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Die Welt sieht sich einem faszinierenden Phänomen gegenüber. Sobald Frauen einschlafen, umhüllt sie am ganzen Körper ein spinnwebartiger Kokon. Wenn man sie weckt oder das unheimliche Gewebe entfernen will, werden sie zu barbarischen Bestien. Sind sie im Schlaf etwa an einem schöneren Ort? Die zurückgebliebenen Männer überlassen sich zunehmend ihren primitiven Instinkten. Eine Frau allerdings, die mysteriöse Evie, scheint gegenüber der Pandemie immun zu sein. Ist sie eine genetische Anomalie, die sich zu Versuchszwecken eignet? Oder ist sie ein Dämon, den man vernichten muss? Schauplatz und Brennpunkt ist ein kleines Städtchen in den Appalachen, wo ein Frauengefängnis den größten Arbeitgeber stellt.
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Seitenzahl: 1259
Das Buch
Die Welt sieht sich einem so erschreckenden faszinierenden Phänomen gegenüber. Sobald Frauen einschlafen, umhüllt sie am ganzen Körper ein spinnwebartiger Kokon. Wenn man sie weckt oder das unheimliche Gewebe entfernen will, werden sie zu barbarischen Bestien. Sind sie im Schlaf etwa an einem schöneren Ort? Die zurückgebliebenen Männer überlassen sich zunehmend ihren primitiven Instinkten. Eine Frau allerdings, die mysteriöse Evie, scheint gegenüber der Pandemie immun zu sein. Ist sie eine genetische Anomalie, die sich zu Versuchszwecken eignet? Oder ist sie ein Dämon, den man vernichten muss? Schauplatz und Brennpunkt ist ein kleines Städtchen in den Appalachen, wo ein Frauengefängnis den größten Arbeitgeber stellt.
Die Autoren
Stephen King ist Autor von über fünfzig Büchern, die alle weltweit Bestseller wurde. Er gilt als der große Chronist des amerikanischen Alltags. Von Barack Obama wurde ihm 2014 die »National Medal of Arts« verliehen. Seine Werke erscheinen im Heyne-Verlag, zuletzt der Spiegel-Bestseller Mind Control.
Owen King ist der jüngere Sohn von Stephen und Tabitha King. Für seine Kurzgeschichten, die in verschiedenen Zeitschriften erschienen, wurde er mehrfach ausgezeichnet.
STEPHEN KING
OWEN KING
ROMAN
Aus dem Amerikanischenvon Bernhard Kleinschmidt
Die Originalausgabe erschien unter dem TitelSLEEPING BEAUTIES bei Scribner, New York
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Copyright © 2017 by Stephen King und Owen King
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Lothar Strüh
Umschlaggestaltung und Motiv:Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-21947-5V004
Zur Erinnerung an Sandra Bland
PERSONEN
Stadt Dooling, Verwaltungssitz von Dooling County
Truman »Trume« Mayweather (26), Meth-Koch
Tiffany Jones (28), Trumans Cousine
Linnette Mars (40), Leitstellendisponentin beim Dooling Police Department
Sheriff Lila Norcross (45), Polizeichefin
Jared Norcross (16), Schüler an der Highschool, Sohn von Lila und Clinton Norcross
Anton Dubcek (26), Eigentümer und Betreiber von »Anton the Pool Guy Limited«
Magda Dubcek (56), Antons Mutter
Frank Geary (38), Tierüberwachungsbeamter von Dooling County
Elaine Geary (35), ehrenamtliche Mitarbeiterin im Gebrauchtwarenladen und Ehefrau von Frank
Nana Geary (11), Schülerin der sechsten Klasse der Dooling Middle School
Die alte Essie (60), Obdachlose
Terry Coombs (45) vom Dooling Police Department
Rita Coombs (42), Terrys Ehefrau
Roger Elway (28) vom Dooling Police Department
Jessica Elway (28), Rogers Ehefrau
Platinum Elway (8 Monate), Tochter von Roger und Jessica
Reed Barrows (31) vom Dooling Police Department
Leanne Barrows (32), Reeds Ehefrau
Gary Barrows (2), Sohn von Reed und Leanne
Vern Rangle (48) vom Dooling Police Department
Elmore Pearl (38) vom Dooling Police Department
Rupe Wittstock (26) vom Dooling Police Department
Will Wittstock (27) vom Dooling Police Department
Dan »Treater« Treat (27) vom Dooling Police Department
Jack Albertson (61) vom Dooling Police Department (pensioniert)
Mick Napolitano (58) vom Dooling Police Department (pensioniert)
Nate McGee (60) vom Dooling Police Department (pensioniert)
Carson »Country Strong« Struthers (32), ehemaliger Amateurboxer
Coach JT Wittstock (64), Trainer des Footballteams an der Highschool von Dooling
Dr. Garth Flickinger (52), Plastischer Chirurg
Fritz Meshaum (37), Mechaniker
Barry Holden (47), Pflichtverteidiger
Oscar Silver (83), Richter
Mary Pak (16), Schülerin an der Highschool
Eric Blass (17), Schüler an der Highschool
Curt McLeod (17), Schüler an der Highschool
Kent Daley (17), Schüler an der Highschool
Willy Burke (75), ehrenamtlicher Straßenbetreuer
Dorothy Harper (80), Rentnerin
Margaret O’Donnell (72), Schwester von Gail Collins, Rentnerin
Gail Collins (68), Schwester von Margaret O’Donnell, Sprechstundenhilfe in einer Zahnarztpraxis
Mrs. Ransom (77), Bäckerin
Molly Ransom (10), Enkelin von Mrs. Ransom
Johnny Lee Kronsky (41), Privatdetektiv
Jaime Howland (44), Professor für Geschichte
Eva Black (dem Anschein nach etwa 30 Jahre alt), eine Fremde
Frauenhaftanstalt Dooling
Janice Coates (57), Direktorin des Frauengefängnisses
Lawrence »Lore« Hicks (50), Vizedirektor des Frauengefängnisses
Rand Quigley (30), Aufseher im Frauengefängnis
Vanessa Lampley (42), Aufseherin im Frauengefängnis; 2010 und 2011 Siegerin bei der Armwrestling-Meisterschaft an der Ohio Valley University, Altersgruppe 35 bis 45 Jahre
Millie Olson (29), Aufseherin im Frauengefängnis
Don Peters (35), Aufseher im Frauengefängnis
Tig Murphy (45), Aufseher im Frauengefängnis
Billy Wettermore (23), Aufseher im Frauengefängnis
Scott Hughes (19), Aufseher im Frauengefängnis
Blanche McIntyre (65), Sekretärin im Frauengefängnis
Dr. Clinton Norcross (48), Leitender Psychiater im Frauengefängnis und Ehemann von Lila
Jeanette Sorley (36), Häftling Nr. 4582511-1 im Frauengefängnis
Reese Marie Dempster (24), Häftling Nr. 4602597-2 im Frauengefängnis
Kitty McDavid (29), Häftling Nr. 4603241-2 im Frauengefängnis
Angel Fitzroy (27), Häftling Nr. 4601959-3 im Frauengefängnis
Maura Dunbarton (64), Häftling Nr. 4028200-1 im Frauengefängnis
Kayleigh Rawlings (40), Häftling Nr. 4521131-2 im Frauengefängnis
Nell Seeger (37), Häftling Nr. 4609198-1 im Frauengefängnis
Celia Frode (30), Häftling Nr. 4633978-2 im Frauengefängnis
Claudia »Dynamite Body-A« Stephenson (38), Häftling Nr. 4659873-1 im Frauengefängnis
Weitere
Lowell »Little Low« Griner (35), Berufsverbrecher
Maynard Griner (35), Berufsverbrecher
Michaela Morgan vorm. Coates (26), Journalistin bei NewsAmerica
Kinsman Brightleaf (Scott David Winstead Jr., 60), religiöser Führer der »Erhellten«
ein Rotfuchs (4 bis 6 Jahre alt)
It makes no difference if you’re rich or poor
Or if you’re smart or dumb.
A woman’s place in this old world
Is under some man’s thumb,
And if you’re born a woman
You’re born to be hurt.
You’re born to be stepped on,
Lied to,
Cheated on,
And treated like dirt.
Sandy Posey, »Born a Woman«(Text: Martha Sharp)
»Und ich sag, du kannst dich nicht nicht um’nen Lichtfleck kümmern.«
Reese Marie Dempster, Häftling Nr. 4602597-2im Frauengefängnis von Dooling
»Trotz Warnung und geduldiger Erklärunghat sie einfach keine Ruhe gegeben.«
Senator Addison »Mitch« McConnellüber Senatorin Elizabeth Warren
Der Falter bringt Evie zum Lachen. Er landet auf ihrem nackten Unterarm, worauf sie mit dem Zeigefinger leicht über die braunen und grauen Wellen streicht, die seine Flügel schmücken. »Hallo, mein Hübscher«, sagt sie zu dem Falter, bevor er wieder abhebt. Höher, immer höher steigt er in die Luft, bis er von einem Spalt Sonnenlicht zwischen den glänzenden grünen Blättern verschluckt wird, sechs Meter über der Stelle, an der Evie zwischen Wurzeln auf dem Boden hockt.
Ein kupferrotes Seil ragt aus der schwarzen Höhlung in der Mitte des Baumstamms und windet sich zwischen den Rindenschollen hindurch. Natürlich traut Evie der Schlange nicht. Mit der hatte sie früher schon Scherereien.
