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Juden und Muslime leben schon lange unter uns, die einen seit Jahrhunderten, die anderen in der zweiten oder dritten Generation. Sie sind uns nah und trotzdem auch fremd geblieben. Lamya Kaddor und Michael Rubinstein leben und arbeiten in ihrem Geburtsland Deutschland und sind zu Hause in einer Glaubensgemeinschaft, die sie zu "Anderen" werden lässt. Weit besser als Statistiken und Zahlen wissen sie, wie es um Integration in Deutschland steht. Wo liegen die Herausforderungen unserer Gesellschaft, in der Christen, Juden und Muslime wirklich gemeinsam leben? Was können die Kirchen im Umgang mit anderen religiösen Glaubensgemeinschaften besser machen? Und welche Verantwortung kommt dabei den Juden und Muslimen auch selbst zu? Ein authentischer und konstruktiver Beitrag zur Integrationsdebatte.
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Seitenzahl: 277
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Haupttitel
Inhalt
Über die Autoren
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
Lamya Kaddor / Michael Rubinstein
So fremd und doch so nah - Juden und Muslime in Deutschland
unter Mitarbeit von Thorsten Gerald Schneiders
Patmos Verlag
Einleitung
I. Konfrontationen zwischen Juden und Muslimen
II. Das Kardinalproblem – der Nahostkonflikt
III. Die Schoah – Schmerz und Last der Vergangenheit
IV. Gewalt und Terror im Namen der Religion
V. Antisemitismus und Islamfeindlichkeit in Deutschland
VI. Gott und Allah in einer modernen christlich-abendländischen Gesellschaft
VII. Heimat – Wanderer zwischen den Welten
VIII. Deutschland – religiöses Leben als Minderheit
IX. Humor – Wer geht hier zum Lachen in den Keller?
Juden und Muslime stehen im Verdacht, sich über kurz oder lang die Köpfe einzuschlagen, wenn man sie zusammenbringt und über Glauben, Gesellschaft und Politik diskutieren lässt. Zu vieles scheint zwischen beiden Religionen und Traditionen zu stehen, als dass eine friedliche Unterhaltung möglich wäre. Aber ist das wirklich so?
Wir machen die Probe aufs Exempel und reden miteinander – ohne Tabus. Sämtliche heißen Eisen dieser Tage wollen wir anpacken: Holocaust, Nahostkonflikt, Zionismus, muslimischer Antisemitismus, koranische Gewaltverse, aber auch Themen wie Heimat, Humor und Religiosität. Ein spannendes und bislang einmaliges Experiment in Deutschland.
Doch wir wollen nicht nur auf uns selbst schauen, sondern auch auf unsere Umgebung, die deutsche Gesellschaft. Dann und wann ist es für die gedeihliche Entwicklung einer jeden Gesellschaft hilfreich, sich einen Spiegel vorhalten zu lassen. Der Blick hinein gibt Aufschluss über das, was man ohne dieses Hilfsmittel nicht sieht: Man erkennt Makel ebenso wie besondere Vorzüge. Viele berühmte Personen der Geschichte haben ihren Gesellschaften diesen Spiegel vorgehalten, vom antiken Dramatiker Sophokles bis zu dem Liedermacher, Schriftsteller und Rechtsanwalt Franz Josef Degenhardt. Meistens aber waren sie Teil der gesellschaftlichen Mehrheit.
Nun machen sich Vertreter zweier unterschiedlicher Minderheiten auf, eben dies gemeinsam zu tun. Gerade in Deutschland ist dieser Ansatz vielversprechend. Nach wie vor hängen zahlreiche Menschen dem Gedanken an die weitgehend homogene gesellschaftliche Zusammensetzung der Wirtschaftswunderzeit nach dem Zweiten Weltkrieg nach. Jüngster Ausdruck dieser irrationalen Sehnsucht nach einer möglichst einheitlichen Bevölkerungsstruktur ist das umstrittene Buch von Thilo Sarrazin »Deutschland schafft sich ab«. Wer aber in unsere Städte hinausgeht, in unsere Kommunen, der sieht, dass sich die gesellschaftlichen Realitäten geändert haben und nicht mehr zurückdrehen lassen. Bis zu 30 Prozent eines Einschulungsjahrgangs haben inzwischen einen Migrationshintergrund. Alt-Bundespräsident Christian Wulff fasste den gesellschaftlichen Status quo in seiner Antrittsrede unter dem plakativen Begriff der »Bunten Republik« Deutschland zusammen.
Wer wissen will, in welchem Takt die Welt schlägt, in der er heute lebt, bekommt am ehesten ein Gefühl dafür, wenn er sich mit den Menschen befasst, die qua Geburt permanent mit solchen Fragen konfrontiert sind: Zuwanderer und ihre Nachkommen. Sie sind ein Seismograph gesellschaftlicher Zustände. Sie haben mindestens zwei Herzen in der Brust und müssen sich immer wieder ihrer Zugehörigkeiten vergewissern. Sie müssen sowohl die Mehrheit, in der sie leben, als auch die Minderheit, aus der sie stammen, beständig analysieren, um für sich Schlüsse für ihr Leben zu ziehen.
