Small Town Hero - Olivia Hayle - E-Book
SONDERANGEBOT

Small Town Hero E-Book

Olivia Hayle

0,0
9,99 €
3,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Jamie wollte nie wieder nach Paradise Shore zurückkehren. Doch sie würde alles tun, um ihre Tochter zu beschützen. Notgedrungen nimmt sie einen Job als Kellnerin im Yacht Club der Kleinstadt an. Der Besitzer ist Parker Marchand, der ältere Bruder ihrer besten Freundin - und Jamies heimliche Jugendliebe. Und so sehr sich Parker dann auch um sie bemüht, so abwehrend verhält sich Jamie. Denn was könnte eine alleinerziehende Mutter mit dunkler Vergangenheit und einen ehemaligen Spitzensportler und erfolgreichen Geschäftsmann schon miteinander verbinden?

Alle Titel der Reihe "Paradise Brothers" können unabhängig voneinander gelesen werden. 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 412

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover for EPUB

Liebe Leserin, lieber Leser,

Danke, dass Sie sich für einen Titel von »more – Immer mit Liebe« entschieden haben.

Unsere Bücher suchen wir mit sehr viel Liebe, Leidenschaft und Begeisterung aus und hoffen, dass sie Ihnen ein Lächeln ins Gesicht zaubern und Freude im Herzen bringen.

Wir wünschen viel Vergnügen.

Ihr »more – Immer mit Liebe« –Team

Über das Buch

Jamie wollte nie wieder nach Paradise Shore zurückkehren. Doch sie würde alles tun, um ihre Tochter zu beschützen. Notgedrungen nimmt sie einen Job als Kellnerin im Yacht Club der Kleinstadt an. Der Besitzer ist Parker Marchand, der ältere Bruder ihrer besten Freundin - und Jamies heimliche Jugendliebe. Und so sehr sich Parker dann auch um sie bemüht, so abwehrend verhält sich Jamie. Denn was könnte eine alleinerziehende Mutter mit dunkler Vergangenheit und einen ehemaligen Spitzensportler und erfolgreichen Geschäftsmann schon miteinander verbinden?

Alle Titel der Reihe "Paradise Brothers" können unabhängig voneinander gelesen werden. 

Über Olivia Hayle

Olivia Hayle ist eine hoffnungslose Romantikerin mit einer großen Vorliebe für Milliardäre. Da sie leider noch keinen in der der Realität getroffen hat, erschafft sie sie kurzerhand selbst – auf dem Papier. Ob sexy, charmant, cool oder verletzlich – bislang hat sie noch keinen (fiktiven) Milliardär getroffen, den sie nicht mochte.

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlage.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Olivia Hayle

Small Town Hero

Aus dem Englischen von Sabine Neumann

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Grußwort

Informationen zum Buch

Newsletter

Motto

1: Jamie

2: Jamie

3: Parker

4: Jamie

5: Parker

6: Jamie

7: Jamie

8: Parker

9: Jamie

10: Parker

11: Jamie

12: Jamie

13: Parker

14: Jamie

15: Jamie

16: Jamie

17: Parker

18: Jamie

19: Jamie

20: Parker

21: Jamie

22: Jamie

23: Parker

24: Jamie

25: Jamie

26: Parker

27: Jamie

28: Jamie

29: Parker

30: Jamie

Epilog: Parker

Nachwort

Impressum

Lust auf more?

»Ein Schiff im Hafen ist sicher,doch dafür werden Schiffe nicht gebaut.«

John A. Shedd

1

Jamie

Paradise Shores sieht genauso aus wie immer. Ich weiß nicht, ob ich mich dadurch besser oder schlechter fühle, dass die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, unverändert ist, während ich es eindeutig nicht bin. An manchen Tagen fühlt es sich befreiend an. An anderen wie ein persönlicher Angriff. Heute? Ist es nervenaufreibend.

Seit zehn Minuten stehe ich jetzt schon vor dem Paradise Shores Yacht Club. Habe mein Fahrrad angeschlossen und meine Tasche in der Hand. Und bekomme meine Füße einfach nicht dazu, sich zu bewegen.

Der Yachtclub ist ein Wahrzeichen der Stadt, eine Institution. Früher haben meine Freunde und ich hier die berühmten Hummerbrötchen gekauft und sie dann unter der heißen Sommersonne auf den Bootsstegen im Yachthafen gegessen. Von außen sieht das Gebäude unverändert aus. Die glatten Holzlatten des Dachs sind die gleichen. Ebenso die Stufen zum Eingang. Der riesige Anker, der im Blumenbeet ruht.

Es wird lediglich einen Tag dauern, und schon wird die Nachricht die Runde machen. Jamie ist nach zehn Jahren wieder zurück in der Stadt.

Ich hoffe inständig, dass es niemanden interessiert.

Aber ich weiß längst, dass es nicht so sein wird. Meine beste Freundin ist vor ein paar Jahren zurück nach Paradise gezogen, und ich habe ihr bisher nicht erzählt, dass ich es ihr gleichgetan habe. Nur meine Mutter weiß, dass ich wieder hier bin, und das auch nur, weil ich bei ihr wohne.

Vor ihrer Haustür aufzutauchen, war leicht peinlich gewesen. Aber vermutlich nicht so peinlich wie das hier. Ich habe einen Job.

Als Kellnerin im Yachtclub.

Ich atme tief ein. Und dann noch einmal. Ich kann froh sein, dass ich die Stellenausschreibung entdeckt und diesen Job bekommen habe. Also schlucke ich meinen Stolz runter und gehe die Stufen hoch. Der Yachtclub hat einen neuen Anstrich, marineblau, und er überblickt den Yachthafen von Paradise Shores. An den Bootsstegen liegen Reihen um Reihen von Segelbooten und Yachten vor Anker. Das Meer schaukelt sie alle sanft.

Jahrelang habe ich diesen Anblick jeden Tag gesehen.

Und jahrelang überhaupt nicht.

Der Yachtclub ist leer, als ich eintrete. Es ist noch früh, und die ersten Segelkurse sind wahrscheinlich bereits auf See. Also gehe ich in Richtung des hinteren Büros, wo Neil an seinem Schreibtisch sitzt. Er ist immer noch für den Yachthafen zuständig.

Er sieht mich und winkt mir zu. »Hallo.«

»Hi. Ich bin Jamie Moraine. Die neue Kellnerin.«

Er fährt sich mit der Hand durch das schütter werdende Haar. Okay, das ist neu. »Natürlich! Willkommen, willkommen. Wir haben miteinander telefoniert. Danke, dass Sie so kurzfristig kommen konnten.«

»Danke, dass ich hier arbeiten darf«, sage ich.

»Kommen Sie, ich stelle Ihnen Stephen vor. Er ist der Chef der Kellnerschaft. Er sollte inzwischen hier sein …« Neil schließt die Tür zum Büro und führt mich durch die Lobby, vorbei an geschmackvoller nautischer Deko. An den Wänden hängen goldgerahmte Gemälde von Booten auf See, und in einer Ecke steht eine riesige Statue, gefertigt aus Schiffstauen.

Es sieht viel besser aus als in meiner Erinnerung. Die Holzvertäfelung hat einen frischen cremefarbenen Anstrich bekommen, und die Wände sind in einem tiefen Blau gehalten.

»Haben Sie sich schon in Paradise eingelebt?«, fragt Neil.

Als ich jung war, war er Segellehrer gewesen und dann Leiter des Yachthafens. Kein Wunder, dass er sich nicht an mich erinnert. Ich habe nie eine Schwäche fürs Segeln gehabt.

»Ja, danke.«

Der Mann namens Stephen wischt gerade eine Reihe Speisekarten ab, die auf einem Holztisch ausgebreitet vor ihm liegen. »Sie sind Jamie?«, fragt er, ohne aufzuschauen. Er ist wahrscheinlich Mitte vierzig, groß und schlaksig, mit einem Schnurrbart.