Ihr Falter und zehntausend weitere Motten stieben in einer knisternden, graubraunen Wolke aus dem Baumwipfel. Der Schwarm wälzt sich durch den Himmel auf die kümmerlichen Tannen zu, die auf der anderen Seite der Wiese stehen. Evie erhebt sich und folgt ihm. Unter ihren Schritten knirschen trockene Stängel, das hüfthohe Gras kratzt an ihrer nackten Haut. Während sie zu dem traurigen, weitgehend abgeholzten Wald hinübergeht, nimmt sie die ersten chemischen Gerüche wahr – Ammoniak, Benzol, Petroleum und so vieles andere, zehntausend winzige Wunden auf einem einzigen Fleck Haut –, und da gibt sie die Hoffnung auf, deren sie sich gar nicht bewusst gewesen war.
Aus ihren Fußspuren quellen Spinnweben hervor und glitzern im Morgenlicht.
TEIL EINS
DIE ALTE TRIANGEL
In the women’s prison
there are seventy women
and I wish it was with them
that I did dwell.
Then that auld triangle could go jingle-jangle
all along the banks of the Royal Canal.
Im Frauenknast
sind an die siebzig Frauen.
Käm ich bei denen unter,
dann tönte die alte Triangel
ordentlich bimmel-bammel,
den Royal Canal rauf und runter.
Brendan Behan, The Auld Triangle
KAPITEL 1
1
Ree fragte Jeanette, ob sie schon mal das Rechteck aus Licht beobachtet habe, das durchs Fenster falle. Noch nicht, sagte Jeanette. Ree belegte die obere Etage des Stockbetts, Jeanette die untere. Beide warteten darauf, dass die Zellen zum Frühstück aufgeschlossen wurden. Es war ein Morgen von vielen.
Offenbar hatte Jeanettes Zellengenossin das Rechteck genau studiert. Ree erklärte, zuerst sei es an der Wand gegenüber dem Fenster gewesen, bevor es sich nach unten geschoben habe, immer weiter nach unten, um dann über den Tisch zu wandern und sich schließlich auf dem Boden festzusetzen. Wie Jeanette sehen konnte, befand es sich gerade tatsächlich mitten auf dem Boden, unglaublich hell.
»Ree«, sagte Jeanette. »Ich kann mich doch nicht um ’nen Lichtfleck kümmern.«
»Und ich sag, du kannst dich nicht nicht um ’nen Lichtfleck kümmern.« Ree gab das trompetende Geräusch von sich, mit dem sie für gewöhnlich ihr Amüsement ausdrückte.
»Alles klar«, sagte Jeanette. »Was immer das heißen soll.« Worauf ihre Zellengenossin nur noch einmal trompetete.
Ree war ganz in Ordnung, aber die Stille machte sie immer zappelig wie ein Kleinkind. Sie saß für Kreditbetrug, Urkundenfälschung und versuchten Drogenhandel ein. Nichts davon hatte sie besonders geschickt angestellt, weshalb sie auch hier gelandet war.
Jeanette saß für Totschlag ein; an einem Winterabend im Jahr 2005 hatte sie ihrem Mann Damian einen Kreuzschlitzschraubenzieher in die Weichteile gerammt, und weil er high gewesen war, war er einfach in seinem Sessel sitzen geblieben und verblutet. Sie selbst war natürlich auch high gewesen.
»Ich hab auf die Uhr geschaut und die Zeit gemessen«, sagte Ree. »Es dauert zweiundzwanzig Minuten, bis das Licht vom Fenster zu der Stelle da auf dem Boden wandert.«
»Das solltest du dem Guinnessbuch melden«, sagte Jeanette.
»Heute Nacht hab ich geträumt, ich esse mit Michelle Obama Schokoladenkuchen, und sie war stinksauer auf mich. ›Das macht dich bloß fett, Ree‹, hat sie gesagt. Aber den Kuchen hat sie trotzdem auch gegessen.« Ree trompetete. »Nee, stimmt nicht. Hab ich mir ausgedacht. Eigentlich hab ich von einer Lehrerin geträumt, die ich mal hatte. Die hat mir ständig gesagt, ich bin nicht im richtigen Klassenzimmer, und ich hab immer erklärt, doch, bin ich, worauf sie ›na gut‹ gesagt und kurz mit dem Unterricht weitergemacht hat, aber dann hat sie mir wieder gesagt, ich bin nicht im richtigen Raum, und ich hab gesagt, doch, das bin ich, und so ging das immer weiter. War hauptsächlich nervig. Was hast du geträumt, Jeanette?«
»Äh …« Jeanette versuchte, sich zu erinnern, was ihr aber nicht gelang. Ihre neuen Medikamente verdichteten ihren Schlaf irgendwie. Vorher hatte sie manchmal Albträume von Damian gehabt. Darin hatte er meistens so ausgesehen wie am Morgen danach, wo er schon tot war, die Haut schlierig blau wie feuchte Tinte.
Jeanette hatte Dr. Norcross gefragt, ob die Träume seiner Meinung nach mit Schuldgefühlen zu tun hätten. Daraufhin hatte der Arzt sie mit zusammengekniffenen Augen angesehen, als wollte er sie fragen, ob sie das wirklich ernst meine. Früher hatte der Blick sie auf die Palme getrieben, aber inzwischen war sie es gewöhnt. Dann hatte er gefragt, ob Häschen ihrer Meinung nach wohl Schlappohren hätten. Ah ja, okay. Schon kapiert. Jedenfalls vermisste Jeanette die Träume nicht.
»Tut mir leid, Ree. Hab nichts zu berichten. Was immer ich geträumt hab, ist auf und davon.«
Irgendwo auf dem Flur der oberen Etage von Trakt B schlappte jemand über den Betonboden. Einer vom Personal machte einen letzten Rundgang, bevor die Türen geöffnet wurden.
Jeanette schloss die Augen, um sich einen Traum auszudenken. Darin war das Gefängnis eine Ruine. An den Zellenwänden kletterten üppige Ranken empor und schwankten im sanften Frühlingswind. Die Decke war zur Hälfte verschwunden, von der Zeit weggenagt, sodass nur noch ein Überhang am Rand vorhanden war. Winzige Eidechsen huschten über die rostigen Trümmer. In der Luft taumelten Schmetterlinge. Der intensiv würzige Geruch nach Erde und Laub erfüllte die Überreste der Zelle. Bobby, der neben ihr vor einem Loch in der Wand stand und hineinblickte, war bass erstaunt. Seine Mutter war ja eine richtige Archäologin, dass sie den Ort hier entdeckt hatte!
»Meinst du, man kann an einer Quizshow teilnehmen, wenn man vorbestraft ist?«
Die Vision fiel in sich zusammen. Jeanette stöhnte auf. Na, immerhin war es ganz nett gewesen. Mit den neuen Pillen lief das Leben eindeutig besser. Da gab es einen ruhigen, angenehmen Ort, den sie aufsuchen konnte. Der Doc verstand sein Handwerk, das musste man ihm lassen. Jeanette machte die Augen wieder auf.
Ree glotzte Jeanette an. Im Knast zu sein mochte keine besonderen Vorzüge haben, aber eine Frau wie Ree war hier vielleicht am besten aufgehoben. Draußen in der Welt würde sie womöglich einfach über die Straße latschen, ohne sich umzuschauen. Oder einem Drogenfahnder, dem man den Drogenfahnder an der Nasenspitze ansah, Drogen verticken. Was sie bekanntlich getan hatte.
»Was ist denn?«, sagte Ree.
»Nichts. Ich war bloß im Paradies, sonst nichts, und dein Gequassel hat alles kaputt gemacht.«
»Hä?«
»Schon gut. Tja, ich finde, es sollte eine Quizshow geben, wo überhaupt nur Leute mit ’ner Vorstrafe zugelassen werden. Die könnte man ja Lügen kriegen große Preise nennen.«
»Tolle Idee! Und wie soll die dann ablaufen?«
Jeanette setzte sich gähnend auf und zuckte die Achseln. »Da muss ich noch drüber nachdenken. Also die Regeln und so«
Das Quartier der beiden war so, wie es immer gewesen war und immer sein würde, von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen. Eine zehn Schritt lange Zelle mit vier Schritten zwischen dem Stockbett und der Tür. Die Wände waren aus glattem, hellbeige Zement. Die sich an den Kanten einrollenden Fotos und Postkarten der beiden – nicht dass je jemand sie sich anschaute – waren mit Klümpchen aus grüner Klebemasse auf der einzigen dafür genehmigten Fläche befestigt. An der einen Wand stand der schmale Metalltisch, an der gegenüber das kurze Metallregal. Links neben der Tür war die Stahltoilette angebracht, wobei beide immer, wenn die andere mal musste, den Blick abwandten, um eine gewisse Illusion von Privatsphäre zu schaffen. Durch die Zellentür, deren doppelt verglastes Fenster sich auf Augenhöhe befand, konnte man in den kurzen Flur blicken, der durch Trakt B führte. Jeder Zentimeter und jeder Gegenstand in der Zelle waren mit den allgegenwärtigen Gerüchen des Gefängnisses getränkt: Schweiß, Schimmel, Lysol.
Gegen Jeanettes Willen wurde ihre Aufmerksamkeit schließlich doch auf das sonnige Rechteck auf dem Boden gelenkt. Es reichte fast bis zur Tür – aber weiter würde es nicht kommen, oder doch? Falls nicht ein Aufseher einen Schlüssel ins Schloss steckte oder man die Zelle von der Wachstation aus öffnete, war es hier drin genauso gefangen wie sie beide.
»Und wer macht den Quizmaster?«, sagte Ree. »Jede Quizshow braucht einen. Außerdem – was für Preise soll es geben? Die müssen nämlich gut sein. Details! Wir müssen das alles genauestens planen, Jeanette.«
Ree hatte den Kopf in die Hand gestützt und wühlte mit den Fingern in ihren gebleichten, dichten Locken, während sie Jeanette betrachtete. Oben an Rees Stirn war ein Fleck vernarbte Haut, der wie das Symbol für einen Grill aussah, drei tiefe, parallele Linien. Jeanette wusste zwar nicht, was die Narben verursacht hatte, aber sie konnte sich denken, wer dafür verantwortlich war: ein Mann. Vielleicht Rees Vater, vielleicht ihr Bruder, vielleicht ein Lover, vielleicht ein Typ, den sie nie zuvor gesehen hatte und auch nie wiedersehen würde. Die Insassinnen des Frauengefängnisses von Dooling hatten – gelinde ausgedrückt – nur sehr wenige Geschichten über gewonnene Preise zu erzählen. Dafür umso mehr Geschichten über üble Typen.