Wer wäre folglich besser geeignet, den Deutschen etwas über die Deutschen im 21. Jahrhundert zu erzählen, als Vertreter der wohl auffälligsten Minderheiten im Land: die Juden mit ihrer 1700-jährigen Geschichte und die mehr als 4 Millionen Muslime, die seit einigen Jahren die mit Abstand zweitgrößte Religionsgruppe in Deutschland ausmachen. Eine Gesellschaft müsse sich immer am Umgang mit ihren Minderheiten messen lassen, heißt es.
Umgekehrt hat die Mehrheitsgesellschaft das Recht, Eindrücke und Einsichten in das Denken und Fühlen von Minderheiten zu bekommen. Wenn in Berlin ein Jude im Beisein seiner kleinen Tochter vermutlich von arabischstämmigen Jugendlichen angegriffen wird, nur weil er eine Kippa trägt, oder wenn jüdische Funktionäre in Deutschland einseitig Partei für Israel ergreifen und sich Muslime darüber echauffieren, ruft das nach Erklärungen. Minderheiten haben auch die Pflicht, der Gesellschaft, in der sie leben, etwas über sich zu berichten. Dem kommen wir mit diesem Buch ebenfalls nach.
Wir – wer sind wir? Wir, das sind eine muslimische Frau und ein jüdischer Mann, er ist im Rheinland geboren, sie in Westfalen: Lamya Kaddor, Publizistin, Pionierin der islamischen Religionspädagogik und Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bunds, sowie Michael Rubinstein, Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Duisburg-Mülheim/Ruhr-Oberhausen, Kommunalpolitiker und seit Jahren landesweit im interkulturellen und interreligiösen Dialog tätig – seit 2006 Dialogbeauftragter des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein.
Neben unserem »Antagonismus« Westfalen/Rheinland bringen wir einen weiteren, mit noch mehr Spannungen geladenen persönlichen Hintergrund mit: Lamya Kaddors Familie stammt aus Syrien, das sich mit Israel seit Jahrzehnten offiziell im Kriegszustand befindet; ihre Familienangehörigen kämpften 1948 und 1967 in den Reihen der arabischen Armeen gegen Israel. Michael Rubinstein stammt mütterlicherseits aus einer alteingesessenen deutsch-jüdischen Familie. Diese Großeltern konnten vor dem Holocaust ins spätere Israel fliehen, sein Großvater väterlicherseits überlebte die dunkelsten Jahre in Europa nicht. Die Familienangehörigen, die dem Holocaust entrinnen konnten, oder ihre Nachkommen leben heute in Deutschland, Israel und anderen Teilen der Welt.
Trotz der konträren Familiengeschichten verbindet uns einiges: Kennengelernt haben wir uns vor etwa fünf Jahren auf einer Tagung zum interreligiösen Dialog am Comer See in Italien. Heute leben wir beide in Duisburg. Wir sind Kinder der deutschen Gesellschaft, stehen für die jüngeren Generationen dieses Landes und sind als kritische Kommentatoren der deutschen Gegenwart bekannt. Wir folgen beide jeweils einem liberalen Religionsverständnis und engagieren uns im theologischen Bereich. Deswegen sind wir aber noch lange nicht bei allen Themen immer einer Meinung.
In unserem Buch haben wir uns vorgenommen, entweder allein oder gemeinsam zu jedem Kapitel zunächst einen Einführungstext zu schreiben. Die darin enthaltenen thematischen Impulse greifen wir anschließend in einem moderierten Gespräch auf. Das gibt jeweils dem anderen die Möglichkeit, kritische Nachfragen zu stellen, einzelne Punkte zu vertiefen und weitere Aspekte, die uns wichtig erscheinen, anzusprechen. Unsere Diskussionen verlaufen wie auch im Alltag an einigen Stellen ernst, an anderen Stellen humorvoll. Freunde sagen uns nach, wir brächten die Leichtigkeit des Seins mit. Schlagfertigkeit, Esprit und Witz gehörten definitiv zu unseren Charakteristiken. Es bleibt den Leserinnen und Lesern überlassen, dies zu überprüfen.
Mit unseren Gesprächen wollen wir zeigen, dass man trotz vermeintlich unüberbrückbarer Hindernisse durch Offenheit und Bereitwilligkeit zum gegenseitigen Austausch miteinander klarkommen kann. Unterschiedliche Meinungen hindern nicht zwangsläufig daran, an einem Strang zu ziehen. Wir zeigen, was Respekt und kritische Wertschätzung füreinander bedeuten. Es bedarf keiner rosaroten Brille, um miteinander auszukommen. Es braucht im Grund nur ein wenig gegenseitiges Einfühlungsvermögen und die Bereitschaft zu einer lebendigen Debattenkultur ohne Tabus, aber auch ohne gegenseitige Beleidigungen.
Ferner ist es unser Ziel, mit diesem Buch fachlich fundierte und lehrreiche Hintergrundinformationen und Analysen zu bieten. Unsere Ausführungen sollen Argumentationshilfen für einige der derzeit maßgeblichen Debatten in Deutschland bieten. Die Leserinnen und Leser bekommen die Möglichkeit, sich selbst zu fragen: Wo stehe ich in dieser Gesellschaft? Was kann ich oder was muss ich für das Zusammenleben tun? Welche Herausforderungen gibt es? Das Buch spricht somit nicht nur solche Menschen an, die sich für Fragen der Integration oder für die lange jüdische und die kürzere islamische Geschichte in diesem Land interessieren, sondern alle Teile dieser Gesellschaft.
