Sirius - Jonathan Crown - E-Book + Hörbuch

Sirius E-Book

Jonathan Crown

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Beschreibung

Ein Foxterrier schreibt Geschichte: als Emigrant, Hollywoodstar, Zirkusattraktion und des Führers Schoßhund Es ist ein außergewöhnlicher Zeitzeuge, der das düsterste Kapitel der deutschen Geschichte hautnah erlebt: der Foxterrier Sirius, hineingeboren ins Berlin des Jahres 1938. Mit der jüdischen Familie Liliencron begibt er sich auf eine Reise ins Ungewisse – und schlägt dem Schicksal ein Schnippchen.Am Anfang ist das Ende schon nahe. Dem renommierten Planktonforscher Carl Liliencron werden Titel und Anstellung genommen und er flüchtet nach den Novemberpogromen mit seiner Familie ins Exil nach Hollywood. Während er sich als Chauffeur durchschlägt und hadert, nimmt Sirius sein Schicksal mit der melancholischen Heiterkeit, die nur klugen Foxterriern zu eigen ist, selbst in die Hand, und das Leben eilt ihm dabei zu Hilfe: Er wird als Filmhund zum gefeierten Star, trifft jede Menge Prominenz von Rita Hayworth, Billy Wilder und John Wayne bis zu Marlene Dietrich und Cary Grant. Als Attraktion bei der größten Show der Welt, mit der der Circus Barnum durchs Land zieht, geht er in der Zeitmaschine des Zauberers Manzini verloren – und findet sich mitten im Krieg in Berlin wieder. Und hier hat er die Chance, ins Weltgeschehen einzugreifen, denn er wird zum Schoßhund Adolf Hitlers im Führerhauptquartier – und zum Informant für den Widerstand. Mit viel Tempo, Herz und Gefühl inszeniert Jonathan Crown eine abenteuerliche Zeitreise. Er stürzt seinen vierbeinigen Helden in alle möglichen Katastrophen, überrascht aber auch mit verblüffenden Wendungen ins Kuriose. Ein grandioses Lesevergnügen!

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Seitenzahl: 253

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Jonathan Crown

Sirius

Die Geschichte eines kleinen Hundes, der fast die Welt verändert hätte

Roman

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Jonathan Crown

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungKarte: Die abenteuerliche Reise eines kleinen Hundes1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel
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Für meine Familie, die in jener Zeit in Berlin gelebt hat.

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1. Kapitel

Jeden Morgen, pünktlich um 10 Uhr, tritt Professor Liliencron vor sein Haus, und dann geschieht immer dasselbe: Er schöpft tief Luft, so als würde er in den Alpen auf einem Berggipfel stehen und das gesunde Klima einsaugen. Auch seine Kleidung sieht nach Wanderlust aus. Schiebermütze, Lodenjacke, Kniebundhose. Neben ihm wartet schon sein Foxterrier. Er wedelt erwartungsfroh mit dem Schwanz und denkt sich »Jetzt geht’s los!«.

 

Dann trotten die beiden die Klamtstraße hinunter, eine kleine Seitenstraße des Kurfürstendamms. Am ersten Baum machen sie halt. Der Hund schnuppert. Herr Liliencron holt ein Buch aus der Manteltasche und liest. Nichts bringt sie aus der Ruhe. Nachbarn grüßen. Herr Liliencron nickt freundlich zurück und vertieft sich wieder in sein Buch. Der Hund umkreist derweil den Baum, so schnell es nur geht, die Schnauze immer dicht am Stamm, wo ein paar Grashalme wachsen. Manchmal bellt er den Baum an, knurrt auffordernd, so als wolle er mit ihm spielen. Dann hebt er das Bein.

 

Das kann eine gute halbe Stunde so weitergehen. Irgendwann klappt Herr Liliencron sein Buch zu, steckt es in die Manteltasche und schickt sich an, den Heimweg anzutreten. Der Hund denkt nicht daran. Er möchte noch länger, noch viel länger, mit dem Baum spielen. Herr Liliencron ruft ihn dann leise, aber streng bei seinem Namen: »Levi!«

Levi weiß, dass er gemeint ist. Folglich versucht er jedes Mal aufs Neue ein Gesicht aufzusetzen, das – seiner Einschätzung nach – eine gewisse herzzerreißende Wirkung nicht verfehlen dürfte. Dazu jault er erbärmlich, zieht den Schwanz ein und schmiegt sich an den Baum, als Zeichen tief empfundener Unzertrennlichkeit.

 

Herr Liliencron geht schon mal vor. Er packt, scheinbar beiläufig, ein Stück Schokolade aus. Das Knistern des Papiers macht Levi wankelmütig. Den Baum gibt es auch morgen noch, denkt er sich. Wir werden uns immer wiedersehen. Alles, was vergänglich ist, sollte Vorrang genießen.

 

Der Herr Professor und sein Hund. Immer zur selben Stunde, immer am selben Baum. Mitten in Berlin.

*

Familie Liliencron bewohnt ein Stadtpalais, das die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina ihrem Ehrenmitglied zur Verfügung stellt.

Professor Carl Liliencron hat die Ehre, seit ihm die Cothenius-Medaille in Gold verliehen wurde. Kurz darauf ist er mit seiner Frau Rahel und den beiden Kindern, Georg und Else, in das prächtige Haus gezogen.

