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Die junge Sarah reist im Jahr 1922 nach Ägypten, wo sie die aufsehenerregenden Ausgrabungsstätten des Archäologen Howard Carter besucht. Doch Sarah scheint Missgeschicke und Unfälle anzuziehen. Als Carter dann tatsächlich die Grabanlage des Tutanchamun findet, gerät Sarah in höchste Gefahr ... 90 Jahre später in Berlin: Immer wieder tauchen Tutanchamun-Artefakte auf dem Schwarzmarkt auf. Auch die Museumsangestellte Rahel gerät unter Verdacht. Schließlich reist sie nach Kairo, um herauszufinden, was damals wirklich geschehen ist ... Ein packender Roman, der in die beeindruckende Welt der Pharaonen entführt.
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Seitenzahl: 987
Über die Autorin
Elisabeth Büchle hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und wurde für ihre Arbeit schon mehrfach ausgezeichnet. Ihr Markenzeichen ist die fesselnde Mischung aus gründlich recherchiertem historischem Hintergrund, abwechslungsreicher Handlung und einem guten Schuss Romantik. Sie ist verheiratet, Mutter von fünf Kindern und lebt im süddeutschen Raum.www.elisabeth-buechle.de
Für Tobias Schuler
Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist stets ausgeschlossen.© 2015 Gerth Medien in der SCM Verlagsgruppe GmbH,Dillerberg 1, 35614 Asslar 1. Auflage unter neuer ISBN 2023ISBN 9783961220144Umschlaggestaltung: Benita Penner Umschlagfoto: givaga/ShutterstockSatz: Apel Verlagsservice, Cellewww.gerth.de
Vorwort und Vorabinformationen
Ist der Gedanke, einen Pharaonenschatz auf einem Dachboden zu finden, nicht einfach zu „fantastisch“? Daran habe ich lange herumüberlegt, bis ich die Schwäbische Zeitung vom 3. August 2013 in die Hände bekam. Dort gab es einen Artikel mit der Überschrift: Eine Mumie unter dem Dach, darunter ein Foto von einem mit ägyptischen Schriftzeichen verzierten Sarkophag samt Mumie; beides gefunden auf einem deutschen Dachboden.
Die dazugehörenden Gegenstände, unter anderem eine Totenmaske, waren eindeutig Repliken, allerdings bestand bei der Mumie der Verdacht, diese könne echt sein. Der Großvater des Finders sei in den 1950er-Jahren in Nordafrika unterwegs gewesen, hieß es in dem Artikel, und habe sich die Kiste mitsamt Sarkophag per Schiff nach Deutschland bringen lassen.
Die Mumie stellte sich später ebenfalls als eine Fälschung heraus, aber dennoch ermutigte mich diese Geschichte, an meiner Story festzuhalten.
Und dass dieser Roman, wie auch sein Vorgänger „Das Mädchen aus Herrnhut“ mit einem Augenzwinkern geschrieben wurde und gern auch so gelesen werden darf, werden Sie spätestens kurz vor dem Ende bemerken. Nach der intensiven Recherche und dem „kräftezehrenden“ Schreiben der Erster-Weltkriegs-Trilogie war mir einfach danach, dieses Buch ein wenig lockerer anzugehen.
Antike Textfunde und Zeichnungen geben Informationen über die Planung und Fertigstellung der Pharaonengräber, über den Alltag der Handwerker, ihre Familienstreitigkeiten, Krankmeldungen und sogar über einen Streik in Theben-West, als die Arbeiter zur Regierungszeit von Ramses III. keine Lebensmittelrationen erhielten … unzählige Inschriften zeugen von den alten Pharaonen, vieles liegt dennoch im Dunkeln der Geschichte begraben, einiges ist schlichtweg Spekulation. Demnach sind eine Menge „Fakten“ nach wie vor mit einem großen Fragezeichen versehen, weshalb alle Angaben stets mit einer gewissen Vorsicht zu genießen sind.
Der Einfachheit halber habe ich die aus dem Griechischen stammende, uns heute vertrautere Schreibweise der Eigennamen benutzt, zum Beispiel Tutanchamun anstelle von Tut-anch-Amun. Die einzige Ausnahme: der im Prolog und im Epilog für Tutanchamun verwendete „Thronname“ Neb-cheperu-Re.
Ein Glossar finden Sie im Anhang.
Prolog
Frühjahr 1327 v. Chr., Waset, Ägypten
Schöne Sonne trat durch den niedrigen Durchgang des aus luftgetrocknetem Lehm erbauten Hauses und kniff ihre leicht mandelförmigen braunen Augen zu Schlitzen zusammen. Die ägyptische Sonne war hoch an den wolkenlosen Himmel geklettert und verwandelte die schnurgerade verlaufende Gasse zwischen den Lehmhäusern in einen Backofen. Die Hitze flimmerte, ein Windhauch ließ den Sand wie die grazilen Tänzerinnen in den Häusern der Wohlhabenden durch die Luft wirbeln. Gleichzeitig führte er den Gestank der Gerberei mit sich, die sich am Anfang der Straße befand.
Die vierzehnjährige Schöne Sonne verzog ihre vollen Lippen und rümpfte die Nase, dabei fuhr sie sich mit einer Hand über ihren Kopf, auf dem ihre Haare mittlerweile einen Fingerbreit gewachsen waren. Ihre Kinderzeit, in der sie traditionell ihren Kopf geschoren trug, war vorüber. Ihr Körper war nun bereit, Kinder zu gebären.
Schöne Sonne eilte die Gasse entlang, während sie den Holzdeckel auf den Tonkrug drückte, damit sie keinen Tropfen des Henquet verschüttete. Die Straßen waren an diesem Tag wie leer gefegt. Wo üblicherweise quirliges Leben die Plätze füllte, Alte wie Junge sich im Schatten der Aufbauten trafen, um Handel zu treiben oder ihren alltäglichen Aufgaben nachzugehen, herrschte trostlose Stille.
Zu dieser Stunde endete das mehrtägige Mundöffnungsritual, danach würden die Priester den jungen König Neb-cheperu-Re in seinem in großer Hast fertiggestellten Felsengrab im Biban el-Moluk bestatten. Der Per-aa hatte in seinem neunten Lebensjahr die Königswürde empfangen. Er war nur eine Handvoll Jahre älter gewesen als Schöne Sonne, als ihn der Tod ereilte. Heute nun würde man den einbalsamierten Körper des Gottkönigs zu Grabe tragen …
Schöne Sonne verscheuchte eine Fliege. Ihr Glaube an die alles beherrschenden Gottheiten ihres Volkes war an dem Tag erschüttert worden, als ihre Eltern einen verletzten Hebräer aufgenommen und gesund gepflegt hatten. Sein in Ägypten lebendes, ständig anwachsendes Volk hatte in den letzten Jahren zunehmend an Anerkennung und Beliebtheit verloren. Ihre Mutter hatte Schöne Sonne vor ihrem Tod davon berichtet, dass ihre Großmutter noch Seite an Seite mit den gleichaltrigen Hebräermädchen aufgewachsen war, doch dieses Miteinander hatte sich aufgelöst. Der Verletzte hatte Schöne Sonne von dem einzigen wahren Gott erzählt, und sie hatte mit wachsender Begeisterung zugehört und eine Hitze in ihrem Inneren verspürt, als hätten die Worte des Mannes ein Feuer in ihr entfacht.
Das Mädchen erreichte das Ufer des Flusses. Die feuchte Luft erschwerte ihr für einen Moment das Atmen, bis sie aus dem Schatten des Tempels trat, den König Amenophis III. erbaut hatte, und der frische Westwind sie erfasste, der den brackigen Geruch des Stroms mit sich trug. Er zerrte an ihrem Leinenkleid und und brachte die kleinen Härchen auf ihren Armen dazu, sich aufzustellen.
Wie Wüstensturm ihr durch einen Boten aufgetragen hatte, nahm sie den Weg zwischen den Sphinxen hindurch. Die breite Prachtstraße, gesäumt von den auf Sockeln liegenden Tierfiguren, die auf der einen Seite Menschenköpfe, auf der anderen die von Widdern aufwiesen, brachte sie nach scheinbar unendlich vielen Schritten zu den Tempeln. Sie freute sich auf das Wiedersehen mit Wüstensturm, ihrem ehemaligen Nachbarjungen. Er war nach dem Tod seines Vaters von dessen Bruder aufgenommen worden, und nun wurde ihm die Ehre zuteil, eine Ausbildung als Schreiber zu erhalten. Damit stand ihm die Welt offen.
Schöne Sonne kannte die Häuser der hiesigen Gelehrten. Sie waren groß, prunkvoll ausgestattet und von Gärten umgeben, in denen es Wasserbecken zum Schwimmen gab. Die Haushalte beschäftigten Tänzerinnen, Köche und eine große Anzahl weiterer Bediensteter.
Ob Wüstensturm ahnte, dass sie sich seit Kurzem die Haare wachsen ließ? Und wollte er noch, wie er es bei seinem letzten Besuch in Waset gesagt hatte, einen gemeinsamen Hausstand mit Schöne Sonne gründen? Ein Privilegierter wie Wüstensturm, der schon ins Flussdelta gereist war, die gewaltigen Grabbauten der alten Herrscher gesehen hatte und mit dem dahingeschiedenen Per-aa auf Flusspferdjagd gewesen war, wollte ausgerechnet sie?
Schöne Sonne lief schneller, beachtete weder die Felshänge jenseits des Flusses, die sich in der Ferne dem Firmament entgegenhoben, noch die Grabstätten und Tempel der längst verstorbenen Könige davor. Endlich erreichte sie die von Palmen gesäumte und nach der Überschwemmung von frischem, grünem Gras umgebene Tempelanlage. Vor ihr erhoben sich in einem unüberschaubaren Komplex prächtige Pylonen, Obelisken, bemalte und scheinbar bis in den Himmel reichende Säulen und Prachtbauten, dazu Statuen siegreicher Könige und Götter. Schöne Sonne eilte am Amun-Bezirk vorbei zur Anlegestelle der Barken. An diesem Tag interessierte sie das goldene Funkeln der Sonne auf dem Wasser nicht, denn sie hatte am Ufer Wüstensturm entdeckt.