Bislang kamen zu den besagten Themen vor allem ältere Generationen zu Wort. Man hörte Holocaust-Überlebenden zu, man hörte muslimischen Einwanderern zu. Deren Nachkommen, in Deutschland geboren und sozialisiert, sind in den Medien nach wie vor eher selten vertreten. Auch hier will dieses Buchprojekt Neues wagen: Es soll die Unterschiede zwischen jüngeren jüdischen und islamischen Generationen und den älteren verdeutlichen, es soll zeigen, was sie trennt, was sie verbindet; wie ihre Lebenswirklichkeit aussieht; welche Rolle die weltweiten Konflikte für sie spielen; wie sie mit der deutschen Geschichte umgehen; wo die Herausforderungen für die künftige Gestaltung unserer Gesamtgesellschaft liegen; welche Fragen die Politik vorrangig betrachten sollte; was die christlichen Kirchen im Umgang mit anderen religiösen Glaubensgemeinschaften besser machen können.
Lamya Kaddor und Michael Rubinstein
Es ist eine beklemmende Stimmung, die von diesem Bild ausgeht: Durch eine schmale Gasse tragen männliche Angehörige zwei getötete Kinder in ihren Leichentüchern zu Grabe. Die stummen Klageschreie der Prozession dringen dem Betrachter des Bildes lautstark ins Ohr. Die Szenerie wird durch das Blitzlicht des Fotografen unnatürlich aufgehellt. Die Aufnahme des schwedischen Fotografen Paul Hansen entstand im November 2012 in Gaza-City und wurde zum Pressefoto des Jahres gewählt. Sie zeigt palästinensische Opfer des Nahostkonflikts. Man hätte das Bild stehen lassen können, einfach wirken lassen können. Es sagt ja vor allem eines aus: Hass und Krieg führen zu unschuldigen Opfern – ob im Heiligen Land, in Tibet oder Mexiko. Doch selbst im Angesicht des Leids der Hinterbliebenen macht der ewige Kampf um Deutungshoheiten und Ideologien, machen die quälenden Fragen nach Schuld und Unschuld, Opfer und Täter nicht Halt. So las ich in der »Jüdischen Allgemeinen« nach Bekanntgabe der Entscheidung durch die niederländische Stiftung World Press Photo einen kritischen Beitrag, der dieses anrührende Bild zu relativieren suchte. Der Tenor des Beitrags lautete: Die Auswahl des Fotos sei tendenziös, folge bereits früheren ähnlichen Mustern beim Pressefoto des Jahres und intendiere letztlich nur, Israel in ein schlechtes Licht zu rücken. Das hat mich geärgert. Solange wir nicht lernen, den Schmerz des anderen wenigsten für den Augenblick anzuerkennen, den die Betrachtung eines Bildes einnimmt, ohne dem Zwang zur Relativierung anheim zu fallen, gießen wir immer neues Öl ins Feuer.
Der Nahostkonflikt ist der Hauptfaktor für die Entzweiung von Juden und Muslimen auch in Deutschland, und bewusst oder unbewusst wird daran gearbeitet, diesen Keil weiter zwischen beide Gruppen hineinzutreiben. Es sind solche Zeitungsartikel, die dafür sorgen, und es sind die Stellungnahmen von Funktionären. Hier fällt der Blick natürlich automatisch auf die wichtigste jüdische Organisation in Deutschland: den Zentralrat der Juden. Meines Erachtens ist er die höchste politische Vertretung der hier lebenden Juden und ihrer Gemeinden. Warum muss er also Stellungnahmen zur Politik Israels abgeben und dabei oft als eine Art verlängertes Sprachrohr der dortigen Regierungen auftreten? Der Zentralratspräsident Dr. Dieter Graumann schrieb erst jüngst zum 65. Unabhängigkeitstag Israels explizit in der Zeitung »Die Welt«: »Wir Juden sind hier eben nicht neutral, sondern ergreifen natürlich Partei – immer werden wir uns mit den Menschen in Israel solidarisch fühlen!«
Vor allem wegen solcher Einschätzungen fällt die Meinung vieler Muslime, die größtenteils ihre Wurzeln in dieser Region haben, über Juden in Deutschland zumindest ambivalent aus. Auf der einen Seite wird zur Kenntnis genommen, dass Juden auch eine Art Schutzfunktion für Muslime hier erfüllen. Wenn es Ausfälle gegenüber Muslimen oder anderen Minderheiten gibt, hat das Wort des Zentralrats der Juden Gewicht. Die Gesellschaft hört besser hin, wenn dessen Vertreter sich zu Wort melden, als wenn sich muslimische Funktionäre äußern. Man denke beispielsweise an die Debatte um Thilo Sarrazin 2010. Frühzeitig hatte der Zentralrat die islamfeindlichen Äußerungen des SPD-Politikers zurückgewiesen. Manche behaupten sogar, so richtig durchgefallen sei Sarrazin erst, als dieser in der Zeitung »Die Welt« von jüdischen Genen gesprochen habe. Und zum Stichwort Beschneidungsdebatte: Was wäre gewesen, wenn der beschnittene Junge in dem Kölner Urteil 2012 jüdisch gewesen wäre? Hätte es dann überhaupt ein Urteil gegeben, das religiöse Beschneidung bei Jungen kriminalisiert?
