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Historischer Roman trifft Nordische Mythologie - eine packende Neuerzählung der berühmten isländischen Saga von Gunnhild und Erik
»Eine von euch verdunkelt die Zukunft der anderen. Auf Gedeih und Verderb sind eure Schicksale miteinander verwoben.« Die Weissagung trifft die Familien von Gunnhild, Oddny und Signy bis ins Mark. Was auch immer sie sich für ihre Töchter gewünscht haben, ist auf einmal unerreichbar. Trotzig schwören die drei Mädchen, einander ihr Leben lang beizustehen. Jahre später wird Signy von Wikingern verschleppt. Fest entschlossen, sie zu befreien, wendet sich Oddny an Gunnhild, die ihre Heimat verlassen hat, um Seherin zu werden. Um Signy zu retten, wagt Gunnhild alles. Sie lässt sich sogar auf eine Verbindung mit Erik Haraldsson ein, dem Sohn des Königs, dem der Ruf vorauseilt, ein Brudermörder zu sein ...
Ein eindrucksvoller Roman über die Leben zweier Frauen - die eine auf der Suche nach ihrer Schwester, die andere dazu bestimmt, Königin von Norwegen zu werden
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Seitenzahl: 743
Cover
Über das Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
TEIL I
1
2
3
TEIL II
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
TEIL III
TEIL IV
30
31
32
33
34
35
36
37
38
Anmerkungen der Autorin
Anhang
Personen
Begriffe
Danksagung
Über das Buch
Historischer Roman trifft Nordische Mythologie – eine packende Neuerzählung der berühmten isländischen Saga von Gunnhild und Erik »Eine von euch verdunkelt die Zukunft der anderen. Auf Gedeih und Verderb sind eure Schicksale miteinander verwoben.« Die Weissagung trifft die Familien von Gunnhild, Oddny und Signy bis ins Mark. Was auch immer sie sich für ihre Töchter gewünscht haben, ist auf einmal unerreichbar. Trotzig schwören die drei Mädchen, einander ihr Leben lang beizustehen. Jahre später wird Signy von Wikingern verschleppt. Fest entschlossen, sie zu befreien, wendet sich Oddny an Gunnhild, die ihre Heimat verlassen hat, um Seherin zu werden. Um Signy zu retten, wagt Gunnhild alles. Sie lässt sich sogar auf eine Verbindung mit Erik Haraldsson ein, dem Sohn des Königs, dem der Ruf vorauseilt, ein Brudermörder zu sein …
Ein eindrucksvoller Roman über die Leben zweier Frauen – die eine auf der Suche nach ihrer Schwester, die andere dazu bestimmt, Königin von Norwegen zu werden
Über die Autorin
Genevieve Gornichec machte an der Ohio State University einen Abschluss in Geschichte und kam dabei den Wikinger so nahe, wie es möglich war. Ihr Studium der nordischen Mythen und isländischen Sagas inspirierte sie zu ihren Romanen, die auf TikTok gefeiert und in den USA zu Bestsellern wurden. Sie lebt in Cleveland.
GENEVIEVE GORNICHEC
SISTERS IN BLOOD
DER SCHWUR
Roman
Übersetzung aus dem Englischen von Frauke Meier
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Titel der amerikanischen Originalausgabe:»The Weaver and the Witch Queen«
Für die Originalausgabe:Copyright © 2023 by Genevieve Gorniche
This edition published by arrangement with Ace, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.
Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2024 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: Dr. Frank Weinreich, BochumUmschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille Umschlagmotiv: © Shutterstock: likemuzzy | Mascha Tace | olgamorozart | Christos GeorghioueBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-6131-4
luebbe.delesejury.de
Für die Freunde, die an unserer Seite schreiten,und für die, die einen anderen Weg einschlagen
FRÜHE 900ER-JAHRENORWEGEN
Zwei kurze Hornstöße hallten über das Wasser.
Kaum hörte sie das, ließ Gunnhild Ozurardottir Spindel und Rocken fallen und rannte los, ohne auf die Ermahnungen der Dienstmägde zu achten, mit denen sie unter dem Vordach gesponnen hatte. Die würden sie später schelten, aber das kümmerte sie wenig.
Ihre Freunde mussten jeden Moment eintreffen, und in solchen Augenblicken fiel es ihr schwer, sich um irgendetwas anderes zu scheren.
Gunnhild umrundete die Ecke des Langhauses und lief den Hügel hinauf zu dem Wächter ihres Vaters auf der Ostseite der Insel, der dort auf einer kleinen Plattform stationiert war. Von da aus blickte er, das Rufhorn stets zur Hand, auf die See hinaus.
»Ein Schiff«, rief er den anderen Männern, die sich in der Nähe tummelten, über die Schulter zu. Gunnhild, die mit gerafftem Rock die kurze Leiter zur Plattform hinaufkletterte, bemerkte er gar nicht. »Es ist Ketils!«
Ehe er protestieren konnte, nahm Gunnhild das Horn vom Haken und blies zweimal hinein. Als sie es sinken ließ, hörte sie enttäuschte Kinderstimmen von dem herannahenden Schiff herüberhallen und stieß triumphierend die Faust in die Luft. »Ja!«
»He!«, rief der Mann und entriss ihr das Horn. »Das ist nur für Notfälle!«
»Das ist ein Notfall«, entgegnete Gunnhild feierlich und zeigte auf ein dunkles Gebilde im Wasser. »Sobald sie diesen großen Felsen in der Bucht passiert haben, stoßen sie ins Horn. Und wenn ich nicht antworte, ehe sie anlegen, schulde ich ihnen ein Pfand. Zwei Hornstöße für ›Hallo‹, drei für ›Auf Wiedersehen‹.«
»Bist du nicht ein bisschen zu alt für solche Spiele, Mädchen?«
»Nicht, wenn ich weiß, ich kann gewinnen!« Damit huschte Gunnhild wieder die Leiter hinab und rannte zur Küste. Zurück blieb nur ein kopfschüttelnder Wächter.
Als sie näher kam, konnte sie sehen, wie Ketil und sein Sohn Vestein ihr Schiff an dem klapprigen hölzernen Steg vertäuten. Drei andere Leute verließen das Boot: Keils Frau Yrsa und die beiden Töchter Oddny und Signy, die Gunnhild mehr oder weniger überfallartig in eine Umarmung zog. Seufzend verlagerte Signy gleich darauf das aufgerollte Bettzeug in ihren Armen, wühlte in ihrem Rucksack und reichte ihr eine einzelne Glasperle dar, die Gunnhild ihr triumphierend aus der Hand riss und in die Tasche an ihrem Gürtel stopfte.
Mit ihren zwölf Jahren lag Gunnhild in Bezug auf ihr Alter genau zwischen den beiden Schwestern – Signy war einen Winter älter, Oddny einen Winter jünger –, und die Mädchen bekamen einander außer bei Versammlungen nur selten zu Gesicht, was diesen Tag umso schöner machte.
»Du bist zu schnell«, beklagte sich Signy, als Gunnhild einen Arm um jede ihrer beiden Freundinnen legte und sie den Hang hinauf zur Halle ihres Vaters schob.
»Vielleicht bist du nur nicht schnell genug«, antwortete Gunnhild. »Denn wenn ich euch besuche, gewinne ich immer noch. Ich habe eine ganze Sammlung Trophäen, die das beweisen.«
Oddny schniefte und zupfte an einem der Felle in ihrem Bettzeug herum, die schmalen Schultern hochgezogen, und ihr verkniffenes Gesicht sah noch verbissener aus als sonst. »Vielleicht könnten wir dann und wann gewinnen, wenn Signy ausnahmsweise mal nicht vor sich hin träumen, sondern achtgeben würde.«
»Ach, sei doch still. Ich gebe sehr wohl acht«, sagte Signy leichthin, aber ihre grünen Augen sprudelten vor Übermut. Das mochte Gunnhild besonders an ihr: Ob es darum ging, Haferplätzchen aus der Küche zu stibitzen oder den Landarbeitern einen gut geplanten Streich zu spielen, Signy war für jeden kleinen Schabernack zu haben, während Oddny sich eher von der wie auch immer gearteten Arbeit, die sie gerade pflichtbewusst erfüllte, zurücklehnen und ihnen tadelnde Blicke zuwerfen würde. Mit Oddny konnte man nicht sehr viel Spaß haben, aber wenigstens petzte sie nicht.
Als sie das Langhaus betraten, sah Gunnhild, dass die Vorbereitungen für Ritual und Fest am Abend schon weit gediehen waren. Nahe dem hohen Stuhl ihres Vaters am hinteren Ende der Festhalle war eine kleine Plattform errichtet worden, auf der die zu Gast weilende Seherin sitzen sollte, damit sie die ganze Menge im Auge behalten konnte, wenn sie den Anwesenden die Zukunft offenbarte. Ihr Platz befand sich gleich unter den hölzernen Statuen von Odin, Thor und Freyr, die über dem vorstehenden Türsturz am Durchgang zu dem Nebenraum, in dem Gunnhilds Familie schlief, emporragten.
So hatte Gunnhild die Halle ihres Vaters noch nie gesehen: brodelnd vor Geschäftigkeit, die Luft voller Spannung und Aufregung. Die bevorstehende Ankunft der Seherin hatte den ganzen Haushalt auf den Kopf gestellt, und Gunnhild war froh, dass sie ihrer Spindel in dem Durcheinander hatte entkommen können.