Was konnte man da machen? Man konnte in Selbstmitleid zerfließen. Man konnte sich selbst oder alle anderen hassen. Man konnte sich zudröhnen, indem man Reinigungsmittel schnüffelte. Man konnte tun, was man wollte (im Rahmen zugegebenermaßen eingeschränkter Möglichkeiten), aber das änderte nichts an der Lage. Die nächste Chance, das große, glänzende Glücksrad zu drehen, kam erst wieder bei der nächsten Anhörung vor dem Bewährungsausschuss. Jeanette wollte sich dabei so viel Mühe wie möglich geben. Schließlich musste sie an ihren Sohn denken.
Ein hallender Schlag ertönte. Der Beamte in der Wachstation hatte die vierundsechzig Schlösser aufschnappen lassen. Es war halb sieben. Alle raus aus den Zellen zum Durchzählen.
»Mir fällt erst mal nichts ein, Ree«, sagte Jeanette. »Denk selbst drüber nach, ich tu das auch, und später tauschen wir uns aus.« Sie schwang die Beine aus dem Bett und stand auf.
2
Einige Meilen vom Gefängnis entfernt, auf der Terrasse der Familie Norcross, war der Pooljunge Anton damit beschäftigt, totes Ungeziefer aus dem Bassin zu keschern. Den Swimmingpool hatte Dr. Clinton Norcross seiner Frau Lila zum zehnten Hochzeitstag geschenkt. Wenn Clint den Pooljungen zu Gesicht bekam, fragte er sich oft, ob das ein kluges Geschenk gewesen war. Heute Morgen war es wieder so weit.
Anton trug seinen nackten Oberkörper zur Schau, und zwar aus zwei guten Gründen. Erstens sollte es heute ein heißer Tag werden. Zweitens war sein Bauch hart wie ein Brett. Er hatte einen Sixpack, wie er im Buche stand; er sah damit aus wie ein Modellathlet auf dem Cover eines Liebesromans. Wenn man auf Antons Bauch feuerte, dann empfahl es sich, das von der Seite her zu tun, damit man nicht von Abprallern getroffen wurde. Wovon der Kerl sich wohl ernährte? Von bergeweise reinem Protein? Und worin bestand sein Trainingsprogramm? Im Ausmisten des Augiasstalls?
Anton hob den Blick und lächelte unter den dunkel schimmernden Gläsern seiner Wayfarer hindurch. Mit der freien Hand winkte er Clint zu, der ihn vom Badezimmerfenster im Obergeschoss aus beobachtete.
»Lieber Herrgott«, sagte Clint leise zu sich selbst. Er winkte zurück. »Hab Erbarmen!«
Clint stahl sich vom Fenster weg. Im Spiegel der geschlossenen Badezimmertür tauchte ein achtundvierzigjähriger Mann mit weißer Hautfarbe auf, Bachelor von der Cornell University, Medizinstudium an der NYU, kleiner Rettungsring von zu viel Grande Mocha bei Starbucks. Sein grau melierter Bart erinnerte weniger an einen maskulinen Holzfäller als an einen struppigen, einbeinigen Schiffskapitän.
Dass ihn sein Alter und sein allmählich schlaffer werdender Körper überraschten, kam Clint ziemlich komisch vor. Er hatte nie etwas für männliche Eitelkeit übriggehabt, vor allem nicht wenn sie im mittleren Alter auftrat, und seine angesammelte Berufserfahrung hatte diese Abneigung noch verstärkt. Was Clint als großen Wendepunkt seiner medizinischen Laufbahn betrachtete, hatte sich 1999 ereignet, vor achtzehn Jahren, wo ein zukünftiger Patient namens Paul Montpelier ihn als jungen Arzt wegen einer »Krise seiner sexuellen Ambitionen« konsultiert hatte.
»Was meinen Sie denn mit dem Ausdruck sexuelle Ambitionen?«, hatte er Montpelier gefragt. Wenn man ambitioniert war, hatte man es normalerweise auf eine Beförderung abgesehen, aber Leiter der Sexabteilung konnte man eigentlich nicht werden. Merkwürdige Umschreibung.
»Ich meine …« Montpelier wog offenbar verschiedene Erklärungen ab. Schließlich räusperte er sich und entschied sich. »Ich will es noch bringen. Will noch ran an den Speck.«
»Das kommt mir nicht ungewöhnlich ambitioniert vor«, sagte Clint. »Eher ganz normal.«
Clint hatte gerade erst seine psychiatrische Facharztausbildung abgeschlossen, weshalb er sich die Hörner noch nicht abgestoßen hatte. Das war sein zweiter Tag in der Praxis, und Montpelier war erst sein zweiter Patient.
(Sein erster Patient war eine junge Dame mit Angstgefühlen gewesen. Sie fürchtete, ihre Aufnahmeanträge für verschiedene Colleges könnten abgewiesen werden. Allerdings stellte sich ziemlich schnell heraus, dass sie ausgezeichnete Noten vorweisen konnte. Nachdem Clint sie darauf hingewiesen hatte, bestand keine Notwendigkeit für eine Behandlung oder auch nur einen weiteren Termin bei ihm mehr. Geheilt! Das hatte er unten auf den gelben Notizblock mit seinen Aufzeichnungen gekritzelt.)
An jenem Tag hatte Paul Montpelier, der Clint gegenüber auf dem Kunstledersessel saß, einen weißen Pullunder und Hosen mit Bügelfalte getragen. Vornübergebeugt hockte er da, ein Bein breit über das andere geschlagen, und hielt sich mit einer Hand an seinem Anzugschuh fest. Clint hatte beobachtet, wie er auf dem Parkplatz vor dem niedrigen Bürogebäude seinen knallroten Sportwagen abgestellt hatte. Den hatte ihm seine Position als Topmanager in der Kohlenindustrie ermöglicht, obwohl Clint das hagere, sorgenvolle Gesicht eher an einen der Panzerknacker erinnerte, die in den alten Comics immer Onkel Dagobert auf die Pelle rückten.
»Meine Frau sagt – na ja, eigentlich sagt sie es nicht, aber, Sie wissen schon, es ist klar, was sie meint. Die, äh, unterschwellige Botschaft. Sie will, dass ich mich davon löse. Von meinen sexuellen Ambitionen, meine ich.« Er hob ruckhaft das Kinn.
Clint folgte seinem Blick. An der Decke drehte sich der Ventilator. Wenn Montpelier seine sexuellen Ambitionen dorthin sandte, wurden sie abgesäbelt.
»Unterfüttern wir das doch ein wenig, Paul. Wie ist das Thema zwischen Ihnen und Ihrer Frau überhaupt zur Sprache gekommen? Womit hat es angefangen?«
»Ich hatte eine Affäre. Das war der Auslöser. Und Rhoda – meine Frau – hat mich rausgeschmissen! Ich habe ihr erklärt, es wäre nicht wegen ihr, sondern wegen … Na ja, ich hatte halt das Bedürfnis. Männer haben eben Bedürfnisse, die Frauen nicht immer verstehen.« Montpelier ließ den Kopf kreisen und stieß ein frustriertes Zischen aus. »Ich will mich nicht scheiden lassen! Irgendwas in mir hat das Gefühl, dass sie diejenige ist, die damit zurechtkommen muss. Mit mir, meine ich.«
Unter Montpeliers Augen wölbten sich tiefe purpurrote Falten, und unter der Nase war ein kleiner roter Strich, wo er sich geschnitten hatte, vielleicht mit einem billigen Einmalrasierer, den er sich hatte besorgen müssen, weil seine Frau ihn ohne sein richtiges Rasierzeug aus dem Haus geworfen hatte. Seine Traurigkeit und Verzweiflung waren echt, und Clint konnte sich vorstellen, welchen Schmerz dem Mann seine plötzliche Vertreibung bereitete – schließlich lebte er nun in einem Hotel aus dem Koffer und verzehrte in irgendeinem Imbiss einsam und allein verwässerte Speisen. Um eine klinische Depression handelte es sich zwar nicht, aber sein Zustand war so heikel, dass er Respekt und Fürsorge verdiente, auch wenn er sich selbst in diese Lage gebracht hatte.
Montpelier beugte sich über sein Altersbäuchlein. »Seien wir ehrlich. Ich bin bald fünfzig, Dr. Norcross. Was Sex angeht, sind meine besten Tage schon vorüber. Die habe ich für meine Frau hingegeben. Habe sie ihr geopfert. Ich habe Windeln gewechselt. Habe die Kinder zu sämtlichen Sportveranstaltungen und Wettbewerben gefahren, habe Geld für die Studiengebühren angespart. Ich habe alles geleistet, was man von einem Ehemann erwarten kann. Wieso können wir da jetzt nicht zu irgendeiner Einigung kommen? Wieso muss alles so furchtbar zerstritten sein?«
Clint hatte nichts erwidert und einfach abgewartet.