Es heißt, Juden hätten im Vergleich zu Muslimen eine wesentlich längere Tradition in Deutschland und lebten schon vor 1700 Jahren hier, als es den Islam noch nicht mal gab. Das ist unbestreitbar. Kann man daraus wirklich Privilegien für eine pluralistische Gesellschaft der Gegenwart ableiten? Und wenn ja, warum sollten Muslime dann keine Privilegien daraus ableiten dürfen, dass sie heute die größte Gruppe nach Katholiken und Protestanten – abgesehen davon, dass aus beiden Perspektiven das Christentum immer bevorzugt wäre – übrigens auch gegenüber Säkularismus und Atheismus? Das Einzige, was in einer modernen Gesellschaft staatsrechtlich zählen sollte, ist der einzelne Mensch, unabhängig von seinen individuellen Merkmalen. Wir erinnern uns, woher wir kommen, aber wir machen dies nicht zwangsläufig zur Grundlage unseres Zusammenlebens.
Lamya Kaddor
Auf der anderen Seite ist es durchaus nachvollziehbar, dass die jüdische Seite den Dialog mit den Muslimen nur mit eingeschränktem Engagement vorantreiben möchte. Dies ist teilweise der jüdischen Gesellschaftsstruktur geschuldet. Bedingt durch die starke Zuwanderung aus den ehemaligen GUS-Staaten ist eine Ausrichtung der Gemeinden nach innen erforderlich. Teilweise ist es aber auch den Strukturen der muslimischen Verbände geschuldet. Sie sind für Außenstehende nicht immer klar erkenntlich; so kann man unter anderem kaum angeben, welche und wie viele Mitglieder überhaupt von den verschiedenen Verbänden vertreten werden. Hinzu kommt die starke Ausrichtung zumeist auf die Türkei beziehungsweise der maßgebliche Einfluss des türkischen Staates. Das macht die Sache ebenfalls nicht leichter – vor allem seit die Freundschaft zwischen der Türkei und Israel in den vergangenen Jahren dramatisch abgekühlt ist.
Die jüdischen Gemeinden haben sich seit Gründung der Bundesrepublik am System des Pluralismus orientiert und ihre Verbandsstrukturen auf entsprechende Grundlagen gestellt. Ihre gewählten Vertreter waren und sind über die Jahrzehnte verlässliche Ansprechpartner für die Öffentlichkeit geworden. Von dieser gewachsenen Verlässlichkeit und dem gegenseitigen Vertrauen profitieren sie noch heute. Aus diesem Grund sind sie überwiegend Körperschaften des öffentlichen Rechts, können dadurch staatlich anerkannte Kindergärten und Schulen gründen. Jüdische Religionslehre ist staatlich anerkanntes Abiturfach in vielen Bundesländern. Dieses blinde Vertrauen besteht zur muslimischen Seite zumeist nicht – weder zwischen Juden und Muslimen, noch zwischen Behörden und Muslimen.
Es erschließt sich der jüdischen Seite in Deutschland zu Recht nicht, warum die Konflikte zwischen Israel und der Türkei oder zwischen Israel und arabischen Staaten auch hier ausgetragen werden und die Beziehungen belasten. Es ist dem Dialog alles andere als zuträglich, wenn Juden auch von muslimischer Seite immer wieder als Vertreter Israels dargestellt werden, obwohl sie deutsche Staatsbürger sind. Das gilt besonders dann, wenn solche Äußerungen von hier geborenen türkischstämmigen Muslimen kommen, die sich viel stärker mit der Türkei verbunden fühlen als mit ihrem Geburtsland. Das ist ein unauflösbarer Widerspruch in sich. Die Vermischung zwischen Religion und Nationalität verstellt den Blick auf die gemeinsamen Interessen. Die jüdische Seite möchte nicht als fremd in diesem Land dargestellt werden – insbesondere nicht von Menschen, die sich schwer tun, Deutschland als ihre Heimat anzusehen.
Es ist nicht weniger fragwürdig, dass einige der muslimischen Verbände zwar Position zur israelischen Politik beziehen, sich aber bei Vorfällen innerhalb Deutschlands nur zaghaft öffentlich auf die jüdische Seite stellen. Beide Seiten müssen Verantwortung und Solidarität für die anderen Minderheiten in Deutschland übernehmen. Stattdessen gibt es in einzelnen islamischen Verbänden offene antisemitische Einstellungen, die von anderen Verbänden bisweilen toleriert werden. Die innermuslimische Solidarität in allen Ehren – aber manchmal entpuppt sich der Freund als wahrer Feind der eigenen Interessen.
Es ist gut, wenn nicht alle Interna und Diskussionen nach außen dringen – aber ein Mehr an Transparenz, Abgrenzung und Engagement für das Zusammenleben in Deutschland als Bürger dieses Landes wäre ein großer Schritt nach vorn. Diesen Schritt ist die jüdische Gemeinschaft der muslimischen definitiv voraus – sicherlich auch, weil sie länger in diesem Land verwurzelt ist. Dies sollte aber keinen Neid hervorrufen, sondern die eigenen Bemühungen verstärken – auch im verlässlichen, kontinuierlichen Dialog miteinander, auf Augenhöhe und auf Deutschland fokussiert.