Eine kniehohe Plattform verlief auf beiden Seiten über die ganze Länge des Saals. Dort konnten die Gäste feiern und anschließend auch schlafen. Bei Tag strömte Licht durch die Löcher im Dach über den beiden zentralen Feuerstellen; in der Nacht würde es im Langhaus düster und verraucht sein, Licht würden dann nur die Herdfeuer und eine Reihe von Feuerschalen spenden, die an Pfosten auf beiden Seiten des lang gezogenen Hauptraums hingen und die Sitzbereiche in verschiedene Abschnitte unterteilten.
»Wo sitzt unsere Familie?«, fragte Oddny, als sie sich der Mitte der Halle näherten.
»Meine Mutter hat die Sitzplätze verteilt«, sagte Gunnhild. »Wir können fragen …«
Wie aufs Stichwort trat die besagte Frau aus dem Nebenraum, zurechtgemacht mit ihren edelsten Gewandspangen und Perlen und einem hauchdünnen Leinenkopftuch, das sie im Nacken geknotet hatte, und bereit, die Gäste in Empfang zu nehmen. Doch ehe Gunnhild auch nur ein Wort von sich geben konnte, fiel ihre Mutter schon über sie her.
»Was für einen Unfug hast du jetzt wieder getrieben, Gunnhild?«, herrschte Solveig sie an. »Warum spinnst du nicht mit Ulfrun und den anderen? Die sollten dafür sorgen, dass du uns nicht im Weg herumstehst.«
Das haben sie mir nicht erzählt, dachte Gunnhild mit einem Gefühl der Erleichterung, das jedoch von kurzer Dauer war, denn der Gesichtsausdruck ihrer Mutter war beinahe feindselig.
Oddny und Signy drängelten sich zu beiden Seiten etwas näher an Gunnhild heran. Signys Arm spannte sich um den Rücken ihrer Freundin, während Oddny – ein Ausbund an Gehorsam gegenüber elterlicher Autorität – sogar regelrecht erstarrte, als würde sie mit einem tätlichen Angriff rechnen. Solveig würde es nie wagen, ihre Tochter in Gegenwart von Gästen zu schlagen, aber das bedeutete nicht, dass sie das nicht noch täte, sobald sie unter sich waren, und das wussten die beiden Ketilsdottirs. Einen Beweis dafür hatten sie mehr als nur einmal zu sehen bekommen.
»Ich … ich habe die Hornstöße gehört«, sagte Gunnhild endlich, als ihr die Anwesenheit ihrer Freundinnen genug Kraft gespendet hatte. »Ich wollte doch gewinnen.«
»Nicht schon wieder dieses alberne Spiel«, sagte Solveig in scharfem Ton, ehe sie die Worte des Wächters aufgriff: »Seid ihr Mädchen nicht zu alt dafür?«
»Es ist nur ein Spiel.« Gunnhild reckte das Kinn vor. Während sie und ihre Mutter einander fixierten, blieben Oddny und Signy standhaft an ihrer Seite, bis ihre eigene Mutter den Saal betrat.
»Hallo, Solveig«, sagte Yrsa gekünstelt höflich. »Machen meine Töchter jetzt schon Ärger? Wir sind doch gerade erst angekommen.«
Solveig zwang sich einen gleichermaßen angestrengt wie höflichen Ausdruck ins Gesicht. »Nein, nein. Ich hege nur den Verdacht, dass meine wie stets nichts Gutes im Schilde führt.«
Yrsas Stimme klang eisig, als sie antwortete: »Gunnhild ist gerade zum Anleger gekommen, um uns zum Haus zu begleiten. Was stört dich daran?«
»Ich sehe mich gezwungen, dich, Yrsa, daran zu erinnern, dass du ein Gast in meinem Heim bist«, konterte Solveig hölzern. »Ich entsinne mich nicht, dich um deine Meinung darüber gebeten zu haben, wie ich mit meiner Tochter umzugehen habe.«
»Gewiss.« Yrsa hatte die Augen zusammengekniffen und bedachte sie mit einem nichtssagenden Lächeln. »Ehe wir es uns bequem machen: Gibt es irgendjemanden, der meiner Dienste bedarf?« Gewöhnlich gab es auf Gehöften keinen Mangel an Kranken oder Verwundeten, und Yrsa war eine begabte Heilerin.
»Nicht dass ich wüsste. Bitte, macht es euch bequem.« Solveig deutete zu einem Abschnitt der Plattform, zwei Plätze entfernt vom hohen Stuhl, ehe sie Gunnhild anblickte. »Wasch dich, und mach dich fertig. Sofort!« Sie machte Anstalten davonzusausen, hielt aber noch einmal inne, um ihrer Tochter ins Ohr zu zischen: »Und bring mich heute Abend nicht in Verlegenheit!«
Dann war sie fort, und Gunnhild konnte wieder atmen.
Yrsas scharfe Augen folgten Solveig, als die sich aufmachte, die nächsten Gäste zu begrüßen. »Oddny, Signy – wie wär’s, wenn ihr Gunnhild helft, sich fertig zu machen?«
Die Schwestern ließen augenblicklich ihr Bettzeug fallen und huschten zusammen mit Gunnhild in den Nebenraum. Ihre Eltern schliefen in dem Bett auf der rechten Seite, und links, hinter einem Vorhang, standen zwei hölzerne Liegestätten mit dünnen Strohmatratzen.
Früher hatte sich Gunnhild diesen Raum mit ihren Schwestern geteilt, doch da die viel älter waren und längst verheiratet, waren nun Solveigs getreueste Dienstmägde an ihre Stelle getreten. Sie war froh, als sie sah, dass ihre bejahrten Zimmergenossinnen nicht hier waren. Neben den Betten beinhaltete das Inventar nur noch ein paar kleine Truhen, von denen eine Gunnhild gehörte. Sie öffnete sie und legte die Perle, die Signy ihr gegeben hatte, in den kleinen Beutel voller glatter Hüpfsteine, Muscheln und anderer Kleinigkeiten, die sie im Spiel mit den Ketilsdottirs im Lauf der Zeit gewonnen hatte. Dann holte sie einen beinernen Kamm hervor und fing an, ihrem dichten dunkelroten Haar zu Leibe zu rücken.
Gunnhilds Festtagskleid lag bereits säuberlich ausgebreitet auf ihrem Bett: ein Leinenkleid, dessen Stoff nach vielen Jahren der Nutzung weich geworden war. Das Material war ausgebleicht und fadenscheinig, aber in einem edlen Diamantmuster gewebt; außerdem lagen dort zwei mattierte, ovale Gewandspangen mit einer einfachen Perlenschnur. All das hatten ihre älteren Schwestern an Gunnhild weitervererbt.
»Mutter hat bei der Sonnwendfeier, als wir das letzte Mal alle zusammen waren, wieder gefragt, ob sie dich aufnehmen darf«, erzählte Signy, setzte sich auf das Bett, auf dem das Kleid lag, und die Perlen klimperten leise. »Deine Mutter hat abgelehnt.«
»Sie hat gesagt, dafür seist du mittlerweile zu alt.« Oddny setzte sich auf das gegenüberstehende Bett. »Als ob sie nicht schon ewig danach gefragt hätte.«
Gunnhild verzog das Gesicht. Überraschend kam das nicht; sie wusste, für sie gab es keinen Ausweg. Ein-, zweimal hatte sie versucht, wegzulaufen, hatte sich im allgemeinen Tumult einer Festlichkeit davongeschlichen, nachdem sie sich etwas Schmuck aus der Truhe ihrer Eltern beschafft hatte, um für die Reise … wohin? … bezahlen zu können. Ja, wohin? Wenn nicht zu Ketils Gehöft – der erste Ort, an dem man nach ihr suchen würde. Wo könnte sie dann hingehen? Jedes Mal war sie mitten in der Nacht zurückgekommen, hatte die Sachen ihrer Eltern zurückgelegt, ihr Zeug wieder ausgepackt und war ins Bett geschlüpft.
Früher hatte sie geglaubt, nichts könne ihr mehr Angst machen als Solveig, aber wie sich herausgestellt hatte, war das Unbekannte noch beängstigender.
»Natürlich hat sie abgelehnt«, entgegnete Gunnhild dumpf. »Sie liebt es, mir einfach alles zu verweigern, was ich mir wünschen könnte. Und zu allem Überfluss hat sie mir untersagt, mir heute Abend mein Schicksal vorhersagen zu lassen.«
Signy war neidisch mit der Hand über den Rautenköperstoff des Schürzenkleids auf dem Bett gefahren, doch nun blickte sie ruckartig auf. »Was meinst du damit, sie hat dir untersagt, dir das Schicksal vorhersagen zu lassen?«
»Meine Mutter hat es so beschlossen.« Und wie stets hatte sie keine andere Erklärung als »Weil ich es sage« geliefert. Ihr Vater hatte sich jedoch nach einigen Gläsern und ausgedehntem Gejammer seiner Tochter etwas zugänglicher gezeigt. »Aber Papa hat später gemeint, es ist, weil mir mein Schicksal schon vorhergesagt wurde, als die letzte Seherin hergekommen ist.«
»Aber da warst du doch erst drei«, bemerkte Oddny stirnrunzelnd. »Das ist nicht fair! Du kannst dich ja unmöglich daran erinnern, was sie gesagt hat.«
»Natürlich nicht.« Gunnhild verschränkte die Arme vor der Brust. »Und niemand will es mir sagen.«
»Ausnahmsweise muss ich Oddny Rabenbraue zustimmen«, sagte Signy, und ihre Schwester schnaubte verärgert, als der Spitzname fiel, den sie der Tatsache verdankte, dass ihre dünnen Augenbrauen von einem viel dunkleren Braun waren als die mausbraunen Haare. »Und wenn du einfach mit uns kommst, sobald unsere Mutter uns nach vorn ruft? Solveig kann dich nicht zwingen, dich wieder hinzusetzen, ohne euch beide in Verlegenheit zu bringen. Die Leute würden eine Erklärung verlangen.«
»Wenn ich ihr nicht gehorche, wird sie mir in diesem Winter das Leben noch schwerer machen als sonst«, wandte Gunnhild bedrückt ein, und keine ihrer Freundinnen widersprach.