Als er sie erblickte, kam er ihr mit schnellen Schritten entgegen. Fasziniert bestaunte Schöne Sonne sein kinnlanges Haar, das verriet, dass auch er das Kindesalter hinter sich gelassen hatte.
Ganz der hohe Beamte, zu dem man ihn erzog, baute er sich vor ihr auf und betrachtete sie eingehend. „Du bist noch schöner geworden!“
Wüstensturms Stimme klang tiefer, als Schöne Sonne sie in Erinnerung hatte, wies aber immer noch den sanften Unterton auf, den er ihr gegenüber gern anschlug. Prüfend strich er ihr über den Kopf und ein zufriedenes Lächeln umspielte seinen Mund. Er wusste, dass sie bereit war.
„Folgst du mir, um einen Hausstand zu gründen? Jetzt sofort?“
„Sofort?“
Wüstensturm beugte sich zu ihr hinab und raunte ihr zu: „Erinnerst du dich, dass ich dir erzählte, wie ich Neb-cheperu-Re das Leben rettete und er mir einen reichen Lohn versprach?“
Schöne Sonne nickte und machte dann ein betroffenes Gesicht. Bei dem letzten, fatalen Jagdausflug des jungen Königs war Wüstensturm nicht zugegen gewesen. Womöglich hätte er ihm ein zweites Mal das Leben retten können … Schon immer hatte sie mit Begeisterung Wüstensturms Geschichten angehört. Er wusste so lebendig zu erzählen, dass sie sich das Delta mit seinen Papyruspflanzen, die gewaltigen, sich spitz dem Himmel entgegenstreckenden Gräber entlang des Flusses und die Aufregung der Jagd bildlich vorstellen konnte.
„Er hat sein Versprechen niemals eingelöst!“, knurrte Wüstensturm, und Schöne Sonne zuckte unwillkürlich zusammen.
„Ich weiß, dass du dich für diesen einen Gott der Hebräer interessierst. Ich habe mir heute meine ausstehende Belohnung geholt, und nun können wir gemeinsam in die Gegend reisen, die die Hebräer früher durchstreiften.“
„In das Land am See Genezareth?“ Schöne Sonne hielt den Atem an. Ging ihr Wunsch, mehr über den einen großen Gott zu erfahren, womöglich in Erfüllung?
„Ja, wir fahren mit der Barke den Fluss hinab. Ich zeige dir die Mer von Chufu, Chafre und Menkaure und das wunderbare Schwemmland im Delta. Von dort reisen wir hinüber in das Land, aus dem die Hebräer einst kamen, und du kannst alles über ihren Gott erfahren.“
„Aber Wüstensturm, du bist ein Gelehrter, ein Schreiber, du bist …“
„Ich habe den Glauben daran verloren, dass Neb-cheperu-Re ein Gott ist. Mein Glaube an die Götter meines Vaters war nie tief in mir verwurzelt. Ich brauche ihn nicht.“
Schöne Sonne schwieg nachdenklich und verwirrt, während Wüstensturm seine Hände über ihre Arme wandern ließ, sie liebkoste und ihr schließlich das Henquet abnahm. Sollte sie wirklich so plötzlich alles hinter sich lassen? Was bedeutete es, wenn er sagte, er habe sich heute die vom König versprochene Entlohnung geholt? Wie gefährlich war eine Reise über den großen Strom zu Völkern, die ihnen fremd waren?
„Schöne Sonne? Die Barke legt gleich ab.“
Sie blickte in seine fragend auf sie gerichteten Augen. Wie könnte sie sich Wüstensturms Bitte verweigern, da sie ihn doch schon so lange liebte und sie sehnsüchtig den Tag herbeigesehnt hatte, an dem sie ein Leben an seiner Seite beginnen durfte? Was hielt sie hier, allein, wie sie war?
„Nun?“
Schöne Sonne reckte sich und rieb ihre zierliche Nase an seiner markanten. Er seufzte, ergriff ihre Hand und zog sie über eine schwankende Planke auf die Holzbarke. Dort geleitete er sie zu einem schattigen Platz neben einer Truhe, die unverkennbar die eines wohlhabenden Mannes war, war sie doch reich mit Schnitzereien verziert. Ihr Deckel wies filigrane Alabastereinlagen auf. In ihrer Nähe saß der alte Mann, der schon Wüstensturms Vater gedient hatte. Seine Frau und die Kinder mit ihren Kindern waren bei ihm und blickten Schöne Sonne neugierig an. Offenbar plante Wüstensturm, die hebräische Familie mit auf die Reise zu nehmen. Als seine Diener? Oder wollte er sie aus Dankbarkeit für die vielen Jahre ihrer Treue zu seiner Familie in das Land mitnehmen, in dem einst ihre Urväter als Nomaden gelebt hatten? Mordechai, der etwa gleichaltrig war wie Wüstensturm, nickte Schöne Sonne grüßend zu. In seinen dunklen Augen sah sie Abenteuerlust.
Es verging nur wenig Zeit, bis die Barke ablegte und auf den Fluss hinausglitt. Erst als die Wellen des Stroms gegen die Bootswand klatschten, wurde Schöne Sonne bewusst, dass sie soeben allem, was bisher ihr Leben ausgemacht hatte, den Rücken kehrte. Sie stand auf und lehnte sich an die Bordwand. Der Wind zerrte an ihrem einfachen Leinengewand. Hinter dem fruchtbaren Landstreifen in der unmittelbaren Nähe des Flusses erkannte sie die Siedlung der im Totendienst beschäftigten Familien und den felsigen Eingang zu einer Schlucht. Dahinter, das wusste Schöne Sonne, begann der Pfad in das Gebirge hinein; in Richtung der Begräbnisstätte weiterer Könige, dort, wo zu dieser Stunde Neb-cheperu-Re seine letzte Reise antrat.
Teil 1
Kapitel 1
1922
Ein Landregen hatte eingesetzt und prasselte sanft gegen die Fensterscheiben von Highclere Castle in der Grafschaft Hampshire. Fröhliches Lachen und Gesprächsfetzen mischten sich in das gleichbleibende, fast rhythmische Geräusch. Ein Dienstmädchen eilte mit klackernden Absätzen über den wertvollen, in Mustern verlegten Parkettboden und knipste die Lampen an. Ihr männlicher Kollege entfachte in den Kaminen die Feuer. Ein warmer Lichtschein beleuchtete die Holzverkleidungen und die Regale mit den langen Reihen ledergebundener Bücher in der privaten Bibliothek mit ihren roten Sesseln und korinthischen Säulen.
Sarah Hofmann warf einen prüfenden Blick auf Lady Alison Clifford. Ihre Arbeitgeberin, gekleidet mit einem für ihre 50 Jahre viel zu jugendlich wirkenden blauen Lagenkleid, das skandalös knapp unterhalb der Knie endete, unterhielt sich angeregt mit der Countess Lady Almina Herbert und weiteren Damen der erlauchten Gesellschaft und schien Sarah nicht zu benötigen. Also wandte die Zwanzigjährige sich wieder den musealen Einrichtungsgegenständen des Raums zu und bewunderte die reichhaltige Schriftensammlung des 5. Earl of Carnarvon, George Herbert, der wegen seines Höflichkeitstitels Lord Porchester von seiner Familie „Porchy“ gerufen wurde. Seine Bekannten nannten ihn kurz Lord Carnarvon.
Zwischen den alten Papyri und Büchern drängten sich Erinnerungsstücke an Lord Carnarvons Reisen rund um die Welt und natürlich die Fundstücke aus Ägypten. Dort finanzierte er seit Jahren die Ausgrabungen unter der Leitung des Archäologen Howard Carter. Zudem war der angeschlagenen Gesundheit des Lords das dortige Klima sehr zuträglich.
Sarah betrachtete eine winzige Fayencefigur in Form eines Nilpferdes, doch ihre Gedanken drifteten in ihre eigene Vergangenheit. Sie zählte erst 20 Jahre und dennoch überwog gelegentlich das Gefühl, ein ganzes Menschenalter an Erinnerungen angehäuft zu haben, die oftmals schwer zu greifen und noch schwerer zu begreifen waren. Ihre Mutter, eine Britin, war bei ihrer Geburt gestorben. Die Kindheit an der Seite ihres Vaters und ihrer Großmutter im Schwarzwald war ihr kostbar wie eine wunderschöne Perle im Gedächtnis geblieben. Ihre Schulzeit hingegen lag wie unter einem dunklen Organzastoff verborgen, als sei sie es nicht wert, ihrer zu gedenken. Irgendwann war ihr Vater immer häufiger und für längere Zeit verreist. Sarah hatte damals den Eindruck gehabt, dass sich seine Reisen über mehrere Jahre hinzogen, doch heute ahnte sie, dass es wohl nur wenige Monate gewesen sein konnten.
Und dann, ohne jede Vorwarnung, hatte er Sarah angewiesen, ihre Kleidung, ein paar Lieblingsbücher und ein Andenken an ihre Mutter einzupacken. Sie hatten frühmorgens, als Sarahs kleine heile Welt im tiefen Schlaf lag, das strohgedeckte Schwarzwaldhaus verlassen. Seit diesem Tag hatte sie ihre Großmutter nicht mehr wiedergesehen.
Erst auf dem Dampfschiff, das sie auf die britische Insel brachte, eröffnete ihr Vater ihr, dass sie fortan bei einer guten Freundin ihrer Mutter leben würde. In diesem Augenblick war für Sarah eine Welt zusammengebrochen. Ihr Vater schickte sie in die Fremde! Sie hatte sich nicht einmal verabschieden können, zudem versagte er ihr eine Antwort auf ihre drängenden Fragen nach dem Warum. Der überstürzte Aufbruch war ihr wie eine Flucht vorgekommen. Aber wer hatte Grund zu fliehen? Sie? Oder ihr Vater? Aber er kehrte ins Deutsche Kaiserreich zurück!
