Sie wollte ein Kind um jeden Preis - Carmen von Lindenau - E-Book

Sie wollte ein Kind um jeden Preis E-Book

Carmen von Lindenau

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Beschreibung

Große Schriftstellerinnen wie Patricia Vandenberg, Gisela Reutling, Isabell Rohde, Susanne Svanberg und viele mehr erzählen in ergreifenden Romanen von rührenden Kinderschicksalen, von Mutterliebe und der Sehnsucht nach unbeschwertem Kinderglück, von sinnvollen Werten, die das Verhältnis zwischen den Generationen, den Charakter der Familie prägen und gefühlvoll gestalten. Mami ist als Familienroman-Reihe erfolgreich wie keine andere! Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! Es geschah am Abend des 16. November. Zweimal fiel der Strom aus, was alle erheblich störte, außer Siegbert Brügge, denn für ihn gab es keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht, Licht und Dunkel! Siegbert, ältester Sohn des Industriellen Burkhard Brügge, Besitzer einer papierverarbeitenden Fabrik, einer Klischeeanstalt und mehrerer Druckereien, Siegbert hatte nie das Tageslicht erblicken können. Er war blind geboren, und an diesem Zustand hatte sich bis heute nichts geändert. Er war sechsundzwanzig Jahre alt. Alle anderen Anwesenden hatten zutiefst geseufzt, als das Licht ausging. Wilma, die Hausherrin, saß an ihrem Schreibtisch und entwarf einen schwierigen Brief an ihren zweiten Sohn, den Studenten Alf. Burkhard, der Hausherr, überprüfte die Bilanz eines seiner Unternehmen und fluchte leise, als seine Lampe verlosch. Sabine, die einzige Tochter des Ehepaares, sowie Aliza von Korte, seit einem Jahr Haustochter in Vogelsang, schimpften ausgiebig, denn sie wollten ein bißchen lesen. Nun, etwa zehn Minuten später ging das Licht wieder an, um nach einer weiteren Stunde abermals zu verlöschen. Diesmal wurde Wilma unruhig. »Ich habe ein seltsames Gefühl«, vertraute sie ihrem Mann an. Burkhard Brügge, ein großer, schmaler Endfünfziger mit einem Gelehrtengesicht und randloser Brille, lächelte ein wenig amüsiert. »Aber, Wilma.« »Kinder, es wird sicher gleich wieder hell. Fürchtet ihr euch etwa?« Ein herzliches Lachen war die Antwort. Es brach jedoch abrupt ab, denn Wolf, der Schäferhund, begann plötzlich wie toll zu bellen.

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Mami Bestseller – 18 –

Sie wollte ein Kind um jeden Preis

Der letzte Schritt einer verzweifelten Frau

Carmen von Lindenau

Es geschah am Abend des 16. November. Zweimal fiel der Strom aus, was alle erheblich störte, außer Siegbert Brügge, denn für ihn gab es keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht, Licht und Dunkel!

Siegbert, ältester Sohn des Industriellen Burkhard Brügge, Besitzer einer papierverarbeitenden Fabrik, einer Klischeeanstalt und mehrerer Druckereien, Siegbert hatte nie das Tageslicht erblicken können. Er war blind geboren, und an diesem Zustand hatte sich bis heute nichts geändert. Er war sechsundzwanzig Jahre alt.

Alle anderen Anwesenden hatten zutiefst geseufzt, als das Licht ausging. Wilma, die Hausherrin, saß an ihrem Schreibtisch und entwarf einen schwierigen Brief an ihren zweiten Sohn, den Studenten Alf. Burkhard, der Hausherr, überprüfte die Bilanz eines seiner Unternehmen und fluchte leise, als seine Lampe verlosch.

Sabine, die einzige Tochter des Ehepaares, sowie Aliza von Korte, seit einem Jahr Haustochter in Vogelsang, schimpften ausgiebig, denn sie wollten ein bißchen lesen.

Nun, etwa zehn Minuten später ging das Licht wieder an, um nach einer weiteren Stunde abermals zu verlöschen. Diesmal wurde Wilma unruhig.

»Ich habe ein seltsames Gefühl«, vertraute sie ihrem Mann an.

Burkhard Brügge, ein großer, schmaler Endfünfziger mit einem Gelehrtengesicht und randloser Brille, lächelte ein wenig amüsiert.