Michael Rubinstein
LAMYA KADDOR: Ja, wir haben auch Einpeitscher und Scharfmacher, die gegen Juden hetzen. Aber wichtig bei einer Diskussion, wie wir sie hier führen, ist doch, dass ich in meinem Eingangsstatement Kritik an der jüdischen Seite geübt habe. Also muss ich meine Argumente daraufhin zuspitzen, oder? Ich habe kein Handbuch oder keinen enzyklopädischen Artikel geschrieben, der ein Thema von oben bis unten, von rechts nach links aus allen Perspektiven beleuchtet. Also habe ich Kritik an einem Teil der Vertreter der jüdischen Seite geübt. Man muss Kritik auch mal stehen lassen können, wenn sie klar macht, dass man keine Propaganda betreiben will – und ich glaube, das wird deutlich. Oder vermutest du bei mir ideologische Absichten?
MICHAEL RUBINSTEIN: Nein, natürlich nicht, aber ich finde, du gehst mit dem Zentralrat etwas zu scharf ins Gericht. Und das nicht nur, weil unsere Gemeinde auch dort angeschlossen ist. Ich meine, warum sollte er sich denn nicht zur israelischen Politik äußern dürfen? Etwa weil es nicht seine originäre Aufgabe ist? Darüber kann man diskutieren. Der Zentralrat ist das oberste politische Organ der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland. Er repräsentiert uns gegenüber der Politik und der Gesellschaft. Er ist ein in erster Linie politisches Organ, und er ist unsere Dachorganisation. Er vertritt die Interessen von allen ihm angeschlossenen Verbänden und Gemeinden und damit das überwiegende Spektrum des jüdischen Lebens in Deutschland. Aber es ist nun einmal so, dass die jüdische Solidargemeinschaft auch zu internationalen Fragen Position bezieht. Ich finde allerdings, sie macht das sehr gemäßigt. Dass die Äußerungen in der Tendenz überwiegend pro Israel ausfallen, ist aus der Rolle heraus verständlich. Es ist nun mal so, dass der Staat Israel für uns jüdische Menschen weltweit eine zentrale Bedeutung hat.
LAMYA KADDOR: Auch wenn man hier in jüdischen Einrichtungen zu Gast ist, sieht man häufig Bezüge zu Israel, gerade jetzt zum 65. Unabhängigkeitstag. Das ist doch ein rein israelischer Feiertag. Warum wird er von Juden in Deutschland begangen?
MICHAEL RUBINSTEIN: Israel ist nicht nur die spirituelle Quelle des Judentums, sondern auch der einzige Zufluchtsort für Juden, sollte sich das Blatt der Geschichte wieder einmal gegen sie wenden. Man kann Israel als eine Art »Back-up« bezeichnen. Wo sollen Juden hin, wenn sie erneut verfolgt würden? Es gibt nur Israel, wo ihnen das garantiert nicht mehr passieren wird. Von daher ist es klar, dass die jüdische Vertretung auch hier Stellung bezieht und dass so viele jüdische Menschen sensibel reagieren, wenn es gegen den Staats Israel geht.
LAMYA KADDOR: Nach orthodoxem Verständnis ist die Staatsgründung Israels eigentlich ein Frevel, ein Vorgriff auf die göttliche Erlösung, weil das Reich den Schriften zufolge erst mit dem Erscheinen des Messias wiederhergestellt wird. Wie stehst du dazu?
MICHAEL RUBINSTEIN: Der Staat Israel, wie er heute ist, ist ein weltlicher Staat, mit etwas stärkeren religiösen Einschlägen als wir sie haben. Ich rede hier nicht von religiösen Motiven, sondern davon, dass wir als Menschen jüdischen Glaubens jederzeit sagen könnten: »Müssen wir heute hier weg, könnten wir morgen in Israel sein.« Darum geht es, nicht um die religiöse Bedeutung. Es ist vielmehr ein Frevel, dass sich ein Teil der ultraorthodoxen Juden mit dem Staat Israel, so wie er heute ist, so schwer tut, denn sie leben dort und genießen Vorteile, die dieser Staat ihnen bietet. Sie genießen dort Sicherheit und einen gewissen Lebensstandard. In Deutschland mag dieser »Back-up«-Gedanke im Augenblick nicht so aktuell sein, aber viele französische Juden haben in den vergangenen Jahren aufgrund des zunehmenden Antisemitismus das Land verlassen. In Marokko geschah Ähnliches. Diesen Bezug zu einem anderen Land kann man vielleicht nicht so gut nachvollziehen, wenn man in einem sicheren Staat wie Deutschland lebt oder geboren wird und selbst keiner Diskriminierung oder Verfolgung ausgesetzt ist.