Gunnhild flocht ihr Haar zu einem dicken Zopf, schlüpfte in das Kleid und steckte Perlen und Gewandspangen fest. Als sie fertig war, seufzte Signy bewundernd, und Oddny nickte ihr anerkennend zu. Keine der Schwestern besaß Gewandspangen, und beide trugen ausgebleichte Wollkleider – Signy in Rot, Oddny in einem stumpfen Gelbton. Gunnhild wusste, dass Oddny ein abgelegtes Kleid auftrug, denn das jüngere Mädchen hatte ihres in der Taille mit einem dünnen und zu langen Ledergürtel stramm festziehen müssen.
Nichtsdestoweniger waren ihre Kleider sauber und wiesen keine offenkundigen Spuren von Ausbesserungen oder Flickwerk auf, woran Gunnhild erkannte, dass dies vermutlich die besten Stücke ihrer Freundinnen waren; auch die Kleider ihrer Mutter sahen nicht viel besser aus. Und obwohl die Familie so wenig besaß, Yrsa versuchte beharrlich, die misshandelte Tochter ihrer Nachbarn in ihr Zuhause zu holen.
Gunnhild schluckte den Kloß in ihrer Kehle hinunter und setzte sich neben Oddny. »Halten wir uns einfach am Rande, bis das Ritual beginnt.«
»Anderenfalls würde unsere Mutter uns auch bestimmt Arbeit aufbürden«, sagte Signy entrüstet und ließ sich rücklings auf das Bett fallen. »Ich möchte nur einen einzigen Tag erleben, an dem ich nicht zur Spindel greifen muss. Ist das zu viel verlangt?«
»Dass du zur Spindel greifst, heißt ja noch lange nicht, dass du damit auch irgendetwas hinbekommst«, murmelte Oddny leise, und Signy streckte ihr die Zunge heraus.
Um sich zu beschäftigen, beschlossen sie, Oddnys und Signys Zöpfe, die während der Überfahrt vom Wind zerzaust worden waren, neu zu flechten. Als Gunnhild dann schließlich mit Oddnys Doppelzopf fertig war und Oddny mit Signys, hallten bereits immer mehr Stimmen aus dem Saal herüber.
»Ich schätze, wir sollten lieber rausgehen, ehe unsere Mütter nach uns suchen«, sagte Gunnhild und stand auf. Das Ritual sollte bei Anbruch der Abenddämmerung beginnen, und von Sonnenschein war draußen nichts mehr zu sehen; es war beinahe Winter, und die Tage wurden kürzer. Schon bald würde die Sonne kaum noch aufgehen, und sie würde in diesem Saal festsitzen und im Feuerschein weben und nähen, gänzlich unter der Fuchtel ihrer Mutter stehen.
Aber noch war es nicht so weit. Heute hatte sie ihre Freundinnen an ihrer Seite und ihre Zukunft vor sich.
Der Saal war voll, die Feuerschalen entzündet, und die letzte Person, die eintraf, war die Seherin selbst, gen Norden geleitet von König Haralds Steuereintreiber und seinem Gefolge.
Zusammen mit den benachbarten Bauern waren auch jene Freunde, die Gunnhilds Vater unter den Samen hatte, zu diesem Anlass eingeladen worden. Sie hatten sich am hinteren Ende des Saals zusammengefunden, aber Gunnhild sah, dass einige der Frauen die Gruppe verlassen hatten und sich auf Nordisch mit Yrsa unterhielten. Ketil und Ozur hatten sich zu den Samen gesellt, um in deren Sprache mit ihnen zu plaudern, und Gunnhild konnte Ketils donnerndes Gelächter quer durch den Raum hören, als der größte der Männer ihm grinsend auf den Rücken klopfte.
Wenn das Festmahl begann, würde Gunnhild sich zu ihren Eltern setzen müssen, doch vorerst blieb sie bei Signy und Oddny. Alle drei waren zufrieden damit, ihre Väter zu beobachten, während die sich in einer Sprache austauschten, die die Mädchen nicht verstanden.
»Ich frage mich, worüber die reden«, bemerkte Signy.
»Ich frage mich, was die Samen von der Seherin halten«, gab Oddny zurück. »Papa hat gesagt, bei den Samen wären die Seher eher Männer als Frauen, wusstet ihr das? Ich wette, ihre Rituale sind auch ganz anders …«
Signy schlug ihrer Schwester auf den Arm. »Pst. Es geht los.«
Stille senkte sich über den Saal, als die Seherin endlich auftauchte. Die alte Frau sah gebrechlich und sonderbar aus, von der Lammfellmütze und den Handschuhen bis hin zu den unzähligen geheimnisvollen Taschen an ihrem Gürtel. Aber was Gunnhild am meisten faszinierte, war ihr am oberen Ende verdrillter Eisenstab, dessen Kupferbeschläge im Feuerschein schimmerten.
Die Mädchen konnten den Blick nicht von dem Stab lösen. Gunnhild ballte beide Hände im Schoß zu Fäusten, und ihr Herz fühlte sich an, als wäre es im Begriff, sich den Weg aus ihrer Brust zu klopfen.
Während all die anderen Leute halb furchtsam, halb respektvoll zusahen, wie die Männer des Steuereintreibers der hinkenden alten Frau zu der Plattform halfen, musterten die Samen sie mit unverhohlener Neugier. Der Hocker der Seherin – ein einfaches Möbelstück aus Holz mit drei kurzen Beinen, auf dem ein Federkissen lag – war oben auf der Plattform platziert worden. Als die Frau sich nun von ihrer Eskorte löste und den Rücken durchdrückte, ehe sie die Stufen hinaufstieg und ihren Platz einnahm, wurde es still im Raum.
»Möchten die unter euch, die bereit sind, die Schutzweisen zu singen, nun vortreten?«, fragte sie mit einer erstaunlich gebieterischen Stimme, die wie ein Donnerschlag aus ihrem kleinen Körper hallte.
Yrsa, Solveig und die übrigen Frauen erhoben sich und bildeten einen Kreis um die Plattform.
Signy packte Gunnhild und Oddny am Arm und flüsterte: »Eines Tages werden wir da oben stehen.« Oddny brachte sie zum Schweigen, aber Gunnhild nickte. Ja, ihre Mütter hatten sie die Lieder gelehrt, und es war sehr wahrscheinlich, dass die Mädchen, wenn sie erst älter wären, herbeigerufen würden, um bei Ritualen wie diesem mitzuwirken.
Aber sich selbst konnte sich Gunnhild nicht als eine der singenden Frauen vorstellen. Die Macht, die die Seherin schon durch ihre bloße Anwesenheit ausübte – als könnte sie ganz nach Gutdünken ihr Schicksal verändern und sei weit mehr als nur die Botin, die ihnen die Zukunft offenbarte –, reizte sie erheblich stärker. Die war einfach berauschend.
Die Seherin blickte die Frauen an. »Euer Einverständnis, mich zu unterstützen, muss freiwillig erteilt werden, also frage ich euch erneut: Seid ihr bereit, mir dabei zu helfen, heute Abend die Geister anzurufen? Werdet ihr gemeinsam eure Stimmen erheben, um sie herzurufen und jene fernzuhalten, die uns Böses wollen?« Alle drückten ihre Zustimmung aus, und die Seherin sagte: »So lasst uns beginnen.«
Als die Frauen zu singen anfingen, jagten ihre Stimmen Gunnhild einen Schauder über den ganzen Leib. Diese Gesänge beinhalteten keine Wörter, aber die Melodie ließ ihr die Haare an den Armen zu Berge stehen. Bald schloss die Seherin die Augen, klemmte den Stab unter den Arm wie einen Rocken und tat, als würde sie spinnen.
Gunnhild keuchte unwillkürlich. Während die alte Frau mit einer Hand unsichtbare Wolle von ihrem Stab zupfte und mit der anderen eine imaginäre Spindel in Schwung setzte, sah sie, wie sich zwischen ihren Fingern ein dünner Faden bildete, der in einem seltsamen weißen Licht pulsierte.
Niemand sonst schien auf diesen unmöglichen Anblick zu reagieren.
»Seht ihr das?«, flüsterte sie Signy und Oddny zu.
»Was?«, fragte Signy ebenso leise.
»Den Faden«, hauchte Oddny. »Ich sehe ihn auch.«
»Was für einen Faden? Ich sehe gar nichts«, sagte Signy und wurde dabei immer lauter, was dazu führte, dass sie erneut aufgefordert wurde, still zu sein, dieses Mal von mehreren der Erwachsenen, die in ihrer Nähe saßen.
Die Mädchen konzentrierten sich wieder auf das Ritual. Plötzlich ließ die Seherin die unsichtbare Spindel fallen, umfasste mit der freien Hand fest den Stab und zog ihn unter ihrem Arm hervor. Das Ende des glühenden Fadens verlief von ihrer Brust zum Stab, zog sich um ihn herum und weiter bis in den Boden; jetzt war der Faden gespannt, als würde von unten etwas an ihm ziehen.
Gunnhild wurde flau im Magen.