»Aber, Wilma.«

Wilma steckte eine Kerze an und rief über den Flur:

»Kinder, es wird sicher gleich wieder hell. Fürchtet ihr euch etwa?«

Ein herzliches Lachen war die Antwort.

Es brach jedoch abrupt ab, denn Wolf, der Schäferhund, begann plötzlich wie toll zu bellen. Gleichzeitig hörte man ein Auto anfahren. Das Geräusch verlor sich jedoch bald darauf in der Ferne.

Es war gegen zehn Uhr abends, als das Licht wieder anging.

»Gott sei Dank!« murmelte Wilma und setzte sich wieder an ihren Schreibtisch.

Burkhard sah sie fragend an.

»An wen schreibst du denn?«

»An Alf. Wegen dieses Mädchens.«

»Darf ich mal lesen?«

»Natürlich.«

Burkhard ließ sich in einen Sessel sinken, nahm den Briefbogen zur Hand und las:

Mein lieber Junge. Immer wieder habe ich es aufgeschoben, Deine letzten, überraschenden Zeilen zu beantworten.

Es fällt mir schwer, die passenden Worte zu finden, in dieser komplizierten, um nicht zu sagen delikaten Angelegenheit.

Du bist nun vierundzwanzig, lieber Alf, und ich glaube nicht, daß man mit vierundzwanzig reife Entschlüsse betreffend Zukunft und gemeinsamen Leben fassen kann. Aus diesen und anderen Gründen rate ich Dir: Überlege und warte ab!

Das Mädchen, von dem Du mir schreibst, mag, rein äußerlich betrachtet, attraktiv sein. Es mag Herzensbildung und menschliche Qualitäten aufweisen. Das alles glaube ich Dir gern.

Aber ganz abgesehen davon, lieber Alf, überlege Dir, ob sie den Pflichten gewachsen sein würde, die auf sie zukämen, sobald sie Dich geheiratet hat. Ich weiß, was alles von Deiner künftigen Frau erwartet wird, denn ich habe das gleiche an der Seite Deines Vaters ja selbst exerziert.

Glaube nur ja nicht, daß ein hübsches Gesicht und eine niedliche Figur ausreichen, um Haus Vogelsang mitsamt den Verpflichtungen, die daran geknüpft sind, zu übernehmen.

Wäre Siegbert gesund, sähe alles anders aus. So aber wird die ganze Last der Verantwortung auf Deinen Schultern ruhen, was automatisch Deine Frau einbezieht. Sie muß repräsentieren können, sie muß gut aussehen. Sie muß alles gelernt haben, was man als Hausherrin auf Vogelsang braucht, und ich kann Dir aus eigener, bitterer Erfahrung sagen, daß das nicht wenig ist. Es gehört Organisationstalent und Selbstlosigkeit dazu, Ausdauer und Geduld.

Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß ein Mädchen, das in der Welt des Theaters zu Hause ist, dies alles mitbringt. Im Gegenteil. Du würdest sie mit einer Heirat früher oder später sehr unglücklich machen und Dich selbst ebenfalls. Aus diesem Grunde, lieber Alf, kann ich Deinem Entschluß nicht zustimmen.

Es tut mir überaus leid, Dir das sagen zu müssen, aber so, wie die Dinge stehen, sehe ich keine Möglichkeit, das Mädchen hier aufzunehmen. Es würde ihr auch gar nicht gefallen, und von beruflicher Weiterarbeit könnte nicht die Rede, sein. Erstens können wir uns das nicht leisten, zweitens wäre der Beruf einer Schauspielerin das letzte, was zu einer Frau Brügge paßt.

Bis dahin hatte Wilma geschrieben. Burkhard legte den Bogen wieder auf den Schreibtisch seiner Frau.

»Ich finde, daß du dich sehr gut und sehr warmherzig ausgedrückt hast, in Anbetracht der Tatsache, daß die Sache einfach indiskutabel ist. Ich hätte wahrscheinlich härter geschrieben.«

Hastig drehte Wilma den Briefbogen um, als sie Schritte hörte. Aliza von Korte trat ein und fragte:

»Störe ich?«

»Aber keineswegs, mein Kind.«

»Ich wollte gerade runtergehen und die Lichter in der Halle löschen. Wenn ihr Appetit auf eine kleine Erfrischung habt, bringe ich sie gern mit herauf. Sabine und ich trinken noch eine Limonade.«

»Selterswasser«, sagte Burkhard Brügge sofort.