»Letzte Woche war ich bei Miranda. Das ist die Frau, mit der ich geschlafen habe. Wir haben es in der Küche getrieben. Wir haben es in ihrem Schlafzimmer getrieben. Fast hätten wir es noch ein drittes Mal unter der Dusche gemacht. Ich war glücklich wie ein Fisch im Wasser! Endorphine! Dann bin ich nach Hause gefahren, wir haben nett mit den Kindern zu Abend gegessen und abschließend Scrabble gespielt, und alle anderen waren ebenfalls froh und glücklich! Wo liegt das Problem? Das Problem ist selbst gemacht, finde ich. Wieso steht mir denn nicht ein bisschen Freiheit zu? Ist das zu viel verlangt? Ist das denn so frevelhaft?«
Einige Sekunden sagte keiner der beiden etwas. Montpelier beäugte Clint. In dessen Kopf flitzten die Worte herum wie Kaulquappen. Sie wären leicht zu fangen gewesen, aber er hielt sich weiterhin zurück.
Hinter seinem Besucher lehnte ein gerahmtes Bild an der Wand, ein Druck von Hockney, den Clint von Lila bekommen hatte, »damit das Büro gemütlicher ist«. Er hatte vor, ihn später aufzuhängen. Neben dem Bild standen halb ausgepackte Kartons mit seinen medizinischen Fachbüchern.
Jemand muss dem Mann helfen, dachte der junge Arzt unwillkürlich, und das sollte man durchaus in dem hübschen, ruhigen Zimmer hier mit dem an der Wand lehnenden Hockney-Druck tun. Aber musste es sich bei der helfenden Person tatsächlich um Dr. med. Clinton R. Norcross handeln?
Schließlich hatte er extrem hart gearbeitet, um Arzt zu werden, und ihm hatten seine Eltern nicht die Studiengebühren finanziert. Er war in schwierigen Umständen aufgewachsen und hatte alles selbst bezahlt, teilweise nicht nur mit Geld. Um durchzukommen, hatte er Dinge getan, von denen er seiner Frau nie etwas erzählt hatte, wobei es auch bleiben würde. Hatte er all die Dinge für so etwas getan? Um jemand wie den sexuell ambitionierten Paul Montpelier zu behandeln?
Montpeliers breites Gesicht verzog sich zu einer Verständnis heischenden Grimasse. »Oje. Mist. Ich gebe keine gute Figur ab, was?«
»Aber nicht doch«, sagte Clint und schob seine Zweifel für die nächste halbe Stunde beiseite. Gemeinsam walzten sie das Problem aus und betrachteten es von allen Seiten; sie debattierten über den Unterschied zwischen Begierde und Bedürfnis; sie sprachen über Mrs. Montpelier und deren (nach Meinung ihres Gatten) dröge sexuelle Vorlieben; sie machten sogar einen erstaunlich aufrichtigen Abstecher zu Paul Montpeliers frühester sexueller Erfahrung in der Pubertät, wo er mit dem Maul des Plüschkrokodils von seinem kleinen Bruder onaniert hatte.
Um seiner beruflichen Verpflichtung Genüge zu tun, erkundigte Clint sich, ob Montpelier je überlegt habe, sich etwas anzutun. (Nein.) Wie Montpelier sich wohl bei vertauschten Rollen gefühlt hätte? (Angeblich hatte er seiner Frau gesagt, sie könne tun und lassen, wie ihr der Sinn stehe.) In welcher Lage Montpelier sich wohl in fünf Jahren sehe? (Worauf der Mann in dem weißen Pullunder zu weinen anfing.)
Am Ende der Sitzung sagte Montpelier, er freue sich schon auf die nächste, aber sobald er gegangen war, rief Clint bei dem Telefonservice an, wo man seine Sprechstunden betreute. Man solle alle Anrufe für ihn an einen bestimmten Kollegen in Maylock, dem Nachbarort, weiterleiten. Die Frau am anderen Ende erkundigte sich, wie lange das geschehen solle.
»Bis es in der Hölle zu schneien anfängt«, sagte Clint. Durchs Fenster beobachtete er, wie Montpelier seinen knallroten Sportwagen rückwärts aus der Parkbucht lenkte und auf Nimmerwiedersehen davonfuhr.
Anschließend rief er Lila an.
»Hallo, Dr. Norcross.« Ihre Stimme vermittelte ihm das, was andere Leute meinten – oder meinen sollten –, wenn sie sagten, ihnen werde warm ums Herz. Sie fragte, wie es ihm an seinem zweiten Tag so gehe.
»Gerade hat mich der am wenigsten selbstkritische Mensch Amerikas aufgesucht«, sagte er.
»Ach? Mein Vater war bei dir? Bestimmt hat ihn der Hockney verwirrt.«
Sie war schlagfertig, seine Frau, so schlagfertig wie warmherzig, und auch ebenso tough. Lila liebte ihn, ließ aber nicht nach, ihn zurechtzustutzen. Wahrscheinlich brauchte er das. Wie die meisten Männer.
»Ha, ha«, sagte Clint. »Hör mal, du hast doch erzählt, dass im Gefängnis bald eine Stelle frei sein soll. Weißt du da was Neues?«
Ein, zwei Sekunden lang herrschte Schweigen, während seine Frau offenkundig über die möglichen Konsequenzen der Frage nachdachte. Dann antwortete sie mit einer Gegenfrage: »Clint, hast du mir etwas zu beichten?«
Clint hatte nicht einmal in Betracht gezogen, dass sie von seiner Entscheidung enttäuscht sein könnte, die Privatpraxis zugunsten einer Anstellung im öffentlichen Dienst aufzugeben. Er war fest davon ausgegangen, dass sie es nicht sein würde.
Lila war eben ein Geschenk des Himmels.
3
Um mit dem Elektrorasierer an die grauen Stoppeln unter der Nasenspitze zu kommen, musste Clint das Gesicht so verziehen, dass er wie Quasimodo aussah. Aus dem linken Nasenloch ragte ein schneeweißes Haar. Anton konnte so viel mit seinen Hanteln jonglieren, wie er wollte, weiße Härchen in der Nase erwarteten jeden Mann, genau wie jene, die aus den Ohren sprossen. Es gelang Clint, das Exemplar mit dem Rasierer zu beseitigen.
Er war nie so muskulös gewesen wie Anton, nicht einmal in seinem letzten Jahr auf der Highschool, als ihm vom Familiengericht die Unabhängigkeit geschenkt worden war, er daraufhin allein lebte und Zeit hatte, sich der Leichtathletik zu widmen. Clint war damals eher schlaksig und hager gewesen; er hatte einen straffen, aber flachen Bauch gehabt wie sein Sohn Jared heute. Soweit er sich erinnerte, war Paul Montpelier fleischiger gewesen als das Spiegelbild, das er am heutigen Morgen sah. Dennoch ähnelte er weniger Anton als Montpelier. Was wohl aus dem geworden war? Hatte er seine Krise überwinden können? Wahrscheinlich. Die Zeit heilte schließlich alle Wunden. Allerdings verwundete sie, wie ein alter Scherzbold bemerkt hatte, auch alles, was heil war.
Clint hatte nur eine völlig normale – also gesunde, ihm völlig bewusste und im Bereich der Fantasie verbleibende – Sehnsucht fremdzugehen. Im Gegensatz zu Paul Montpelier damals befand er sich in keiner krisenhaften Lage. Sein Leben war das, was er unter normal verstand: ein zweiter Blick auf ein hübsches Mädchen, das ihm auf der Straße begegnete; eine instinktive Kopfdrehung, wenn eine Frau in einem kurzen Rock aus dem Wagen stieg; eine beinahe unterbewusste Lüsternheit auf eines der Models, die zur Dekoration von Der Preis ist heiß dienten. Es war melancholisch und vielleicht auch ein bisschen seltsam, wie der eigene Körper sich beim Älterwerden immer weiter von dem Aussehen entfernte, das man am liebsten gehabt hätte, während die alten Instinkte (nicht Ambitionen, Gott behüte!) übrig blieben wie Kochgeruch, lange nachdem das Essen verzehrt worden war. Verglich er alle Männer mit sich selbst? Nein. Er war nur eines der Stammesmitglieder, das war alles. Das echte Rätsel stellten ohnehin die Frauen dar.
Clint lächelte sich im Spiegel an. Inzwischen war er glatt rasiert. Er stand im Leben. Er war etwa so alt, wie Paul Montpelier es 1999 gewesen war.
»He, Anton«, sagte er zum Spiegel. »Du kannst mich mal!« Die angeberische Pose war zwar nur vorgetäuscht, aber er hatte sich zumindest Mühe gegeben.
Im Schlafzimmer jenseits der Badezimmertür hörte er ein Schloss klicken. Eine Schublade ging auf, und es polterte, wie wenn Lila dort wie üblich ihre Dienstwaffe deponierte. Die Schublade wurde zugeschoben und wieder verschlossen. Es folgten ein Seufzer und ein Gähnen.
Um Lila nicht zu stören, falls sie sofort einschlafen wollte, zog Clint sich wortlos an und nahm seine Schuhe in die Hand, um sie nach unten zu tragen, statt sie auf der Bettkante sitzend anzuziehen.
Lila räusperte sich. »Ist schon in Ordnung. Ich bin noch wach.«
Clint war sich nicht sicher, ob das auch stimmte. Lila hatte es gerade einmal geschafft, den obersten Knopf der Uniformhose zu lösen, da musste sie schon aufs Bett geplumpst sein. Sie hatte nicht einmal die Decke übergezogen.
»Du bist bestimmt total erschöpft«, sagte er. »Ich bin gleich weg. Ist die Sache auf der Mountain Rest Road bereinigt?«
Am Abend hatte sie ihm per SMS mitgeteilt, dass es dort einen Unfall gegeben habe, und geschrieben: Geh lieber schlafen. So etwas war zwar schon vorgekommen, aber doch ungewöhnlich. Daraufhin hatte er mit Jared auf der Veranda Steaks gegrillt und ein paar Dosen Anchor Steam geleert.
