mehr an das Ohr der Wöchnerin in ihrer Erschöpfung. Als sie nach zwei Stunden erwacht, legt die Schwester der Mutter ein in weiße Tücher gewickeltes dickes, schwarzhaariges Baby in den Arm. Ich kann es nicht halten, flüstert sie und gibt das Baby in die Arme der Schwester zurück.

Die Mutter will es nicht stillen, es saugt zu kräftig und die Brust ist bald entzündet. Der Körper der Mutter, ihre Wärme und ihr Geruch, sind für das Baby und sein Bedürfnis nach Sicherheit nicht erreichbar. Es schläft erschöpft ein, wacht auf, schreit, schluckt gegen Hunger und Sehnsucht den doppelten Flascheninhalt. Die Großmutter hatte es empfohlen. Das bald verspeckte Kind kann kaum aus den Augen schauen. Aber es lacht sich in die Welt und wird geliebt, von der zwei Jahre älteren Schwester und den Nachbarmädchen, vom Großvater und der Patentante. Sie nennen sie Dschani, Dschanili, Dschanini. Der Bruder achtet darauf, dass seine Sonderstellung als Erstgeborener nicht geschmälert wird durch diese hübsche, dicke Dritte, die so gescheit schaut und mit ihrem Lachen alle Aufmerksamkeit hat.

Unzufrieden und nervös bewältigte Dschanis Mutter ihren aufgezwungenen Alltag. Was sollte sie mit Kindern, die ihr den Verzicht auf eine Karriere als Pianistin jeden Tag bestätigten und sie an eine Verpflichtung erinnerten, die sie hasste.

Dschanis Vater verschwand in seinem ungeliebten Beruf und im Alkohol. Sein Interesse an Kindern ist ihm abhanden gekommen. Er war in seiner Familie der Jüngste von sechszehn Kindern.“

Alma machte eine kurze Pause, schaute mich an.

„Du musst wissen, der Jüngste von sechzehn Kindern zu sein und seiner Lust und Leidenschaft für einen künstlerischen Beruf nicht nachgehen zu dürfen, weil die Eltern es verbieten, er wollte Sänger und Schauspieler werden, ist nochmal eine besondere Geschichte, die ich ein anderes Mal erzähle.

Die Eltern von Dschani lebten beide ein Leben, das ihnen aufgezwungen worden war. Ich weiß nicht, ob sie wirklich eine Chance hatten. Die gesellschaftlichen Normen, die eher konservative Haltung ihres Umfeldes in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts engten sie ein, die Zwänge untersagten ihnen, auszubrechen. Der Zweite Weltkrieg und die Zeit danach reduzierten ihr Leben auf Überleben.

Dschani entwickelte sich zu einem neugierigen, sensiblen Kind, das von den älteren Geschwistern wegen ihrer Speckrollen oft gehänselt wurde. Aber sie war gescheit und lernte schnell, dass Lachen die Menschen freundlich stimmt. Ihr Lachen sollte allerdings, auch als die Speckrollen in den kommenden Jahren verschwanden, noch häufig unterbrochen werden.

Krieg, Bomben, Bunker, Feuer, Zerstörung, drückten ihr den Schrecken ins Gesicht, veränderten ihre kindlichen Träume, boykottierten die Entwicklung von Vertrauen in die Welt. Als Dschani drei Jahre alt war, wurde die Familie mit Großmutter in eine siebzig Kilometer entfernte Stadt evakuiert. Der pensionierte Großvater wurde zum Schulunterricht nach Norddeutschland geschickt. Der Krieg hatte sich bis zu Dschanis Dorf an der französischen Grenze gewalzt. Bevor sie fliehen mussten, mauerte der Vater alles Wertvolle, das sie nicht mitnehmen konnten, unter der Kellertreppe ein. Die Haustüren durften nicht verschlossen werden, damit Soldaten sich, falls nötig, dort einquartieren konnten.

Und alles Wertvolle gehörte dem Krieg, wurde gestohlen, oder kaputt geschlagen.

Der Vater, Sozialdemokrat und Gewerkschaftler, lief Hitler nicht hinterher und war zu unbedeutend, um dazu gezwungen zu werden. Er wurde vom Wehrdienst befreit, weil er zur Kontrolle der Stromversorgung der ganzen Grenzregion verpflichtet wurde.

Die Familie bekam in der fremden Stadt ein voll eingerichtetes Haus zugewiesen. Sie vermuteten, es gehörte einer jüdischen oder oppositionellen Familie, die verschleppt worden war. Es konnte nicht lange her sein. Im Vorratsschrank stapelten sich Gläser mit Marmelade und Eingemachtem. Ein Schaukelpferd stand verwaist in der Ecke. Die Großmutter weinte, als sie das sah. Aber sie hatten einen Ort, an dem sie sich mit drei kleinen Kindern einrichten durften. Die Nacht davor kamen sie in einem Rettungsraum des „Roten Kreuz“ unter. Die Kinder schliefen dort auf Matratzen auf dem Boden, der Vater im Sessel und Mutter und Großmutter gemeinsamen in einem zu schmalen Bett.

Weihnachten 1944.

Fliegerangriff ohne vorherige Warnung der Sirenen. Die ersten Detonationen wecken Dschani aus dem Mittagsschlaf auf, sie steigt schnell aus dem Kinderbett und läuft ins Wohnzimmer. Sie ist dort noch nicht angekommen, als durch den Luftdruck Steine aus der Wand auf ihr Bett fallen. Sie bleibt unverletzt. Dschanis Schutzengel, sagt die Großmutter.