Heute vermutete Sarah, dass ihr Vater den nahenden Krieg vorausgeahnt hatte. Er hatte sie wohl in Sicherheit wissen wollen … Damals hatte sie das als einen Verrat an ihr empfunden, zumal sie vor der herrischen, selbstbewussten Frau, bei der er sie abgab, zunächst furchtbare Angst verspürt hatte. Bei ihrem unfreiwilligen Umzug war sie 12 Jahre alt gewesen, hatte sich fortan jedoch wie ein Kleinkind gefühlt. Alles und jedes hatte ihr Angst gemacht, jede Veränderung ihres Lebensrhythmus hatte sie in Panik versetzt.
Mit der Zeit hatte sie jedoch Zutrauen zu Lady Alison gefasst und bemerkt, dass diese sich wirklich um sie bemühte und nur das Beste für sie wollte. Allerdings war Sarah lange Zeit tagtäglich mit der Hoffnung aufgewacht, ihr Vater würde zurückkehren und sie mit sich nehmen. Wie eine Ertrinkende hatte sie sich an diesen Wunsch geklammert, bis die dahinfließende Zeit einen Nebel vor ihr Bild von ihrem Vater geschoben hatte, der nur noch Schatten und Silhouetten und einzelne kurze Erinnerungen an sein Äußeres oder seine Stimme durchscheinen ließ. Nun, im Jahr 1922, waren diese kleinen Erinnerungsstücke an ihr früheres Leben so verschwommen wie ein Bild von Monet; als habe sie das Andenken an ihren Vater gewaltsam zu verdrängen versucht.
Sarah zuckte zusammen, als jemand sie am Ellenbogen ergriff. Alison, mit ihren 1,75 Metern einen ganzen Kopf größer als Sarah, forderte ihre Aufmerksamkeit ein.
„Sarah, hast du gehört? Mr Carter hat Porchy gebeten, die Grabungslizenz für das Tal der Könige um eine letzte Saison zu verlängern. Er bot sogar an, die Kosten selbst aufzubringen. Er bettelte förmlich darum, zumindest noch einen Winter in dieser Steinwüste herumstochern zu dürfen.“
Sarah nickte zögernd. Ja, sie hatte derlei Gerüchte vernommen. Lord Carnarvon war nicht bereit, noch mehr Geld in die Wüste zu stecken, die laut versierter Archäologen nichts mehr zu bieten hatte.
„Sein Engagement grenzt beinahe an Besessenheit, nicht wahr, meine Liebe?“, fuhr Alison fort. Die raue Stimme der älteren Frau offenbarte die Begeisterung, die sie für alles Geheimnisvolle empfand. „Schon Mr Theodore Davis war der Meinung, dass alle Grabstätten im Tal der Könige inzwischen entdeckt und ausgeschöpft wurden. Mr Carter hat dennoch einen Teil davon systematisch absuchen lassen. Kein Staubkorn blieb auf dem anderen, und noch immer behauptet er standhaft, dieser Pharao, dessen Existenz manche Ägyptologen sogar anzweifeln, läge dort begraben. Zudem meint er, es bestehe die Möglichkeit, dass sein Grab völlig unversehrt sei, gerade weil es so schwer zu finden ist!“
Sarah ahnte inzwischen, dass eine erneute Reise anstand – dieses Mal nach Ägypten. Seit ihrer Ausbildung zur Krankenschwester war Sarah Alisons ständige Begleiterin auf ihren Reisen. Angeblich, um ihr zu helfen, wenn sie unter Beschwerden durch ihr Rheuma litt – obwohl die agile Frau nur selten Probleme damit hatte. In Sarah überwog der Verdacht, dass Alison eher auf ihrer Begleitung bestand, damit Sarah etwas von der Welt sah, auch wenn diese das ständige Unterwegssein nicht immer begeisterte.
„Nun, was denkst du?“
Sarah lächelte. Auf diese Frage bedurfte es keiner Antwort. Alison hatte längst entschieden, wann und wie lange sie zu verreisen gedachte.
„Ich sehe, du bist begeistert!“, kommentierte die Witwe Sarahs Lächeln.
Alison, die nach dem frühen Tod ihres Ehemanns sämtliche Besitztümer des Earls veräußert hatte und ein kleines, hübsches Haus in Newbury bewohnte, liebte das Reisen und hatte die nötigen Mittel dazu. Nun schritt sie forsch durch die Bibliothek, als gehöre ihr das Anwesen, um in den eigentlich nur den Männern vorbehaltenen Rauchersalon zu gelangen. Sarah folgte ihr zögernd. Selbst nach all den Jahren, die sie sich inzwischen in der erlauchten Gesellschaft bewegte, fühlte sie sich noch immer fehl am Platz.
Die Herren in ihren dunklen Maßanzügen mit Krawatten und passenden Einstecktüchern hoben die Köpfe, als Alison in den rustikal eingerichteten Salon stürmte. Ihre Absätze klapperten auf dem Holzboden, und die Ledersessel knarzten, als die Männer sich eilig erhoben.
Alison ignorierte sie und eilte über einen bunten Perserteppich zu Lord Carnarvon, vermutlich um ihn nach der angenehmsten Reiseroute, dem besten Hotel und dergleichen auszufragen. Dabei missachtete sie wieder einmal sträflich jede Etikette und unterbrach eine politisierende Männerrunde, indem sie sich einfach bei Carnarvon unterhakte und ihn zu einem Fenster zog.
Sarah hob die Augenbrauen. Alison war der einzige Mensch, der nicht zu Carnarvons unmittelbarer Familie gehörte und sich dennoch herausnahm, den Earl „Porchy“ zu nennen, aber das erstaunte niemanden. Seit dem Tod ihres Mannes vor 25 Jahren pflegte Alison ohnehin einen als exzentrisch verschrienen Lebensstil. Am Todestag von Theodore Clifford, ihrem Ehemann, war sie ergraut und wirkte deshalb wesentlich älter, als sie eigentlich war, was durch ihre schlanke, fast knochige Gestalt noch verstärkt wurde. Gleichzeitig besaß sie aber auch die Anerkennung der britischen Aristokratie, verteilte sie doch großzügig finanzielle Unterstützung und verfügte über wichtige Kontakte. Zudem hatte sie ein schier unerschöpfliches Wissen und forderte mit ihrer direkten Art und ihrem unnachgiebigen, gelegentlich hart wirkenden Wesen den Respekt ihrer Mitmenschen ein.
Alison hatte nicht wieder geheiratet, obwohl es zumindest in früheren Jahren genug Verehrer gegeben haben musste. Entweder hatte sie diese durch ihre forsche, unkonventionelle Art verschreckt oder sie wollte das Andenken an ihren verstorbenen Mann nicht entehren. Sarah konnte darüber nur spekulieren, denn Alison schwieg hartnäckig, wenn das Gesprächsthema auf Lord Theodore Clifford kam.
„Ich bin mir immer unsicher, ob ich Lady Alison wegen ihrer Energie und ihres Mutes bewundern oder über sie den Kopf schütteln soll“, vernahm Sarah ein Flüstern hinter sich. Verunsichert wandte sie sich um. Redete die Frau mit ihr? Für gewöhnlich übersah man sie in solchen illustren Runden.
Zu ihrer Erleichterung antwortete eine andere Dame: „Ich war entsetzt, als sie nach dem Tode des lieben Theodore alle seine Ländereien, das Schloss und die beiden Stadthäuser in London und Preston verkaufte, um fortan in dem winzigen, unscheinbaren Haus zu leben. Der einzige Luxus, den sie sich gönnt, sind ihre Pferde, die Reisen und eine Haushälterin. Und natürlich das Kind, das sie großgezogen und zur Ausbildung geschickt hat.“
Als die Sprache auf Sarah kam, versuchte diese, sich noch ein bisschen kleiner zu machen. Sie wagte kaum zu atmen, um nicht die Aufmerksamkeit der Damen auf sich zu ziehen.
„Das Mädchen hat mein Mitgefühl. Hätte Lady Alison sie an Kindes statt angenommen, könnte sie in unseren Kreisen verkehren. So ist sie lediglich ihre Begleiterin und Privatkrankenschwester. Dennoch muss sie Lady Alison überallhin begleiten, gehört aber nirgends wirklich dazu. Wie ein Mauerblümchen steht sie am Rande. Und es ist gewiss nicht einfach, Lady Alisons wankelmütige Stimmungen und abenteuerliche Ideen auszuhalten.“
Sarah presste die Lippen zusammen. Diese Frau sprach, ohne die genauen Hintergründe zu kennen, eine Wahrheit aus, die sie seit dem schrecklichen Tag beschäftigte, als ihr Vater sie bei Alison abgeliefert hatte: Sie fühlte sich nirgendwo zugehörig. Ihr Vater hatte sie fortgeschickt. Das Gefühl, irgendwie nicht „richtig“ zu sein – womöglich sogar ungewollt –, hatte sie zu einem verschüchterten, stillen Mädchen gemacht, das nie auffallen oder gar anecken wollte und das sich liebend gern in ihre Welt der Bücher und Zeichnungen zurückzog. Im letzten Jahr hatte Sarah bewusst versucht, sich von dem mittlerweile von ihr selbst als lästig empfundenen Selbstmitleid zu befreien, in das sie sich so oft geflüchtet hatte. Inzwischen erlebte sie nur noch selten Zeiten, in denen sie sich wieder wie das verängstigte Kind auf der Türschwelle vorkam, das von ihrem Vater in eine Welt geschoben wurde, die ihr erschreckend fremd war.