»Wie immer, Aliza.«

»Und für mich auch eine Limonade. Was ist mit Siegbert?«

»Er möchte einen Kaffee und ein paar von Malwines leckeren Rosinenplätzchen.

Summend stieg Aliza die geschwungene Treppe hinunter. Wilma hörte sie die Tür zum Wirtschaftstrakt öffnen, hörte sie mit Geschirr hantieren und endlich die Tür wieder schließen. Und sie hörte den Aufschrei: »Mein Gott! Oh, mein Gott!«

In diesem Moment war Wilma Brügge auf den Beinen. Sabine, atemlos, lief hinter der Mutter her die Treppe hinunter.

Burkhard Brügge folgte.

Aber als er unten In der Halle stand, fand auch er keine anderen Worte als: »Mein Gott, oh, mein Gott!« Denn neben dem Schirmständer stand eine Tragetasche. Und in der ruhte ein winziges Baby.

»Wo um Himmels willen kommt das Kind her?« murmelte Burkhard fassungslos, während seine Frau sich bereits über das Baby beugte. Aber nichts deutete auf die Herkunft hin.

»Alsdann«, sagte Wilma Brügge aufatmend, »ich nehme das Kind, und du, Sabine, läufst schnell hinüber zu Großjohanns Frau, bittest sie um eine Dose Pelargon sowie um eine Flasche und Schnuller. Es ist zehn Uhr am Abend – das Kind wird daran gewöhnt sein, um diese Zeit zu trinken.«

»Eine Dose – was?« erkundigte sich Sabine, die sprachlos war.

»Pe-lar-gon«, buchstabierte ihre Mutter ungeduldig. »Großjohanns Jüngstes wird damit gefüttert. Wo immer das Kind herkommt – in jedem Fall werde ich es nicht verhungern lassen.«

»Wie alt schätzt du den Wurm?« fragte Burkhard, der mitleidig das winzige Gesicht betrachtet hatte.

»Ein Neugeborenes, nicht wahr?« hauchte Aliza.

»Etwa zwei Wochen alt«, sagte Wilma abschätzend, »höchstens drei. Unverantwortlich, ein so kleines Kind einfach hier abzustellen wie ein Paket!«

Als Sabine mit der Milchpulverdose, einem Packen Windeln, Windelhöschen und weiteren Kleinigkeiten anrückte, die von der fürsorglichen Chauffeursfrau gestiftet worden waren, lag der kleine Besuch nackt und strampelnd auf einer Decke auf dem runden Eßtisch.

»Schnell, schnell!« kommandierte Wilma Brügge. »Es darf keinesfalls frieren.«

Wilma Brügge nahm das Kind hoch und schaute es an. »Na, eins wissen wir immerhin jetzt. Es ist ein Mädchen.«

Sie wickelte das Kind, und gab ihm zu trinken. Der kleine Gast, entweder ausgehungert oder ein unverhältnismäßig guter Esser, leerte die Flasche bis auf den letzten Tropfen.

Nachdem das Baby vorschriftsmäßig aufgestoßen hatte, betteten sie es in einen Wäschekorb, und Aliza trug mit Sabine das Körbchen ins Schlafzimmer der Eltern.

Wilma Brügge nahm die Tragetasche und hob die kleine Matratze hoch.

»Burkhard!« rief sie da.

Ihr Mann trat neben sie. Beide starrten auf den maschinengeschriebenen Zettel, der auf dem Boden der Plastiktasche lag.

»Ich heiße Rosemarie«, stand da. »bitte, nehmt mich auf und behaltet mich, bis das Schicksal sich eines anderen besinnt und mich meinem Vater zuführt.«

»Rosemarie«, murmelte Wilma.

Burkhard schwieg. Dann nahm er den Zettel und gab ihn seinem blinden Sohn.

»Das lag in der Tasche, Siegbert. Ich lese dir ihn vor.« Er zitierte die Worte, die darauf standen. »Fühl ihn an – kannst du irgend etwas daraus erkennen?«

Siegbert rieb den Zettel in seiner Hand.