Die Seherin schlug die Augen auf – die so verdreht waren, dass nur noch das Weiße zu sehen war – und intonierte mit einer Stimme, die ihrer eigenen sehr ähnlich war und doch nicht gleich: »Möchten jene, die ihr Schicksal erfahren wollen, nun vortreten? Doch seid gewarnt: Wir sagen nur, was wir zu sagen wünschen, zu wem wir es zu sagen wünschen.«
»Spricht da ein Geist durch sie?«, fragte Signy in einem lauten Flüsterton, worauf Oddny ihr einen Stoß versetzte und »Pst!« machte. Gunnhild ignorierte alle beide; sie war gebannt von dem Spektakel, die Schutzweisen vibrierten in ihren Knochen, während die Frauen nun leiser weitersangen, damit die Worte der Seherin nicht übertönt wurden.
Nacheinander näherten sich die Leute – manche kamen allein, andere scheuchten ihre ganze Familie zur Plattform, und der Kreis der Frauen teilte sich, um sie einzulassen. Und die Seherin, das Kinn hochgereckt, die blicklosen Augen in weite Ferne gerichtet, erzählte ihnen, dass sie eine gute Ernte einfahren würden, dass ihre Kinder gesund blieben, dass das Vieh, das sie nicht geschlachtet hatten, den Winter überstehen werde.
Bei einigen zögerte die Seherin kurz, und die weißen Augäpfel zuckten herum, als ob sie etwas suchten. Bei anderen schienen die Geister bereitwilliger Auskunft zu geben. Die Samen murmelten untereinander, aber keiner von ihnen trat vor, um sich sein Schicksal prophezeien zu lassen.
»Noch jemand?«, fragte die Seherin die Anwesenden, als es so aussah, als wären die meisten von ihnen einschließlich der singenden Frauen bereits an der Reihe gewesen.
Yrsa drehte sich um und sah mit hochgezogenen Brauen ihre Töchter an, während ihr Kopf fast unmerklich zuckte, um sie herbeizurufen. Signy und Oddny standen auf und traten in die Mitte des Raums. Über die Schulter sah sich Signy zu Gunnhild um, als wollte sie sagen: Komm schon, ehe sie und Oddny ihre Plätze vor der Seherin einnahmen und der Kreis der Frauen sich um sie herum wieder schloss.
Gunnhilds Blick bohrte sich in den Hinterkopf ihrer Mutter, und in ihrem Inneren brodelte der Zorn. Es ist nicht fair, dass ich mir mein Schicksal nicht weissagen lassen darf, obwohl mir niemand erzählen will, was die letzte Seherin über mich gesagt hat.
Aber vielleicht weiß diese das auch. Ihre Wut verlieh Gunnhild plötzlich eine unerwartete Courage. Schätze, ich werde es selbst herausfinden müssen.
Sie zögerte noch einen Moment länger, doch dann stand sie auf und lief hinter ihren Freundinnen her, drängelte sich durch den Kreis der Frauen zu Oddny und Signy. Sie konnte den Blick ihrer Mutter spüren, fühlte die Rage, die in Wellen von ihr ausging, aber Gunnhild drehte sich nicht um und schaute sie nicht an.
Aus der Nähe sah die Seherin im Licht der Herdfeuer und Feuerschalen gespenstisch aus. Das tanzende orangefarbene Licht betonte jede Falte ihrer Haut und fing sich in den Kupferbeschlägen des Stabs. Anscheinend war sie im Begriff gewesen, etwas zu sagen, als Gunnhild aufgetaucht war und sich zu Oddny und Signy gesellt hatte. Nun jedoch zögerte die alte Frau, runzelte die Stirn und sog Luft durch die Zähne.
Oddny zitterte. Gunnhild nahm ihre Hand und drückte sie besänftigend. Neben ihnen wippte Signy nervös auf den Fußballen.
Schließlich sprach die Seherin: »Eine von euch verdunkelt die Zukunft der anderen. Eure Schicksale sind auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden.« Erneut verzog sie das Gesicht, dieses Mal zu einem Ausdruck von Furcht und Verwirrung. »Ich wage nicht, mehr zu sagen.«
Gunnhild hörte, wie die Menschen um sie herum kollektiv nach Luft schnappten und erschrocken zu flüstern begannen, aber sie konnte sie kaum hören, so sehr rauschte das Blut in ihren Ohren. Oddny schien nicht minder verstört zu sein. Ihre Fingernägel gruben halbmondförmige Abdrücke in Gunnhilds Haut. Doch Signy, unerschrocken wie eh und je, fragte nach einer Weile: »Wie meinst du das?«
Aber die Seherin hatte ihnen nichts weiter zu sagen. Sie wirkte plötzlich müde und viel älter als noch einen Moment zuvor. »Ich habe heute Abend genug gesagt. Von nun an werde ich still sein.«
Und dann sackte sie auf ihrem Hocker nach vorn, das Kinn sank ihr auf die Brust, und Gunnhild sah zu, wie sie an dem glühenden Faden zerrte wie an einer Angelschnur. Kaum tat sie das, ging ein Ruck durch ihren Körper, und als sie die Augen aufschlug, waren Regenbogenhäute und Pupillen wieder da. Die Männer des Steuereintreibers traten vor, um ihr von der Plattform zu helfen.
Und Oddny, Signy und Gunnhild standen vollkommen reglos da, während sich alle Blicke auf sie richteten, bis Solveig sich aus dem Kreis der Frauen löste, deren Gesang in dem Moment verstummt war, in dem die Seherin erwachte. Mit einem bemühten Lächeln verkündete sie, dass die Festlichkeiten nun begannen, und allmählich setzte zögerliches Geplauder ein, erst ganz leise, dann immer lauter.
Solveig drehte sich zu ihrer Tochter um.
Und Gunnhild würde niemals vergessen, wie ihre Mutter sie nun musterte. Sie sah aus, als täte es ihr leid, dass Gunnhild je geboren wurde.
Nach dem Ritual ging Gunnhild ihrer Mutter, so weit es eben möglich war, aus dem Weg, musste aber dennoch während des Fests bei ihrer Familie sitzen. Derweil brodelte die Furcht in ihrer Magengrube. Glücklicherweise waren Ozur und Solveig als Gastgeber und Gastgeberin bald viel zu sehr beschäftigt, um auf sie zu achten. Die Dienstmägde und Leibeigenen warfen ihr mitleidige Blicke zu, wann immer sie mit Krügen voller Bier und Tabletts, auf denen bergeweise Rauchfleisch und Fladenbrote lagen, an ihr vorübergingen. Die einzige andere Person, die es noch wagte, sie anzusehen, war ein Freund ihres Vaters, ein alter Bauer, dessen Kinder ihn bloß Mummelgreis Skuli nannten und der zusammen mit seinen zänkischen Frauen und den ungebärdigen Kindern eine Sitzgruppe weiter saß.
Gunnhild ignorierte ihn demonstrativ. Vor dem Ritual hatte sie ihn dabei erwischt, wie er sie anzüglich gemustert hatte, doch nun warf er ihr verstohlene, furchtsame Blicke zu; als wäre sie eine Schlange und im Begriff, ihn zu beißen. Sie wusste nicht recht, welche Art Blick ihr mehr Sorgen bereiten sollte.
Ihre älteren Brüder hingegen – angeberische junge Männer, so rothaarig wie sie und ihre Mutter – hatten entweder die Bedeutung der Prophezeiung nicht erfasst oder waren ihren Problemen gegenüber so desinteressiert wie immer, denn sie kamen zu ihr, um sie zu ärgern, als wäre noch alles beim Alten.
»Warum siehst du so traurig aus, Klein-Gunna?«, fragte Alf, als er sich mit einem Horn voller Bier auf den Platz an ihrer Seite fallen ließ.
Eyvind setzte sich auf der anderen Seite neben sie, ebenfalls mit einem randvollen Trinkhorn. »Ja, du weißt aber, dass das hier eine Feier ist, nicht wahr, kleine Schwester?«
»Was feiern wir denn?«, fragte Gunnhild und stocherte in ihrem Eintopf herum, der inzwischen eher aussah wie Haferbrei. Sie hatte keinen Bissen davon gegessen und stattdessen ihre Nervosität an dem verkochten Wurzelgemüse ausgelassen. »Die freudigen Schicksale aller mit Ausnahme von mir?«
»Ach, du weißt doch, wie Seherinnen sein können.« Eyvind wedelte mit seinem Horn. »So vage.«
»Ich bin sicher, niemand denkt sich was dabei«, fügte Alf hinzu.
Eyvind trank einen tiefen Schluck von seinem Bier. »Kopf hoch! So schlimm ist das nicht.«
»Doch, ist es. Mutter ist wütend auf mich«, sagte Gunnhild missmutig.
Die Zwillinge wechselten über ihren Kopf hinweg einen Blick, während sie schweigend eine weitere Rübe zermatschte. Die zwei konnten das einfach nicht verstehen. Alf und Eyvind, die jüngsten ihrer älteren Geschwister, waren immer noch zehn Winter älter als sie und spielten in ihrem Leben kaum eine Rolle. Sie waren losgezogen, um sich einen Namen als Räuber zu machen, kaum dass sie alt genug waren. Gunnhild hatte gehofft, die Ankunft ihrer einzigen Brüder samt der Beute eines Sommers würde ihre Mutter milde stimmen, aber da hatte sie sich schmerzlich geirrt.