»Ja«, sage ich und fühle mich unpassend angezogen. Seine tadellose Kellneruniform passt nicht zu meinem Sommerkleid.

»Gut, Sie sind pünktlich.« Er reicht mir den Lappen. »Machen Sie die weiter sauber, während ich Ihre Uniform hole.«

Er verschwindet durch die Personaltür.

Neben mir stößt Neil ein leises Schnauben aus. »Er ist ein netter Kerl, wenn man ihn erst einmal kennt.«

Ich beginne, die laminierten Speisekarten abzuwischen. »Da bin ich mir sicher.«

»Der Laden sieht gut aus, oder? Was meinen Sie?«

»Ja, sehr gut«, erwidere ich.

»Der neue Chef hat ihn in der Nebensaison renoviert. Die Geräte in der Küche sind alle brandneu, da drin sieht es aus wie in einem verdammten Raumschiff. Die Hartholzböden sind auch neu.«

»Sieht gut aus«, sage ich und meine es auch so. Die alte, durch jahrzehntelangen Rauch vergilbte Tapete ist ebenfalls verschwunden.

Im Sommer im Yachtclub zu arbeiten, gehörte irgendwie dazu, als ich ein Teenager war. Die coolen Mädchen von der Paradise High kellnerten hier, während die coolen Jungs unten am Hafen Segelunterricht gaben.

Meine beste Freundin und ich hielten uns in jenen Sommern vom Yachtclub fern.

»Stephen wird sich gut um Sie kümmern«, sagt Neil.

Und das tut Stephen. Er weist mich an, meine Bluse in den Bleistiftrock zu stecken, und lässt mich dann die Tagesgerichte an der Tafel auswendig aufsagen. Selbst für eine ungeübte Kellnerin wäre das kein Hexenwerk, und ich kellnere seit Jahren immer mal wieder.

Aber später wird mir klar, warum er mir eine so gründliche Einführung gegeben hat. Ich habe gerade eine sechsköpfige Familie bedient, deren jüngstes Kind in diesem wunderbaren Brabbelalter ist, als er mich anhält.

»Sie werden um vier Uhr hier sein«, sagt er leise.

»Sie?«

»Der Besitzer und die neuen Köche, die zum Vorstellungsgespräch kommen.«

Jetzt ergibt es Sinn. »Ist er oft hier?«

Stephen nickt. »Und er hat zu allem eine Meinung.«

Bestimmt hat er die, denke ich. Die Welt wäre viel schöner, wenn Menschen nicht immer zu allem eine Meinung hätten.

Der Rest des Mittagsservice verläuft ruhig. Ich tue, was ich immer tue, nehme Bestellungen entgegen und bringe Essen an die Tische. Manche Gäste fragen mich, ob ich neu sei, und ich antworte mit Ja. Ich mache nicht viel Small Talk.

Ich brauche das Trinkgeld, aber mir fehlt die Energie.

Ich arbeite mit zwei jungen Kellnerinnen zusammen. Es ist eindeutig ihr Sommerjob, und sie tuscheln ständig miteinander am Fenster, in der Nähe der Wärmelampe. Sie sehen aus wie meine beste Freundin und ich in ihrem Alter. Strahlend und glücklich, und sie teilen alles miteinander, was passiert, als würden sie ein gemeinsames Leben statt zwei eigener führen.

Es ist ein Wunder, dass ich niemandem begegne, den ich kenne. Keiner alten Grundschullehrerin, keinem ehemaligen Klassenkameraden und auch nicht dem Mädchen, mit dem ich einst alles teilte. Lily Marchand und ich haben seit Jahren nicht miteinander gesprochen, und das ist ganz und gar meine Schuld.

Ich habe eine Riesenangst vor diesem Wiedersehen.

Als der Mittagsservice zuende geht, sehe ich Stephen dabei zu, wie er einen Tisch in der Ecke mit besonderer Sorgfalt eindeckt. Man muss kein Genie sein, um zu erkennen, dass der Besitzer dort die Vorstellungsgespräche mit den neuen Köchen führen wird … und dabei können sie gleichzeitig das Personal beaufsichtigen. Ist das nicht toll?

Ich muss noch einen Tisch fertig bedienen, bevor meine Schicht endet. Drei Männer mittleren Alters bei ihrer zweiten Runde Bier, sie alle reden lauter als nötig. Ich habe gerade ihre Teller abgeräumt – Club Sandwiches mit extra Mayonnaise –, als Stephen mich zur Seite nimmt.

»Sie sind da«, sagt er mit einem dezenten Nicken in Richtung Ecke.

»Der Besitzer?«

»Ja. Er redet jetzt mit dem ersten potenziellen neuen Koch.«

Ich spähe um die Ecke zu den beiden Männern hinüber, die sich gerade die Hände schütteln. Auf diese Entfernung kann ich nicht viel sehen.

Also drehe ich eine weitere Runde durch den Gastraum und lasse den Blick über die wenigen Gäste schweifen, die noch da sind. Das Mittagessen war schon immer die belebteste Zeit im Yachtclub. Dann kommen Leute aus ganz Paradise Shores vorbei, um noch etwas zu essen, bevor sie mit ihren Booten losfahren. Wir haben zwar erst Mai, aber im Juni und Juli wird es hier richtig voll werden.

»Schätzchen!«, ruft jemand. »Bring uns noch eine Runde Bier, ja?«

Meint er mich?

Ich drehe mich zu dem Tisch mit den Extra-Mayo-Männern um. Der Typ, der gerufen hat, hat graue Schläfen und ein schiefes Grinsen im Gesicht. Sein Blick wandert über meine Uniform und bleibt an meinen Brüsten hängen, genau dort, wo die weiße Bluse ein bisschen zu eng sitzt.

Die Wut, die in mir hochsteigt, wird von einer Angst im Zaum gehalten, die ich hasse. Eine Angst, die ich nicht abschütteln kann. Also starre ich auf die leeren Gläser auf dem Tisch hinunter und spreche eher zu ihnen als zu den Männern. »Kommt sofort.« Ich beuge mich an dem Typ vorbei, um nach den Gläsern zu greifen.

Eine schwitzige Hand legt sich um meinen nackten Oberschenkel und gleitet nach oben, unter meinen Rock.

»Braves Mädchen«, sagt der Mann. »Bist du neu hier?«

Ich mache zwei Schritte zurück und entziehe mich dem Griff.

Mein Herz hämmert in den Ohren.

»Willkommen in der Stadt«, sagt er, als hätte er mich eben nicht einfach angetatscht, und sein Grinsen wird breiter.

Ich bleibe wie erstarrt stehen und spüre, wie ich vor Scham erröte.

In dem Moment tritt ein Mann an mir vorbei und legt dem Widerling nachdrücklich eine Hand auf die Schulter. »John«, sagt er. »Ich bestehe darauf, dass Sie jetzt Ihre Rechnung bezahlen und gehen. Auf der Stelle.«

Diese Stimme kenne ich doch. Ich starre auf das kurze dunkelblonde Haar, das sich über dem gebräunten Nacken kräuselt, den breiten Rücken unter dem Leinenhemd. Wenn mir eben noch heiß vor Scham war, bin ich jetzt am Kochen. Meine Wangen glühen.

»Marchand«, erwidert der Fiesling. »Wie geht’s?«

»Sofort, John.«

Er seufzt und erhebt sich. »Tut mir leid, Leute«, sagt er. »Da hat wohl jemand Lust, den bösen Bullen zu spielen.«

»Zahlen Sie bei Stephen«, sagt Parker. Es muss einfach Parker sein, oder?