»In dieses Haus gehört ein Hund«, sprach er feierlich. So kam Levi in ihr Leben.

 

Jetzt ist Frühling. Im Jahr 1938.

Liliencron ist in der langen Geschichte der Leopoldina der jüngste Würdenträger. 42 Jahre jung. Trotzdem hat er bereits weiße Haare, die sich seitwärts des kahlen Schädels wild aufbäumen, wie sich das für den Träger der Cothenius-Medaille in Gold gehört. Manchmal weiß die Natur des Menschen schon im Voraus, was die Kultur noch mit ihm vorhat.

 

Liliencrons Thema ist die Mikroskopie. An seinem Institut erforscht er die Beziehungen zwischen arktischem und antarktischem Plankton.

»Alles, was größer ist als vier Tausendstel Millimeter, interessiert mich nicht«, sagt er gern.

So begründet er auch sein Desinteresse an Adolf Hitler. Oder an Politik. Oder an der Zukunft. »Alles zu groß«, ist seine Meinung dazu.

 

Ausgerechnet dieser Mann, der alles für unwichtig erklärt, was mit bloßem Auge sichtbar ist, hat eine Frau, deren Schönheit auf den ersten Blick ins Auge sticht. Ist das nicht merkwürdig?

Rahels Schönheit war schon immer Gesprächsstoff in Berlin. Sie hatte berühmte Verehrer, Wilhelm Furtwängler zum Beispiel oder Peter Lorre. Aber dann wählte sie den Mann mit dem Mikroskop. »Er sieht das Unsichtbare, das ist doch lustig, oder?«

 

Rahel Liliencron nimmt das Leben von der heiteren Seite. Schon morgens, wenn sie sich ankleidet und frisiert, klingt fröhliche Musik aus dem Grammophon. Die Schallplatten, zu denen in Berlin gerade getanzt wird.

»Komm, Carl«, fordert sie ihren Mann auf, »tanz mit mir!« Er schüttelt den Kopf. Zu jung für die Cothenius-Medaille, zu alt für die Gegenwart, denkt er sich. Seltsam.

Manchmal tanzt er dennoch mit.

 

Rahel liebt modische Kleidung. Ihre Schwester, die in Paris lebt, schickt jeweils die aktuellen Illustrierten. Rahel lässt dann nachschneidern. Schnell! Sie will die Erste in Berlin sein, die mit den neusten Modellen der Saison Aufsehen erregt.

 

Bis heute weiß Rahel nicht, was genau Plankton ist. »Hauptsache, du weißt es«, sagt sie zu Carl.

Sie zeigt ihm das rosa Kostüm, das die Schneiderin gerade fertiggestellt hat. Ein Entwurf von Coco Chanel. »Das kann dein Plankton nicht.«

»Da irrst du dich, meine Liebe«, antwortet Carl. »Die Grünalgen verändern ihr Farbenkleid jede Saison. Je nachdem, welches Licht welcher Wellenlänge ihre Membrane absorbieren.« Er lächelt liebevoll. »Ich verweise auf mein Standardwerk Phytoplankton und Photosynthese. Da kannst du das nachlesen.«

Rahel kennt das Buch. Es ist einer der dicken Wälzer, die sie aus der Bibliothek holt, wenn Carl tagsüber im Institut ist. Sie stapelt die Bücher dann am Boden aufeinander. »Levi!«, ruft sie. »Mach hopsasa!«

Levi ist ein kluger Hund. Schon nach drei oder vier Anläufen weiß er, was gefragt ist. Mal springt er über das Hindernis, mal thront er obenauf und macht Männchen.

Oder, aufs Kommando »Levi, lies!«, tut er so, als würde er mit den Pfoten in dem Buch blättern. Dann sackt er plötzlich theatralisch zusammen, schließt die Augen und schnarcht.

Er liebt diese kleinen Kunststücke.

 

Am späten Nachmittag kommt Carl meist mit ein paar Kollegen aus der Akademie nach Hause, dann ziehen sie sich in die Bibliothek zurück, trinken Cognac und fachsimpeln. Professor Hertz ist dabei, der Nobelpreisträger für Physik, und Rafael Honigstein, der berühmte Paläontologe. Die Gespräche verlassen in letzter Zeit immer häufiger die Naturwissenschaften und landen bei der Politik. Bei den Rassegesetzen. Bei der Bücherverbrennung. Bei den Schikanen gegen jüdische Gelehrte und Studenten. Düstere Zeiten. Was tun?

Levi hört aufmerksam zu.

 

Gleich kommt wieder der Moment, in dem Liliencron zum Regal schreitet und mit furioser Geste das Buch Mein Kampf in die Luft hält.

Levi richtet sich auf, bellt mehrmals lauthals und reißt dann die rechte Pfote hoch zum Hitlergruß. Auch ein Kunststück, das ihm Rahel beigebracht hat.

Die akademische Runde applaudiert. Man weiß auch: Das ist das Zeichen zum Aufbruch.

 

»Du musst ihm noch beibringen, auf dem Buch sein Geschäft zu erledigen«, sagt Carl zu seiner Frau, die die Gäste zur Tür begleitet.

 

Die Abende im Haus Liliencron sind dem Familienleben gewidmet. Putti, das Schweizer Dienstmädchen, serviert das Essen im Gartenzimmer. Später gibt Else ein kleines Konzert am Klavier.