»Ach, nun komm schon«, sagte Alf. »Denkst du wirklich, dass sie so wütend ist, nur weil du dich in das Ritual gedrängt hast? Wir haben ihr ständig den Gehorsam verweigert, als wir so alt waren wie du.«
Gunnhild beäugte ihn. »Sie hat euch erzählt, dass sie mir verboten hat, mir mein Schicksal prophezeien zu lassen?«
»Wir haben es vermutet«, sagte Alf schulterzuckend. »Vor allem nach dem letzten Mal.«
Gunnhild richtete sich auf ihrem Platz auf und sah Eyvind an – der betrunkener wirkte und darum vielleicht nachgiebiger war als sein Bruder. »Was soll das heißen, ›nach dem letzten Mal‹?«
»Das letzte Mal, als eine Seherin hergekommen ist«, lallte Eyvind. »Erinnerst du dich nicht?«
»Da war ich gerade mal drei Winter alt«, sagte Gunnhild und wirbelte zu Alf herum. »Was hat die Letzte über mich gesagt?«
Wieder wechselten die Zwillinge einen Blick. Eyvind schüttelte den Kopf, leerte theatralisch sein Horn, sprang auf und rief: »Mehr Bier!«
»Mach dir keine Gedanken, Gunna«, sagte Alf hastig. »Wir hätten das gar nicht ansprechen sollen.«
Gunnhild schäumte, als die zwei sich auf die Suche nach der nächsten Dienstmagd machten, um ihre Hörner nachfüllen zu lassen. Als sie sich in der Hoffnung erhob, ihnen doch noch mehr Informationen abbetteln zu können, tauchte Oddny neben ihr auf. Einen dicken Schal um die Schultern gewickelt, flüsterte sie: »Komm – die Jungs haben draußen ein Feuer entfacht.«
Die Mädchen schlichen sich aus dem von Lärm erfüllten Saal und gingen hinaus zu einem kleinen Lagerfeuer, das von dunklen Schemen umgeben war. Als sie näher kamen, erkannte Gunnhild Vestein, den Bruder der beiden Mädchen, und ein paar andere Kinder aus der Umgebung, die auf Decken oder Fellen hockten.
Gunnhild und Oddny kauerten sich neben Signy und lauschten einem der Jungs, der sich für einen Skalden hielt und ein Gedicht über Walhall rezitierte: wo jene, die im Kampf gefallen waren, weiterkämpfen und feiern bis Ragnarök, der letzten großen Schlacht der Götter gegen ihre Feinde. Die anderen Kinder lauschten aufmerksam, obgleich sie das Gedicht zweifellos schon einige Male zuvor gehört hatten. Bald wären sie alt genug, um selbst an den Raubzügen teilzunehmen und nach Ruhm zu streben. Viele von ihnen würden nicht zurückkehren; Gunnhilds Brüder gehörten zu den wenigen Glücklichen, die auf dem besten Wege waren, zu erfahrenen und erfolgreichen Räubern aufzusteigen, was sie zu Legenden unter den Kindern Halogalands machen würde. Kinder, von denen die meisten nur an einer Handvoll Raubzügen teilnehmen und sich dann, sofern sie überlebten, als Bauern niederlassen und ein friedliches Leben führen würden, solange kein örtlicher Herse wie Gunnhilds Vater sie im Namen des Königs zu den Waffen rief.
Gunnhild ertappte sich dabei, in Gedanken abzuschweifen, während das Gedicht vorgetragen wurde. Ragnarök war – ebenso wie ihr eigenes Schicksal und das ihrer Freunde, den Worten der Seherin zufolge – ein abstraktes Problem. Eine in der Zukunft liegende Herausforderung. Was ihre Mutter sich als Strafe für sie ausdenken würde, war erheblich unmittelbarer und konkreter. Was würde Solveig mit ihr machen, wenn die Gäste erst fort waren und sie sich nicht mehr wie ein anständiger Mensch benehmen musste?
Der Winter war lang, die Möglichkeiten endlos.
Geplagt von einem plötzlichen Drang, sich zu übergeben, stand Gunnhild auf und stakste davon. Als sie weit genug von den anderen Kindern entfernt war, ließ sie sich auf den mit Steinen übersäten Strand fallen, zog die Knie an die Brust und schlang die Arme darum. So saß sie mit geschlossenen Augen da, bis die Woge der Übelkeit abebbte, ehe sie die Szenerie vor ihren Augen auf sich wirken ließ: Mondschein spiegelte sich im dunklen Wasser der Meerenge, und weiter hinten tanzten Nordlichter über die zerklüfteten Berggipfel des Festlands. Der Anblick war atemberaubend, aber die Schönheit ihrer Heimat konnte sie auch nicht trösten, und so verbarg sie ihr Gesicht in den Armen.
Das Geräusch knirschender Steine in ihrem Rücken verriet ihr, dass sie nicht mehr allein war. Augenblicke später spürte sie, wie eine Decke über ihre Schultern fiel, als Oddny und Signy sich zu beiden Seiten neben sie setzten.
»Meine Mutter wird mich umbringen.« Gunnhild hob den Kopf. »Und da ist irgendetwas, das meine Familie mir verheimlicht. Meine Brüder haben mir gerade erzählt, das hätte mit dem zu tun, was die letzte Seherin gesagt hat. Darum denke ich jetzt, dass ich … dass ich einen Schatten über unser aller Zukunft werfe. Ich hätte mich Mutter nicht widersetzen sollen. Nun hab ich alles kaputtgemacht.«
»Die Leute reden schon heimlich über uns. Und während der ganzen Feier ist niemand gekommen, um sich mit Signy und mir zu unterhalten«, sagte Oddny. »Mama hat sogar Leute sagen hören, wir beide würden jetzt niemals heiraten können.«
Gunnhild ließ den Kopf wieder sinken und ächzte leise. »Seht ihr?«
»Die Leute reden immer«, wandte Signy verächtlich ein. »Das bedeutet wohl kaum, dass Gunnhild ein Vorbote des Unheils ist. Und außerdem: Ist denn ›niemals heiraten‹ wirklich das Schlimmste, was uns passieren könnte? Du hast doch die Männer deiner Schwestern gesehen, Gunna – alte Böcke, alle miteinander.«
»Vielleicht sollten wir die Seherin bitten, uns unsere Zukunft noch einmal vorherzusagen?«, schlug Oddny händeringend vor.
»Du hast sie doch gehört«, fuhr Signy sie an. »Sie wollte vorhin schon nicht sagen, was ihr solche Angst macht, also warum sollte sie es jetzt tun?«
Oddny funkelte sie wütend an. »Aber unser Leumund …«
»Den Leumund teilen wir uns jetzt dank dieser alten Schachtel.« Plötzlich strahlte Signy. »Wir sollten einen Blutschwur ablegen!«
»Wir sind doch schon blutsverwandt, Dummkopf.«
»Ich meine, wir sollten einen Schwur mit Gunnhild ablegen. Warum wollen wir die Prophezeiung nicht einfach erfüllen, indem wir uns selbst aneinanderbinden?«
»Obwohl eine von uns ein unheilvolles Schicksal vor sich hat, das auch das Leben der beiden anderen kaputtmachen wird?«, fragte Gunnhild. Sie war erneut davon überzeugt, dass sie von sich selbst sprach.
»Aber nach allem, was wir wissen, könnte eine von uns auch die nächste Königin Asa werden. Was auch immer passiert, wir stellen uns dem gemeinsam«, verkündete Signy mit Inbrunst. »Was sagt ihr?«
Gunnhild nahm an, dabei könnte sie mitspielen, also warf sie sich in eine übertrieben herrschaftliche Pose und sagte im theatralischsten Ton, den sie zustande brachte: »Wüsste ich es nicht besser, du Unruhestifterin, dann würde ich behaupten, du versuchst, dir die Dankbarkeit der in Zukunft mächtigsten Frau ganz Norwegens zu sichern.«
»Also, wenn ich es recht bedenke …« Signy reckte lobpreisend ihre Hände hoch, als sie sich zu Gunnhild umdrehte und feierlich erklärte: »O künftig mächtigste Frau ganz Norwegens! Bitte lege mit uns einen Blutschwur ab, auf dass du für alle Zeiten in unserer Schuld stehst.«
Gunnhild prustete vor Lachen, aber Oddny sagte nur: »Keine Blutschwüre.«
Signy ließ mit theatralischer Geste die Hände sinken. »Warum nicht?«
»Ich sehe darin kein Problem«, entfuhr es Gunnhild spontan. Beide Schwestern wandten sich ihr schweigend zu: Oddny blinzelte aufgebracht, Signys Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen, als sie das kleine Messer aus der Scheide an ihrem Gürtel zog.
»Dann los«, sagte Signy. »Versprechen wir uns, immer füreinander da zu sein, auch wenn wir nicht denselben Weg beschreiten.«
»Nicht, Signy«, sagte Oddny verärgert und verzog das Gesicht, als ihre Schwester einen flachen Schnitt durch ihre Handfläche zog und das Messer an Gunnhild weitergab. »Das wird furchtbar wehtun, bis es verheilt ist.«
Gunnhild folgte Signys Beispiel und zuckte zusammen, als die Klinge in ihre Haut fuhr. Dann wollte sie das Messer an Oddny weiterreichen. Die starrte es bloß an und fragte: »Du willst bei Signys Dummheiten also tatsächlich mitmachen?«
»Vorsichtig«, warnte Gunnhild. »Du könntest hier mit der künftig mächtigsten Frau ganz Norwegens sprechen.«
Oddny schürzte die Lippen und riss ihr das Messer aus der Hand. »Schön. Aber ich bin sowieso durch mein Blut verpflichtet, ständig Signys Dreck wegzumachen. Also lege ich meinen Eid nur dir gegenüber ab.«
Nun war Signy diejenige, die die Augen verdrehte, aber Gunnhild sagte nur: »Einverstanden.« Und kaum hatte Oddny den Schnitt geführt, presste sie ihre Handfläche gegen Gunnhilds.