»Und John? Ich will Sie hier nicht noch einmal sehen.«

Johns Augen verengen sich. »Das kann nicht Ihr Ernst sein.«

»Mein absoluter Ernst«, entgegnet Parker. Ich kann nicht aufhören, ihn anzusehen. Lilys älterer Bruder.

Er muss der neue Eigentümer sein.

Die anderen beiden Männer murmeln etwas und erheben sich mit gesenktem Blick von ihren Sitzen. Dann machen sich die drei auf den Weg zu Stephen, der bereits auf sie wartet.

John wirft Parker einen letzten bösen Blick zu. Die Art von Blick, die eine deutlich formulierte E-Mail in ein paar Stunden verspricht. Erhältlich in einem Posteingang in Ihrer Nähe …

Parker starrt ihn ohne sein typisches Grinsen an, das ich immer mit ihm assoziiert habe. Er war früher der beste Segler von Paradise Shores, ist Lilys älterer Bruder, eines der brillanten Marchand-Kinder.

Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit ich zweiundzwanzig war. Damals war er College-Sportler, mit sonnengebleichtem Haar, das ihm in die Stirn fiel, und einer Freundin, die in einer Studentinnenverbindung war.

Er muss jetzt vierunddreißig sein.

Parker dreht sich erst zu mir um, als John das Restaurant verlassen hat. »Es tut mir leid. Das hätte nie passieren dürfen, aber ich kann Ihnen versprechen, dass er Sie nie wieder belästigen wird.«

Er sieht mich mit festem Blick an. Seine Stimme klingt aufrichtig. Wie immer ist er von der Sonne gebräunt, aber er wirkt erwachsen, abgehärtet, anders als das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe.

Er erkennt mich nicht.

Ich weiß nicht, ob das erdrückende Gefühl in meiner Brust Erleichterung oder Bedauern ist.

»Wenn Sie Anzeige erstatten möchten, unterstütze ich Sie dabei.« Parker senkt leicht den Kopf und lächelt mich an. Es ist ein höfliches und verschwörerisches Lächeln, und etwas hüpft schmerzhaft in meiner Brust. »Wie klingt das? Ich gebe Ihnen auch den Rest des Tages frei.«

Ich schüttele den Kopf. »Nein, schon okay. Mir geht es gut.«

Er hält inne. Sein Blick wandert über mein Gesicht und hinunter zu meinem Namensschild. Stephen hat es mit einem kleinen Laminiergerät hergestellt und mir dann feierlich überreicht. Jamie.

Sein Blick kehrt zu mir zurück. Seine tiefblauen Augen haben an den äußeren Winkeln neue Falten von der Sonne und dem Meer. »Jamie? Wie in Jamie Moraine?«

Ich nicke. »Ja. Hi Parker.«

»Verdammt, das ist Jahre her! Ich wusste nicht, dass du wieder in der Stadt bist.«

Meine Hände zittern an meinen Seiten. Er wird es Lily sagen, denke ich. Und Herrgott, ich arbeite für ihn. Vor Scham klingt meine Stimme ganz dünn. »Ich bin gerade erst angekommen. Tut mir leid, ich sollte dich nicht aufhalten.«

»Schon okay.« Sein Lächeln verwandelt sich in ein Stirnrunzeln, als ich mich zum Gehen wende. »Du arbeitest also hier?«

Ich nicke ein paar Mal. »Ja, und ich sollte wieder an die Arbeit gehen. Viel Glück bei deinen Vorstellungsgesprächen.«

Stirnrunzelnd sieht er mir nach. Ich höre ihn noch »Jamie« sagen, aber ich eile schon in Richtung Küche.

Mir war klar, dass ich den Fragen in Paradise Shores nicht entkommen würde. Der Vergangenheit nicht entfliehen, den Konfrontationen. Wenn Parker es weiß, ist es nur eine Frage der Zeit, bis Lily es auch weiß.

Ich meide den Tisch in der Ecke für den Rest meiner Schicht, aber mehr als einmal spüre ich seinen Blick auf mir. Ich erledige die letzten Aufgaben. Fülle Salz in die Streuer auf dem Tisch und wische die Speisekarten noch einmal ab.

Und als meine Schicht endet, ist der Tisch in der Ecke leer. Parker ist weg.

»Danke für heute!«, sage ich zu Stephen und ziehe mich im Personalraum um. Mit diesem Rock kann ich unmöglich nach Hause radeln. Ich werfe mir meine Tasche über die Schulter und trete durch den Hintereingang hinaus in die Spätnachmittagssonne.

Ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen, die Augen zu schließen und tief durchzuatmen. Und die Tage bis zum Eintreffen des Gehaltsschecks herunterzuzählen.

Aber auf dem Parkplatz wartet jemand auf mich. Dort steht Parker Marchand an seinen staubigen Jeep gelehnt. Und er sieht mich direkt an.

2

Jamie

»Hi«, sagt er.

Ich schaue auf meinen Fahrradschlüssel hinunter. Drehe ihn zwischen den Fingern hin und her. »Hey.«

»Tut mir leid wegen vorhin. Das mit diesem Kerl.«

Ich schüttele den Kopf. »Nicht deine Schuld.«

»Mein Restaurant«, sagt er, »meine Verantwortung.«

Das Ganze ist mir so unangenehm. »Mein Gott, Parker, es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass der Yachtclub jetzt dir gehört. Sonst hätte ich mich nie beworben!«

Er runzelt die Stirn. »Warum nicht? Ich bin froh, dass du wieder hier bist. Es sah so aus, als hättest du da drinnen einen tollen Job gemacht. War das heute dein erster Tag?«

Ich nicke und sage: »Ja, ich bin noch nicht lange wieder in der Stadt.«

»Ich wusste gar nicht, dass du überhaupt wieder zurück bist«, entgegnet er. »Hast du mit …«

»Nein«, unterbreche ich ihn. »Wir haben schon eine Weile nichts mehr voneinander gehört.«

»Ah«, sagt Parker. Er weiß bestimmt über Lily und mich Bescheid. Sie haben sich immer nahegestanden. Alle Marchand-Geschwister. Sie waren eine eingeschworene Gemeinschaft. Darauf war ich früher extrem neidisch.

»Herzlichen Glückwunsch, dass du den Club gekauft hast. Er sieht toll aus. Ich habe gehört, du hast renoviert?«, sage ich und bewege mich auf mein Fahrrad zu. Überschütte ihn mit Komplimenten, dann fragt er vielleicht nicht nach mir. Wo ich gewesen bin, was ich gemacht habe … warum ich wieder zurück bin.

»Danke«, erwidert er. »Ich wusste nicht, dass du dich bei uns beworben hast.«

»Noch mal: Das tut mir leid. Wenn du willst, kann ich …« Ich lasse den Satz unvollendet. Ich kann eigentlich auf keinen Fall kündigen. Ich brauche diesen Job unbedingt.

Parkers Stirnrunzeln vertieft sich. »Ich bin froh, dass du zurück bist«, sagt er. »Jamie, wir sind Freunde. Ich hätte dir selbst alles gezeigt, wenn ich das gewusst hätte.«

»Oh. Danke. Aber Stephen hat das gut gemacht.«

»Er ist ein guter Manager«, entgegnet er. »Wo wohnst du?«

Meine Hände schließen sich um die Griffe meines Fahrradlenkers. »Greene Street.«

»Bei deiner Mutter?«

Das weiß er noch? »Ja.«

»Ich kann dich fahren. Hinten ist noch Platz für dein Fahrrad.« Er steckt die Hände in die Hosentaschen, eine Geste, die ich noch aus unseren Teenagerjahren kenne. Aber der Parker, der jetzt vor mir steht, ist ein erwachsener Mann. Die strahlende Abercrombie-Schönheit seiner Jugend ist reifer geworden. Sein Gesicht ist vertraut und warm und ein bisschen wettergegerbt.