 

»Sie hat Talent«, hatte der Dirigent Fritz Mahler gesagt, auch ein Freund des Hauses, der mit Else gelegentlich vierhändig spielte. »Ich habe allerdings große Zweifel, ob unser Führer dafür ein Ohr hat.«

Vor zwei Jahren ist Mahler emigriert, er wollte Else nach New York mitnehmen. Aber ihre Eltern fanden, sie sei zu jung dafür. Sie war damals dreizehn.

 

Der schwarze Bechstein-Flügel steht im Salon. Else spielt den zweiten Satz von Schuberts Sonate in B-Dur. Ein wehmütiges Andante, das immer zarter, immer leiser wird, bis nur noch der Hauch einer Berührung auf den Tasten liegt. Der gewaltige Flügel flüstert auf einmal Töne, die nahezu nicht mehr hörbar sind.

 

Else scheint in der Musik zu ertrinken. Ihre roten Haare fallen wie Wellen auf die Tasten, ihre blasse Haut spiegelt sich in dem Flügel, als wäre er ein dunkler, tiefer See. Die letzten Akkorde: Der Tod und das Mädchen.

Else spürt in diesem Augenblick die Ungeduld ihres Herzens. Die Sehnsucht nach der ersten großen Liebe. Wann ist es endlich so weit?

 

Georg ist ihr älterer Bruder. Er steht kurz vor dem Abitur am Fichte-Gymnasium. In der Abschlussklasse ist er der letzte »nicht arische« Schüler. Er will Arzt werden. Aber jüdischen Studenten ist die Universität verwehrt.

Vater Liliencron bleibt unerschütterlich: »Du weißt doch, Sauerbruch hat versprochen, ein gutes Wort für dich einzulegen.«

 

Georg hat bereits im Alter von sechs Jahren Katzen seziert, und die Schädel der kleinen Tiere stehen, präpariert in Formalin, bis heute auf seinem Schreibtisch.

Zur Schule geht er stets in Anzug und Krawatte. Wenn er heimkommt, ist seine Kleidung oft ramponiert. »Notwehr«, lautet sein Kommentar, achselzuckend. Er lächelt maliziös bei dem Gedanken an die Blessuren, die seine Angreifer einstecken mussten.

Georg ist Mitglied in der Sportvereinigung Ostberlin. Sein Trainer ist Werner Seelenbinder, der deutsche Meister im Ringen des Halbschwergewichts, der bei den Olympischen Spielen 1936 auf dem Siegerpodest den Hitlergruß verweigerte.

Verweigerung? Widerstand? Resignation? Flucht?

 

Georgs Gedanken bewegen sich im Kreis, aber die Kreise werden immer kleiner, und er weiß: Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Die Zukunft, dieses unberechenbare Ungeheuer, marschiert mit hocherhobener Fahne auf die Liliencrons zu – und was dann?

 

»Schaut mal, dieser Himmel!«, ruft Rahel und tritt auf die Terrasse hinaus. »Sternenklar.«

Familie Liliencron versammelt sich unter dem Firmament. Es ist Neumond. »Da ist der Sirius«, freut sich Vater Liliencron. »Seht ihr ihn?«

Sein Finger deutet in die Dunkelheit, dorthin, wo am Ende des Universums noch Licht brennt.

»Großer Hund heißt das Sternbild.«

 

Levi hebt den Kopf. Sein Blick folgt dem Finger in die schwarze Nacht. Großer Hund. Ihm ist auf einmal traurig zumute, denn er denkt zurück an den Tag, als er klein war. Ganz klein.

*

Damals, als die Liliencrons Ausschau nach dem passenden Hund hielten, machte gerade der Dackel Kuno von Schwertberg, genannt Kurwenal, Schlagzeilen.

Er gehörte Mathilde Freiin von Freytag-Loringhoven, einer Vertreterin der Neuen Tierpsychologie in Weimar.

Kurwenal konnte lesen und sprechen. Er äußerte sich, indem er exakt so oft bellte, wie es der Zahl im durchnummerierten Alphabet entsprach.

Der berühmte Tierpsychologe William McKenzie kam eigens aus Genua angereist und hielt dem Hund seine Visitenkarte unter die Nase. Kurwenal las und bellte dann: »Magnzi« und »Gnua«. Er folgte dabei der phonetischen Orthographie.

McKenzie reiste fasziniert ab.

 

Zwei britische Forscherinnen besuchten Kurwenal und verblüfften ihn mit der Frage, was sie auf dem Kopf hätten. Kurwenal antwortete umgehend: »Schicke Hüte.«

Es dauerte nicht lange, bis sich auch eine Abordnung des NS-Tierschutzbundes für den genialen Dackel interessierte, allerdings mit finsteren Hintergedanken. Wenn es sprechende und denkende Tiere gibt, dann können auch Menschen – Juden, Zigeuner, Polen – sprechende und denkende Tiere, also Untermenschen sein.

All das rief Isidor Reich auf den Plan.

 

Isidor Reich war ein junger, aufstrebender Zoologe, der nicht länger mit ansehen wollte, wie die Neue Tierpsychologie drohte, in die Hände der Nationalsozialisten zu geraten. Ihm schwebte ein »jüdischer Kurwenal« vor. So begann er mit seiner Foxterrier-Zucht im Berliner Grunewald.