»Ein Auflieger hat sich abgekoppelt. Von einem Laster, der für so eine Tierfutterfirma unterwegs war, weiß nicht mehr, wie die hieß. Ist umgekippt und hat die ganze Straße blockiert. Überall Katzenstreu und Hundefutter. Wir mussten einen Bulldozer anfordern, damit der das Zeug aus dem Weg räumt.«
»Klingt nach ’nem ganz schönen Schlamassel.« Er bückte sich und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Hör mal – wie wär’s, wenn wir anfangen, zusammen joggen zu gehen?« Die Idee war ihm gerade gekommen und hatte ihn sofort aufgemuntert. Man konnte den eigenen Körper zwar nicht daran hindern, schlappzumachen und fett zu werden, aber ein bisschen Widerstand konnte man doch leisten.
Lila öffnete das rechte Auge. Im trüben Licht des mit Vorhängen abgedunkelten Zimmers hatte es eine blassgrüne Färbung. »Heute Morgen nicht.«
»Natürlich nicht«, sagte Clint. Er blieb einen Moment in seiner gebückten Haltung, weil er dachte, sie würde seinen Kuss erwidern. Sie wünschte ihm jedoch nur einen schönen Tag und sagte, er solle dafür sorgen, dass Jared die Mülltonnen an die Straße stelle. Dann sank das Augenlid wieder herab. Ein grünes Funkeln … weg war es.
4
Der Geruch im Schuppen war unerträglich.
Evies nackte Haut kribbelte; sie musste gegen einen Würgereiz ankämpfen. Der Gestank war eine Mischung aus verbrannten Chemikalien, schalem Marihuanarauch und verdorbenem Essen.
Einer der Falter hatte sich in ihren Haaren verfangen, wo er beruhigend an der Kopfhaut pulsierte. Während sie sich umblickte, atmete sie so flach wie möglich.
Der aus Fertigbauteilen errichtete Schuppen war als Drogenküche ausgestattet. In der Mitte stand ein Gasherd, von dem vergilbte Schläuche zu zwei weißen Propanflaschen führten. Ein an der Wand stehendes Regal enthielt Tabletts, Wasserkanister, eine offene Packung Druckverschlussbeutel, Reagenzgläser, Korkstückchen, zahllose abgebrannte Streichhölzer, ein Pfeifchen aus verkohltem Glas und einen Waschtrog, von dem ein Schlauch nach draußen führte, direkt unter dem Netz hindurch, das Evie beim Hereinkommen zur Seite gezogen hatte. Der Boden war mit leeren Flaschen und verbeulten Getränkedosen übersät. Außerdem stand da ein wacklig aussehender Gartenstuhl, dessen Lehne mit dem Logo von Dale Earnhardt Jr. bedruckt war. In einer Ecke lag zusammengeknüllt ein grau kariertes Hemd.
Evie schüttelte die Steifheit und zumindest einen Teil des Drecks aus dem Hemd, bevor sie es anzog. Die Zipfel hingen ihr bis über den Hintern und die Oberschenkel. Bis vor Kurzem hatte das Kleidungsstück eindeutig jemand Ekelhaftes gehört. Ein eindrucksvoller, den Umrissen von Kalifornien entsprechender Fleck im Brustbereich wies darauf hin, dass der ekelhafte Typ Mayonnaise mochte.
Sie hockte sich neben die Gasflaschen und riss die vergilbten Schläuche heraus. Dann drehte sie die Regler an den Flaschen jeweils einen knappen Zentimeter weit auf.
Nachdem Evie den Schuppen verlassen und das Netz hinter sich wieder zugezogen hatte, blieb sie stehen, um tief die frischere Luft einzuatmen.
Etwa hundert Schritte weiter stand auf der bewaldeten Böschung ein Trailer, vor dem auf einer Kiesfläche ein Pick-up und zwei Personenwagen geparkt waren. An einer Wäscheleine hingen neben einigen verblichenen Slips und einer Jeansjacke drei ausgeweidete Kaninchen, von denen eines noch tropfte. Aus dem Schornstein des Mobilheims quoll der Rauch von Holzfeuer.
Jenseits des lichten Waldes und der Wiese stand der gewaltige Baum, von dem Evie gekommen war, doch von hier aus war er nicht mehr sichtbar. Trotzdem war sie nicht allein: Das Dach des Schuppens war mit einem Pelz aus Motten bedeckt, die hin und her flatterten.
Evie ging die Böschung hinab. Dürre Zweige stachen ihr in die Füße, ein Steinbrocken schnitt ihr die Ferse auf. Trotzdem verlangsamte sie ihre Schritte nicht, ihre Wunden heilten immer schnell. An der Wäscheleine blieb sie stehen und lauschte. Sie hörte einen Mann lachen, einen Fernseher und das Geräusch zahlloser Würmer, die in dem kleinen Garten um sie herum das Erdreich durchwühlten.
Das noch blutende Kaninchen wandte ihr seine trüben Augen zu. Sie erkundige sich bei ihm, was sie zu erwarten habe.
»Drei Männer, eine Frau«, sagte das Kaninchen. Von den zerfetzten schwarzen Lippen erhob sich eine einzelne Fliege. Sie flog ein paar Kreise und verschwand in der Höhlung des schlaffen Ohrs. Im Innern hörte Evie die Fliege herumsummen. Das nahm sie der Fliege nicht übel – die tat, wozu Fliegen geschaffen waren –, aber sie trauerte um das Kaninchen, das so ein erbärmliches Schicksal nicht verdient hatte. Zwar liebte Evie alle Tiere, aber besonders die kleineren, die durch die Wiesen krochen und über die ausgelegten Fallen hüpften, die mit den zarten Flügeln und die mit den Hoppelbeinchen.
Sie legte die hohle Hand an den Hinterkopf des sterbenden Kaninchens und brachte dessen verkrusteten schwarzen Mund sanft an ihren. »Danke«, flüsterte Evie, dann ließ sie es in Frieden.
5
Das Leben in diesem speziellen Winkel der Appalachen hatte unter anderem den Vorteil, dass man sich mit zwei Einkommen aus öffentlicher Hand ein anständiges Eigenheim leisten konnte. Das in modernem Stil gestaltete Haus der Familie Norcross mit seinen drei Schlafzimmern stand in einem relativ einheitlichen Neubauviertel. Die Häuser dort waren hübsch und geräumig, ohne protzig zu sein, der Garten war groß genug, darin Ball zu spielen, und in der warmen Jahreszeit fiel der Blick auf die üppig laubbewaldeten Hügel ringsum. Ein bisschen deprimierend an dem Viertel war, dass trotz Kaufpreisnachlass beinahe die Hälfte der ziemlich attraktiven Heime leer stand. Das blitzsaubere, gepflegte Musterhaus ganz oben am Hang war die Ausnahme; man hatte es fast vollständig möbliert. Lila meinte, es sei nur eine Frage der Zeit, bis irgendein Meth-Dealer in eines der leeren Häuser einbrach, um von dort aus seine Geschäfte zu führen. Sie solle sich keine Sorgen machen, hatte Clint gesagt, schließlich kenne er die Polizeichefin. Er komme sogar ziemlich regelmäßig mit ihr zusammen.
(»Ach, steht die auf ältere Herren?«, hatte Lila erwidert, die Augen niedergeschlagen und sich angeschmiegt.)
Im Obergeschoss befanden sich das Elternschlafzimmer, das Zimmer von Jared und das dritte Schlafzimmer, das von den beiden Erwachsenen als Büro genutzt wurde. Die große offene Küche im Erdgeschoss war nur durch eine Theke vom Wohnzimmer abgetrennt. Dort ging es rechts durch eine Glastür in das nur selten verwendete Esszimmer.
Clint saß an der Küchentheke, trank Kaffee und las auf seinem iPad die New York Times. In Nordkorea hatte ein Erdbeben eine unbekannte Zahl an Todesopfern gefordert. Die nordkoreanische Regierung behauptete, dank der hervorragenden Bauweise seien die Schäden gering geblieben, doch auf Handyvideos konnte man die staubbedeckten Leichen zwischen den Trümmern liegen sehen. Im Golf von Aden brannte ein Bohrturm, wahrscheinlich aufgrund von Sabotage, für die sich aber niemand bekannte. Die Länder der Golfregion taten alle wie ein Haufen Jungen, die beim Baseballspielen ein Fenster zertrümmerten und dann schnurstracks nach Hause rannten. In der Wüste von New Mexico standen sich seit vierundvierzig Tagen das FBI und eine von Kinsman Brightleaf (eigentlich Scott David Winstead Jr.) angeführte Miliz gegenüber. Die fröhliche Schar weigerte sich, Steuern zu zahlen, die Gesetzmäßigkeit der amerikanischen Verfassung anzuerkennen und ihr Arsenal an automatischen Waffen abzuliefern. Wenn man erfuhr, dass Clint Psychiater war, forderte man ihn oft auf, die psychischen Erkrankungen von Politikern, Promis und anderen öffentlichen Personen zu diagnostizieren. Normalerweise lehnte er das ab, doch in diesem Fall fühlte er sich durchaus in der Lage, auch aus der Entfernung eine Diagnose abzugeben: Kinsman Brightleaf litt an einer dissoziativen Störung.
Ganz unten auf der ersten Seite gab es ein Foto mit einer hohläugigen jungen Frau, die mit einem Säugling auf den Armen irgendwo in den Appalachen vor einer Bretterbude stand, Bildunterschrift: Krebs im Kohlerevier. Das erinnerte Clint an den Chemieunfall fünf Jahre zuvor, bei dem der durch die Stadt fließende Fluss verseucht worden war. Daraufhin war die Wasserversorgung eine Woche lang unterbrochen worden. Inzwischen war angeblich alles wieder in bester Ordnung, aber Clints Familie blieb trotzdem bei Mineralwasser, nur um auf Nummer sicher zu gehen.