LAMYA KADDOR: Doch, ich kann das nachvollziehen. Natürlich kann ich das nachvollziehen, gerade weil Muslime ebenfalls zunehmend angefeindet werden. Das habe ich nur, ehrlich gesagt, im Hinblick auf unser Thema bis jetzt noch nicht so deutlich gesehen. Ich habe nichts gegen den Zentralrat der Juden, dass wir uns da nicht missverstehen. Ich sehe nur einige Punkte, die ich kritikwürdig finde. Der Zentralrat äußert sich nicht nur zu Israel, sondern insgesamt zu vielen politischen Themen …
MICHAEL RUBINSTEIN: … und man kann sicher trefflich darüber streiten, ob er sich zu allem äußern muss. Vielleicht wäre es in der Tat klüger, hier und da anderen den Vortritt zu lassen. Aber unser Präsident Dieter Graumann betont ja auch, dass der Zentralrat selten von selbst hingeht und sagt: »Wir äußern uns jetzt.« Der Zentralrat wird in jeder Angelegenheit gefragt, gerade bei heiklen Themen. Sagen wir dann nichts, heißt es: »Warum sagt ihr nichts?« Sagen wir etwas, heißt es: »Warum sagt ihr was?« Also wir können es eigentlich niemandem recht machen. Da muss sich die Gesellschaft schon mal selbst fragen, warum in erster Linie die jüdische Gemeinschaft befragt wird. Wir reden von 250000 Juden in Deutschland, aber zu den unter dem Dach des Zentralrats zusammengeschlossenen 23 Landesverbänden und 108 jüdischen Gemeinden gehören gerade mal 105000 Mitglieder. Der Zentralrat hat vor dem Hintergrund der Geschichte für die deutsche Politik und die deutschen Medien immer noch eine besondere Bedeutung. Das wiegt übrigens die relativ kleine Anzahl der Juden in Deutschland in ihrer Bedeutung ein wenig auf. Sie stehen in gewisser Weise Pate für die große Vergangenheit der Juden hier. Wenn nicht wir, wer sonst sollte an das Gewissen der Bevölkerung appellieren, wenn sich Feindseligkeit gegen Juden oder auch andere Minderheiten mal wieder Bahn bricht? Niemand kann ernsthaft erwarten, dass wir ein weiteres Mal schweigend zuschauen oder zuhören. Allerdings verstecken sich auch viele Personen und Organisationen hinter dem Zentralrat der Juden. Sie wollen dann eine Art Persilschein von ihm, um nicht angreifbar zu sein im Hinblick auf Vorwürfe des Antisemitismus, der Verharmlosung der Geschichte oder Ähnliches. Und natürlich, wenn Zentralratsmitglieder ein knackiges Statement von sich geben, wird das medial immer gern genommen. So funktionieren die Medien.
LAMYA KADDOR: Das ist beim Zentralrat der Muslime ähnlich. Der wird auch zu allem befragt, dabei ist er der kleinste der vier großen islamischen Verbände. An seiner Spitze stehen seit längerem rhetorisch begabte Personen, während man beispielsweise an der Spitze der anderen großen Islamverbände des Öfteren Funktionäre findet, die nur gebrochen Deutsch sprechen. Das ändert sich aber langsam, weil zunehmend Personen aufrücken, die in Deutschland aufgewachsen sind.
MICHAEL RUBINSTEIN: »Zentralrat« der Juden - »Zentralrat« der Muslime, die Ähnlichkeit ist kein Zufall.
LAMYA KADDOR: Es ist reines Kalkül in der Hoffnung, dieselbe Bedeutung zu erlangen wie der Zentralrat der Juden.
MICHAEL RUBINSTEIN: Ist das nicht irgendwo unredlich?
LAMYA KADDOR: Bestimmt. Aber es ist vor allem ein PR-Gag, und in Politik und Medien geht das offenbar vollständig auf.
MICHAEL RUBINSTEIN: Es ist nach wie vor bei islamischen Vereinen schwierig zu durchschauen, wer dahinter steckt, wer sie finanziert oder welche Ziele sie verfolgen.
LAMYA KADDOR: Wie du in deinem Statement selbst andeutest, stehen mitunter Leute dahinter, die in Deutschland ein Problem darstellen: Einige sind vielleicht reiche Funktionäre, die Schwierigkeiten mit dem Verfassungsschutz oder anderen Sicherheitsbehörden haben. Andere lassen sich vom Ausland finanzieren und versuchen deren Agenda umzusetzen. Wenn Saudi-Arabien irgendwo Geld investiert, wird der Islam in der Regel fundamentalistisch. Das kommt in der deutschen Öffentlichkeit nicht gut an, und deshalb versucht man es zu kaschieren. In Deutschland spenden nicht alle Muslime, um die Verbände zu finanzieren. Hiesige Muslime sind teilweise nicht sonderlich finanzstark, auch Großspenden sind eher selten. Allerdings muss man betonen, dass nicht alle Vereine über einen Kamm geschoren oder dämonisiert werden dürfen.
MICHAEL RUBINSTEIN: Für uns ist das trotzdem ein Problem. Immer muss hinterfragt werden, mit wem man sich an einen Tisch setzt. Ich spreche gern mit allen, aber es gibt Organisationen wie Milli Görüs; mit denen würden wir uns als Jüdische Gemeinde nicht offiziell zusammensetzen – zumindest solange sie im Verfassungsschutzbericht stehen und immer wieder wegen antisemitischer Propaganda auffallen, weil Mitglieder beispielsweise das Verschwörungspamphlet »Die Protokolle der Weisen von Zion« bei Veranstaltungen verteilen. Es ist schade, dass man immer nach den Hintergründen einer Organisation fragen muss. Es nimmt einem die Unbefangenheit. Man muss sich halt meistens an die großen, bekannten Verbände halten.
LAMYA KADDOR: Und das kann ich als Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes natürlich nicht unterstützen!
MICHAEL RUBINSTEIN: Warum vergleichen sich Muslime eigentlich so oft mit Juden?