Der Stammbaum seiner Hunde verzeichnete keine hochtrabenden deutschen Adelstitel wie Kuno von Schwertberg, sondern jüdische Vornamen, in alphabetischer Reihenfolge, und dazu die Wurfnummer und den Zuchtnamen Reich.

 

Der erste Reich bestand aus fünf Welpen, genannt Ariel, Benjamin, Chajm, David und Esther. Reich wählte den gelehrigsten Hund aus, es war Benjamin, und unterzog ihn fortan seiner obsessiven Schulung.

Von morgens früh bis abends spät saß der Hund an der Schreibmaschine und tippte mit der Pfote treu die Buchstaben, die Reich ihm zurief. Nach einem Jahr war Benjamin imstande, problemlos einen mündlich gehaltenen Vortrag zu transkribieren.

 

Derweil war schon der zweite Reich geworfen. Gidon, Hadassah, Irit und Jakob. Hier war Jakob der Begabteste. Er war ganz Benjamins Sohn, deshalb erstaunte es nicht – oder trotzdem natürlich doch –, dass Jakob das Schreiben im Blut hatte. Im Alter von sechs Monaten verfasste er sein erstes eigenes Gedicht:

cad a baf

bdd af dff

art ad

abd ad arrli

bed a ccat

Die Verse wurden in der Zeitschrift Tierseele abgedruckt, dem Organ der Neuen Tierpsychologie. Ein Triumph.

 

Dann kam der dritte Reich zur Welt: Levi, Mirjam, Natan, Oz und Ruth.

Aber das war auch schon das Ende. Eines Morgens brach die Gestapo die Tür auf, Isidor Reich wurde verhaftet und deportiert. Sämtliche Hunde wurden erschossen.

Bis auf einen. Den kleinen Levi.

Er hatte sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Eine Nachbarin fand das zitternde Fellknäuel in der hintersten Ecke der Küche, wo es wohl für ein Kissen oder dergleichen gehalten worden war.

Der letzte Überlebende vom dritten Reich. Levi ahnte damals noch nicht, dass es nur der Vorhof zur Hölle war, dem er entkommen war.

*

Professor Liliencron liest nie Zeitung. Normalerweise. Seine Neugier gilt Lebewesen, die 3,5 Milliarden Jahre alt sind. Sie sind äußerst selten Thema von Tageszeitungen, darum lohnt sich die Lektüre nicht, seiner Meinung nach.

 

Heute liest er Zeitung.

Er sitzt am Frühstückstisch. Noch im Morgenmantel. Auf den Spaziergang mit Levi, pünktlich um 10 Uhr, hat er verzichtet. Putti hat stattdessen den Hund ausgeführt und frische Brötchen geholt.

Rahel zittert, als sie den Kaffee einschenkt. Sie weiß, ihr Mann liest nur Zeitung, wenn ihn böse Vorahnungen dazu nötigen.

 

»Neuigkeiten!«, sagt Vater Liliencron. »Interessante Neuigkeiten. Ich fürchte, sie betreffen uns.«

»Was denn?«, fragt Else.

Er liest vor: »Zweite Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen vom 17. August 1938.«

Seine Stimme ahmt den amtlichen Tonfall einer Lesung vor Gericht nach.

»Paragraph 1. Juden dürfen nur solche Vornamen tragen, die in den vom Reichsminster des Innern herausgegebenen Richtlinien über die Führung von Vornamen aufgeführt sind.«

Seine Faust schlägt donnernd auf den Tisch.

»Wer der Vorschrift vorsätzlich zuwiderhandelt, wird mit Gefängnis bis zu sechs Monaten bestraft.«

 

Der Lärm weckt Levi auf. Er hat bislang genüsslich schlummernd auf seiner Hundedecke unterm Tisch gelegen. Normalerweise erwacht er sanft aus seinen Träumen, zum Beispiel durch den Duft einer Scheibe Käse, die ihm gereicht wird, damit er sich als vollwertiges Mitglied der Frühstücksrunde fühlt. Aber heute ist eben kein normaler Tag.

Hat er etwas falsch gemacht? Gilt der Lärm ihm? Er artikuliert seine Ungewissheit als leises Fiepen.

 

»Gilt das Gesetz auch für Hunde?«, fragt Else. »Muss Levi auch seinen Vornamen ändern?«

»Wundern würde es mich nicht!«, erwidert Vater Liliencron bitter und setzt sich die goldene Lesebrille auf. »Jetzt lesen wir mal das Kleingedruckte.«

Die Familie schaut ihm gebannt zu.

»Schrecklich«, murmelt er. »Jetzt heißt es aufpassen.«

»Jetzt plötzlich?«, fragt Georg sarkastisch. »Ich passe schon lange auf. Das kannst du mir glauben.«

»Ich weiß«, nickt Liliencron, »ich weiß. Leider können wir uns nicht aussuchen, in welchen Zeiten wir leben.«

»Du hast dich doch entschieden«, erwidert Georg. »Du lebst in der Vergangenheit.«

Rahel fällt ihm ins Wort: »Lass Vater in Ruhe, Georg.«

 

Levi macht sich räuspernd bemerkbar.

Liliencron beugt sich zu ihm hinab. »Du verstehst das alles nicht. Oder doch?«

Levi richtet sich auf und wiegt den Kopf wehmütig im Rhythmus der streichelnden Hand.

»Es ist gefährlich da draußen, wenn man einen jüdischen Namen trägt«, erklärt Liliencron seinem Hund.