»Wir werden immer füreinander da sein«, versprach Gunnhild leise.
»Auch wenn wir nicht denselben Weg beschreiten«, beendete Oddny den Schwur.
Als Nächstes drückten Gunnhild und Signy die blutigen Hände aneinander.
»Na also«, sagte Signy, als sie fertig waren. »Nun sind wir alle drei Schwurschwestern.«
Etwas rumorte in Gunnhilds Hinterkopf – etwas, das ihr während des Rituals aufgefallen war, das sie jedoch infolge der beunruhigenden Prophezeiung vorübergehend vergessen hatte. Es fiel ihr wieder ein, kaum dass sie sich die Hände mit Stoffstreifen aus der Decke verbunden hatten. »Signy – ist das wahr, dass du den Faden der Seherin nicht sehen konntest?«
»Da war kein Faden«, erwiderte Signy starrköpfig. »Ihr zwei bildet euch nur was ein. Meint ihr nicht, die Leute hätten irgendwie drauf reagiert, wenn da etwas gewesen wär? Mutter, Papa und Vestein haben ihn jedenfalls nicht gesehen. Ich habe extra gefragt, und die haben mich angeguckt, als hätte ich den Verstand verloren. Trotzdem, dass ihr beide die gleiche Halluzination hattet …« Sie tat verwundert. »Oddny, ich kann nicht glauben, dass du dir etwas zurechtfantasierst.«
»Für einen Abend habe ich jetzt genug Albernheiten mitgemacht«, entgegnete Oddny und stand auf. »Ich gehe zu Bett.« Und damit machte sie sich auf den Weg zurück zum Langhaus und presste dabei mit nachdenklicher Miene die verbundene Hand an die Brust.
Signy drehte sich zu Gunnhild um. »Ich gehe auch zurück. Kommst du mit?«
»Ich bleib noch ein bisschen auf.« Erneut zog Gunnhild die Knie an die Brust, schlang die Arme um die Beine und legte den Kopf in den Nacken, um die Aurora zu betrachten, die in Grün- und Purpurtönen über ihr tanzte. Irgendwann wusste sie nicht mehr, wie lange sie dort gesessen und nachgedacht hatte.
Als sie dann schließlich zurück ins Haus schlüpfte, war es still geworden im Saal, und die meisten Gäste schnarchten leise vor sich hin. Auf Zehenspitzen schlich sie an dem Steuereintreiber und seinen Männern vorbei, an den Samen und dem Bereich, in dem Signy, Oddny und ihre Eltern schliefen. Unterwegs betrachtete sie die in einzelne Abschnitte unterteilten Plattformen auf der Suche nach der alten Seherin. Doch die Feuerschalen waren gelöscht worden, die Herdfeuer heruntergebrannt, und ihre war Mühe vergebens.
Als sie sich dem Nebenraum näherte, blickte sie zu den Statuen von Thor, Odin und Freyr auf und schickte ein stummes Gebet zum Himmel, dass ihre Eltern bitte ebenfalls schliefen, sodass sie sich zumindest in dieser Nacht nicht dem Zorn ihrer Mutter würde stellen müssen.
Ihr Flehen wurde erhört: Als sie sich hineinschlich, schliefen Solveig und Ozur tief und fest, und sie formte mit den Lippen ein Dankeschön für die Götter, während sie zu ihrem eigenen Bett tappte, nur um festzustellen, dass es bereits belegt war – von niemand anderem als der Seherin persönlich.
Hinter ihr drehte sich die alte Dienstmagd Ulfrun um und flüsterte: »Du wirst dir das Nachtlager mit mir teilen müssen, Lämmchen. Befehl deiner Mutter.«
Gunnhild willigte leise ein und zog sich im flackernden Lichtschein der Specksteinlampe um, die auf einer der Truhen stand. Um es wärmer zu haben, behielt sie das Wollkleid über ihrem Unterkleid an und kroch ins Bett zu Ulfrun, die sich zurück zur Wand umdrehte.
Sie wartete, bis ihre Bettgenossin eingeschlafen war, ehe sie wieder aufstand und durch den kleinen, vom Vorhang abgeteilten Raum zu der Seherin ging, deren entspanntes, runzliges Gesicht im Lampenschein reliefartig wirkte. Obwohl sie die Augen geschlossen hatte, atmete sie nicht so langsam und tief wie eine Schlafende.
Als Gunnhild sich neben sie kauerte, öffnete die Frau ein Auge.
»Ich habe deinen Faden gesehen«, flüsterte Gunnhild leise.
Nun schlug die Seherin beide Augen auf. »Ach, hast du?«
»Ja. Und bitte – welche von uns ist es? Aus deiner Prophezeiung? Die für die anderen alles verderben wird?«
Die alte Frau schwieg.
Gunnhild dachte wieder an die Macht, die die Seherin während des Rituals demonstriert hatte, an die Ehre, die man ihr erwiesen hatte, und das Silber, das sie zur Bezahlung für ihre Dienste erhalten hatte. Solch einen Reichtum könnte Gunnhild nur erwerben, würden ihr Vater und ihr künftiger Gatte beide eine exorbitante Summe als Mitgift beziehungsweise Brautpreis bezahlen. Ihr Wert würde stets von anderen bemessen werden.
Wie das wohl ist?, überlegte sie. Keine Mutter und keinen Ehemann zu haben, die einem ständig sagen, was man zu tun hat. Wie ist das, eine Frau zu sein, die ganz für sich allein respektiert wird, für ihre Fähigkeiten und nicht dafür, mit wem sie verwandt ist?
Und dann kam es ihr in den Sinn: eine Möglichkeit, das alles selbst herauszufinden, dem Zorn ihrer Mutter zu entgehen und Abstand zu Oddny und Signy zu gewinnen, die sie sowieso schon dadurch in Misskredit gebracht hatte, dass sie zu ihnen in den Kreis getreten war.
»Kannst du mir beibringen, Seherin zu sein?«, fragte Gunnhild.
Die Frau musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. »Und warum möchtest du eine Seherin werden?«
»Ich möchte gefürchtet und respektiert werden. Ich möchte gesehen werden.«
»Das würde ich mir an deiner Stelle aus dem Kopf schlagen.« Die Seherin klang aufgewühlt, und Gunnhild glaubte, einen Hauch von Furcht in ihrer Stimme wahrzunehmen, ganz wie zuvor während des Rituals.
Gunnhild ballte die Fäuste. Da war immer noch etwas, das man ihr nicht gesagt hatte. »Aber ich möchte wie du sein. Ich möchte, dass mein Leben mir gehört.«
Die Seherin starrte sie noch einen Moment länger an, ehe sie sich seufzend zur Wand umdrehte.
»Bringst du es mir bei?«, bettelte Gunnhild den Rücken der Frau an. »Bitte?«
Die Seherin rührte sich nicht. Gunnhild gab sich mit einem leisen Schnauben geschlagen und kroch wieder zu Ulfrun ins Bett.
Der Schlaf ließ auf sich warten, aber als er dann kam, träumte Gunnhild, sie stünde dort oben auf der Plattform mit einem Eisenstab in der Hand und blickte hinaus auf eine verzückte Menge.
In ihren Träumen lag ihr Schicksal in den eigenen Händen und nur in den eigenen Händen.
Gunnhild erwachte in dem Wissen, dass die Strafe für ihr Verhalten am Vorabend mit jedem Gast, der von der Insel abreiste, näher rückte.
Ketils Familie gehörte zu den Ersten, die sie mit Verweis auf einen langen Tag voller Landarbeit verließen. Gunnhild hielt sich versteckt und kam nur heraus, um Signy und Oddny Lebewohl zu sagen. Als sie aber zum Abschied dreimal ins Horn stießen, antwortete sie nicht; das hieß, dass sie ihnen ein Pfand schuldete, doch das war die geringste ihrer Sorgen.
Endlich, gegen Mittag, waren nur noch der königliche Steuereintreiber und seine Männer übrig, die eine weitere Nacht bleiben wollten. Mehr Zeit also, in der Gunnhild sich den Kopf darüber zermartern konnte, was ihre Mutter wohl mit ihr machen würde. Der einzige Lichtblick war, dass die alte Seherin aus ihrem Bett verschwunden war. Geflüster machte die Runde, dass sie sich auf die andere Seite der Insel verkrochen hätte. Niemand wusste, was sie vorhatte, aber Gunnhild lauschte dennoch den Spekulationen der Dienstboten, während sie sich in der Küche versteckte und bei den Vorbereitungen für das Nachtmahl half, um dem Zorn ihrer Mutter noch einen zweiten Abend aus dem Weg zu gehen.
Die Seherin kehrte am Morgen zurück, als sich Familie und Gäste gerade zum Frühstück zusammenfanden, nach dem der Steuereintreiber und seine Männer sie zu ihrem nächsten Ziel geleiten würden. Still betrat die alte Frau den Saal und humpelte zu dem hohen Stuhl, von dem aus sie alle Mitglieder des Haushalts gut sehen konnte, die ihrerseits auf der mit kunstvollen Schnitzereien verzierten Bank auf der Plattform saßen.