„Seien wir doch ehrlich, Cecile“, mischte sich unvermittelt eine dritte weibliche Person ein. „Diese Sarah Hofmann wäre in unseren Kreisen nicht willkommen, gleichgültig, wie Alison sie eingeführt hätte. Außerdem ist sie ein furchtbar schüchternes Ding. Vermutlich hält sie sich gern abseits.“
„Wen wundert es? Ich möchte kein Mündel von Lady Alison sein. Sie schleift das arme Mädchen ja durch die halbe Welt, auch sonst ist sie ja wenig zartfühlend.“
„Alison hat durchaus ihre guten Seiten, meine Damen“, widersprach die besonnene Stimme erneut.
Schritte entfernten sich, andere kamen näher. Sarah, der es unangenehm war, Zeuge des Gesprächs zu sein, drückte sich hinter einen bemalten Paravent.
„Könnte vielleicht eine der Damen unsere Lady Clifford zur Vernunft bringen?“, polterte eine ungehaltene Männerstimme.
Unterdrücktes Kichern war die Antwort. „Es sollte Ihnen doch allmählich vertraut sein, dass Lady Alison die Männerrunden im Rauchersalon den Unterhaltungen mit uns Damen vorzieht.“
„Daran gewöhnt man sich nicht, man nimmt es höchstens irgendwann hin. Dennoch kann es nicht angehen, dass die Frau nur in Begleitung ihrer Krankenschwester nach Ägypten reisen will!“
Jemand schnappte hörbar nach Luft.
„Sie schließt sich doch bestimmt Lord Carnarvon an, William?“
„Der Lord plant vorerst keine Reise nach Ägypten.“
„Es ist nicht die erste Reise, die sie allein und …“
„Aber nach Ägypten, meine Liebe!“, hauchte die zweite Dame entsetzt. „Das Land ist so mystisch und fremdartig! Man denke nur an die Gefahren der Wüste, die verschleierten Frauen und die vielen Krankheiten, ganz abgesehen von …“
„… den Abenteuern aus Tausendundeiner Nacht!“, unterbrach Alisons Reibeisenstimme die Frauen. Aufgeregtes Kleiderrascheln verriet Sarah, dass die Damen und der Herr sich zu der Frau umdrehten, die ihr Gespräch bestimmt hatte.
„Ich bewundere Ihren Mut“, stammelte eine der Frauen.
Der Mann wagte anzumerken: „Vielleicht wäre es von Vorteil, bei dieser Reise einen männlichen Reiseführer an Ihrer Seite zu haben, Lady Alison?“
„Ach, und wozu? Damit ich noch eine Person mehr durch die Gegend scheuchen muss, weil sie nicht mit mir Schritt halten kann?“
„Zu Ihrem Schutz!“
„Ägypten ist zwar seit Frühjahr dieses Jahres von Großbritannien in die Unabhängigkeit entlassen worden, und Fuad I. regiert jetzt ein eigenständiges Königreich, doch bleiben wir realistisch: Es sind weiterhin britische Truppen im Land stationiert, und die Regierung hat weitreichende Interventionsrechte behalten, die die Selbstständigkeit des Landes einschränken. Das nennt sich – bitte korrigieren Sie mich, William, falls ich falschliege –, Protektorat, nicht wahr?“
Der Mann hüstelte, und Sarah hörte, wie er sich entfernte. Auch sie hielt es für angebracht, ihr Versteck unauffällig zu verlassen, und so gesellte sie sich möglichst beiläufig zu Alison.
„Da bist du ja, meine Liebe. Auf, hol unsere Mäntel. Wir haben zu packen!“, befahl sie gewohnt forsch.
An der Pforte angelangt griff Alison selbst nach der Klinke und stürmte so rasch in die Parkanlage hinaus, dass es Sarah schwerfiel, mit ihr Schritt zu halten und sie beide mithilfe des schwarzen Herrenschirms – ein feminineres Modell wäre Alison viel zu unpraktisch und affektiert vorgekommen –, vor dem Regen zu schützen.
***
Ein Ausdruck ungläubigen Staunens breitete sich auf dem Gesicht des Mannes aus. Hektisch sichtete er die Unterlagen, wobei er gelegentlich lauschend den Kopf hob, um sicherzugehen, dass er nicht überrascht wurde.
Er fand die Stelle, die ihm bereits vor Wochen aufgefallen war, und las sorgfältig und hoch konzentriert. Gebannt glitten seine Augen über die Zeilen und die zusätzlich mit einer energischen Handschrift an den Rand geschriebenen Vermerke. Allmählich erschloss sich ihm das brisante Gesamtbild.
Schließlich ließ er die Akte sinken und drehte sich herum, sodass sein Blick aus dem Fenster auf die zu dieser späten Stunde wie leer gefegte Straße fiel. Ob es ihm gelingen würde, das delikate Geheimnis für sich zu nutzen? Es nicht zu versuchen käme einem fatalen Fehler gleich. Zögernd rieb er sich das sorgsam glatt rasierte Kinn. Einfach war das sicher nicht zu bewerkstelligen. Aber einen Versuch war es wert!
Die junge Frau hatte er ja bereits angesprochen und erste Bande geknüpft. Er war selbstbewusst genug, um zu wissen, dass er mit seinem Aussehen und seinem Charme bei den Damen stets gut ankam. Auch bei ihr würde es nicht schwer sein, ihr Herz zu erobern. Und dann …
Voller Tatendrang stand er auf, stopfte die brisanten Unterlagen in seine Tasche und stellte die Mappen ordentlich zurück in das Regal. Mit der Hand an der Türklinke zögerte er noch einmal und überdachte sein Vorhaben. Doch es war nicht anders zu bewerkstelligen. Er drückte die Klinke herunter und verdrängte seine letzten Zweifel. Seinen Planungen entsprechend würde das Ganze mindestens zwei Todesopfer fordern.
***
Die Geschwindigkeit, in der Alison ihre eigene und Sarahs Reisegarderobe zusammenstellte, war erstaunlich. Sarah kam aus dem Ankleidezimmer gar nicht mehr heraus, so schnell schleppte eine Angestellte des Modehauses die von Alison für Sarah ausgewählten Kleidungsstücke und Accessoires herbei. Darunter befanden sich neumodische, einteilige Badekleider aus Trikotstoff, die wie ein Leibchen mit kurzem Rockschoß eng an ihrem Körper anlagen, dazu bedruckte Kleider, die zu Sarahs Erleichterung bis über die Waden gingen.
Die Sommerkleider für junge Damen in diesem Jahr hatten nur bis zu den Knien gereicht. Sarah hatte sich diesen gewagten Varianten verweigert, während Alison sie mit Begeisterung getragen hatte. Zwar hingen auch die neuen Modelle noch locker um Sarahs Körper, doch wirkten sie nicht mehr ganz so sackähnlich wie in den vergangenen Jahren, sondern hoben ihre schlanke Silhouette vorteilhaft hervor. Gegen die Büstenhalter statt des Korsetts hatte selbst Sarah nichts einzuwenden. Außerdem fand sie die Spangenschuhe hübsch und bequem, ebenso gefielen ihr die bunten Schultertücher, mit denen sie die in den ärmellosen Tages- und Abendkleidern unbekleideten Schultern und Oberarme bedecken konnte. Besonders angetan war sie von den krempenlosen Glockenhüten. Wenn sie diese wie vorgesehen bis über die Augenbrauen ins Gesicht zog, brachten sie ihre großen, dunklen Augen wunderbar zur Geltung. Allerdings behinderten die Hüte ein wenig die Sicht, weshalb sie den Kopf leicht in den Nacken legen musste. In dieser Haltung sah sie Alison entgegen, als diese das Umkleidezimmer betrat.
„Und? Passt alles?“
„Ja, das tut es, Lady Alison. Aber …“
„Sagte ich nicht, ich will kein Aber hören? Hier sind noch einige Pullover. Mit ihren weiten Ärmeln kannst du sie über jedem Kleid tragen, falls es dir zu kühl werden sollte. Funktionelle Kleidung für unsere Entdeckungstouren bei den Ausgrabungsstätten erstehen wir direkt in Ägypten. So hat Porchy es mir empfohlen.“
„Ja, Lady Alison.“ Sarah wusste nur zu gut, dass jede Diskussion zwecklos war. Alison verfügte über scheinbar grenzenlos viel Geld, das sie gern großzügig ausgab. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sich Lady Alison, damals erst 25, den Suffragetten angeschlossen. Mit ihren Mitstreiterinnen hatte sie sich für mehr Rechte der Frauen einschließlich des Wahlrechts eingesetzt und war dabei mehrmals verhaftet worden. Allerdings hatte ihr guter Name sie vor der teilweise menschenverachtenden Behandlung geschützt, die ihre Kampfgenossinnen ertragen mussten. Einmal hatte sie erwogen, stur im Gefängnis zu bleiben, obwohl man sie förmlich hinauswerfen wollte. Doch eine der Frauen hatte sie gebeten, zu gehen und ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Alison hatte lange über diese Bitte gegrübelt, bis ihr bewusst geworden war, dass die Kinder der eingesperrten Frauen ohne ihre Mütter große Not litten. Also hatte sie die Familien der Inhaftierten besucht und ihnen Lebensmittel, Kleidung und Trost gespendet.
Diese Geschichte war eines der vielen kleinen Geschehnisse, die Alison Sarah allmählich nahegebracht hatte. Die nach außen so herrische, unangepasste Frau versteckte unter ihrem harten Kern ein weiches Herz.
Sarah zog einen orangefarbenen Wollpullover über das graugrün bedruckte Kleid mit der tief sitzenden Taille und blickte in den Spiegel.
„Die kräftigen Farben passen wunderbar zu deinem hellen Haar und den dunklen Augen. Du bist wirklich eine Schönheit geworden“, kommentierte Alison, ohne Sarah anzusehen, und drehte dabei einen schwarz-apricotfarben gestreiften Glockenhut in ihren Händen. „Miss Denzel, lassen Sie bitte meine neue Garderobe und die von Miss Hofmann in mein Haus liefern“, wies sie die Angestellte an, die mit verklärtem Blick und vor Anstrengung hochroten Wangen auf weitere Befehle der Countess gewartet hatte.