»Nicht von uns«, bemerkte er dann, »wir haben feineres Papier. Die Schreibmaschine ist lange nicht gereinigt worden. Die Typen sind durchgeschlagen. Ein altes Modell, schätze ich.«

»Arme Leute?«

»Das ist nicht gesagt. Solche Maschinen sind noch im Umlauf. Es gibt Snobs, die sie sich auf den Schreibtisch stellen, wie manche eben alte Telefone benutzen. Ich würde sagen, intellektuelles Milieu – oder ein Mädchen, das die Maschine von seiner Mutter geerbt hat und sich nicht trennen konnte.«

»Keine Ahnung!« murmelte Burkhard Brügge kopfschüttelnd, und auch Wilma wußte keine Erklärung.

Die beiden Mädchen, die gerade wieder hereinkamen, fanden den Zettel enorm spannend.

Sabine fragte: »Wollen wir’s behalten, Mama?«

»Das kommt darauf an, ob du mir zur Hand gehst, mein Kind«, sagte ihre Mutter streng. »Ich kenne dich besser als du denkst. Heute ist das alles noch spannend. Aber bald wirst du erfahren, wieviel Arbeit, Mühe und Ängste ein Säugling bringt, und du wirst nicht mehr so begeistert sein.«

»Aber ich!« erklärte Aliza strahlend.

Wilma Brügge sah das junge Mädchen sekundenlang an.

»Ja«, sagte sie langsam, »dir glaube ich es schon eher, Aliza. Nun gut, wir wollen Rosemarie behalten, bis… nun, bis sich etwas anderes ergibt. Ich bringe es nicht übers Herz, das Kind der Fürsorge zu übergeben, es sei denn, du beständest darauf, Burkhard.«

»Ich?« verwahrte sich der

Hausherr empört. »Meinetwegen brauchst du das Kind nicht aus dem Haus zu geben. Aber wie sollen wir es anmelden?«

»Rosemarie – und wie sonst noch?«

Keiner wußte eine Antwort auf diese Frage.

»Selbst wenn du ihm deinen Namen geben wolltest«, sagte er zu seiner Frau. »So ginge das nicht ohne weiteres, denn dann müßtest du das Kind adoptieren. Und ohne Einwilligung deiner drei Kinder ginge das nicht einmal.«

»Laß uns morgen darüber reden«, bat Wilma erschöpft.

»Was mich betrifft«, ließ sich Siegbert vernehmen, »ich hätte nichts dagegen, daß ihr es adoptiert. Mein Erbe ist mir immer viel zu groß erschienen. Ich wüßte nichts damit anzufangen. Alf wird es verwalten müssen, und das ist Mühe und Arbeit genug. Wenn ich es mir recht überlege – ich würde es gern auf meinen Namen nehmen. Dann hätte ich doch wenigstens etwas in meinem Leben getan.«

*

Eine Woche später wurde die Adoption mit Hilfe des Rektors, des Polizeikommissars und aller einflußreichen Bekannten der Brügges, in die Wege geleitet. Aber trotz aller Bemühungen blieb die Sache kompliziert, da niemand wußte, woher das Kind kam.

Trotzdem nahm der bürokratische Weg seinen Lauf, so daß Siegbert zufriedengestellt war.

»Eines Tages werden wir es schaffen«, sagte er zuversichtlich und nahm wieder seine Noten vor, denn er hatte Musikwissenschaft studiert.

Das Kind aber gedieh prächtig.

Wilma Brügge hatte ihre beiden Mädchen genau richtig eingeschätzt. Während bei Sabine das Interesse an dem Baby bald wieder abflaute, blieb Aliza hingebungsvoll, an der Seite des Kindes. Sie konnte es nach zwei Wochen allein wickeln, füttern und baden, fuhr es spazieren und wechselte sich nur ungern mit Malwine oder Wilma Brügge ab.

Sabine, um zwei Jahre jünger als die Freundin, besann sich jedoch im Laufe der Monate wieder auf ihr geselliges Leben. Zudem war Saison – wie jeden Winter. Bereits Anfang November begannen die Bälle, zuerst die Jagdbälle, dann die Weihnachtsbälle, die Vorbereitungen für das Fest und viele spätnachmittägliche Tee-Einladungen, zu denen natürlich auch die jungen Männer erschienen.