»Ozur Eyvindsson und Solveig Alfsdottir«, sprach die Seherin, als sie, die Schultern gestrafft, beide Hände mit energischer Geste auf ihren Gehstock legte. »Eure Tochter Gunnhild hat mir gegenüber den Wunsch zur Sprache gebracht, ich möge sie mein Handwerk lehren. Nachdem ich Zeit hatte, darüber nachzudenken, wünsche ich, sie in meine Pflegschaft zu nehmen.«
Gunnhild spuckte einen Mundvoll Haferbrei zurück in ihre Schale.
Ihre Eltern sagten keinen Ton, und das leise Geschnatter im Saal verstummte, als sich alle Augen auf den Hersen und seine Frau richteten. Ozur wirkte entgeistert, aber Solveig sah geradezu mordlustig aus. Gunnhild, die auf der anderen Seite des Saals saß, schluckte schwer.
»Ich … bin nicht sicher, was ich davon halten soll«, bemerkte Ozur und sah seine Frau an. »Solveig?«
»Wir haben bereits ein Arrangement für Gunnhild getroffen.« Ihr Blick huschte kurz zu ihrer Tochter. »Vorgestern, um genau zu sein.«
Ein Arrangement? Gunnhild stellte ihren Haferbrei weg. Ihr Appetit war wie weggeblasen. Was immer ihre Mutter mit ihr vorhatte – hatte man sie als Dienstmagd verkauft? Mit einem Mann verlobt, der so alt war, dass er vermutlich starb, ehe sie alt genug wäre? – es war gewiss nichts, was Gunnhild sich wünschen würde. So viel verriet ihr schon Solveigs selbstgefälliger Gesichtsausdruck.
»Darf ich fragen, welcher Art dieses Arrangement ist?«, fragte die Seherin.
»Ich habe kurz vor dem Ritual mit meinem alten Freund Skuli gesprochen«, sagte Ozur, »und wir haben eine Einigung getroffen, die, wie wir denken, uns allen zugutekommen wird. In drei Wintern wird Gunnhild seine Frau werden.«
Mummelgreis Skuli?! Gunnhild war zutiefst entsetzt. Aber er ist … er ist … Nein! Das kann nicht wahr sein …
»Aber er ist alt«, platzte sie unvermittelt heraus. »Er hat schon drei Frauen und zwölf Söhne, und die streiten sich bereits über ihr Erbe …«
»Skuli ist extrem reich, Gunna«, sagte Ozur. »Du wirst gut versorgt sein. Nicht mehr und nicht weniger haben wir für jede deiner Schwestern getan.«
Ich will nicht versorgt sein, wollte Gunnhild brüllen. Ich will frei sein.
»Ich wünschte, wir wären sie schneller los, nutzlose Tochter, die sie ist«, fügte Solveig hinzu. »Vertrau uns, Heid – dieses Mädchen willst du nicht. Sie ist eine Plage, seit sie auf der Welt ist.«
Die alte Frau zog die schütteren Brauen hoch. »So? Wie das?«
Solveig hob höhnisch einen Mundwinkel. »Ihre Brüder hätten meine letzten Kinder sein sollen, aber mein Körper hatte andere Pläne. Ich wusste damals nicht, dass ich noch empfangen konnte, und ihre Geburt hätte mich beinahe umgebracht. Trotzdem ist sie ein undankbarer kleiner Welpe. Sie ist starrköpfig und ungehorsam. Sieh selbst – sie scheut vor der verheißungsvollen Ehe zurück, die wir ihr gesichert haben. Sie sollte sich schämen.«
»Solveig«, sagte Ozur scharf.
Gunnhild spürte, dass Heid sie musterte, sie studierte. Heid: ein Name, so geläufig für eine Seherin, dass er beinahe wie ein Titel klang. Sie fragte sich, wie der richtige Name der Frau lautete.
»Also ist das meine Strafe, Mutter?«, fragte Gunnhild zähneknirschend. »Für mein Verhalten während des Rituals?«
Wut blitzte in Solveigs Augen auf. »Du hast dich mir voller Absicht widersetzt. Du solltest dankbar sein, dass wir dich nicht einfach in Knechtschaft verkaufen, statt dich zu verheiraten.«
»Wo liegt der Unterschied?«, gab Gunnhild zurück. »Und warum hast du mir überhaupt verboten, mir mein Schicksal vorhersagen zu lassen? Alf und Eyvind haben gesagt, es hätte etwas mit dem zu tun, was die letzte Seherin dir erzählt hat.«
Solveig bedachte ihre einzigen Söhne, die plötzlich sehr interessiert den Fußboden beäugten, mit einem vernichtenden Blick.
»Ich habe ein Recht, das zu wissen, Mutter«, beharrte Gunnhild.
»Tatsächlich?« Solveig wirbelte zu ihrer Tochter herum. »Du bist zwölf Winter alt. Du hast ein Recht auf gar nichts, abgesehen von dem, was dein Vater und ich als angemessen für dich betrachten. Und das ist so oder so schon mehr, als du verdient hast.« Und dann, als witterte sie eine Gelegenheit, sie zu quälen, lächelte sie. »Aber da du so versessen darauf bist: Ja, als du klein warst, ist während eines Sturms eine andere Seherin hier durchgekommen, darum hat nur unser Haushalt gehört, was sie zu sagen hatte: Dass eine schreckliche Zukunft auf dich wartet. Wir wären dich nie losgeworden, hätte irgendjemand anderes davon erfahren, also haben wir alle zur Verschwiegenheit verpflichtet.«
Gunnhild stockte der Atem. Eine schreckliche Zukunft?
»Ich bin nur dankbar, dass du beschlossen hast, mit deinen kleinen Freundinnen in den Kreis zu treten«, fuhr Solveig fort, »denn dadurch blieb unklar, wen die Prophezeiung betraf. Nun hast du Yrsas Mädchen befleckt. Wenigstens du hast bereits einen Bräutigam – kannst von Glück reden, dass dein Vater die Sache mit einem Handschlag besiegelte, ehe das Ritual auch nur angefangen hat, denn nun kann Skuli nicht abspringen.«
»Ich kann von Glück reden?«, wiederholte Gunnhild ihre Worte.
Solveig fuhr fort, als hätte sie kein Wort gesagt: »Doch den Ruf deiner kleinen Freundinnen kann nun nichts mehr retten, denn die Saat des Misstrauens ist gelegt. Dir aber haben wir diesen Schmerz erspart. Du solltest uns danken.«
Tränen verschleierten Gunnhilds Blick. Sosehr es ihr widerstrebte, es zuzugeben, Solveig hatte recht mit dem, was auf Signy und Oddny zukam. Selbst in ihrem Alter wusste sie schon, dass abergläubische Ideen, wenn sie erst einmal in den Köpfen der Menschen herumgeisterten, kaum zu erschüttern waren, selbst wenn man den Leuten Beweise für das Gegenteil vorlegte.
»Du bist wahrlich eine niederträchtige Frau«, mischte sich nun Heid ein und fixierte dabei Solveig. Den nachfolgenden Zorneslaut der Dame des Hauses ignorierte sie und konzentrierte sich auf Ozur. »Was auch immer Skuli in drei Wintern als Brautpreis in Aussicht gestellt hat, ich bezahle gleich hier und jetzt das Doppelte, vorausgesetzt, du gibst ihr eine Aussteuer, die sie auf unsere Reise mitnehmen kann.«
Gunnhild mochte ihren Ohren nicht trauen.
Als Solveig sich wutschäumend setzte, sah Ozur seine jüngste Tochter an. »Es tut mir leid, Gunna. Wie deine Mutter sagte, haben Skuli und ich deine Heirat bereits per Handschlag besiegelt. Die Vereinbarung gilt.«
»Dann ist diese Angelegenheit wohl erledigt«, sagte Solveig lächelnd und zeigte dabei zu viele Zähne.
Heid neigte den Kopf und verkündete kalt: »Dann respektiere ich deine Entscheidung und deinen Unwillen, den Eid, den du deinem Freund geschworen hast, zu brechen.«
Nein! Sie war so nahe dran gewesen. Entsetzen stieg aus Gunnhilds Magengrube auf, doch als sie kehrtmachte, um aus dem Saal zu laufen, sah sie ein Funkeln in Heids Augen.
Ein Funkeln, so klar, als spreche die Seherin in ihrem Kopf, das besagte: Das ist noch nicht vorbei.
Gunnhild tat, als hätte sie es nicht bemerkt. Sie warf ihrer Mutter einen weiteren klagenden Blick zu – den Solveig sichtlich zufrieden mit einem Hohnlächeln beantwortete – und flüchtete ins Schlafzimmer.
Die Reisetruhe der Seherin stand offen in der Mitte des Raums, leer, abgesehen von ihrem zerlegten Hocker und ein paar Kleidungsstücken zum Wechseln. Gunnhild betrachtete sie und überlegte, ob sie klein genug war, um dort hineinzupassen, als die Frau selbst den Vorhang teilte und in den Raum rauschte.
»Nun verstehe ich, warum du diesen Ort verlassen willst«, sagte Heid nach einem Augenblick des Schweigens. »Ich hatte vergessen, wie es ist, ein junges Mädchen mit wenig Aussichten zu sein, das in eine Ehe gezwungen wird, die es nicht will.«
Gunnhild ließ den Kopf hängen.
»Und noch schlimmer war«, fuhr Heid fort, »mitzuerleben, wie du hier behandelt wirst, nicht wegen etwas, das du getan hast, sondern infolge der Prophezeiung einer meiner Schwestern. Dafür leiste ich Abbitte.« Sie streckte den Arm aus und legte dem Mädchen eine zittrige Hand auf die Schulter. »Du bist kein schlechtes Kind. Du bist keine Bürde. Es tut mir leid, dass man dir das Gefühl vermittelt hat, du seist eine.«
Nie hatte Gunnhild damit gerechnet, dass jemand derlei Worte an sie richten würde. Es kostete sie all ihre Kraft, nicht in Tränen auszubrechen, als sie die alte Frau nun anblickte.