LAMYA KADDOR: Weil sie glauben, dass sie in einer ähnlichen Minderheitenposition leben. Nach dem Motto: So wie die Juden damals als Minderheit diskriminiert worden sind, werden wir heute diskriminiert – zwar nicht in der Härte, Gott sei Dank, und auch nicht in der vollen Auswirkung, aber zumindest mit vergleichbaren Feindseligkeiten. Der frühe Antisemitismus der politischen Moderne, denk an den Historiker Heinrich von Treitschke, wird ja gern mit der heutigen Islamfeindlichkeit verglichen.
Ganz unproblematisch ist so ein Vergleich sicher nicht. Man muss auf jeden Fall die historische Verankerung, die Ausmaße und Konsequenzen trennen. Da hat der Antisemitismus ein Alleinstellungsmerkmal. Wenn man sich aber auf einzelne Methoden konzentriert, glaube ich, kann man schon sagen, dass es erschreckende Parallelen gibt: Früher wälzte man die Heiligen Texte der Juden und riss einzelne Passagen aus dem Kontext, um daraus Vorwürfe zu stricken, heute durchsucht man dazu Koran und Sunna. Dass Muslime immer auf Juden schauen, ist aber auch nicht gänzlich überraschend. Ihre Religionen sind ähnlich, sie sind die auffälligsten religiösen Minderheiten in Deutschland, und wenn man bedrängt wird, wird man vielleicht automatisch verführt, gleich an das extremste Ereignis in diesem Zusammenhang zu denken – und das ist nun mal der jahrhundertelange Feldzug gegen die Juden. Auch wenn der Vergleich hinkt, sollte man die Sorgen dahinter nicht einfach auf die leichte Schulter nehmen.
MICHAEL RUBINSTEIN: Das sehen wir im Grunde genauso, und deshalb äußern sich jüdische Vertreter auch in diese Richtung, wenn es nicht explizit gegen Juden geht. Letztlich haben wir viele Dinge gemeinsam, wo wir als jüdische Seite mit unseren Erfahrungen weiterhelfen könnten. Aber dazu müsste die andere Seite auch einen Schritt auf uns zu gehen, einen Vertrauensvorschuss geben und die alte Feindschaft in den Köpfen ausschalten. Du hast die Beschneidungsdebatte in deinem Textabschnitt angesprochen. Ich denke auch: Wenn Christen beschneiden würden, wäre das Ganze nie ein Thema geworden, wenn nur Muslime beschneiden würden, wäre Beschneidung längst verboten, weil es aber auch die Juden in Deutschland betrifft, haben wir in nur wenigen Monaten den gesetzlichen Segen bekommen. Das ist zugegeben eine vereinfachte Darstellung, aber klar ist, ohne uns wäre die Sache anders verlaufen. Von daher hatte die muslimische Seite hier durchaus auch Glück.
LAMYA KADDOR: Es wird immer gesagt: »Seht ihr, nur weil es die Juden gibt, trauen die sich nicht, die Beschneidung zu verbieten.« Ich sage dann immer: »Ja, dann seid doch froh, dass es die Juden gibt.« Warum suchen Muslime nicht den Schulterschluss mit den Juden?, könnte man fragen. Weil Judentum und Islam zwei unterschiedliche Konglomerate sind: 15 Millionen Juden stehen 1,5 Milliarden Muslimen weltweit gegenüber. Allein diese Diskrepanz in der Größe sorgt schon für ein unterschiedliches Selbstverständnis, ohne die Frage zu berücksichtigen, wer heute »erfolgreicher« ist. Zudem muss man sich intellektuell und vermutlich auch kulturell auf Augenhöhe begegnen, wenn man sich verbünden will. Diese Grundvoraussetzungen sind in Deutschland oft nicht gegeben. Außerdem herrscht noch zu viel gegenseitiges Misstrauen unter den einzelnen Mitgliedern von islamischen und jüdischen Organisationen, weswegen die Verantwortlichen solche Kooperationen noch nicht wagen. Das gilt übrigens ausdrücklich nicht nur für ungebildete Schichten. Als ich im Rahmen meiner Lehraufträge jüngst mit Universitäts-Studenten eine Synagoge besuchte, betraten zwei der muslimischen Teilnehmer zwar das Gemeindehaus, aber sie weigerten sich, in den Betsaal zu gehen. Sie blieben während der Ausführungen des Rabbi sage und schreibe zwei Stunden vor der Tür stehen. Als ich sie später fragte, warum sie nicht mitgekommen seien, erklärten sie mir, sie wollten die Kippa nicht tragen und sie fühlten sich in dem Betraum unwohl. Außerdem zeigten sie sich überzeugt, dass der Prophet Muhammad heute genauso wie sie gehandelt hätte. Dieses Misstrauen ist schon erstaunlich, auch wenn ich mir sicher bin, dass es das ausdrücklich auf beiden Seiten gibt – nicht nur unter Muslimen.
MICHAEL RUBINSTEIN: Definitiv gibt es auch unter Juden Vorbehalte gegenüber Muslimen. Wir sind zwar von der Religion her sehr nah beieinander, aber im Alltag sind wir uns fremd. Man hat die Schere im Kopf, weiß einfach zu wenig voneinander, kennt sich nicht, redet nicht miteinander. Mit unseren Beiträgen versuchen wir ja, das gerade zu ändern.
Erklär mir bitte mal die Popularität von Verschwörungstheorien, wonach eigentlich immer Juden die Hand im Spiel haben und an allem schuldig sind. Selbst der 11. September soll ja nach Meinung einiger mit Billigung der Juden geschehen sein. Warum sind diese Gedankengänge unter Muslimen so verbreitet?