Die Sonne wärmte sein Gesicht. Er blickte hinaus auf die beiden großen Ulmen, die am Ende des Gartens hinter dem Pool standen. Wenn er sie sah, musste er immer an zwei Brüder oder Schwestern oder an Mann und Frau denken – tief im Boden waren ihre Wurzeln bestimmt bis zum Tode vereint. In der Ferne ragten dunkelgrüne Berge in die Höhe; die Wolken am hellblauen Himmel schienen dahinzuschmelzen. Vögel flogen umher und sangen. Was für eine verfluchte Schande, wie die schöne Landschaft für die Menschen vergeudet wurde! Das war auch so ein Spruch, den er von einem alten Scherzbold gehört hatte.
Clint wollte gern glauben, dass die Landschaft für ihn nicht vergeudet war. Er hatte nie erwartet, einmal einen solchen Ausblick genießen zu dürfen. Und er fragte sich, wie alt und klapprig er wohl werden musste, bevor er begriff, weshalb manche Leute so viel Glück und andere so viel Pech hatten.
»Morgen, Dad! Was Neues auf der Welt? Irgendwelche guten Nachrichten?«
Als Clint sich vom Fenster abwandte, sah er Jared in die Küche schlendern, damit beschäftigt, den Reißverschluss seines Rucksacks zuzuziehen.
»Moment …« Er blätterte die elektronischen Seiten durch, schließlich wollte er seinen Sohn nicht mit Berichten über eine Ölpest, eine Miliz oder eine Krebserkrankung in die Schule schicken. Ah, da war genau das Richtige. »Physiker haben die Theorie aufgestellt, dass das Universum eventuell ewig existiert.«
Jared durchforstete den Schrank mit den Snacks, wählte einen Energieriegel und steckte ihn in die Tasche. »Und das hältst du für gut? Was heißt das deiner Meinung nach?«
Clint überlegte kurz, bevor er merkte, dass sein Sohn ihn auf die Schippe nahm. »Schon durchschaut«, sagte er, warf Jared einen Blick zu und zog mit dem Mittelfinger leicht ein Augenlid herunter.
»Nur nicht schüchtern sein, Dad, du kannst es mir ruhig verraten. Schließlich sind wir Vater und Sohn, da bleibt alles unter uns.« Jared goss sich eine Tasse Kaffee ein. Er trank ihn schwarz, was Clint früher auch getan hatte, als sein Magen noch jung gewesen war.
Die Kaffeemaschine stand neben dem Spülbecken, von wo man durchs Fenster auf die Terrasse sah. Während Jared Kaffee schlürfte, blickte er hinaus. »Wow. Ganz sicher, dass du Mama allein lassen willst, solange Anton hier rumtigert?«
»Jetzt mach dich auf die Socken«, sagte Clint. »Ab in die Schule, damit du was lernst.«
Sein Sohn war richtig groß geworden. Wauwau war Jareds erstes Wort gewesen, auch wenn es sich eher nach Baubau angehört hatte. »Wau! Wau!« Er war ein liebenswerter Junge gewesen, wissbegierig und gutwillig, und er hatte sich zu einem liebenswerten jungen Mann entwickelt, der immer noch wissbegierig und gutwillig war. Clint war stolz darauf, dass Jared durch die Geborgenheit, in der er aufgewachsen war, immer mehr zu sich selbst gefunden hatte. Clint hatte anderes erlebt.
In letzter Zeit hatte er mit der Idee gespielt, den Jungen mit Kondomen auszustatten, aber über das Thema wollte er mit Lila eigentlich nicht sprechen, und irgendetwas provozieren wollte er auch nicht. Eigentlich wollte er überhaupt nicht darüber nachdenken. Jared behauptete steif und fest, er und Mary seien nichts als Freunde, was er vielleicht sogar selbst glaubte. Allerdings sah Clint, mit welchem Blick er das Mädchen betrachtete, und so sah man nur jemand an, mit dem man sehr, sehr eng befreundet sein wollte.
»Wie wär’s mal wieder mit dem coolen Handshake aus der Little League?«, sagte Jared und hob beide Hände. »Den kannst du doch noch, oder?«
Natürlich konnte Clint den noch: Fäuste aneinanderschlagen, Daumen raus und verschränken, Handflächen so drehen, dass sie aneinander vorbeiglitten, und schließlich zweimal über dem Kopf in die Hände klatschen. Obwohl er das schon lange nicht mehr gemacht hatte, klappte es perfekt, und beide mussten lachen. Das brachte den Morgen zum Leuchten.
Jared war schon auf und davon, als Clint einfiel, dass er seinem Sohn hatte auftragen sollen, den Abfall mit hinauszunehmen.
Noch ein Aspekt des Älterwerdens – man vergaß, woran man sich erinnern wollte, und erinnerte sich an das, was man vergessen wollte. Der alte Scherzbold, der das gesagt hatte, hätte er selbst sein können. Vielleicht sollte er damit ein Kissen besticken lassen.
6
Da sie seit sechzig Tagen gute Führung vorzuweisen hatte, durfte Jeanette Sorley dreimal pro Woche von acht bis neun Uhr morgens den Gemeinschaftsraum aufsuchen. In Wirklichkeit bedeutete das von acht bis fünf vor neun, weil um neun ihre Sechsstundenschicht in der Holzwerkstatt begann. Dort verbrachte sie ihre Zeit damit, durch eine dünne Baumwollmaske hindurch Lack einzuatmen, während sie Stuhlbeine anfertigte. Damit verdiente sie drei Dollar pro Stunde. Das Geld kam auf ein Konto, um ihr per Scheck ausbezahlt zu werden, wenn sie herauskam (die Häftlinge nannten ihre Arbeitskonten »Frei Parken« wie bei Monopoly). Die Stühle wurden in dem Gefängnisladen auf der anderen Seite der Route 17 verkauft. Manche kosteten sechzig Dollar, die meisten achtzig, und das Gefängnis verkaufte eine Menge. Jeanette hatte keine Ahnung, wofür man den Erlös verwendete, und es war ihr auch schnuppe. Worauf es ihr ankam, war das Recht zum Besuch des Gemeinschaftsraumes. Dort gab es einen großen Fernseher, Brettspiele und Zeitschriften. Außerdem standen da der Snackautomat und der Getränkeautomat. Die funktionierten zwar nur mit Vierteldollars, und die hatten die Häftlinge nicht, weil sie als Schmuggelware galten – eine echte Zwickmühle! –, aber zumindest konnte man sehen, was es so gab. (Überdies wurde der Gemeinschaftsraum zu festgelegten Zeiten in der Woche zum Besucherraum, und erfahrene Besucher wie Jeanettes Sohn Bobby waren bestens informiert, dass sie massenhaft Vierteldollars mitbringen sollten.)
Heute Morgen saß Jeanette neben Angel Fitzroy, und sie sahen sich auf dem in Wheeling beheimateten Sender WTRF, Channel 7, die Morgennachrichten an. Die bestanden aus dem üblichen Sammelsurium: Schüsse aus einem vorbeifahrenden Auto heraus, Brand im Umspannwerk, Festnahme einer Frau, die bei einer Monster Jam eine andere Frau attackiert hatte, Hickhack im Staatsparlament um ein neues Männergefängnis, das auf einem Tagebau errichtet worden war und offenbar strukturelle Probleme aufwies. An der überregionalen Front dauerte die Auseinandersetzung mit Kinsman Brightleaf an. Auf der anderen Seite des Erdballs waren mehrere Tausend Nordkoreaner bei einem Erdbeben ums Leben gekommen, und in Australien wurde über den Ausbruch einer Schlafkrankheit berichtet, die anscheinend ausschließlich Frauen befiel.
»Das liegt am Meth«, sagte Angel Fitzroy. Sie knabberte genüsslich an einem Twix, das sie im Ausgabefach des Snackautomaten entdeckt hatte.
»Was denn? Die schlafenden Frauen, das Mädel bei der Monster Jam oder der komische Heilige?«
»Eventuell alles, aber eigentlich hab ich an die bei der Monster Jam gedacht. Ich hab mir so was nämlich auch mal angesehen, und da waren praktisch alle bis auf die Kinder entweder auf Meth oder bekifft. Willst du was abhaben?« Sie deckte mit der anderen Hand die Überreste des Riegels ab (falls Officer Lampley gerade die Überwachungskameras im Blick hatte) und hielt ihn Jeanette hin. »Schmeckt nicht so muffig wie manches von dem Zeug da drin.«
»Verzichte, danke«, sagte Jeanette.
»Manchmal sehe ich was und wünsch mir, tot zu sein«, sagte Angel nüchtern. »Oder ich wünsch mir, dass alle anderen tot sind. Guck mal da.« Sie deutete auf das neue Poster, das zwischen dem Snack- und dem Getränkeautomaten hing. Darauf abgebildet war eine Sanddüne mit Fußabdrücken, die scheinbar ins Unendliche führten. Unter dem Foto stand eine Botschaft: ES GEHT NUR DARUM, HINZUKOMMEN.
»Hingekommen ist der Typ offenbar, aber wo ist eigentlich hin?«, wollte Angel wissen. »Wo haben die das Foto aufgenommen?«
»Im Irak?«, riet Jeanette. »Wahrscheinlich ist er jetzt in der nächsten Oase.«
»Quatsch, der ist an einem Hitzschlag krepiert. Liegt gleich hinter der Düne, wo man ihn nicht sehen kann, mit rausgequollenen Augen und ’ner Haut, schwarz wie ein Zylinder.« Angel lächelte nicht dabei. Sie war ein Meth-Head und ein echtes Landei, rau wie Reibeisen, getauft in einer illegalen Schnapsdestille. Verurteilt hatte man sie wegen Körperverletzung, aber wie Jeanette sie einschätzte, hätte sie praktisch alles auf dem Kerbholz haben können. Ihr Gesicht war so knochig und kantig, dass man damit das Straßenpflaster hätte aufbrechen können. Einen Gutteil ihrer Zeit in Dooling hatte sie in Trakt C verbracht. Dort durfte man nur zwei Stunden täglich aus der Zelle. Trakt C war der Ort für richtig schlimme Mädels.