„Gern, Mylady“, erwiderte sie, knickste und sammelte die auf Stühlen, einer Couch und den Beistelltischen verteilten Kleidungsstücke ein.
„Und wir beide, liebe Sarah, begeben uns jetzt zu Camille.“
„Zu Miss Camille, Lady Alison? Aber wir waren doch erst vor einer Woche bei ihr, um uns frisieren zu lassen.“
„Richtig, und wieder hast du dich geweigert, dir einen dieser modischen Bobs schneiden zu lassen. Das holen wir heute nach.“
Sarah presste erschrocken die Lippen zusammen. Sie mochte ihr langes, in weichen Locken fallendes Haar und hielt diese neumodischen Kurzhaarfrisuren für schrecklich maskulin.
„Keine Widerrede! Du wirst spätestens im warmen Ägypten feststellen, wie praktisch es ist, wenn du dich nicht mit umständlichen Aufsteckfrisuren abplagen musst.“
Sarah nahm den Hut ab, um ihre Ziehmutter ohne übertriebenes Zurückneigen ihres Kopfs ansehen zu können, und stemmte die Hände in die Hüften.
„Ah, ich sehe Widerstand. Das gefällt mir!“
„Ich mag mein Haar so, wie es ist.“
„Du wirst diesen Bobschnitt lieben. Wie kann ich dich nur davon überzeugen? Ach, ich weiß!“
Sarah wartete gespannt. Lady Alison würde sie nie zwingen, etwas gegen ihren Willen zu tun; das widersprach ihrer Art.
„Ich lege mir ebenfalls eine Kurzhaarfrisur zu. Dann wirst du erkennen, wie gut sie uns schlanken Wesen steht!“
„Bitte nicht, Lady Alison! Ihr schönes Lockenhaar!“, widersprach Sarah sofort. Allerdings lachte sie innerlich bei der Vorstellung, Alison könne ihre Drohung wahr machen. Sie sah bereits die schockierten Blicke ihres hochwohlgeborenen Bekanntenkreises vor sich, wenn Alison mit einer für junge Frauen gedachten Modefrisur auftauchte.
Alison winkte wortlos ab, hakte sich bei Sarah unter und führte sie zu ihrem Automobil, das sie selbstverständlich persönlich steuerte. Es hieß, Lord Carnarvon sei einer der ersten Eigentümer eines Automobils in England gewesen, doch Sarah war sich sicher, dass Alison ihren ersten Kraftwagen kaum später angeschafft und dadurch für einen der vielen Skandale um ihre Person gesorgt hatte – zumal sie bis heute auf einen Chauffeur verzichtete. Die Tatsache, dass ihre Ziehmutter unendlich viel Freude dabei empfand, die Gesellschaft zu echauffieren, ließ in Sarah den Verdacht aufkeimen, sie könne auch die Idee mit dem neuen Haarschnitt womöglich ernst meinen. Ein heimliches Lächeln schlich sich auf ihre Lippen.
Kapitel 2
Camille, eine stämmige Frau mit kurzen, schwarzen Locken und braunen Augen, betonte gern, dass sie es eigentlich nicht nötig hatte, ihrer Arbeit als Friseurin nachzugehen. Jedem, der es hören wollte, erzählte sie – und den anderen ebenfalls –, wie sehr sie es liebe, die natürliche Schönheit der Damen hervorzuheben und den Herren der Schöpfung ein gepflegtes Äußeres zu verleihen.
Sarah lächelte zumeist heimlich in sich hinein, vermutete sie doch, dass Camille vor allem den Klatsch liebte, den sie in ihrem geschmackvoll eingerichteten Salon und in den adeligen Häusern, die sie aufsuchte, zugetragen bekam.
„Lady Clifford, wie wunderbar, dass Sie vorbeischauen. Ich wäre selbstverständlich auch zu Ihnen gekommen! Wobei – Sie kommen ja immer persönlich zu mir, was mich sehr ehrt. Miss Hofmann, Sie sehen bezaubernd aus.“ Camille legte den Kopf schief, und Sarah ahnte, was nun folgen würde. „Allerdings finde ich, Sie sollten sich als moderne junge Frau endlich eine modischere Frisur schneiden lassen.“
„Setz dich, Sarah“, befahl Alison und wandte sich an Camille, die nur wenige Jahre älter war als Sarah. „Ich möchte, dass Sie mir einen Bob schneiden.“
„Ihnen?“ Camille stand der Mund offen. Ihre nicht versteckte Verwunderung entlockte Sarah ein leises Lachen.
„Ich bin weder alt noch unmodern, liebe Miss Camille!“, griff Alison mit vorwurfsvollem Tonfall die Worte der Friseurin von zuvor auf, was diese erröten ließ.
„Nein, bestimmt nicht, Lady Clifford. Nur, bei Ihren Locken …“
„Warum haben die Leute die Dauerwelle erfunden, wenn Locken ein Problem sind?“
„Da mögen Sie recht haben …“
„Nun stehen Sie nicht da wie der Leuchtturm von Jersey. Fangen Sie an!“
Camille lachte etwas gezwungen und drehte sich nach ihrer Schürze um. Dabei warf sie Sarah einen fragenden Blick zu. Diese zuckte lediglich mit den Schultern. Wenn Alison sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es ein Ding der Unmöglichkeit, sie von dieser Idee wieder abzubringen. Allerdings musste Sarah zugeben, dass alle Entscheidungen, die Alison für sie getroffen hatte, ausnahmslos von Vorteil für sie gewesen waren. Schmunzelnd erinnerte sie sich an ihren ersten Zeichenkurs bei einem Künstler, vor dem sie einen so gewaltigen Respekt empfunden hatte, dass sie erst gar nicht über die Schwelle seines Cottages in Cornwall treten wollte. Es war nur Alisons Mischung aus Unnachgiebigkeit und Ermutigung zu verdanken, dass Sarah letztendlich doch in den einmaligen Genuss dieser Lehrstunden gekommen war. Bereits nach wenigen Minuten war sie vollkommen in ihrer Zeichenübung aufgegangen und hatte alle Furcht vor dem fremden Mann abgelegt, sodass Alison eine Bekannte besuchen konnte.
Alison verwöhnte sie, dessen war sich Sarah bewusst. Doch bei allem Fördern und Fordern hatte Sarah niemals die tief sitzende Unsicherheit ablegen können, die sie an dem Tag befallen hatte, als ihr Vater sie bei Alison abgegeben hatte. Er hatte sie kurz umarmt und ermahnt, ein braves Mädchen zu sein. Und dann war er gegangen, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sarah stellte sich mittlerweile vor, dass er damit lediglich versucht hatte, seinen Abschiedsschmerz vor ihr zu verbergen, um es ihr nicht noch schwerer zu machen. Das milderte den Stachel der Zurückweisung ein wenig. Vielleicht wurde sie aber auch einfach nur erwachsen und hatte gelernt, dass die Menschen manchmal Entscheidungen treffen mussten, die nicht ihren eigentlichen Wünschen entsprachen.
„Einen Bubikopf für Lady Clifford also“, murmelte Camille halblaut vor sich hin, als müsse sie sich davon überzeugen, richtig gehört zu haben, und riss Sarah aus ihren schmerzlich-süßen Erinnerungen.
„Wir reisen nach Ägypten und Lady Alison findet den Haarschnitt praktisch“, erklärte Sarah.
„Ägypten? Wie aufregend!“, rief Camille, band sich die Schürze um, griff zur Schere und erging sich in fantasievollen Vorstellungen über das Land.
„Ich habe bis jetzt noch nie gesehen, wie man jemandem die Haare vom Kopf redet, aber versuchen Sie es ruhig weiter“, fiel Alison ihr irgendwann ins Wort.
Als Sarah Camilles entrüstetes Gesicht sah, zwinkerte sie ihr verschwörerisch zu und lächelte über die sich ihr bietende Szene.
Camilles Gesichtszüge entspannten sich merklich. Sie begann munter draufloszuschneiden, jedoch ohne dabei ihren Redefluss zu unterbrechen. Nach und nach entlockte sie Alison immer mehr Informationen über ihr Vorhaben, wovon auch Sarah profitierte. So bekam sie zumindest einen Eindruck davon, was in den nächsten Wochen auf sie zukommen würde. Allerdings wurde sie den Verdacht nicht los, dass Alison bei manch einer Beschreibung maßlos übertrieb, vermutlich mit dem Hintergedanken, dass Camille Alisons skandalöse Pläne an die Klatschbasen in Alisons Kreisen weitergeben würde, die sich dann maßlos darüber aufregen konnten. Einmal mehr fragte sich Sarah halb amüsiert, halb besorgt, weshalb Alison so gern provozierte.
***
Zwei Stunden später saßen Sarah und Alison in einem Kaffeehaus und ließen sich köstliches Gebäck schmecken. In einem fort tastete Sarah nach ihren Stirnfransen und dem kinnlangen, schwingenden blonden Haar. Dabei betrachtete sie sich und ihre Begleiterin in dem goldumrahmten Spiegel, der fast die gesamte Wand der Nische einnahm. Überrascht und erfreut zugleich stellte Sarah fest, wie überaus apart und modern sie beide aussahen.
„Ich sehe, du bist zufrieden, obwohl deine Entscheidung für den Haarschnitt nicht ganz freiwillig gefallen ist.“
„Mein Kopf fühlt sich erstaunlich leicht an“, erwiderte Sarah.
„Camille wird doch nicht mit den Haaren auch Hirnmasse entfernt haben?“, spottete Alison gutmütig.
Sarah lachte leise. „Jetzt passen meine Haare auf jeden Fall besser unter diese absolut wunderschönen neuen Hüte.“
„Da haben wir ja noch einen zweiten Vorteil gefunden!“, scherzte Alison.