Er legt die Zeitung zur Seite und erhebt sich.

 

»Deshalb wirst du ab jetzt auch nicht mehr Levi heißen!«, ruft er. Levi runzelt die Stirn.

»Wir suchen für dich einen schönen neuen Namen aus«, sagt Liliencron. »Damit kannst du die Arier an der Nase herumführen.«

 

Er schließt die Augen und denkt nach. Großer Hund. Das Sternbild kommt ihm in den Sinn. Der Abend auf der Terrasse. Sein Hund ist inzwischen groß, oder etwa nicht?

»Sirius!«, platzt es plötzlich aus ihm heraus.

Er blickt in die staunenden Gesichter seiner Familie.

»Sirius!«, wiederholt er feierlich. »Du heißt fortan Sirius.«

 

Levi fühlt sich geschmeichelt. Großer Hund. Er spürt allerdings auch die Verantwortung, die auf dem Stern und ihm lastet – Lichtblick sein in der Dunkelheit. Hunde, die Lumpi heißen, haben es leichter.

 

»Sirius, komm!«

Liliencron greift zur Leine, und gemeinsam verlassen sie das Haus.

Die Passanten trauen ihren Augen nicht. Der Herr Professor, noch im Morgenmantel und viel später als sonst, läuft gedankenverloren die Straße hinunter. Seinen Hund ruft er »Sirius«.

»Sirius, los!«

Frau Zinke, die Frau von Hausmeister Zinke im Nebenhaus, die den Professor beim Spaziergang gelegentlich in ein Gespräch verwickelt, fragt: »Ist das nicht der Levi?«

Liliencron antwortet: »Nein, das ist unser Sirius.«

Sirius trottet mit hängenden Ohren voraus. Als er bei dem Baum ankommt, seinem Baum, bellt er nicht, sondern legt sich nachdenklich hin.

»Ist das ein anderer Hund?«, fragt Frau Zinke.

»Ja und nein«, erwidert Liliencron.

Frau Zinke schüttelt verwundert den Kopf.

*

Das Stadtpalais, in dem die Liliencrons wohnen, ist ein imposanter Bau.

Der Eingang ist von zwei Säulen gerahmt, und über dem Portal thront ein Fries, das der berühmten Deckenszene in der Sixtinischen Kapelle nachempfunden ist, Die Erschaffung Adams von Michelangelo.

 

Es geht die Geschichte, dass ein Nachfahre Michelangelos der Baumeister des Hauses war, ein gewisser Manfred Buonarroti, der Mitte des 19. Jahrhunderts in Berlin ein Architekturbüro eröffnete. Liliencron ist der Geschichte nachgegangen, konnte aber die genealogische Linie von Michelangelo zu Manfred nicht schlüssig nachvollziehen. Er stieß nur auf einen Bildhauer namens Manfred Hosemann aus Leipzig, der im Jahr 1821 mal einen Monat in Florenz verbrachte.

 

Im Gartenzimmer des Hauses ist ein weiteres Michelangelo-Zitat unübersehbar: eine Wandnische, in der die Statue des David en miniature eingearbeitet ist. »Ecce homo« ist darunter eingraviert.

Professor Liliencron trägt sich seit geraumer Zeit mit dem Gedanken, den David durch die Büste seines Hundes zu ersetzen. Der Plan macht ihm gute Laune. Die Inschrift »Ecce homo« bliebe natürlich bestehen, denkt er sich.

 

Sirius – inzwischen sind ein paar Wochen vergangen – hat seine neue Identität akzeptiert. Er hat schon fast vergessen, dass er mal Levi hieß. So schnell geht das.

»Wahrscheinlich hat Hitler auch längst vergessen, dass er mal Schicklgruber hieß«, sagt Liliencron.

Frau Zinke jedenfalls hat es vergessen. Sie ruft »Hallo Sirius!«, wenn sie den Hund sieht. Und sie sagt »Heil Hitler!«, wenn sie Herrn Liliencron sieht.

 

Nichtsdestotrotz, das Leben geht weiter: Jeden Morgen, pünktlich um 10 Uhr, tritt Professor Liliencron vor sein Haus, gefolgt von Sirius, und dann laufen sie gemeinsam die Klamtstraße hinunter.

An der Ecke angekommen, beginnt der Hund sein Spiel mit dem Baum, und Liliencron liest in seinem Buch.

Die Schokolade, die mal ein Trick war, um den Hund nach Hause zu locken, ist nicht mehr notwendig. Sirius kennt jetzt die Route. Er kennt das ganze Viertel.

 

Manchmal macht er sich sogar alleine auf den Weg.

Er hat ein Schlupfloch im Gartenzaun entdeckt, und los geht’s. Sein erster Halt ist das Café Hoffmann an der Clausewitzstraße. Erwartungsfroh nimmt er vor der Tür Platz, bellt und wedelt mit dem Schwanz.

»Na, dann zeig mal, was du Neues gelernt hast«, sagt Herr Hoffmann.

Sirius macht Männchen.

»Was? Das ist alles?«, tut Herr Hoffmann enttäuscht. »Mehr nicht?«

Sirius springt in die Luft, überschlägt sich – und landet auf beiden Vorderpfoten.

»Jaa, das ist doch schon viel besser!«, lobt Herr Hoffmann und rückt eine Nussecke raus.