»Ich verstehe jetzt auch, warum dir so viel daran liegt, Seherin zu werden«, fügte Heid hinzu. »Ganz gleich, was deine Eltern sagen, ich wünsche, dass du diesen Ort heute mit mir zusammen verlässt.«
»Ehrlich?« Gunnhild starrte sie aus großen, flehentlichen Augen an. »Aber mein Vater wäre erbost. Du würdest dir einen Hersen zum Feind machen. Willst du das wirklich für mich tun?«
»Ich fürchte keinen Mann«, sagte die Seherin. »Und was deine Mutter betrifft, sie hat dir nicht die ganze Wahrheit erzählt.« Sie seufzte. »Andererseits habe ich das auch nicht getan. Es gab Dinge, die ich gestern Abend für mich behalten habe.«
Gunnhild schauderte innerlich, während sie darauf wartete, dass Heid weitersprach.
»Dein Schicksal ist mit dem deiner Freundinnen verknüpft; das ist wahr. Doch was dich betrifft, Gunnhild Ozurardottir – ich sehe Blut in deiner Zukunft. Blut und Schrecken. Aber ich sehe auch Größe. Diese Dinge sind auf vielerlei Art untrennbar miteinander verbunden.«
Gunnhild prägte sich ihre Worte ein.
»Und meine Freundinnen?«, flüsterte sie. »Wird das … werden das Blut und der Schrecken … werde ich meinen Freundinnen wehtun?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Heid bekümmert. »Das ist der Grund, warum ich mich geweigert habe, mehr zu sagen, als du in den Kreis getreten bist. Manchmal ist es besser, gar nichts zu sagen, als Dinge zu offenbaren, ohne dass man das ganze Bild sehen kann. Ich konnte nicht genug sehen, um mich auf die eine oder andere Weise zu äußern. Ich hatte nicht die Absicht, dich zu verdammen, doch es scheint, als hätte ich es trotzdem getan.«
Heid musterte sie für einen Moment prüfend. »Gunnhild Ozurardottir, wenn du mit mir kommst, kann ich dich nicht nur lehren, das Wissen der Geister zu erringen, wie es eine Seherin tut, sondern dich in jeder Form der Magie unterweisen, die mir bekannt ist: Wie man verwünscht und wie man heilt, wie man Stürme herbeiruft und seine Feinde verwirrt, wie man schützende und zerstörerische Amulette fertigt, wie man Runen benutzt und wie man seinen Körper verlassen kann. Aber ich werde dir nichts vormachen: Das wird schwer werden. Nichts, das es in diesem Leben zu erringen wert ist, ist leicht zu erreichen. Du wirst viele Jahre mit mir verbringen, isoliert von der Welt, aber am Ende wirst du eine Seherin und Zauberin sein. Du wirst eine Hexe sein. Hast du das verstanden und stimmst dem zu?«
Der oberflächliche Schnitt in ihrer Handfläche hatte ein wenig zu brennen begonnen, als wollte er sie warnen, und Gunnhild verzog das Gesicht. Wie konnte sie Oddny und Signy zurücklassen, nachdem sie einander geschworen hatten, immer füreinander da zu sein? Aber ihre Mutter hatte recht – die Zukunftsaussichten der beiden waren nun ruiniert. Dank Gunnhild. Vielleicht war das Beste, was sie für ihre Freundinnen tun konnte, schlicht zu verschwinden.
Die Seherin – die Hexe – fixierte sie immer noch.
»Ja, ich stimme zu«, sagte Gunnhild inbrünstig. »Nimm mich mit. Ich möchte lernen.«
Heid zeigte auf ihre Truhe. »Dann pack, aber nur das, was du wirklich brauchst, und wir werden dich da drin verstecken.«
Gunnhild wollte der Aufforderung nachkommen, zögerte aber dann. »Aber, Heid, wenn meine Zukunft so furchtbar ist, warum willst du das Risiko auf dich nehmen, mich zu unterrichten? Fürchtest du nicht, dass ich … dass ich dir schaden könnte?«
»Würde ich glauben, dass ich irgendetwas von dir zu befürchten hätte, Kind, dann hätte ich dieses Angebot nie gemacht. Nur die Zeit wird zeigen, wie sich deine Geschichte entwickelt. Und nichts wird dir größeren Kummer bereiten als der Versuch, eine Prophezeiung zu erfüllen oder ihr zu entgehen.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Gunnhild schwach.
Die alte Hexe bleckte ihre gelben Zähne zu einem breiten Grinsen.
»Ach, mein Mädchen«, sagte sie. »Das wirst du noch.«
ZWÖLF JAHRE SPÄTER
An dem frühen Herbstmorgen, der ihr Leben für immer verändern sollte, erwachte Oddny Ketilsdottir mit stechenden Schmerzen im Unterleib und einem Fluch auf den Lippen. Zähneknirschend krümmte sie sich zusammen und bereitete sich innerlich auf den neuen Tag vor.
»Ah, Mutter dachte sich schon, dass du deswegen verschlafen hast«, ertönte Signys Stimme über ihr. »Sie hat gesagt, ich soll dich schlafen lassen, aber ich kann doch nicht zulassen, dass du solch ein köstliches Frühstück verpasst.«
Oddny atmete einmal tief durch und bemühte sich, genug Willenskraft aufzubringen, um sich aufzusetzen. »Gib mir noch einen Moment.«
»Meinetwegen, aber rate wenigstens, was es gibt«, sagte Signy. »Ach, ich werde dir einfach die Überraschung verderben – es gibt Gammelost.«
»Das einzig Verdorbene hier bist du. Den ganzen Sommer hast du in der Meierei Käse stibitzt«, grollte Oddny.
Signy stemmte die Hände in die Hüften. »Na ja, wenn Mutter im Begriff ist, Gemüse einzumachen, und Vestein damit beschäftigt, die Herde auszudünnen, sollte man doch annehmen, dass wir etwas Frisches zu essen bekommen. Aber nein, es ist Gammelost. Immer gibt es nur Sauermilchkäse zum Frühstück und Fisch zum Abendessen. Kannst du dir vorstellen, dass ich zu dieser Jahreszeit tatsächlich anfange, die eingelegten Rüben zu vermissen? Und Haferbrei. O ihr Götter, ich wünschte, ich könnte jetzt ein bisschen Haferbrei haben.«
»Du kannst froh sein, wenn wir im Winter noch genug zu essen haben.« Oddny stemmte sich in eine sitzende Haltung hoch und klappte gleich wieder zusammen. Der Schmerz war heute schlimmer als gestern – das Blut konnte nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Signy setzte sich neben ihr auf die Bank, auf der sie geschlafen hatte. »Soll ich Mutter bitten, dir einen Tee aufzubrühen?«
Oddny schüttelte den Kopf. »Den kann ich mir selbst machen. Aber ich muss noch Zutaten sammeln und trocknen, damit sie den Winter überstehen, zusammen mit dem Rest der Kräuter aus Mutters Garten.«
»Schau dich nur an, Mutters kleines Wunderkind.« Spielerisch stieß Signy ihre Schwester mit dem Ellbogen an, wurde aber gleich darauf ernst. »Da wir schon beim Thema sind und ehe du fragst, wir haben nichts Neues von Solveig gehört.«
Oddny verzog das Gesicht. Seit sie den Kinderschuhen entwachsen war, lernte sie die Kunst des Heilens von Yrsa. Den ganzen Sommer hatten sie sich um die kranke Solveig gekümmert. Als sie Gunnhilds Mutter vor ein paar Wochen das letzte Mal besucht hatten, war Oddny erschrocken über den Anblick ihrer Patientin: Die Wangenknochen standen zu stark hervor, die Augen waren eingefallen, und das silbrige Haar mit den roten Strähnen fiel ihr büschelweise aus.
Obwohl Oddny wenig für die Frau übrighatte, erinnerte sie sich mit Schaudern an die düstere Atmosphäre, als sie den Raum betreten und gesehen hatten, in welchem Zustand Solveig war. Sie erinnerte sich an den trüben Lichtschein der Laterne und an den Vogel, der ungesehen im Gebälk des Dachs gezwitschert hatte. Aber vor allem erinnerte sie sich an die Betroffenheit, die sie verspürt hatte, als Yrsa anstelle ihres üblichen Handwerkszeugs einen glatten, flachen Holzstab aus ihrem Bündel gezogen hatte.
»Runen?«, hatte Oddny gefragt. Die hatte Oddny ihre Mutter nur wenige Male nutzen sehen. Yrsa setzte gewöhnlich eher natürliche Mittel für ihre Heilbehandlungen ein: Arzneitränke, Salben, Tees. Magie war stets der letzte Strohhalm, weil sie nicht immer wirkte.
Andererseits hatte bisher nichts Solveigs Zustand verbessern können. Yrsa war schlicht verzweifelt.
»Sieh mir genau zu, Oddny«, hatte sie gesagt. »Runen zeichnen kann jeder, aber nicht jeder hat auch die Willensstärke, sie dazu zu bringen, das zu tun, was man von ihnen will.«
»Warum benutzen wir sie nicht für alles?«, fragte Oddny. »Hat Odin sie nicht genau dafür bekommen, als er sich an der Weltenesche selbst geopfert hat?«