„Vielen Dank für die neue Garderobe.“
„Du hast sie dir verdient. Ich weiß, ich bin eine schreckliche Tyrannin. Es ist mir sowieso ein Rätsel, wie du es mit mir aushältst.“ Sarah öffnete den Mund, aber Alison gebot ihr mit einer typischen Handbewegung zu schweigen. „Kein weiteres Wort darüber, wie sehr du mir zu Dank verpflichtet bist, weil ich dich aufgenommen habe. Du bist die Tochter meiner besten Freundin! Victoria hat mir so viel bedeutet, vor allem nach Theodores –“
Abrupt brach Alison ab, fing sich aber schnell wieder und begann von ihrer einstigen Freundin zu schwärmen. Schon bald hing Sarah ihren eigenen Gedanken nach. Ihre Mutter hatte erst im Alter von 30 Jahren einen Deutschen namens Martin Hofmann geheiratet und war mit ihm ins Deutsche Kaiserreich gezogen. Ein ungewöhnlicher Schritt für eine Frau, die aus einem wohlhabenden, britischen Elternhaus stammte. Immerhin blieb diese elitäre Gesellschaft damals wie heute gern unter sich. Alison hatte Sarah erzählt, dass sie und ihre Mutter sich leider nur wenige Jahre gekannt hatten und dass von Sarahs Familie hier in England niemand mehr lebte.
Sarah seufzte. Ohne Alison wäre sie völlig allein auf dieser Welt. Da ihr Vater sich nie wieder gemeldet hatte, gingen sie und Alison davon aus, dass er den Krieg nicht überlebt hatte. Sarah versuchte erneut, sich das Gesicht und die Stimme ihres Vaters in Erinnerung zu rufen, doch es wollte ihr nicht mehr gelingen. Die Zeit ihrer Trennung hatte sich endgültig wie ein dichter Nebel zwischen sie und ihr Erinnerungsvermögen gelegt; er verwischte alle Konturen und Farben.
„Ich bin es gewohnt, dass du nicht viel sagst, Sarah. Deine momentane Schweigsamkeit deutet allerdings darauf hin, dass du mir nicht einmal zuhörst. Ich verspüre keine Lust auf ein Gespräch, bei dem ich das Gefühl habe, ich könnte mich ebenso gut mit einer Kaffeetasse unterhalten!“
Sarah setzte sich nach dieser Rüge aufrecht hin, trank ihren inzwischen kalten Kaffee und neigte leicht den Kopf, um Interesse zu demonstrieren.
„Gehen wir! Wir müssen packen. In zwei Stunden kommt mein Anwalt mit seinem Sekretär vorbei, um letzte geschäftliche Anweisungen für die Zeit meiner Abwesenheit mit mir zu besprechen. Morgen brechen wir auf und in zwei Tagen legt unser Schiff ab!“
Folgsam erhob sich Sarah, spürte jedoch, wie die Aussicht auf diese Reise ihre Knie zum Zittern brachte. Grundsätzlich fand Sarah durchaus Gefallen am Reisen. Die fremden Länder und Kulturen faszinierten sie und hatten sie zu etlichen Gemälden animiert. Doch bei der unternehmungslustigen Alison gerieten sämtliche Exkursionen meist äußerst abenteuerlich. Zudem erinnerte jede Schiffsfahrt Sarah an ihre allererste, sehr schmerzliche Seereise von Deutschland nach England, und mit der Erinnerung kam diese unbestimmte Angst, die sie nie recht fassen, aber auch einfach nicht loswerden konnte.
***
Dayton Ferries, Alisons Anwalt, war ein Herr um die 60 mit schlohweißem, stets wirr vom Kopf abstehenden, aber noch dichtem Haar, einem am Kinn spitz zulaufenden weißen Bart und einem struppigen, weit über die Lippenpartie hinausreichenden Schnurrbart. Eine runde Drahtbrille saß tief auf seiner langen, schmalen Nase, und er hatte einen Tick in Form eines nervösen Augenzwinkerns, das ihn jedoch fröhlich und sympathisch wirken ließ.
Sarah beobachtete, wie Ferries sich galant vor Alison verneigte, ihre Hand nahm und sie an seine Lippen führte. Alison verdrehte gekonnt die Augen, und Sarah versuchte, ihr belustigtes Schmunzeln zu verstecken. Bereits bei ihrem ersten Zusammentreffen mit Ferries vor acht Jahren war ihr aufgefallen, wie sehr der Anwalt Alison verehrte. Mit seinen gemächlichen Bewegungen, der langsamen Aussprache und seiner gemütlichen Art war er genau das Gegenteil der lebhaften, immer in Bewegung befindlichen Alison. Sarah konnte sich nur schwer vorstellen, wie ein Zusammenleben der beiden aussehen würde.
„Sie sehen wie immer bezaubernd aus, Lady Alison“, beteuerte er.
„Sie benötigen wohl eine neue Brille!“, konterte Alison trocken.
Ferries wandte sich mit einem Augenzwinkern an Sarah, und sie wusste nicht recht, ob dies sein nervöses Zwinkern gewesen war oder ob er ihr seine Belustigung offenbarte. „Miss Sarah, Sie sind wie der junge Frühling und blühen von Tag zu Tag mehr auf.“
„Richtig, sie blüht auf und ich verwelke allmählich“, spottete Alison gutmütig und reichte dem Assistenten des Familienanwalts die Hand. Der schlanke, nicht sehr groß gewachsene junge Mann namens Bob Shane verbeugte sich knapp und murmelte einen Gruß.
Alison öffnete den Mund, schloss ihn aber schnell wieder. An Shane war in den vier Jahren, seit er die Stelle bei Ferries übernommen hatte, jeder Spott, jedes aufmunternde Wort und jede Herausforderung vonseiten Alisons einfach abgeprallt. Er war eine ernste und gewissenhafte Person und folgte Ferries wie ein treuer Schatten. Auch jetzt wartete er bescheiden im Hintergrund, bis sein Arbeitgeber sich wieder Alison zuwandte, ehe er Sarah mit zurückhaltender Höflichkeit begrüßte.
„Darf ich Ihnen und Mr Ferries einen Tee anbieten?“, erkundigte sich Sarah bei Shane, doch wie zumeist beantwortete dessen Dienstherr die Frage. „Gern, Miss Sarah. Der Herbst zeigt sich in diesem Jahr von seiner nebligen und feuchten Seite. Eine Tasse heißer Tee wäre genau das Richtige. Und Sie setzen sich bitte noch etwas zum Plaudern zu uns.“
„Wir sind zum Arbeiten zusammengekommen“, wehrte Alison ab.
„Gnädigste, die Arbeit läuft uns nicht davon. Sie haben es immer so eilig. Irgendwann sind Sie mal noch schneller als die Zeit.“
„Es gibt viel für Sie zu erledigen, schließlich reisen Sarah und ich morgen gen Ägypten ab.“
„Ägypten, Lady Clifford?“ Ferries zog die Stirn kraus. Sie reagierte darauf nur mit einem Schulterzucken und öffnete die Tür zu ihrem kleinen Arbeitsraum. Während Shane eintrat und seine Mappe auf dem dunklen Eichentisch ablegte, drehte Ferries sich zu Sarah um.
„Sie beide reisen nach Ägypten?“, holte er sich bei ihr die Bestätigung für Alisons Ankündigung ein.
„Lord Carnarvon hat dem Archäologen Mr Carter eine letzte Ausgrabungssaison genehmigt. Lady Alison möchte dabei sein.“
„Sie wollen mit ansehen, wie Carter endgültig scheitert?“
„Sie wissen doch, dass Lady Alison sich nie am Misserfolg einer Person weiden würde.“
„Aber sicher, meine Liebe. Lady Alison ist eine amüsante Rebellin, jedoch niemals verletzend. Zumindest nicht, wenn man ihre Art von Humor versteht.“ Wieder war da dieses Zwinkern.
Sarah lächelte den Anwalt an. Sie fand ihn überaus sympathisch und seine Zuneigung und Bewunderung für Alison war unübersehbar.
Sarah wusste nicht viel von der Liebe zwischen Mann und Frau. Bisher hatte noch kein Mann Interesse an ihr gezeigt – und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Sie hatte, nachdem ihr Vater sie nach England gebracht hatte, genug damit zu tun gehabt, sich an die raubeinige Alison und ihren unruhigen Lebensstil zu gewöhnen. Ihr Heimweh, verbunden mit der Sehnsucht nach ihrer Großmutter und ihrem Vater, galt es ebenfalls zu bewältigen. Später war ihr Leben so voll und abwechslungsreich verlaufen, dass sie gar keine Zeit für die Beschäftigung mit den Angehörigen des anderen Geschlechts gefunden hatte.
„Ob ich die Damen nicht besser begleite? Ägypten als Reiseziel hört sich nicht ungefährlich an.“
„Würden Sie es denn wagen, Lady Alison diesen Vorschlag zu unterbreiten?“, flüsterte Sarah und erntete ein erneutes Zwinkern.
„Das kommt wohl darauf an, wie lebensmüde ich heute bin.“
„Und?“
„Wenig. Ich genieße mein Leben und lege zunehmend mehr Verantwortung in die Hände meines Stellvertreters, der eines Tages meine Kanzlei übernehmen wird. Ob ich mein bequemes Leben hier für einen Haufen übereinandergeschichteter Steine und einen heißen Wüstenwind, der mir Sand ins Gesicht bläst, verlassen würde? Nein, unter gar keinen Umständen! Ich kann mir gut vorstellen, wie Lady Alison reagiert, wenn sie mich, den ihr heimlich nachgereisten Verehrer, vor den Pyramiden entdecken würde …“
Sarah kicherte hinter vorgehaltener Hand. In diesem Augenblick schoss Alisons weißer Zwergspitz Giant zwischen ihren Beinen hindurch und sprang schwanzwedelnd an dem Besucher hoch. Dieser bückte sich, kraulte dem Tier den Hals und warf dabei einen unauffälligen Blick auf seine Angebetete, die am Tisch Platz genommen hatte und ungeduldig mit der Bleistiftrückseite auf die Tischplatte tippte.