»Ich glaube nicht, dass man schwarz wird, wenn man in der Wüste an einem Hitzschlag stirbt, selbst im Irak nicht«, sagte Jeanette. Angel zu widersprechen (auch wenn man es humorvoll meinte) konnte gefährlich sein, weil sie laut Dr. Norcross »Aggressionsprobleme« hatte, aber heute Morgen verspürte Jeanette irgendwie Lust, sich in Gefahr zu begeben.
»Wollte bloß sagen, dass das alles kompletter Schwachsinn ist«, sagte Angel. »Wirklich entscheidend ist, das beschissene Heute zu überleben, das weiß doch jeder.«
»Was meinst du, wer das Poster aufgehängt hat? Dr. Norcross?«
Angel schnaubte. »Der hat mehr Grips im Kopf. Nee, das war Coates, unsere gute, alte Chefin. Jaaaanice. Bekanntlich steht die Süße auf Motivationstraining. Hast du das Plakat in ihrem Büro gesehen?«
Das hatte Jeanette. Wie auf einem altmodischen Werbeplakat zeigte es ein Kätzchen, das sich mit den Vorderpfoten an einem Ast festklammerte. Durchhalten ist alles! Klar doch. Die meisten Kätzchen hier im Knast waren längst auf den Boden runtergeknallt. Oder im Kopf durchgeknallt.
In den Fernsehnachrichten kam inzwischen das Fahndungsfoto eines Ausbrechers. »Au Mann«, sagte Angel. »Kein gutes Beispiel für black is beautiful, was?«
Jeanette erwiderte nichts. Tatsächlich stand sie immer noch auf Typen mit fiesem Blick. Sie arbeitete zwar mit Dr. Norcross daran, aber vorläufig fühlte sie sich weiterhin unwiderstehlich von Männern angezogen, die aussahen, als könnten sie jeden Moment auf die Idee kommen, einem mit dem Schneebesen den nackten Rücken zu bearbeiten, während man gerade duschte.
»Übrigens, man hat McDavid in einen von den Bunkern in Trakt A gesteckt«, sagte Angel.
»Wo hast du das denn her?« Kitty McDavid gehörte zu den Leuten, die Jeanette am liebsten mochte; sie war ebenso clever wie resolut. Man munkelte, dass sie sich draußen mit ziemlich üblen Typen herumgetrieben habe, aber sie hatte keine echte Gemeinheit an sich bis auf die Sorte, die sie gegen sich selbst richtete. Irgendwann in der Vergangenheit hatte sie sich mit Hingebung regelmäßig geritzt; die Narben waren auf den Brüsten, an den Seiten und an den Oberschenkeln sichtbar. Außerdem neigte sie periodisch zu Depressionen, wenngleich die Pillen, die Norcross ihr verschrieb, irgendwie eine gewisse Wirkung zeigten.
»Wenn du alles Neue hören willst, musst du früher herkommen«, sagte Angel. »Ich hab’s von der da.« Sie zeigte auf Maura Dunbarton, eine ältere Kalfaktorin, die lebenslänglich hatte. Maura ging gerade mit ihrem Rollwagen herum, um auf den Tischen Zeitschriften zu verteilen, was sie mit unendlicher Sorgfalt erledigte. Das weiße Haar stand als feiner Strahlenkranz vom Kopf ab. Die Beine steckten in einer dicken Stützstrumpfhose, deren Farbe an Zuckerwatte erinnerte.
»Maura!«, rief Jeanette leise. Lautes Rufen war im Gemeinschaftsraum strikt untersagt, außer wenn am Besuchstag Kinder kamen oder wenn die Häftlinge einmal im Monat ihre Partynacht feierten. »Komm mal her, mein Schatz!«
Maura schob den Wagen langsam auf die beiden zu. »Ich hab ’n total süßes Teenagermagazin dabei«, sagte sie. »Hat eine von euch Interesse?«
»So was hat mich nicht mal als Teenager interessiert«, sagte Jeanette. »Was ist mit Kitty los?«
»Die hat die halbe Nacht gebrüllt«, sagte Maura. »Komisch, dass du sie nicht gehört hast. Man hat sie aus ihrer Zelle geholt, ihr ’ne Betonspritze verpasst und sie in A geschafft. Jetzt schläft sie.«
»Was hat sie denn gebrüllt?«, fragte Angel. »Oder hat sie bloß einfach so gebrüllt?«
»Dass die schwarze Königin kommt«, sagte Maura. »Noch heute wird die hier sein, hat sie behauptet.«
»Aretha hat ’nen Auftritt hier bei uns im Bau?«, sagte Angel. »Die Queen of Soul ist jedenfalls die einzige schwarze Königin, die ich kenne.«
Maura beachtete sie nicht. Stattdessen starrte sie auf die blauäugige Blondine, die auf dem Zeitschriftencover abgebildet war. »Will wirklich keine von euch das Ding hier? Da sind ein paar richtig hübsche Partykleider drin.«
»So ein Kleid trag ich bloß bei meiner Hochzeit«, sagte Angel und lachte.
»War Dr. Norcross schon bei Kitty?«, fragte Jeanette.
»Der ist noch nicht da«, sagte Maura. »Ich hatte mal ein Partykleid. Total hübsches Blau, ziemlich bauschig. Mein Mann hat mit dem Bügeleisen ein Loch reingebrannt. Aus Versehen. Er wollte mir nur helfen. Aber ihm hat nie jemand beigebracht, wie man bügelt. Die meisten Männer lernen das nie. Und jetzt lernt er’s erst recht nie mehr.«
Keine der beiden erwiderte etwas. Was Maura Dunbarton ihrem Mann und den zwei Kindern angetan hatte, war wohlbekannt. Es war zwar dreißig Jahre her, aber manche Verbrechen waren unauslöschlich.
7
Vor drei oder vier Jahren – vielleicht waren es auch fünf oder sechs; die Nullerjahre waren ihr irgendwie durch die Finger geronnen und hatten nur verschwommene Anhaltspunkte hinterlassen – hatte ein Mann Tiffany Jones auf dem Parkplatz hinter einem Kmart in North Carolina erklärt, sie werde noch Probleme kriegen. So schemenhaft die letzten eineinhalb Jahrzehnte auch gewesen waren, an diesen Moment erinnerte sie sich bestens. Kreischende Möwen pickten in dem vor der Laderampe verstreuten Müll; leichter Regen lief an den Fenstern des Jeeps herab, in dem sie saß und der dem Typ gehörte, der meinte, sie werde noch Probleme kriegen. Der Typ war ein Kaufhausbulle. Sie hatte ihm gerade einen Blowjob verpasst.
Der Grund dafür war, dass er sie beim Klauen eines Deos erwischt hatte. Daraufhin hatten die beiden eine ziemlich klare und wenig überraschende Vereinbarung getroffen: Sie versorgte ihn mit Oralsex, er ließ sie laufen. Er war ein echter Fleischbrocken, weshalb es nicht gerade einfach gewesen war, Zugang zu seinem Schwanz zu kriegen, ohne dass seine Wampe, die Oberschenkel und das Lenkrad im Weg waren. Aber Tiffany hatte schon so allerhand zustande gebracht, und verglichen damit war der Akt derart belanglos, dass er nichts Besonderes darstellte, wäre da nicht das gewesen, was der Mann sagte.
»War ’n ziemlicher Horrortrip für dich, was?« Auf seinem verschwitzten Gesicht breitete sich ein mitfühlendes Grinsen aus, während er auf dem Sitz hin und her rutschte, damit er die hellrote Jogginghose hochbekam, wahrscheinlich das Einzige, was er in seiner Schweinegröße tragen konnte. »Wenn man in ’ne Lage gerät, wo man auf jemand wie mich eingehen muss, weiß man, dass man noch Probleme kriegen wird.«
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Tiffany angenommen, dass die Leute, von denen sie missbraucht wurde – zum Beispiel ihr Cousin Truman –, vor sich selbst verleugneten, was gerade geschah. Wenn dem nicht so wäre, wie sollten sie dann weitermachen können? Wie konnte man einen anderen Menschen verletzen oder erniedrigen, wenn man sich völlig bewusst war, was man tat? Tja, offenbar konnte man das durchaus – und Männer wie der schweinespeckige Wachmann taten es. Diese Erkenntnis, die urplötzlich so viel von Tiffanys ganzem beschissenem Leben erklärte, war ein echter Schock gewesen. Tiffany wusste nicht recht, ob sie je darüber hinweggekommen war.
In dem blasenförmigen Lampenschirm über der Arbeitsfläche tummelten sich drei oder vier Motten. Die Glühbirne war ausgebrannt. Das war egal, in den Trailer fiel momentan mehr als genug Morgenlicht. Die Motten flatterten wie wild; ihre kleinen Schatten zuckten hin und her. Wie die wohl da reingekommen waren? Ach ja, und wie war Tiffany eigentlich selbst hier gelandet? Nachdem sie in ihren späten Teenagerjahren eine ziemlich harte Zeit überstanden hatte, war es ihr gelungen, in die Spur zu kommen. 2006 hatte sie in einem Bistro gekellnert und anständig Trinkgeld eingestrichen. Sie hatte eine Zweizimmerwohnung in Charlottesville, wo sie auf dem Balkon Farne züchtete. Dafür, dass sie die Highschool abgebrochen hatte, ging es ihr ziemlich gut. Am Wochenende hatte sie oft ein großes, braunes Pferd namens Moline gemietet, das brav und freundlich gewesen war, und war im Shenandoah-Nationalpark herumgeritten. Jetzt befand sie sich in einem beschissenen Kaff mitten in den Appalachen, hockte in einem Trailer und hatte die angekündigten Probleme bereits gekriegt. Immerhin waren die Probleme in Watte gepackt. Sie taten nicht so weh, wie es eigentlich zu erwarten gewesen wäre, was aber vielleicht wiederum das Schlimmste an so etwas war, weil sie tief im Innern steckten, ganz hinten im allerletzten Winkel von einem, wo man selbst nicht …
Tiffany hörte einen dumpfen Schlag, dann lag sie urplötzlich auf dem Boden. An der Stelle, wo sie an eine Kante geknallt war, pochte ihre Hüfte.