Er wird es Lily erzählen, denke ich. Gleich im Anschluss. »Danke, aber ich fahre lieber mit dem Rad.«

»Okay.« Er lächelt schief, als wollte er mir ebenfalls ein Lächeln entlocken. Früher haben wir uns oft gestritten. Um alles, aber eigentlich um nichts. Meistens um die Fernbedienung. Er hat sich irgendwelche Spiele im Fernsehen angeschaut, und ich habe mit ihm darüber diskutiert, wie dämlich organisierter Sport sei. Lily hat dann immer die Augen verdreht.

»Ich bin noch nicht sehr lange wieder hier. Es fühlt sich … irgendwie seltsam an.«

»Das verstehe ich«, sagte er. »Findest du, die Stadt hat sich verändert?«

»Nicht besonders.«

Er lacht. »Nein, ich glaube, das tut Paradise nie. Wie ist es dir ergangen, Jamie?«

Wie fasst man mal eben schnell ein Jahrzehnt zusammen? »Gut, aber es war einiges los.«

Das bringt ihn wieder zum Lachen. »Das war bei dir doch schon immer so. Hast du es geschafft, die Welt in Ordnung zu bringen?«

Gott, so erinnert er sich also an mich. Idealistisch, streitlustig und naiv. Dieser Mensch bin ich absolut nicht mehr.

Ich bin voll und ganz damit beschäftigt, meine eigene Welt in Ordnung zu bringen.

»Noch nicht«, sage ich. »Und wie ist es dir ergangen? Wie geht’s der Familie?«

»Denen geht es allen gut. Ich bin jetzt Onkel, aber das weißt du sicher?«

»Ja, der kleine Jamie.« Das Wort bleibt mir fast in der Kehle stecken. Lily hat ihren Sohn nach mir benannt. Vor Ewigkeiten haben wir einen albernen Pakt geschlossen. Dass wir unsere Kinder nach der jeweils anderen benennen würden. Zweitnamen, hat es eigentlich geheißen. Sie musste es natürlich übertreiben.

Parker nickt. »Ja, und Hazel.«

»Hazel?«

»Henrys Tochter.«

»Oh.«

»Sie ist jetzt ein Jahr alt.« Er fährt sich mit der Hand über das stoppelige Kinn. »Vielleicht auch schon eineinhalb. Es ist schwer, den Überblick zu behalten.«

»Deine Eltern müssen überglücklich sein.«

»Das sind sie«, sagt er trocken. »Das nimmt den Druck von uns anderen kinderlosen Bastarden.«

Ich schwinge ein Bein über mein Fahrrad. Mich wieder mit ihm zu unterhalten, wirft mich irgendwie aus der Bahn. Es ist schön und trügerisch, denn wir sind nicht mehr die, die wir einmal waren. Er hat also keine Kinder. Mein Blick fällt auf seine Hände, die gebräunt und entspannt an seinen Seiten ruhen. Kein Ring zu sehen.

»Danke für vorhin«, sage ich.

Er schüttelt den Kopf, und sein Kiefer mahlt. »Danke, dass du den Job angenommen hast. Du bist eine tolle Kellnerin. Es tut mir nur leid, dass dieses Arschloch dich angetatscht hat.«

»War er ein Stammgast?«

Parker zuckt mit den Schultern. »Ich habe ihn ein paar Mal in der Stadt gesehen, ja. Er hat sein Boot im Yachthafen. Das heißt aber nicht, dass er automatisch das Recht hat, in meinem Restaurant zu essen.«

»Danke.«

Er lächelt wieder. »Du brauchst mir nicht zu danken, James.«

Ich halte inne, einen Fuß auf dem Pedal. Als wir Kinder waren, hatte er mich immer James genannt und dann als Teenager damit weitergemacht. Damals. Er als der ältere Bruder meiner besten Freundin und einer der beliebtesten Jungs an unserer Schule. Er hat mich mit dem Spitznamen aufgezogen, und ich habe darauf verärgerter reagiert, als ich tatsächlich war.

Parker sieht mich fragend an. Ob ich mich erinnere?

Meine Lippen zucken. Natürlich erinnere ich mich. An alte Kabbeleien, an Witze, an Momente, in denen mein Herz schneller schlug, wenn er auf dem Schulflur an mir vorbeiging. Wenn er mir, als ich bei Lily übernachtete, nur in Boxershorts und mit vom Schlaf zerzausten Haar über den Weg lief.

Aber dann erinnere ich mich daran, wer ich bin und wo ich bin und was wirklich zählt, und die alte Flamme erlischt so schnell, wie sie aufgelodert ist.

»Einen schönen Abend noch«, sage ich. »Wir sehen uns sicher?«

»Ja. Fahr vorsichtig.«

Ich lasse ihn und den Yachtclub hinter mir und fahre die vertrauten Straßen entlang, vom Strand in Richtung Stadt. Große Bäume flankieren die Straßen wie stille Wächter, die über dieses Vorstadtparadies wachen. Kaum Autos sind unterwegs. Es ist noch zu früh in der Saison für den großen Ansturm der Urlauber.

Ich halte vor dem Haus meiner Mutter. Es liegt zwischen zwei größeren, wie der Zwerg des Wurfes, und ist das einzige in der Straße, das nicht weiß oder grau ist. Ihr Haus ist hellblau mit weißen Fensterläden. Makramee-Windfänger hängen vom Verandadach, die Muscheln darin sind in ständiger, hörbarer Bewegung. Daneben steht Emmas rosa Fahrrad, das einmal meines war.

»Mom?«, rufe ich. »Emma?«

Die Tür ist nicht verschlossen. Mir läuft ein Schauer der Angst über den Rücken. »Emma!«

Da höre ich die Stimme meiner Mutter. »Im Garten!«

Sie sitzen im Gras, mit einem Eimer zwischen ihnen, und machen Seifenblasen.

Bei dem Anblick löst sich die Anspannung in mir. Emma trägt ihr lilafarbenes Lieblingskleid, hat Grasflecken auf den spitzen Knien und einen konzentrierten Gesichtsausdruck. Mom hat ihre Haare zu einem Dutt hochgesteckt. Ihre Arme sind mit trockenem Ton verschmiert, den sie vorhin an der Töpferscheibe bearbeitet hat.

Einige Seifenblasen fliegen an mir vorbei, und eine davon zerplatzt, zerbrechlich und dünn, direkt neben meinem Ohr.

»Mommy«, ruft Emma. Sie grinst und taucht schnell wieder ihren Blasring in das Seifenwasser. »Guck! Wir machen Seifenblasen.«

»Das sehe ich, Süße. Habt ihr Spaß?«

Sie antwortet mir nicht, ihr Gesicht ist wieder hochkonzentriert. Meine Mutter steht auf und schüttelt ihr linkes Knie aus. »Hallo, mein Schatz.«

»Hey. Ist heute alles gut gelaufen?«

»Es lief großartig. Wir haben zusammen getöpfert, und Emma hat einen Schneemann gemacht. Eine interessante Wahl für diese Jahreszeit. Oh, und wir haben Pfannkuchen zu Mittag gegessen.« Sie holt tief Luft. »Ich habe ganz vergessen, wie anstrengend es ist, auf ein kleines Kind aufzupassen.«

Ich spüre, wie das schlechte Gewissen mich überkommt. Wegen mehr Dingen, als ich aufzählen kann. Weil ich so viele Jahre nicht bei meiner Mutter war … und jetzt so plötzlich wieder da bin und sowohl sie als auch Emma in eine Situation zwinge, für die sie vielleicht nicht bereit sind.

»Danke, Mom.«

Sie schenkt mir ein warmes Lächeln. »Ich bin einfach froh, dass ihr zu Hause seid. Ihr beide.«

Und noch mehr Schuldgefühle.

»Wie war dein erster Tag?«, fragt sie.