Jetzt ist Sirius an der Reihe, seiner Enttäuschung Ausdruck zu verleihen. Theatralisch lässt er die Ohren hängen und tut so, als würde er deprimiert von dannen schleichen.

»Na gut«, sagt Herr Hoffmann. »Zwei Nussecken.«

Sirius bellt frohgemut, schnappt sich die Belohnung und zieht weiter. Neugierig stolziert er die Kantstraße hinunter. Auf den Kurfürstendamm traut er sich noch nicht.

»Schönen guten Tag, Sirius!«, grüßt der Buchhändler Friedrich und lüpft den Hut.

 

Am Savignyplatz legt sich Sirius auf einer Parkbank in die Sonne und döst. Später trottet er Richtung Fasanenstraße, da schieben gerade zwei Müllmänner scheppernde Tonnen übers Pflaster.

»Den kennen wir doch!«, ruft einer von ihnen, als sie Sirius erblicken. »Der Judenhund kommt mit auf den Müll!«

Sie machen sich einen Spaß daraus, ihm mit wilden Gesichtern und drohenden Gebärden Angst einzuflößen.

 

Sirius ist ein unerschrockener Hund. Sein struppiges Fell, das in den Farben Weiß, Braun, Schwarz gescheckt ist, verleiht ihm sogar eine widerborstige, kampflustige Ausstrahlung.

Er sieht aus wie ein verstaubter Teppich, dem die Trikolore eines unbekannten Landes als Vorlage gedient hatte.

Vielleicht war es das Niemandsland.

*

Berlin, die graue Stadt, stürzt sich auf den Sommer wie ein Häftling, der endlich seine traurige Zelle verlassen darf und gottlob wieder den blauen Himmel erblickt. Hungrig nach Sonne. Gierig nach Auslauf. Lechzend nach frischer Luft. Durstig nach Bier.

Gestandene Herren johlen, wenn sie am Vatertag mit Kutschen ins Grüne fahren, Grillzeug und Angeln im Gepäck. Endlich Sommer!

 

Die Lokale stellen ihre Tische ins Freie. Die Menschen sind nur noch notdürftig bekleidet. Die Bürgersteige werden zur Bühne des großen, sommerlichen Freilufttheaters. Am Wochenende strömen die Menschenmassen ins Strandbad Wannsee.

Das ist die Berliner Luft. Auch im Sommer 1938.

 

Familie Liliencron hat sich den Drang nach draußen abgewöhnt, notgedrungen. Das öffentliche Leben ist für Juden weitgehend verboten. Man muss mit dem Glück vorliebnehmen, das der eigene Garten spendet. Manchmal holt Liliencron auch das Auto aus der Garage, seinen geliebten Mercedes 170 V Cabriolet, und lädt ein zur Spritztour in den Grunewald. Aber die missgünstigen Blicke vermiesen das Vergnügen.

 

Georg besteht das Abitur mit Bravour. Im Anschluss an die Feierstunde im Gymnasium versammelt sich die ganze Familie am großen Marmortisch auf der Gartenterrasse.

Putti sieht richtig fesch aus, wenn sie bei besonderen Gelegenheiten die weiße Kochschürze gegen ein festliches Kleid tauscht, das übrigens ein stattliches Dekolleté zur Schau stellt. Schon beim ersten Glas Champagner glühen ihre Schweizer Bäckchen.

 

Zum engsten Familienkreis gehört auch Benno Fritsche, Georgs Patenonkel. Er ist eine berühmte Persönlichkeit in Berlin. Schauspieler am Deutschen Theater, Star des Films Grindelhof, der gerade in den Kinos angelaufen ist. Er spielt darin, wieder einmal, den blendend aussehenden Herzensbrecher, dem die Frauen zu Füßen liegen.

 

Fritsche liebt den großen Auftritt. Er ahmt die Fanfare einer Zirkustrompete nach und springt über den kleinen Gartenzaun. Er wohnt in der Villa gleich nebenan, und seit die Liliencrons ihr Palais bezogen haben, sind sie Nachbarn.

»Ich habe den weiten Weg nicht gescheut!«, sagt er zum Gruß.

Rahel setzt ihr charmantestes Lächeln auf. Puttis Wangen erinnern an das Alpenglühen in ihrer Heimat. Auch Else scheint magisch verzaubert.

 

Benno Fritsche ist ein delikates Thema.

Das beginnt schon bei seinen Haaren. Wenn Benno sich genüsslich mit beiden Händen die blonde Tolle aus der Stirn streicht, was er ständig tut, dann kommt bei dem glatzköpfigen Liliencron ein gewisses Unbehagen auf.

Dass Rahel in Gegenwart von Benno wie verwandelt wirkt, macht die Sache nicht besser. Sie ist zum Schäkern aufgelegt wie ein junges Mädchen. Benno braucht bloß ein Bonmot zu zücken, schon schmilzt Rahel dahin.

 

Aber das Entscheidende: Fritsche ist in die Partei eingetreten.

Unfreiwillig, wie er betont. Das sei so im Filmgeschäft: kein Parteimitglied, keine Rollen. Er hat allerdings kürzlich einen Artikel im Völkischen Beobachter veröffentlicht, Thema Die arische Schauspielkunst. Musste das sein?

 

Carl hatte große Bedenken geäußert, ob Fritsche überhaupt eingeladen werden soll.

»Er ist Georgs Patenonkel!«, sagte Rahel streng. »Carl, sei nicht so eifersüchtig.«

»Er ist ein Nazi!«, gab Carl zurück.