Mit der Zigarette zwischen den Lippen starrte Truman auf sie herab.
»Erde an Cracknutte!« Er trug seine Cowboystiefel und Boxershorts, sonst nichts. Die Muskeln am Oberkörper spannten sich eng wie Plastikfolie über die Rippen. »Erde an Cracknutte«, wiederholte Truman und klatschte vor ihrem Gesicht in die Hände, als wäre sie ein unerzogener Hund. »Hast du Tomaten auf den Ohren? Da klopft jemand an die Tür.«
Tru war ein solches Arschloch, dass der Teil von Tiffany, der noch lebendig war – jener Teil, der gelegentlich den Impuls spürte, sich die Haare zu bürsten oder Elaine anzurufen, die Frau von der Beratungsstelle, die sie zu einem stationären Entzug überreden wollte –, ihn manchmal mit geradezu wissenschaftlichem Staunen beobachtete. Als Arschloch setzte Tru einen hohen Standard, weshalb Tiffany sich immer mal wieder die Frage stellte: »Ist XY ein größeres Arschloch als Truman?« Kaum jemand war mit ihm auch nur zu vergleichen – eigentlich bisher nur Donald Trump und irgendwelche Kannibalen. Trumans Latte an Vergehen war entsprechend lang. Als Junge hatte er sich den Finger in den Hintern gesteckt, um ihn dann kleineren Kindern ins Nasenloch zu bohren. Später hatte er nicht nur Geld von seiner Mutter gestohlen, sondern auch ihren Schmuck und ihre Antiquitäten verpfändet. Tiffany mit Meth angefixt hatte er bei einem nachmittäglichen Besuch in ihrer hübschen Wohnung in Charlottesville. Seine Vorstellung, ihr einen Streich zu spielen, bestand darin, dass er ihr im Schlaf eine brennende Zigarette in die nackte Haut der Schulter drückte. Truman hatte mehrere Frauen vergewaltigt, war dafür aber nie ins Gefängnis gewandert. Manche Arschlöcher hatten eben einfach Dusel. Auf seinem Gesicht wucherte ein ungleichmäßiger, rotgoldener Bart, in den Augen glänzten riesige Pupillen, und daran, wie er jetzt das Kinn vorreckte, erkannte man den höhnischen, dreisten Jungen, der er immer gewesen war.
»Cracknutte, kommen!«
»Was ist denn?«, stammelte Tiffany.
»Ich hab dir gesagt, du sollst die Tür aufmachen! Mannomann!« Truman täuschte einen Faustschlag an, worauf sie schützend die Hände über den Kopf hielt. Als sie blinzelte, spürte sie Tränen in den Augen.
»Fick dich«, sagte sie halbherzig und hoffte, dass Dr. Flickinger das nicht gehört hatte. Der war gerade auf der Toilette. Tiffany mochte den Doktor, weil der echt abgefahren war. Er nannte sie immer Madame und zwinkerte ihr dabei zu, um ihr zu zeigen, dass er sich nicht über sie lustig machte.
»Du bist eine zahnlose, taube Cracknutte«, verkündete Truman, wobei er die Tatsache übersah, dass er selbst dringend eine kosmetische Zahnbehandlung gebraucht hätte.
Trumans Freund kam aus dem Schlafzimmer des Trailers, setzte sich an den Klapptisch und sagte: »Cracknutte nach Hause telefonieren.« Er kicherte über den eigenen Witz und wackelte mit den Ellbogen. An seinen Namen erinnerte Tiffany sich nicht, aber sie hoffte, dass seine Mutter ordentlich stolz auf ihren Sohn war, der sich Mr. Hankey, den Weihnachtskot aus South Park, auf den Adamsapfel hatte tätowieren lassen.
Es klopfte an der Tür. Diesmal hörte Tiffany es; es war ein fester, doppelter Schlag.
»Ach, vergiss es! Wir wollen dir ja keine Umstände machen, Tiff. Bleib einfach auf deinem fetten Arsch hocken.« Truman riss die Tür auf.
Draußen stand eine Frau. Sie trug eines von Trumans karierten Hemden, unter dem oliv getönte Beine herausragten.
»Was soll denn das!«, sagte Truman. »Was willst du?«
Die Antwort kam mit leiser Stimme. »Hallo, Mann.«
Ohne sich vom Stuhl am Tisch zu erheben, rief der Freund von Truman: »Sag mal, bist du etwa die Avon-Beraterin, oder was?«
»Hör mal, Süße«, sagte Truman. »Du kannst gern reinkommen – aber das Hemd da brauche ich irgendwie gerade.«
Das brachte Trumans Freund zum Lachen. »Das kann ja wohl nicht wahr sein! Hast du etwa Geburtstag, Tru?«
Im Badezimmer hörte Tiffany die Toilettenspülung rauschen. Offenbar hatte Dr. Flickinger sein Geschäft erledigt.
Die Frau an der Tür hob abrupt die Hand und packte Truman am Hals. Er gab ein leises Keuchen von sich, während ihm die Zigarette aus dem Mund fiel. Dann griff er sich mit einer Hand an den Hals und grub die Fingernägel ins Handgelenk der Besucherin. Tiffany sah, wie deren Haut unter dem Druck weiß wurde, aber sie ließ nicht los.
An Trumans Wangenknochen tauchten rote Flecken auf. Aus den Schlitzen, die seine Fingernägel ins Handgelenk der Frau gegraben hatten, tropfte Blut. Dennoch ließ sie nicht los. Das keuchende Geräusch wurde zu einem Pfeifen. Mit der freien Hand tastete er nach dem Griff des Bowiemessers, das in seinem Gürtel steckte, und zog es heraus.
Die Frau trat durch die Tür, während sie den Unterarm der zustechenden Messerhand umklammerte. Dann schob sie Truman brutal zurück, bis er mit dem Rücken an die Wand des Trailers krachte. Das alles geschah so schnell, dass Tiffany das Gesicht der Fremden gar nicht richtig sehen konnte, nur den Vorhang ihrer verknäulten, schulterlangen Haare, die so dunkel waren, dass sie irgendwie grünlich schimmerten.
»He, he, he«, sagte Trumans Freund und griff nach der hinter der Küchenrolle liegenden Pistole, während er sich langsam erhob.
Die roten Flecke auf Trumans Wangen hatten sich zu violetten Wolken ausgedehnt. Er gab ein Geräusch wie von über Parkett quietschende Sneakers von sich. Seine Grimasse erschlaffte zu einem traurig herabhängenden Clownsgesicht, die Augen verdrehten sich. Links von seinem Brustbein sah Tiffany unter der straffen Haut den Herzschlag pulsieren. Die Frau verfügte über eine erstaunliche Kraft.
»He«, wiederholte Trumans Freund, während die Frau Truman einen Kopfstoß verpasste. Mit einem Knallfroschkrachen brach seine Nase.
Ein Blutschweif peitschte zur Decke hoch. Ein paar Tropfen klatschten an den gewölbten Lampenschirm. Die Motten darin flippten aus. Sie prallten so hektisch ans Glas, dass es klirrte, als würde man einen Eiswürfel im Glas schwenken.
Als Tiffanys Blick wieder nach unten glitt, sah sie, dass die Frau Trumans Körper in Richtung Tisch drehte. Dort stand Trumans Freund und hob die Pistole. Ein Donnern wie von einer steinernen Bowlingkugel hallte durch den Trailer. Auf Trumans Stirn wurde ein unregelmäßig geformtes Puzzleteil sichtbar. Über sein rechtes Auge sank ein halb abgerissenes Stück Haut mit Augenbrauenresten und blieb lose hängen. Blut strömte über den schlaffen Mund und am Kinn entlang. Beim Anblick des Hautstücks mit der Augenbraue, das bis über die Wange baumelte, musste Tiffany an die Textilstreifen denken, die in der Autowaschanlage an die Windschutzscheibe klatschten.
Der zweite Schuss bohrte ein Loch in Trumans Schulter. Blut sprühte Tiffany aufs Gesicht, während die Frau sich samt der Leiche auf Trumans Freund warf. Unter dem Gewicht der drei Körper brach der Tisch zusammen. Tiffany schrie, ohne einen Laut zu hören.
Dann tat die Zeit einen Sprung.
Tiffany lag in der Ecke vom Kleiderschrank und war bis zum Kinn mit einem Regenmantel bedeckt. Dumpfe, rhythmische Schläge ließen den Trailer auf seinem Fundament hin und her schwanken. Eine viele Jahre alte Erinnerung an die Küche des Bistros in Charlottesville stieg in Tiffany auf, daran, wie der Koch mit einem Hammer das Kalbfleisch bearbeitet hatte. Sie hörte etwas reißen, Metall und Plastik, dann verstummten die Schläge. Der Trailer hörte auf zu schaukeln.
Ein Klopfen erschütterte die Schranktür.
»Alles in Ordnung da drin?« Es war die Frau.
»Geh weg!«, jaulte Tiffany.
»Der eine im Bad ist zum Fenster raus. Du brauchst dir seinetwegen keine Sorgen zu machen.«