Ich beobachte, wie meine Tochter weitere Seifenblasen macht. Ihre Augenbrauen sind konzentriert zusammengezogen. Pustet man zu stark, zerplatzen sie. Pustet man zu schwach, formen sich keine Blasen. »Es war gut«, sage ich. »Kellnern ist überall ziemlich ähnlich.«

Und dann, bevor ich mich’s versehe, erzähle ich ihr auch den Rest.

»Parker Marchand ist der neue Besitzer.«

»O ja, stimmt. Er hat den Laden erst vor Kurzem gekauft, glaube ich«, erwidert Mom. »Ich habe von den Renovierungsarbeiten gehört. Schien eine Ewigkeit zu dauern.«

»Du wusstest, dass der Club ihm gehört?«

»Ja. Oh, tut mir leid, Schatz, hätte ich es dir sagen sollen? Du bist doch mit seiner Cousine befreundet, oder?«

Meine Mutter ist echt ein lieber Mensch, aber sie hat schon immer in ihrer eigenen Welt gelebt.

»Mit seiner Schwester«, sage ich. »Lily hat drei ältere Brüder. Parker, Rhys und Henry.«

»Oh, richtig, richtig.«

Wahrscheinlich ist sie die Einzige in dieser Stadt, die nicht über die Marchands Bescheid weiß. Die Familie ist hier so bekannt wie der Yachtclub selbst. Der berühmte Architekt und seine schöne Frau, die jetzt die Geschicke der Gemeinde lenken.

»Na, ist das nicht schön?«, sagt sie. »Dann arbeitest du ja mit Freunden zusammen.«

Ich schaue auf das feine Haar meiner Tochter hinunter. Sie hat dieselbe hellbraune Haarfarbe wie ich, nicht die dunklen Locken ihres Vaters. Mein Kind, denke ich. Durch und durch meins.

»Für Freunde«, korrigiere ich leise. »Nicht mit Freunden.«

Das ist ein gewaltiger und wichtiger Unterschied. Parker und ich sind nicht mehr auf der gleichen Ebene. Genauso wenig wie ich und Lily. Sie hat einen Mann, eine Familie, einen Platz hier. Eine Karriere, auf die sie über ein Jahrzehnt hingearbeitet hat – eine Karriere, von der sie immer geträumt hat.

Ich kann mir nicht vorstellen, ihr von meinen letzten Jahren zu erzählen. Ich kann mir nicht vorstellen, was sie von mir denken wird.

Emma pustet eine riesige, vollständige Seifenblase, die sanft durch die Sommerluft schwebt. Sie grinst zu mir hoch. »Siehst du?«, fragt sie.

Ich spüre Entschlossenheit in meiner Brust. Mein Kind, denke ich wieder. Und ich werde jetzt alles tun, um uns wieder auf die Beine zu bringen.

»Ich habe sie gesehen«, sage ich zu ihr. »Wunderschön.«

3

Parker

Jamie jagt so schnell, wie es seine kurzen Beine zulassen, durch das Wohnzimmer meiner Schwester. »Guck!«, schreit er. »Guuuck!«

Hinter ihm fliegt die Decke, die er sich um den Hals gebunden hat wie einen Umhang. Er trägt seinen Spider-Man-Pyjama. Irgendwann einmal habe ich versucht, dem kleinen Kerl zu erklären, dass Spider Man keine Umhänge trägt, aber da er noch zu jung ist, um sich die Filme anzusehen, darf er sich wohl durchaus die künstlerische Freiheit nehmen.

»Hast du das gesehen?«, keucht er, nachdem er abrupt wenige Zentimeter vor dem Kamin zum Stehen gekommen ist. »Ich bin geflogen!«

»Ja, ich habe es gesehen. Sehr beeindruckend.«

Jamie wartet gar nicht erst, bis ich ausgeredet habe, bevor er wieder losrast und diesmal auf eines der Sofas klettert. Sein Gesichtsausdruck ist wild entschlossen, als er die Knie beugt und den Sessel anvisiert, in dem ich sitze.

»Fang mich auf«, ruft er.

Ich habe gerade noch genug Zeit, die Arme zu heben und ihn daran zu hindern, mit dem Kopf voran gegen meine Brust zu prallen. Er lacht wie irre und windet sich wie ein Aal, und sobald ich ihn abgesetzt habe, ist er wieder weg. Seine Wangen leuchten knallrot.

»Mein Gott«, sage ich zu Hayden. »Ist er vor dem Schlafengehen immer so?«

Der Mann meiner Schwester verdreht die Augen. »Nein, nur wenn du hier bist. Er zieht gerne eine Show ab, wenn du in der Nähe bist.«

Ich grinse. »Ich bin sein Lieblingsonkel.«

»Lass das nicht Henry oder Rhys hören«, sagt Hayden.

»Weil ich recht habe?«

Er lacht. »Ja, weil du recht hast.«

Allerdings wohnen meine Brüder auch nicht dauerhaft in Paradise Shores, was durchaus zu meinem etwas höheren Status in der Rangordnung des kleinen Jamie beitragen könnte. Aber wir Marchands sind wetteifernd bis ins Mark, und ich werde ihnen nicht das Schwarze unter den Nägeln gönnen.

»Komm her, du Wildfang.« Hayden packt seinen Sohn um die Hüfte. Der Junge hat dunkle Haare wie sein Vater. »Es ist fast Zeit fürs Bett.«

Mein Neffe heult auf, als hätte man ihm gesagt, es sei Zeit für den Galgen.

»Doch, doch«, sagt Hayden bestimmt. Er war jahrelang bei der Navy. Das waren damals dunkle Jahre ohne ihn, besonders für meine Schwester. Aber die Disziplin, die ihm dort eingetrichtert wurde, ist jetzt fester Bestandteil seines Charakters. »Ohne Wenn und Aber.«

»Wohl mit Wenns«, schreit Jamie mit der Expertise von jemandem, der sich schon oft gegen diese Ansage gewehrt hat. »Wohl mit Abers! Mit allen Abers!«

Hayden wirft mir einen genervten Blick zu.

Ich lächle die beiden an. Hayden hält Jamie kopfüber, und sein Umhang schleift über den Boden, als er ruhig zur Treppe getragen wird. »Komm, wir gehen ein Buch lesen«, sagt Hayden.

»Parker!«, ruft Jamie. »Hilfe!«

»Dein Onkel kann dir nicht helfen«, sagt Hayden unerbittlich.

»Tut mir leid, Kleiner!«, rufe ich. »Aber ich habe auch Angst vor deinem Vater!«

Ich höre Hayden schnauben, dann verschwinden sie die Treppe hinauf. Jamies Missbilligungsgeschrei verstummt ein paar Sekunden später. Er ist laut, und er ist entschlossen, aber zum Glück lässt er sich leicht ablenken. Man muss nur mit seiner liebsten Gutenachtgeschichte um die Ecke kommen, und schon fällt seine Gegenwehr wie ein Kartenhaus zusammen.

Ich lehne mich im Sessel zurück und lausche dem Treiben meiner Schwester in der Küche. Ich wohne praktisch um die Ecke, und jetzt, wo wir alle wieder hier leben, verbringe ich fast so viel Zeit hier wie zu Hause. Der kleine Jamie hat einiges bei uns allen verändert.

»Jamie«, sage ich laut. Es ist lange her, dass ich über den Namen meines Neffen nachgedacht habe.