„Geben Sie bitte auf Lady Alison acht, Miss Sarah.“
Sarah schluckte. Sie war sicher nicht die diejenige, die Lady Alison beschützen würde – eher schon umgekehrt. Also zuckte sie nur hilflos mit den Schultern.
„Notfalls geben Sie ihr eine von diesen Spritzen, die sie für einige Stunden ins Land der Träume schicken.“
Diesmal lachte Sarah und ließ es zu, dass der Mann sie dankbar auf die Stirn küsste.
„Dann wage ich mich jetzt in die Höhle der Löwin!“, sagte Ferries, als er sich der offenen Tür zuwandte.
„Das habe ich gehört, Sie alter Löwenbändiger!“
„Diesen Beruf habe ich leider nie erlernt!“
„Dafür bezahle ich Sie auch nicht mit einem abnorm hohen Stundenlohn, den Sie übrigens gerade mit meiner Krankenschwester vertrödeln.“
„Nicht eine Sekunde, die ich mit Miss Sarah im Gespräch verbringe, ist vertrödelte Zeit.“
„Sie geht auf meine Kosten und scheint, soweit ich das mithören konnte, ungesund für mich zu sein!“ Ferries drehte sich lächelnd zu Sarah um. „Ich bin so froh, dass Sie unseren Tee zubereiten, Miss Sarah. Bitte verwechseln Sie nicht die Tasse, in die Sie den Baldrian schütten, den ich Ihnen vorhin heimlich zugesteckt habe!“
„Mr Ferries, für heute bezahle ich Ihnen nur den halben Stundensatz!“
„Würden Sie endlich auf mein Werben eingehen, bräuchten Sie meine juristischen Dienste gar nicht mehr zu bezahlen!“
Mit einem letzten Zwinkern in Sarahs Richtung schloss Ferries die Tür hinter sich. Giant war dem Anwalt gefolgt, wie immer, wenn Ferries zu Besuch im Hause war. Zumindest der kleine Spitz wusste den Charme des Mannes zu schätzen!
Kapitel 3
Die Biskaya zeigte sich von ihrer widerspenstigen Seite, als Sarah und Alison sie an Bord eines Dampfschiffs durchquerten. Der Wind pfiff kalt über die Decks, die aufgepeitschten Wogen warfen sich angriffslustig gegen den Stahlrumpf und der Dampfer stampfte unaufhaltsam durch sie hindurch. Selbst die Möwen hatten es vorgezogen, sich zurückzuziehen, und Sarah wünschte sich nichts sehnsüchtiger, als dies ebenfalls zu tun. Ihr war elend zumute, obwohl sie sich zumindest nicht, wie viele andere Mitreisende, fortlaufend erbrechen musste.
Zitternd und blass hielt sie sich die meiste Zeit in ihrer Kabine auf und versuchte zu lesen, während Alison sich bester Gesundheit erfreute, und nur ihr Rheuma machte sich gelegentlich in ihren Finger- und Zehengelenken bemerkbar.
Endlich erreichten sie die Straße von Gibraltar. Sogar Sarah stand an Deck und freute sich über die deutlich ruhigere See und die zaghaft durch die Wolken dringenden Sonnenstrahlen. Stolz und kühn erhob sich die felsige Kalksteinküste Gibraltars an der Meerenge zwischen Spanien und Afrika.
Das Mittelmeer gewährte ihnen freundliches Wetter bei angenehmen Temperaturen. Sarah erholte sich rasch und genoss den frischen Wind auf den offenen Decks, das Kreischen der Möwen und den Ausblick auf die Küsten Italiens und Griechenlands, wenn sie einen Hafen ansteuerten. Auch die exquisiten Mahlzeiten im Speiseraum und die Gespräche mit den anderen Reisenden sagten ihr zu.
Endlich, nach beinahe zwei Wochen auf See, steuerten sie den Hafen von Alexandria mit seinen von der Sonne hell beschienenen zinnenbesetzten Befestigungsanlagen an. In dieser lebhaften Hafenstadt bestiegen sie einen Zug nach Kairo. Dort würden sie auf einen Nildampfer umsteigen, weshalb sie sich am frühen Abend am Hafen einfanden, wo sie warten mussten, bis ihr Gepäck verladen war.
In dieser Zeit war Sarah vollauf damit beschäftigt, Alisons Spitz Giant in Schach zu halten. Der Hund wand sich in ihren Armen und wollte auf den Boden, doch Sarah hielt ihn eisern fest. Vermutlich würde sie das verwöhnte Schoßhündchen in dem mit Kisten, Koffern, Säcken und Fässern vollgestellten Bereich nicht mehr wiederfinden, falls er ihr davonsprang. Ein Halsband mit einer Leine hatte das Tier nicht. Er solle nicht – wie manche Menschen – in Ketten gelegt werden, erklärte Alison ihre Weigerung, den Hund anzubinden.
Interessiert betrachtete Sarah die hoch über die Dächer ragenden schlanken Minarette, die sie, von der tief stehenden Sonne angestrahlt, mit ihrer weißen Farbe blendeten. Der brackige Geruch des Wassers mischte sich mit dem Duft fremdartiger Gewürze, mit Zigarettenrauch und dem Gestank des im Fluss treibenden Unrats. Gerade als Sarah sich mit einer Frage an Alison wenden wollte, näherten sich ihnen eine Reihe Hafenarbeiter in langen, fließenden Galabijas und schleppten ihr umfangreiches Gepäck vorbei. Sarah wich zurück, um den Männern Platz zu machen. Dabei wurde sie von Alison getrennt und fand sich plötzlich von einer Gruppe Mädchen in bunten Röcken umringt. Mit lauten, unverständlichen Worten boten sie Lederarbeiten und Ketten feil. Kleine Kinder, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren, bedrängten Sarah und streckten bittend die Hände nach ihr aus.
Sarah wich zurück, da sie die Nähe der Kinder als bedrohlich empfand. Sie verstand nicht, was sie ihr zuriefen. Ihre Augen blitzten, und Sarah wusste nicht, ob sie darin Freude, Not oder Verschlagenheit sah. Sie stieß einen aufgebrachten Ruf aus, doch es gelang ihr nicht, sich der Kinder zu erwehren.
Alison, die das Verladen ihres Gepäcks mit Argusaugen verfolgte, hörte sie über der Geräuschkulisse auf dem Kai nicht. Zwei ältere Jungen mischten sich unter die kleinen Bettler und drängten die junge Frau immer weiter von Alison und der Kaimauer fort. Heiße Tränen der Hilflosigkeit und der Furcht verschleierten ihren Blick. Was hatten die Jungen mit ihr vor? War sie in Gefahr?
Bretterverschläge und Hauswände wuchsen bedrohlich vor ihr in die Höhe und tauchten die Gasse, in die die Halbwüchsigen sie zerrten, in ein schummeriges Licht. Sarahs Herzschlag und ihr Atem beschleunigten sich. Als eine tiefe Männerstimme hinter ihr einen Befehl ausstieß, zuckte Sarah erschrocken zusammen. Sie verstand kein Wort, aber die Kinder schienen für den Moment eingeschüchtert. Endlich gelang es ihr, sich loszureißen, und sie wirbelte herum. Ein Mann stand dicht vor ihr. Auffällig helle Augen musterten sie ungeniert. In diesem Augenblick wand sich Giant aus ihrem Griff, sprang zu Boden und verschwand zwischen nackten Füßen und wallenden Gewändern.
Der schlanke, salopp gekleidete Herr ergriff Sarah an den Ellenbogen und betrachtete sie aus diesen ungewöhnlich blauen Augen mit einem Blick, den sie nur schwer deuten konnte. Lag darin Vorwurf oder Besorgnis? Erneut rief er einen Befehl über sie hinweg und die Kinder wichen zurück. Die älteren Jungen bedachten ihn mit einigen Widerworten, die vermutlich wenig schmeichelhaft waren, trollten sich aber ebenfalls.
„Kommen Sie, Miss. Ich bringe Sie zu Ihrem Begleiter“, sprach der junge Mann in perfektem, wenn auch etwas hart klingendem Englisch und zog dabei die Schildmütze von dem kurz geschnittenen, braunen Haar.
„Meine Reisebegleitung ist Lady Alison Clifford. Vielmehr bin ich ihre Begleitung“, stellte Sarah schnell richtig und schaute sich suchend nach dem Hund um.
„Sie und die Lady reisen ohne männlichen Schutz?“
Sarah sah zu ihm auf und zuckte mit den schmalen Schultern. Wie sollte sie dem Fremden erklären, dass Alison ihren eigenen Kopf besaß und durchaus in der Lage war, sich im Leben allein zu behaupten?
„Das mag im beschaulichen England gehen, doch hier …“ Sein Blick zeigte eine Mischung aus Verwunderung und Unverständnis.
„Ich danke Ihnen für Ihr Eingreifen. Aber jetzt muss ich zuerst Giant suchen“, sagte Sarah in dem Bestreben, von dem Mann fortzukommen.
Sein Auflachen ließ sie innehalten, dabei verschwand die bedrohlich wirkende Ernsthaftigkeit aus seinem Gesicht. „Giant? Dieses kleine Wollknäuel trägt den Namen Giant?“
Sarah nickte beipflichtend.