Darauf Rahel: »Er ist kein Nazi. Er ist Schauspieler. Er spielt den Nazi, damit er weiterhin Schauspieler sein darf. Jeder von uns trägt heutzutage eine Maske. Sogar Sirius.«

Liliencron gab klein bei.

 

Da sitzt er also am Tisch, der Onkel Benno.

Vater Liliencron erhebt das Glas. »Lieber Georg Israel«, beginnt er seine Ansprache.

Das fängt ja gut an, erschrickt Rahel. Doch es stimmt, neuerdings heißt ihr Sohn offiziell so, nach den Richtlinien des Reichsministers des Innern. Jüdischen Männern muss der Vorname Israel beigefügt werden, jüdischen Frauen der Vorname Sara. Aber gehört das jetzt hierher?

Onkel Benno zuckt nicht mit der Wimper.

Es folgt eine geistreiche Rede, die Georgs Lebenslauf Revue passieren lässt, prägende Momente herausgreift und mit pointierten Anekdoten garniert, nicht ohne den großen Bogen zum Plankton zu spannen, natürlich.

 

Carl wendet sich an Rahel und schildert noch mal ihre wunderbare Liebesgeschichte. Er lässt Else hochleben. Er erinnert daran, wie die gute Putti in ihr Leben kam, als Mitbringsel aus dem Winterurlaub in Arosa, wo sie als »Serviertochter« im Hotel Kulm bleibenden Eindruck hinterlassen hatte.

Tränen der Rührung quellen aus den Gesichtern, was den Redner sogar anspornt, Onkel Benno gütlich anzusprechen und ihrer Jugendfreundschaft zu gedenken.

Benno streicht mit beiden Händen die Tolle aus seiner Stirn. Dann neigt sich die Ansprache dem Ende zu.

 

»Und nun zu dir, kleiner Sirius!«

Der Hund sitzt bei Else auf dem Schoß. Er hat die ganze Zeit aufmerksam zugehört.

»Sirius?«, flüstert Benno und schaut Else fragend an. Die Umtaufung ist an ihm unbemerkt vorbeigegangen.

»Ja, Sirius«, sagt Liliencron. »Das ist jetzt sein Name. Wir alle haben neue Namen, also auch der Hund. Jeder hat seine Maske in diesen makaberen Zeiten.«

Rahel lächelt vielsagend zurück.

 

Eigentlich hatte Liliencron vor, mit einer Bemerkung zu schließen, die sich pathetisch für die Prinzipien des Humanismus ausspricht. Er wollte, mit Blick auf Sirius, sagen: Wir sind keine Tiere, die man in Rassen unterteilt, wir sind Menschen. Was gibt euch sogenannten Ariern das Recht, uns Juden die Existenz zu entziehen? Wir sind Deutsche. Wie ihr.

Dazu fehlen ihm plötzlich die Worte. Er schaut Sirius bloß an und sagt:

»Du bist ein großer Hund.«

*

Else ist verliebt. Ihr Schwarm heißt Andreas Cohn. Er studiert – wie sie – an der Jüdischen privaten Musikschule Hollaender. Sie spielt Klavier, er Violine.

Beide waren schon in derselben Klasse am Stern’schen Konservatorium, das vor drei Jahren in Konservatorium der Reichshauptstadt Berlin umbenannt und arisiert wurde. Sämtliche jüdischen Lehrkräfte mussten die Hochschule verlassen. Kurt Hollaender gründete daraufhin die private Musik-Akademie an der Sybelstraße.

 

Else und Andreas sind einander nähergekommen, als sie gemeinsam das Konzert für Violine und Klavier von Felix Mendelssohn Bartholdy einstudierten, Opus 64.

Erich Oppenheimer, der Klavierlehrer, hatte gesagt: »Fräulein Else, Sie müssen den ersten Satz so spielen, als hätte Ihr Herz gerade Feuer gefangen. Der zweite Satz ist wie das Herz, das zaghaft in sich geht und rätselt: Erwidert er meine Gefühle? Der dritte Satz ist endlich die Erfüllung der großen Liebe.«

So gesehen ist Else gerade mitten im zweiten Satz ihrer ersten Leidenschaft.

 

Andreas ist ein ernsthafter junger Mann. Die schwarzen Locken und die tief liegenden Augen verleihen ihm eine trotzige Ausstrahlung. Er geigt mit einer glühenden Inbrunst, die beinahe schon furchterregende Züge hat. Seine Violine, eine Steiner, stemmt er wie eine Armbrust gegen die Schulter, so als wäre er ein Schütze, der gerade zum entscheidenden Schuss ansetzt. Ein Kämpfer. Ein Teufelskerl.

Else dagegen wirkt wie sein Schutzengel. Sie könnte einem Gemälde von Raffael entsprungen sein. Anmutig, lieblich, zart.

 

Sie warten aufeinander, wenn der Unterricht fertig ist. Bis zur Ecke Mommsenstraße ist ihr Heimweg derselbe, dort sitzen sie manchmal noch stundenlang auf einer Bank, weil sie sich einfach nicht trennen können.

 

»Was siehst du, wenn du die Augen schließt?«, fragt Else.