Kurz darauf steckt Lily ihren Kopf ins Zimmer. »Sprichst du wieder mit dir selbst?«

»Was meinst du mit ›wieder‹?«

Sie lächelt und wischt sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. »Alles okay?«

»Ja.« Ich strecke die Beine aus und betrachte die teure Glasskulptur auf dem Couchtisch. Lily liebt sie, und Hayden hofft nicht ganz so insgeheim, dass ihr Sohn sie kaputt machen wird. Ich finde, sie sieht aus wie ein Klumpen. »Ich habe nur über Jamie nachgedacht.«

»Was ist mit ihm?«

»Nicht über ihn«, sage ich. »Über seine Namensvetterin.«

Lily verschwindet in der Küche, legt das Handtuch weg und setzt sich dann in den Sessel mir gegenüber. Geistesabwesend schüttelt sie das Kissen hinter sich auf. »Was ist mit ihr?«

»Erzähl mir noch einmal von dem Versprechen. Mit den Namen.«

Sie lacht leise. »Wir waren so jung, als wir diesen Pakt geschlossen haben.«

»Aber du hast dich darangehalten.«

»Das habe ich. Na ja, zumindest zum Teil.« Sie blickt voller Liebe zur Treppe hinüber, über die ihr Mann und ihr Sohn verschwunden sind. »Sein richtiger Name ist ja James. Aber ja. Ich habe mich darangehalten.«

»Warum?« Es interessiert mich wirklich. Es muss Jahre her sein, dass die beiden sich gesehen haben … und ich habe bisher nicht viel darüber nachgedacht. Erst als sie in meinem Restaurant auftauchte.

Lily seufzt. »Was sind das denn für Fragen?«

»Sag es mir«, beharre ich.

Sie zieht ihre Beine unter sich. »Eigentlich hatte ich nicht vor, mich daran zu halten. Hayden und ich hatten eine Reihe von Namen auf der Liste. Aber irgendwie fühlte sich keiner davon richtig an. Und dann kamen wir auf James. So hieß auch sein Großvater, wusstest du das?«

»Nein.«

»Hayden hat gute Erinnerungen an ihn, und du weißt ja, dass das selten ist bei seiner Familiengeschichte. Und ich, na ja …« Sie zupft am Rand einer ordentlich gefalteten Decke herum. »Ich erinnerte mich an den alten Pakt. Der Name passte einfach. Jamie wusste früher alles über mich, weißt du? Und wir hatten seit Jahren nicht miteinander gesprochen, als ich das Baby bekam. Es fühlte sich richtig an, als würden wir damit Menschen ehren, die sowohl Hayden als auch mir wichtig waren, aber nicht mehr bei uns sind … natürlich aus unterschiedlichen Gründen.« Sie zuckt mit den Schultern und schenkt mir ein absolut un-Lily-haftes Lächeln. Es wirkt gezwungen. »Wenn sie jemals zurückkommt, wird es kompliziert mit den Namen, aber ich glaube nicht, dass das passieren wird.«

Ich kratze mich am Kinn. »Richtig.«

»Parker.«

»Ja?«

Ihr Blick wird bohrender. »Warum hast du mich danach gefragt? Was weißt du?«

Ich seufze. »Wie machst du das?«

»Ich lese dich seit meiner Geburt. Du bist nur ein Jahr älter als ich. Ich musste das lernen, um mitzuhalten. Jetzt sag schon.« Sie beugt sich vor, die Hände auf den Oberschenkeln. »Hast du etwas gehört?«

»Erst musst du mir etwas versprechen.«

»Auf keinen Fall. Sag es mir jetzt.«

»Nein.«

»Parker Michael Marchand, ich schwöre …«

»Du musst mir versprechen, dass du nichts Unüberlegtes tun wirst. Ich weiß nicht, wo Jamie war, aber sie ist nicht mehr der Mensch, an den du dich erinnerst.«

Lilys Augen verengen sich. »Du hast sie gesehen?«

»Sie ist zurück in Paradise.« Ich hebe die Hände. »Nicht überreagieren.«

Meine Schwester ist ganz still geworden. »Was?«

»Sie hat gerade einen Job im Yachtclub angenommen.«

»Du verarschst mich. Und das ist gemein, Parker.«

»Ich meine es todernst. Sie hat am Montag mit der Arbeit begonnen.«

»Und du hast fünf Tage gewartet, um es mir zu sagen? Was ist los mit dir?« Sie greift nach einem Kissen, und meine dreiunddreißigjährige Schwester verwandelt sich vor meinen Augen in das wilde Tier, das sie als Kind war.

»Weil ich wusste, dass du so reagieren würdest, und ich nicht wollte, dass du meinen Neffen erschreckst.«

»Faule Ausreden!«

Ich hebe wieder die Hände. »Hör zu. Sie ist wieder da. Seit etwa zwei Wochen. Aber etwas hat sich geändert.«

»Natürlich hat sich etwas geändert! Ich habe sie seit Jahren nicht gesehen!«

»Nein, verdammt, das meine ich nicht. Ich meine …« Ich verstumme und fahre mir mit der Hand durch die Haare. Wie fasst man das in Worte? Die Jamie, an die ich mich erinnere, hatte pechschwarz gefärbte Haare. Sie hatte Feuer in den Augen und ein Selbstvertrauen, das ihr aus jeder Pore strahlte. Früher hat sie jede Gelegenheit genutzt, mit mir zu streiten. Sie war im Debattierteam. Sie hat für die Schülerzeitung geschrieben.

Schüchtern wäre das letzte Wort gewesen, mit dem ich sie beschrieben hätte. Aber jetzt scheint sie ein Schatten ihrer selbst zu sein. Fügsam und ruhig.

»Ja?«, bohrt Lily.

»Sie hat sich verändert«, sage ich lahm. »Hör zu, alles, was ich dir sagen will, ist, komm nicht gleich mit gezogener Waffe angestürmt. Okay? Warte, bis sie zu dir kommt.«

In Lilys Augen lodert etwas auf. »Ich habe jahrelang gewartet. Sie hat nie auf meine letzte Nachricht geantwortet!«

»Ja. Ich will auch keine Ausreden finden. Aber ich glaube nicht, dass die letzten Jahre nett zu ihr waren. Das ist alles, was ich sage.«

Lily legt den Kopf in die Hände. »Sie ist wieder in Paradise. Mein Gott.«

»Sie wohnt bei ihrer Mom.«

»Und arbeitet im Yachtclub?« Sie sieht von ihren Händen auf und wirft mir einen unergründlichen Blick zu. »Ich nehme an, wir müssen jetzt wirklich anfangen, meinen Sohn kleiner Jamie zu nennen.«

»Oder James«, sage ich.

»Pah, er ist noch kein James. Vielleicht, wenn er aufhört, ins Bett zu machen.«

Ich lache. Da kommt Hayden die Treppe herunter und gesellt sich zu uns. Er schaut mit einem schiefen Lächeln zwischen uns hin und her und wirft die Decke, die Jamie als Umhang benutzt hat, über die Sofalehne. Lily streicht mit der Hand über den Rücken ihres Mannes und beginnt, die Decke zu falten. Ihrem ruhigen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, entwickelt sie bereits eine Strategie.

Es geht um ihre beste Freundin, die wieder da ist, und trotzdem weiß ich nicht, ob sie das richtig angehen wird.

Ich denke an die Jamie, die ich gesehen habe. In ihrer Yachtclub-Uniform. Die unterdrückte Wut in ihrem Blick, nachdem dieser Widerling es gewagt hat, sie zu begrapschen. Ohne dunkles Make-up um die Augen, ohne den Nasenring von früher, die Haare hellbraun statt schwarz. Und dann ist die Wut erloschen und hat sich in Verlegenheit verwandelt.

»Sei einfach vorsichtig«, warne ich Lily erneut.

Sie schenkt mir ein engelsgleiches Lächeln.

Klar. Als ob.

– • –

Ich sitze an dem Ecktisch im Restaurant, der irgendwie zu meinem Schreibtisch geworden ist, gemütlicher als das Büro und mit direktem Blick aufs Meer. Dort draußen folgen gerade Möwen einem Segelboot, das sich aus dem Yachthafen in Richtung offenes Meer bewegt.

Ich sehe zu, wie der Segler das Großsegel hisst. Der Wind ist heute gut.