Sabines derzeitiger Schwarm, Peter Pattenkoven, ein überraschend ernsthafter junger Mann, der sich auf sein Physikum vorbereitete und deshalb nicht allzuviel Zeit hatte, war zu Sabines Leidwesen nicht immer mit von der Partie.

Aber der junge Volontär und Patensohn Wilma Brügges, Friedrich Wilhelm Weyersbach, der sich der Einfachheit halber Friedhelm nannte, fehlte nie. Es kam Sabine sehr zustatten, die ohne Begleitung nicht zu den Bällen hätte gehen können.

Früher war auch Aliza ganz gern mitgekommen. Aber seitdem das Baby im Hause war, war es schwer, sie loszueisen.

Auf Wilmas Drängen und Sabines Betteln hin, ließ Aliza sich erweichen und ging mit Sabine und Friedhelm auf den großen Hubertusball. Am nächsten Morgen schliefen die beiden Mädchen aus.

»Laß sie nur!« sagte Wilma Brügge zu Malwine, die murrend den Kaffee servierte. »Wenn man so spät heimkommt, kann man nicht so früh heraus wie du. Hauptsache, wir beide sind da.« Damit lächelte sie der treuen Seele zu und griff nach der Post.

Siegbert saß im Sessel am Fenster des Frühstückszimmers und hielt das Baby im Arm. Jeden Morgen um diese Zeit hielten die beiden stille Zwiesprache miteinander, der große blinde Mann mit dem Gelehrtengesicht und das winzige Kind mit den aufmerksamen Augen.

Wilma hatte einen Brief ihres Sohnes Alf geöffnet, den Brief, auf den sie seit einigen Wochen wartete.

Nun hatte er also geschrieben. Wilma strich sich nervös übers Haar, das immer noch blond und sehr gepflegt war, und begann zu lesen.

Liebe Mutter. Sei mir nicht böse, daß ich erst heute auf Deine Zeilen antworte, die mir ebensoviel Herzeleid wie ernste Gedanken verursacht haben, obwohl – nun, obwohl es ohnehin nicht mehr wichtig ist. Aber die Tatsache, daß Du Yvonne nicht akzeptiert hättest, ist für mich immer noch schmerzlich.

Du kannst beruhigt sein – es wird keine ungebetene Schwiegertochter in Haus Vogelsang geben. Wenn es überhaupt je eine geben wird, was ich im Augenblick bezweifle. Yvonne ist aus meinem Leben geschieden und wird nicht mehr zurückkehren.

Dir wird ein Stein vom Herzen fallen – mir ist es eher wie eine schwere Last, die mich zu er­drücken droht.

Natürlich komme ich Weihnachten wie immer nach Hause – wo sollte ich sonst auch hin? Was es mit der Überraschung auf sich hat, die du erwähnst, interessiert mich natürlich. Aber ich werde es ja bald wissen, denn am 19. Dezember fahre ich hier ab und werde am Abend wohl bei Euch sein.

Im übrigen halte ich den Kopf hoch und die Ohren steif, wie Du es mich gelehrt hast.

In alter Frische, Euer Sohn Alf.

Wilma ließ die beiden Bogen sinken und schloß die Augen. Die Dame hatte ihm den Laufpaß gegeben, soviel stand fest. Ein Mädchen vom Theater – was konnte man anderes erwarten? Sie wird sich überlegt haben, daß es ohnehin noch endlos lange dauern würde, bis Alf Herr in Haus Vogelsang und Eigentümer der beiden für ihn vorgesehenen Fabriken sein würde. Er war erst vierundzwanzig.

Armer Alf – es war seine erste Liebe gewesen. Der Junge hatte zuviel Herz und Gemüt. Er würde viel härter werden müssen im Leben, damit ihm in Zukunft solche Enttäuschungen erspart blieben.

Denn daß Yvonne ihn enttäuscht hatte, stand für Wilma fest. Und es sollte viele Jahre dauern, bis sie herausfand, daß sie sich geirrt hatte.

»Ist etwas, Mutter?« erkundigte sich Siegbert, der mit der Intuition der Blinden die Atmosphäre erfassen konnte wie kein Sehender. Wilma wandte sich ihm zu.