„Na, dann verstehe ich Ihren und Lady Cliffords Mut, ohne männliche Begleitung ein afrikanisches Land zu bereisen. Sie befinden sich ja in Gesellschaft eines starken Beschützers!“
„Ja, er war sehr hilfreich“, murmelte Sarah und entlockte dem Fremden damit erneut ein Schmunzeln. Zuvorkommend begleitete der Mann sie zurück zum Kai, wo Alison noch immer das Verladen ihres Gepäcks überwachte. Sarah beobachtete, wie er Alison musterte. Allein ihr Äußeres und ihre aufrechte Haltung verrieten ihre hochgestellte Herkunft. Dennoch sprach Sarahs Retter Alison salopp an: „Sie hatten da etwas verloren, Lady.“
Alison drehte sich abrupt um und starrte den Mann vorwurfsvoll an, der sie nur um ein paar Zentimeter überragte. „So?“
„Die junge Dame sah ein wenig … verloren aus“, konterte er gelassen und ließ endlich Sarahs Ellenbogen los.
„Eine Horde Kinder hat mich abgedrängt, Lady Alison“, sagte sie und deutete auf die Schar, die mittlerweile andere Mitglieder ihrer Reisegruppe bedrängte. „Und leider ist mir Giant entwischt.“
Alisons Augenbrauen zuckten missbilligend in die Höhe.
„Ich suche ihn“, bot der Fremde an und setzte sein Vorhaben sofort in die Tat um.
Sowohl Alison als auch Sarah schauten ihm nach, als er sich zwischen den Gepäckstapeln, Arbeitern, Lastenkränen und Eselskarren hindurchschlängelte, die das Hafengelände zu einem beengten und unübersichtlichen Ort machten.
„Was ist denn geschehen?“, wollte Alison nun von Sarah wissen und ergriff fürsorglich ihre Hand.
„Die Kinder umringten mich und versuchten, mich in eine Nebengasse zu drängen.“
„Du musst unbedingt in meiner Nähe bleiben, Sarah. Ich möchte nicht, dass dir etwas zustößt! Außerdem warnten meine Freunde mich davor, allein nach Ägypten zu reisen. Auch deshalb müssen wir gut aufeinander achtgeben. Die Blöße, am Ende doch noch männliche Unterstützung zu brauchen, möchten wir uns doch nicht geben, nicht wahr?!“
Sarah nickte, wusste sie doch um Alisons eiserne Entschlossenheit, niemals auf die Hilfe eines Mannes angewiesen zu sein. Sie kannte Alison gut genug, um die unterschwellig mitschwingende Erleichterung darüber herauszuhören, dass ihrem jungen Schützling nichts zugestoßen war.
„Du musst solchen Kindern gegenüber energischer auftreten“, riet ihr Alison, während sie ihren Blick auf die Schauerleute richtete. „Obwohl sie die englische Sprache nicht beherrschen, verstehen sie sicher, wenn man sie lautstark fortschickt. Dein sanftes, freundliches Wesen ist in manchen Situationen nicht von Vorteil!“
„Vielleicht wäre es sinnvoll, ein paar Worte Arabisch zu lernen?“
„Das ist eine vortreffliche Idee. Sobald wir in Luxor sind, stelle ich einen Lehrer ein! Aber sieh nur, da kommt dieser verwegen aussehende Mann mit Giant.“
Der Fremde schlängelte sich so gewandt durch die Menschenmasse, als habe er sich sein Leben lang in diesem Hafenviertel aufgehalten. Nachsichtig lächelte er auf Sarah hinab, während er ihr den Hund entgegenstreckte. „Diese Spitzbuben-Seele hat sich die richtige Rasse herausgesucht!“, scherzte der Mann und zog erneut höflich die Mütze.
„Nun werden Sie aber nicht frech“, konterte Alison statt eines Dankes und warf dem Mann einen warnenden Blick zu.
Dieser grinste unbeeindruckt zurück. „Es war mir eine Ehre, Ihre beiden Begleiter zu retten! Vielleicht sollten Sie künftig besser auf sie achtgeben“, sagte er, verbeugte sich knapp und entfernte sich zügig.
„Wie ungehobelt!“, entfuhr es Sarah, obwohl ihr noch immer das Herz heftig klopfte. Als sie das Lächeln auf Alisons Gesicht bemerkte, wurde ihr bewusst, dass dieser junge Mann genau die Art Mensch war, für die die freigeistige Adelige sich begeisterte.
Das tiefe Dröhnen des Schiffshorns mahnte zum Aufbruch. Sarah folgte Alison über die flache Gangway an Bord des Flussdampfers, wo ihnen ein unterwürfiger Steward eine beengte Kabine zuwies und dann geduldig auf sein Bakschisch wartete.
„Porchy hat mich davor gewarnt, nicht abgekochtes Wasser zu trinken, außer dem, das in den von ihm empfohlenen Hotels angeboten wird. Das Gleiche gilt für Obst, vor allem, wenn es keine Schale hat“, erklärte Alison und deutete auf eine bereitgestellte Wasserkaraffe. „Halten wir uns also lieber an Alkoholisches.“ Lachend zwinkerte sie Sarah zu.
Diese schüttelte innerlich den Kopf. Dieser Satz hätte in der Gesellschaft von Alisons adeligem Bekanntenkreis wieder für einigen Aufruhr gesorgt.
„Du darfst natürlich Pfefferminztee bestellen“, fügte Alison hinzu, während sie die Hutnadeln aus ihrem Kopfputz zog und den feschen, wenn auch ergrauten Bubikopf mit beiden Händen aufschüttelte. „Komm. Wir packen später nur das Nötigste aus. Jetzt gehen wir an Deck und lassen uns vom Nil verzaubern, ehe wir in die trockenen, unfruchtbaren Gefilde gelangen.“
„Ich habe gelesen, dass die regelmäßigen Überflutungen entlang des Nils von Juli bis Oktober für gute Ernten sorgen.“
„Ich sehe, du hast deine Hausaufgaben gemacht“, lobte Alison.
Sie traten durch einen schmalen Korridor an Deck und lehnten sich an die nicht mehr ganz weiße Reling. Papyruspflanzen, die sich im Wind wiegten, majestätische Dattelpalmen und farbenprächtige Blumen breiteten sich am Ufersaum aus und malten in ihrer Urwüchsigkeit ein Bild längst vergangener Tage. Das Boot stampfte energisch gegen die Strömung an und das Wasser blitzte mal blau, mal grün, mal unansehnlich braun in der Sonne. In der Luft lag neben den Abgasen des Dieselmotors ein herber, modriger Geruch.
Winzige Fischerboote schaukelten in den von weißen Lotusblüten gesäumten Nebenarmen, vereinzelt drängten sich in Ufernähe einfache Unterstände und Hütten in das Grün. Kinder winkten ihnen vom Ufer aus zu und jetzt, auf die Entfernung, wagte Sarah es, ihnen zurückzuwinken.
„Das ist alles so anders, als ich es aus Deutschland oder England kenne“, flüsterte sie ehrfürchtig.
Alison lachte und stieß leicht mit der Schulter gegen Sarahs. „Wann habe ich das bloß schon einmal aus deinem Mund gehört? Ach, ich erinnere mich. Bei allen unseren Reisen!“
Sarah lächelte und warf Alison heimlich einen prüfenden Blick zu. Wenn sie unterwegs waren, wirkte die Frau gelöster, fröhlicher und zugänglicher als in ihrer Heimat. Ob es daran lag, dass sie sich in England immer beobachtet fühlte, obwohl sie sich jede nur erdenkliche Freiheit leistete, die andere Damen ihres Standes sich versagten? Oder erinnerte sie in der Heimat alles zu sehr an ihren früh verstorbenen Ehemann, den kein anderer Mann je hatte ersetzen können? Alison sprach wenig über ihren Ehemann oder ihre Gefühle, und Sarah wagte nicht, sie darüber auszufragen.
Sie seufzte verhalten, als ihre Augen ihr heutiges Ziel, die drei Pyramiden, erblickten, die sich Ehrfurcht gebietend in den abendlichen Himmel erhoben.
In wenigen Tagen würde Sarah ihren 21. Geburtstag begehen. Zwar fürchtete sie sich längst nicht mehr vor Alison, die ihr zuerst so bedrohlich erschienen war, dennoch fragte sie sich, ob sie wohl den Rest ihres Lebens bei ihr verbringen würde. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Es gab gewiss Schlimmeres! Immerhin war sie bestens versorgt und bereiste die halbe Welt. Entbehrungen kannte sie nicht. Zudem war es in Alisons Nähe niemals langweilig. Dafür sorgte neben ihren gemeinsamen Reisen auch Alisons unvergleichliche Art, die Dinge zu sehen und das Leben anzupacken.
Das Wichtigste aber, was ihre Gönnerin ihr mit auf den Weg gegeben hatte, war ihr unerschütterlicher Glaube an Gott. Wie bei allem, was sie anpackte, leistete Alison sich ihre eigene Art, ihren Glauben zu leben und auszudrücken. Ihre offenherzige und extravagante Art, mit der sie über Gott sprach, ging nicht immer mit den allgemeinen Auffassungen darüber konform, wie sich eine christliche Dame zu verhalten hatte. Einmal war Sarah dabei gewesen, als Alison zum Entsetzen aller Gottesdienstbesucher den Pfarrer mitten in der Predigt unterbrochen und eine Diskussion mit ihm begonnen hatte, weil ihr die Ansicht, die er vertrat, zu schwammig erschienen war.
Obwohl Sarah, anders als Alison, Glaubensdiskussionen scheute, hatte sie viel Halt und Trost im Glauben gefunden. In all den Unsicherheiten und Fragen zu ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft hatten sie die Zusagen der Bibel getröstet. Es kam nicht darauf an, woher sie kam oder wie andere sie sahen, wichtig war nur, wie Gott sie sah: als sein geliebtes Kind. Er kannte mehr als ihre nach außen gezeigte Zurückhaltung. Er sah tief in ihr Herz, wusste um Sarahs Liebe zu den Menschen, die an ihrer Seite waren, und um ihre Bereitschaft, für sie da zu sein. Und Gott kannte auch ihre Angst davor, von ihren Mitmenschen verletzt zu werden, und Sarah klammerte sich an die Hoffnung, dass er diese Wunde eines Tages heilen würde.