Meine Gedanken wandern dort hinaus, wie sie es immer tun.

Der Yachtclub ist für mich wie ein Zuhause, genauso wie Paradise Shores. Ich segele hier, seit ich laufen kann. Hier habe ich es selbst gelernt und später geholfen, anderen Unterricht zu geben. Hier habe ich für die Regatten trainiert.

Im Laufe meines Lebens bin ich in besseren Gewässern gesegelt. In blaueren, ruhigeren, wärmeren. Aber nichts schlägt das tiefe Blau des Atlantiks hier an der Küste Neuenglands.

Die Zahlen auf meinem Bildschirm bestätigen genau das. Dem Yachtclub geht es heute genauso gut wie vor zehn Jahren. Im Gegensatz zu so vielen anderen Kleinstädten hat Paradise keine große Abwanderung von Menschen, sondern bleibt stabil. Die Immobilienpreise sind hoch, und die Bebauungsvorschriften werden streng kontrolliert. Niemand hier möchte, dass die Küste überbaut wird.

In den Augen meines Vaters ist mein jetziger Job eine Herabstufung. Ich kaufe den Laden, habe ich ihm geantwortet, ich arbeite dort nicht als Aushilfe.

Kopfschüttelnd hat er mir den Rücken zugewandt und sich auf die Hummer konzentriert, die er gerade auf der Veranda grillte. Du hattest einen Job in Boston. Eine Karriere.

Immer die gleiche Leier. Aber nach vierunddreißig Jahren als sein Sohn und als jüngerer Bruder von Henry Marchand ist mir inzwischen längst klar geworden, dass ich diesen Mann niemals stolz machen kann. Wenn dein ältester Bruder der leitende Architekt des neu errichteten New Yorker Opernhauses ist, dann kannst du eigentlich gleich einpacken.

Mein Jurastudium war interessant. Bereichernd. Aber schon damals, am Schreibtisch zwischen dicken Büchern, habe ich gewusst, dass mein Herz dem Meer gehört.

Meinen Job aufzugeben und stattdessen den Yachtclub zu renovieren, war also zum ersten Mal seit Jahren ein Projekt, auf das ich mich wirklich gefreut habe. Ich kenne diesen Ort wie meine Westentasche. Meine Schwester und ihr Mann, einer meiner besten Freunde, wohnen in der Stadt. Ich habe hier das Meer und die Boote, und die sind besser als jedes berufliche Prestige.

Ich schaue wieder von meinem Bildschirm auf. Das Restaurant leert sich langsam nach der geschäftigen Mittagszeit. Jetzt, da es in Richtung Juni geht, kommen immer mehr Touristen in die Stadt. Es läuft gut. Die neue Köchin fängt nächste Woche an, und ich hoffe, dass die Speisekarte mit ihr eine dringend benötigte Überarbeitung bekommt.

Eine der Kellnerinnen geht mit einem Lappen in der Hand durch den Raum und wischt die Tische ab. Es ist nicht Jamie. Sie hat heute hauptsächlich auf der Terrasse vor dem Haus gearbeitet.

Ich frage mich, ob es daran liegt, dass ich hier sitze.

Mehr als ein kurzes Hallo oder Auf Wiedersehen hat sie bisher nicht zu mir gesagt. Das Gespräch, das wir letzte Woche auf dem Parkplatz führten, hat sich nicht wiederholt.

Ich sehe zu, wie ihre Kollegin die Tische abwischt. Meine Mitarbeiter haben kein Problem damit, mir Hallo zu sagen, und keiner von ihnen weicht meinem Blick aus.

Seufzend widme ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Bildschirm vor mir. Die Website des Yachtclubs muss überarbeitet werden. Auf ihr läuft noch immer das alte Buchungssystem für Segelkurse, das Neil mal eingeführt hat – unsere potenziellen Kunden rufen uns an und versprechen zu bezahlen –, und es ist einfach superlangsam und altbacken. Ich muss dringend jemanden beauftragen, eine neue Website zu erstellen. Alles neu zu machen.

Ich bin gerade dabei, online nach Webdesignern zu suchen, als jemand meinen Namen ruft. Die Stimme klingt vertraut. Bitte nicht.

Ich klappe langsam meinen Laptop zu. »Lily …«

Meine Schwester schenkt mir ihr strahlendstes, unschuldigstes Lächeln. Ich weiß genau, dass ich diesem Lächeln nicht trauen kann. »Hi. Was machst du gerade?«

»Arbeiten.« Ich schaue über ihre Schulter, kann Jamie jedoch nirgends entdecken. »Und du hattest gerade zufällig Lust auf ein Hummerbrötchen?«

»Nicht ganz.« Sie stellt ihre Tasche auf dem Stuhl mir gegenüber ab und sieht sich um. »Mir gefällt, was du aus dem Laden gemacht hast.«

»Lily«, warne ich. Sie war seit dem Ende der Renovierungsarbeiten schon oft hier.

Doch sie hört nicht auf mich. »Lass mich«, sagt sie schnell und hitzig. »Darauf habe ich lange gewartet.«

»Ich weiß, aber vielleicht ist das hier nicht der beste Ort …«

»Wo dann? Sie wird meine Nachrichten nicht beantworten.«

Ich seufze. »Mach keine Szene, Lily.«

»Würde ich niemals.«

Sie dreht sich um, eine Hand auf dem Tisch. Wartet. Ich beiße die Zähne zusammen. Irgendetwas stimmt nicht mit Jamie, und ich weiß, dass Lily es bemerken wird. Wenn sie vorher erst einmal nachdenken würde, würde ihr schon einfallen, was sie sagen soll. Aber ich befürchte, sie ist zu verletzt von Jamies Schweigen, um über ihren eigenen Schmerz hinauszusehen.

Und wie aufs Stichwort betritt Jamie den Raum. Ihre Haare hat sie heute zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er fällt weich und geschwungen über ihren Rücken, und sie hält den Blick gesenkt. Sie ist genauso alt wie meine Schwester, nur ein Jahr jünger als ich, und doch liegt in ihren Bewegungen etwas Junges und Zögerliches, das früher nicht da war.

Es gefällt mir nicht. Das ist nicht sie.

»Lily …«, murmele ich, aber meine Schwester geht schon auf ihre ehemals beste Freundin zu. Die beiden waren einmal unzertrennlich. In der Schule haben sie ständig die Köpfe zusammengesteckt, den rotbraunen und den hellbraunen Schopf, oder, als Jamie anfing, sich die Haare zu färben, den pechschwarzen.

Jamies Rücken wird kerzengerade. Ihr Mund bewegt sich nicht, als Lily näher kommt.

Ich verstehe nicht, was sie sagen, aber ich muss es auch nicht. Lily ist diejenige, die am meisten redet. Ich sehe, wie sie sich irgendwann mit der Hand über die Augen fährt, und etwas später wird ihre Stimme lauter. Jamie hört sich alles an. Sie hält die Speisekarte so fest in der Hand, dass sich der laminierte Kunststoff biegt. Zweimal nickt sie, und einmal schüttelt sie so schnell den Kopf, dass ihr Pferdeschwanz fliegt.

Das ist zu viel für sie, denke ich. Ich weiß nicht, warum. Aber es ist so. Ich erkenne es an ihren zusammengepressten Lippen und dem zaghaften Blick.

Ich stehe vom Tisch auf und gehe zu den beiden Frauen hinüber. Sie stehen zwar nicht mitten im Restaurant, jedoch auch keineswegs versteckt. Und es ist erst Jamies zweite Arbeitswoche.