Andreas schließt die Augen. »Ich sehe den Rhein. Stell dir vor, wie klein er ist, wenn er oben in den Bergen aus dem Tomasee fließt. Ein winziger Bach. Auf Rätoromanisch heißt die Quelle des Rheins Lai da Tuma. Tuma bedeutet ›Grab‹.«

Else hängt an seinen Lippen.

Er öffnet die Augen wieder. »Wenn der Rhein dann bei uns zu Hause vorbeifließt, ist er schon ein gewaltiger, breiter Strom.«

 

Andreas Cohn kommt aus Basel. Sein Großvater, Arthur Cohn, war der erste Rabbiner der israelitischen Gemeinde in Basel, wo Theodor Herzl später den Traum vom eigenen Staat der Juden in Palästina in die Welt gesetzt hat.

»Nimm mich mit, zum Lai da Tuma«, flüstert Else. Andreas lächelt. Und dann küssen sie sich zum ersten Mal.

*

Freitags ist Soiree im Hause Liliencron. Heute Abend ist Erwin Kaltenberg, der Schauspieler, eingeladen. Professor Weidenfels, der Mathematiker. Hans Fallada, der Schriftsteller. Käthe Kollwitz, die Künstlerin. Arthur und Betty Fraenkel, die Nachbarn. Else hat Andreas dazu gebeten.

»Sei nett zu ihm, Papa, ja?«, bittet sie.

»Wir werden schon angeregt plaudern«, sagt Liliencron. »Sein Interesse an Plankton vorausgesetzt.«

 

Die Gäste trudeln ein.

Weidenfels leistet sich sogleich einen Fauxpas, als er Käthe Kollwitz in ein Gespräch über Puppen verwickelt. Er hat sie mit Käthe Kruse verwechselt. Putti reicht Waldmeisterbowle.

Sirius bellt Kaltenbach an. »Das Biest ist ja bissiger als Alfred Kerr«, sagt der.

Rahel sieht einfach entzückend aus. Sie trägt ein Cocktailkleid aus mitternachtsblauer Seide.

 

Andreas Cohn steht andächtig am Rand der Runde.

»Sie spielen gern Geige, höre ich von meiner Tochter?«, fragt Vater Liliencron.

»Ja«, erwidert er.

»Geige«, sagt Liliencron und macht eine fiedelnde Handbewegung. »Hat das noch Zukunft?«

»Ja«, antwortet Cohn.

»Interessant«, murmelt Liliencron. »Ich dachte, Jazztrompete ist das Instrument von morgen.«

»Morgen«, sagt Cohn. »Wer weiß, ob wir das erleben.«

»Sie bezweifeln das?«

Cohn will gerade zu einer Antwort ansetzen, die Einblick in sein pessimistisches Weltbild gibt. Da nähert sich Else mit einem Glas Bowle in der Hand. Sie ist schon ein wenig beschwipst.

»Worüber unterhaltet ihr euch? Doch hoffentlich nicht über ernsthafte Dinge?«

»Nein, nein«, beschwichtigt Liliencron. »Wir plaudern nur über die Zukunft.«

 

Else nimmt Andreas bei der Hand und führt ihn zu Putti.

»Putti!«, ruft sie, »Hier ist ein Landsmann von dir.«

Putti sagt artig »Grüezi«.

Die beiden Schweizer wechseln ein paar Worte in ihrer Muttersprache, die sich anhört, als seien sie erkältete Bauchredner.

 

Georg sucht das Gespräch mit Andreas. »Else erzählt, dass du dir Sorgen um uns machst.«

Andreas nickt. »Ja. Ich sehe schwarz für die deutschen Juden, wenn das so weitergeht. Und es wird so weitergehen.«

Professor Weidenfels nähert sich. »Ich höre«, sagt er zu Andreas, »Sie tragen einen berühmten Namen.«

»Ich muss ihm erst noch gerecht werden«, übt sich Andreas in Bescheidenheit.

 

Weidenfels wendet sich an Georg: »Sein Vater, Marcus Cohn, ist der letzte Retter in der Not. Ich kenne viele jüdische Emigranten, die ihm ihr Leben verdanken.«

Liliencron mischt sich ein. »Da ist es wieder, das Wort. Emigration. Sind Sie auch einer dieser Zionisten, Herr Cohn?«

Andreas erwidert: »Mein Großvater hat den Zionismus zusammen mit Theodor Herzl erfunden.«

Liliencron antwortet: »Wir lassen uns doch nicht in die Wüste schicken. Das könnte Hitler so passen. Wir sind Deutsche. Wir gehören nach Deutschland.«

Dramatisch zieht er von dannen.

 

»Siehst du, Andreas, das meine ich«, sagt Georg. »Für Vater ist Deutschland immer noch das Land, das ihm die Cothenius-Medaille in Gold verliehen hat. Die Heimat von Goethe. Die Symphonien von Beethoven.«

 

Liliencron schlägt mit dem Cocktail-Löffel an sein Glas. »Liebe Gäste«, ruft er, »zur Erheiterung wird unser Freund Hans Fallada nun ein Kapitel aus seinem neuen Roman Der eiserne Gustav vorlesen.

*

Es ist Herbst geworden. Über der Stadt liegt eine dicke Wolkendecke, die schon bald den ersten Schnee abwerfen wird.

Die Stimmung im Hause Liliencron ist bedrückt. So als gäbe es eine Vorahnung, dass demnächst Ereignisse bevorstehen, die das Schicksal der Familie besiegeln.

 

Sirius wittert das bereits.