Sie kommen nicht mehr rechtzeitig in den Keller oder in einen Bunker, als die Flugzeuge schon Bomben abwerfen.

Panik breitet sich aus. Die Kinder in Angst, Orientierungslosigkeit, die drei Jahre alte Dschani versteht nur Bedrohung. Die Mutter drückt sich schnell mit einem der Kinder in eine Zimmerecke, hält schützend die Arme darüber, der Vater mit dem zweiten Kind in einer anderen Ecke, die Großmutter flüchtet mit Dschani im Arm unter den schweren Eichentisch. Es verdunkelt sich der zu helle Tag, Fenster und Türen fliegen durch die Wohnung, Glas splittert, ein Stück Mauer bricht ein, alle sind über und über mit Staub und Ruß bedeckt, Lärm, Sirenen, Schreie, Feuer ringsum. Wer kann helfen, trösten, beruhigen?

Die Kinder und die Großmutter beten, weinen, beten.

Verletzt ist niemand, als es am Himmel wieder ruhig wird. Das Nachbarhaus brennt. Schreie dringen aus dem zugeschütteten Nachbarkeller, in den sich viele geflüchtet haben. Die Mutter und der Vater ziehen die Verschütteten aus den Trümmern. Die Mutter hilft einer am Bein schwer verletzten jungen Frau mit vorläufigem Verband, der Vater deckt Tote zu, hilft einer alten Frau, die auf der mit Trümmern übersäten Straße völlig erstarrt sitzt. Ein Baby im Kinderbett, das von der ersten Etage durch die zerstörte Decke ins Erdgeschoss gefallen war, ist unverletzt. Ein Schutzengel-Wunder, sagte die Großmutter.

Wo sind die Eltern des Babys?“

Alma atmete tief ein und wieder tief aus.

„Die Toten wurden bald von der NSV weggebracht, von der National-Sozialistische-Volkswohlfahrt, einer Organisation der NSDAP, die ja bekanntlich die Arbeiterwohlfahrt verbot.

Im NSV Kindergarten lernten alle den Spruch:

Händchen falten, Köpfchen senken und an Adolf Hitler denken.

Er gibt Euch euer täglich Brot und rettet Euch aus aller Not.

„Was für ein Scheiß“, zischte Alma.

Ihre Stimme war leise geworden und ihre alten Augen schauten über den unschuldigen Garten weit hinaus.

„Magst du noch hören, wie es mit Dschani und ihrer Familie weiterging“, fragte sie in die Stille hinein. Ich nickte.

„Dann komm mit rein, ich brauche einen Cognac.“

Danach zog sie mich wieder in die vergangenen Schrecken.

„Die Panik in den Augen der Mutter und der Großmutter war Dschanis Orientierung, sie schrie schutzlos. Die Großmutter betete, die Kinder, die sich immer wieder unter den Tisch verkrochen und nicht rauskommen wollten, weinten laut und leise. Die Eltern räumten den Schutt beiseite, die Wohnung wurde notdürftig wieder hergerichtet.

Die Erwachsenen trugen die Angst noch lange in ihren Augen. In den Augen der Großmutter verschwand sie für kurze Zeit, während sie mit den Kindern betete. Dann schimpfte sie auf die Amerikaner und Engländer, die sie bombardierten. Der Vater nannte die Amerikaner Befreier, aber das war den Kindern egal.

Einige Tage später. Die Eltern waren unterwegs, um Kohlen zu ‚organisieren‘, so nannte man den Kauf und Verkauf auf dem Schwarzmarkt. Der Himmel war klar, für Flugzeuge gute Sicht. Die Großmutter wollte heute bei Sirenengeheul nicht in den Keller des Hauses, sie habe so ein komisches Gefühl, wie sie sagte und lief mit den Kindern schnell zum nächsten Bunker. Sie mussten in ein dunkles, stinkendes, völlig überfülltes Bunker-Loch. Dschani schrie, schrie so laut sie konnte. Sie wollte auf keinen Fall in dieses Bunkerloch. Dass man die Ohren nicht zuklappen kann, half ihr. Die Großmutter blieb mit Dschani und ihrem Gottvertrauen draußen vor der inzwischen verschlossenen Bunkertür stehen.

Ein Leichtsinn ohnegleichen, schimpfte der Vater später!

Als der Dauerton der Entwarnung heulte und sie mit den Kindern zum Haus zurückkam, war alles im und am Haus verwüstet. Die Panik nistete tief in den kindlichen Körpern und Seelen, verfolgte sie bis in die Träume, noch als Erwachsene.

Wir wären alle umgekommen, schrieb die Großmutter an ihre Söhne. Die Gottesmutter hat mir wieder geholfen, indem sie mich warnte, dieses Mal nicht mit den Kindern im Haus zu bleiben. Aber hier weiter wohnen, ist unmöglich.

Mit dem Wenigen, was ihnen geblieben war, zogen die Eltern mit den Kindern und der Großmutter in ein mit Flüchtlingen überfülltes, kleines Dorf. Ihnen wurde ein einziges Zimmer zugewiesen.

Sie lebten und schliefen, wenn der Vater wieder mal kommen konnte, zu sechst in diesem Zimmer. Ich weiß nicht, wie sie das aushielten. Die Mutter nähte bei fremden Leuten und bekam Essen für sich und eines der Kinder, das sie mitbringen durfte.