»Ladys«, sage ich. »Entschuldigt die Störung, aber da warten noch ein paar Tische.«

Lily sieht mich an, als würde sie meinen langsamen und schmerzhaften Tod planen. »Du hältst deine Mitarbeiter schön an der kurzen Leine, oder?«

»Dein Bruder hat recht«, sagt Jamie schnell. »Ich bin hier bei der Arbeit. Tut mir leid, Lily. Es war schön, dich zu sehen.«

»Alles klar«, erwidert Lily. Sie klingt ganz und gar nicht wie meine Schwester. »Wir sehen uns?«

Jamie nickt, und Lily lächelt halbherzig. »Dann tschüss«, sagt sie zu Jamie.

Von mir verabschiedet sie sich nicht, und ich bin mir sicher, dass ich später noch etwas zu hören bekomme, weil ich sie unterbrochen habe. Ich sehe meiner Schwester nach, wie sie das Restaurant verlässt, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Neben mir stößt ihre ehemalige beste Freundin einen tiefen Seufzer aus.

»Das tut mir leid«, sage ich zu ihr.

Jamie schüttelt den Kopf. »Ich wusste, dass du es ihr erzählen würdest.«

»Ich habe eine Woche gewartet«, entgegne ich und schenke ihr ein schiefes Lächeln. »Sie brauchte weniger als drei Tage, um hierherzukommen.«

»Ich bin überrascht, dass sie so lange gewartet hat.«

Ich lache. »Sie war schon immer ein bisschen impulsiv.«

»Ja.« Jamie blickt hinunter auf die Speisekarte in ihrer Hand. Das Plastik richtet sich langsam wieder auf. »Danke, Parker.«

»Dafür, dass ich euch unterbrochen habe? Keine Angst. Da sind gar nicht mehr viele Tische für dich. Mach gerne eine Pause.«

»Ich denke, ich werde weiterarbeiten.« Sie sieht mit einem winzigen, schiefen Lächeln auf den Lippen zu mir hoch. »Ich möchte Sie nicht enttäuschen, Boss.«

Ich öffne den Mund – was soll ich dazu sagen? –, aber Jamie dreht sich um und verschwindet wieder in der Küche. Ich sehe ihr nach.

Sie war die Freundin meiner kleinen Schwester. In mehr als einer Hinsicht tabu, nicht zuletzt wegen des riesigen Bleib-bloß-weg-Schriftzugs, den sie immer auf dem Gesicht trug. Sie hatte immer Feuer im Blick. Wenn sie in Schlaghosen in die Schule kam, als zerrissene Jeans im Trend lagen. Mit ihren kurzen, dunklen Haaren, als die beliebten Mädchen lange, blondierte Locken trugen. Mit dem dunklen Lidschatten um ihre Augen, der, sogar verschmiert, das warme Braun ihrer Augen betonte.

Das alles ist jetzt weg. Die unkonventionellen Klamotten. Das dunkle Make-up. Aber nicht das Feuer. Selbst mit ihrem zum braven Zopf geflochtenen Haar und ihrem ungeschminkten, mit Sommersprossen übersäten Gesicht ist das Feuer da. Versteckt und gedämpft, aber präsent.

Und ich kann es kaum erwarten, es wieder zum Lodern zu bringen.

4

Jamie

»Du kannst so lange bleiben, wie du willst«, sagt Mom. »Vielleicht ein oder zwei Jahre …«

Sie sitzt in der Leseecke im Wohnzimmer, umgeben von Kissen in allen Regenbogenfarben. Auf ihrem Schoß liegt ihr alter Laptop. Auf der Rückseite klebt ein Aufkleber des örtlichen Tauchladens, aber ich glaube nicht, dass sie jemals tauchen gegangen wäre.

»Ich kann kein Jahr bleiben«, erwidere ich.

»Warum nicht? Das hier ist dein Zuhause, und hier gibt es großartige Schulen. Setz Emma auf die Warteliste für die erste Klasse an der Paradise-Grundschule.«

»Ich kann nicht.«

»Hier stehen euch viele Möglichkeiten offen«, fährt sie fort. »Du hast gleich in der ersten Woche einen Job gefunden.«

»Das war pures Glück. Der Yachtclub brauchte Kellnerinnen, und ich habe viel als Kellnerin gearbeitet.«

Mom schüttelt den Kopf. »So etwas wie pures Glück gibt es nicht. Du gehörst hierher.«

Ich ziehe die Beine unter mich auf das Sofa. Mein Kopf dröhnt, und es gibt keine Möglichkeit, ihr klarzumachen, warum ich nicht bleiben kann.

»Es macht mir nichts aus, auf Emma aufzupassen«, sagt sie, diesmal mit sanfterer Stimme. »Wir verstehen uns jetzt noch besser, glaube ich. Sie ist nicht mehr so schüchtern bei mir.«

»Sie mag dich«, erwidere ich. Meine Tochter ist gegenüber Fremden vorsichtig, aber an ihre Großmutter hat sie sich schnell gewöhnt. Dafür haben ihre kreative Ader und ihre Angewohnheit, leckere Pfannkuchen zum Frühstück zu machen, gesorgt. Es gibt nur wenige Dinge, die Sechsjährige mehr mögen als Basteln und reichlich Ahornsirup.

Zumindest meine Sechsjährige.

»Die Schule hier ist gut«, sagt Mom noch einmal. »Eine der besten im Landkreis.«

»Ich weiß.«

»Bitte denk noch mal darüber nach, Schatz. Ich habe dich gerade erst zurückbekommen.«

Ich lehne die Stirn gegen meine hochgezogenen Knie. Ja, wir sind gerade erst zurückgekommen. Und ich zwinge mich nach Jahren mit zu seltenen Telefonaten und viel zu wenigen Besuchen meiner Mutter und ihrer Gastfreundschaft auf. Sie hatte Emma nur ein paar Mal gesehen, bevor wir mit unseren Koffern vor ihrer Haustür standen.

Es ist peinlich, und zwar nicht auf die Art, die wieder vergeht, wenn man ein paar Mal darüber gelacht hat. Es ist die tiefe Art der Demütigung, durch die ich mich einen halben Meter klein fühle, und gerade in dieser Stadt bin ich winzig angesichts des Reichtums und Erfolgs all der Menschen, die sich nicht vom Leben haben unterkriegen lassen.

Ich habe zu lange gewartet, die Zügel meines Lebens wieder in die Hand zu nehmen, und ich hätte früher niemals gedacht, dass ich einmal so sein würde. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal so verlieren würde. Aber das habe ich. Und jetzt zahlen wir alle den Preis dafür.

»Ich kann nicht«, wiederhole ich, und meine Stimme klingt gebrochen. Ich hasse es, sie so zu hören. »Du hast schon so viel für mich getan, Mom. Ich kann hier nicht so lange leben, ohne Miete zu zahlen.«

»Ach, Miete«, sagt sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Wenn das das Problem ist, werden wir uns etwas einfallen lassen, damit du dich besser fühlst. Wir werden darüber reden. Aber wage es nicht, wieder woanders hinzugehen, Jamie Elizabeth Moraine. Meine Enkelin verdient jeden Tag Pfannkuchen.«

Das bringt mich zum Lachen. Sie hat recht. Und Emma verdient noch so viel mehr, was ich ihr nicht geben kann. Alles, was ich ihr zu bieten habe, sind gebrauchte Fahrräder und eine Mutter, die ständig in Habachtstellung ist. Im Moment fühlt sich alles zu viel an – zu viele Entscheidungen und zu viele Schuldgefühle.

»Das tut sie«, sage ich. »Okay. Ich denke darüber nach, ob ich mal in der Schule anrufe. Aber Mom, mach dir keine Hoffnungen, okay? Ich weiß nicht, was nach der Hauptsaison mit meinem Job im Yachtclub passieren wird. Nach dem Sommer ist da viel weniger los.«

»Die Leute essen dort das ganze Jahr über«, erwidert sie.

»Ja, aber seltener.«

Sie lächelt und schaut wieder auf ihren alten Laptop hinunter. »Wir werden uns etwas einfallen lassen.«