LAMYA KADDOR: Ich glaube, das ist zum Teil der Neid auf diese Bevölkerungsgruppe. Sicherlich ist man nicht neidisch darauf, dass 6 Millionen Juden in Europa umgebracht wurden, aber man ist schon neidisch darauf, dass der Zusammenhalt unter den Juden so stark ist und dass eine weltweite Vernetzung gibt. Zudem finden sich unter Anhängern des Judentums viele gebildete Köpfe, die in bestimmten Forschungs- und Industriebereichen ebenso wie in Politik und Wirtschaft durchaus führend sind. Das wird von vielen Muslimen so verabsolutiert, dass man direkt Verschwörungstheorien wittert, zumal Juden außerhalb Israels vor allem in den USA leben und sowohl Israel als auch die USA bekanntlich für viele islamistische Einpeitscher der große Satan sind. Beide Staaten werden in erster Linie dafür verantwortlich gemacht, dass es mit den eigenen Ländern nicht vorangeht. Das ist in der Tat alles schon ziemlich paradox: Einerseits sind Muslime neidisch auf die Juden, andererseits sind sie skeptisch oder hegen Groll. Dennoch würde ich, was die Verschwörungstheorien gegen Juden betrifft, die These in den Raum stellen, dass sie außerhalb der muslimischen Welt ebenfalls Konjunktur haben.
Es gibt eine breite antisemitische Propaganda unter Muslimen – und dagegen wird innerhalb der Community weder energisch vorgegangen, noch distanziert man sich deutlich davon. Ich würde sagen, Pauschalurteile über Juden, also klassische Stammtischparolen sind gerade auch unter jungen Menschen verbreitet. Muslimischer Antisemitismus ist also ein wichtiges Thema, aber es wird gerade in Deutschland auch stark instrumentalisiert. Darauf kommen wir sicher noch ausführlicher zu sprechen.
MICHAEL RUBINSTEIN: Gut, was ich mich auch des Öfteren frage: Warum haben Muslime keine Lust, sich ernsthaft mit dem Thema Holocaust zu beschäftigen?
LAMYA KADDOR: Ist das deine Beobachtung? Ich finde, das kann man so nicht sagen. Wieso haben Muslime denn keine Lust dazu? Ich habe eher den Eindruck, dass viele allenfalls die Ausmaße unterschätzen.
MICHAEL RUBINSTEIN: Gibt es denn so viele Angebote seitens deutscher islamischer Organisationen, die Info-Veranstaltungen oder Fahrten etwa nach Auschwitz anbieten?
Muslime leben schließlich in Deutschland, sehen viele Überschneidungspunkte mit Juden. Natürlich ist die Schoah kein muslimisches Thema, aber im Hinblick auf die Prävention von Antisemitismus finde ich die Auseinandersetzung damit jetzt nicht so weit hergeholt.
LAMYA KADDOR: Und deshalb sollen islamische Verbände Fahrten nach Auschwitz organisieren?
Also das halte ich für überzogen. Ich nehme die Islamverbände ja ungern in Schutz, aber in diesem Fall muss ich es tun, denn es geht dort ja schon um die Pflege der Religion des Islam. Das sollten schon eher jüdische Organisationen für Muslime anbieten.
Abgesehen davon gibt es durchaus solche Initiativen, bei denen sich beispielsweise Imame um solche Reisen bemühen oder andere Angebote suchen, um gerade junge Muslime an das Thema heranzuführen. Sicher, es mögen nicht viele sein, aber ehrlich, ich kenne auch nicht besonders viele Nichtmuslime, die schon mal an einem Ort der Judenvernichtung waren.
MICHAEL RUBINSTEIN: Glaubst du, dass Juden in Deutschland ihre Geschichte gezielt ausnutzen, um Druck für ihre Belange zu machen?
LAMYA KADDOR: Ja, glaube ich. Genauso glaube ich, dass es Juden gibt, die sagen: »Wir dürfen uns nicht ausschließlich über die Opferrolle identifizieren lassen. Judentum bedeutet nicht nur Holocaust.« Es gibt immer Menschen, die Traumata für sich so ausschlachten, dass sie persönliche Gewinne dadurch erzielen. Warum sollte das für die Judenverfolgung nicht gelten? Siehst du das anders?
MICHAEL RUBINSTEIN: Es gibt sicherlich an der einen oder anderen Stelle so eine Art »Kätzchen-Bonus«, und manche versuchen, diesen zu nutzen. Ich will nicht abstreiten, dass einige die Vergangenheit argumentativ instrumentalisieren. Wenn Juden früher nicht zur Bundeswehr wollten mit Hinweis auf den Holocaust, kann ich das nachvollziehen. Die Vorstellung, bei der Bundeswehr an einen Offizier zu geraten, der vielleicht schon in der Wehrmacht Dienst geleistet hat, und womöglich an der Judenvernichtung beteiligt war, ist schon unerträglich. Aber wenn in der jüngeren Vergangenheit jemand zu uns kam, um von unserer Gemeinde immer noch mit Hinweis auf den Holocaust eine Bescheinigung zur Entbindung von der Wehrpflicht zu erhalten, tat ich mich schon schwer damit. Erstens gab es den Zivildienst und zweitens, wenn wir Juden die gleichen Rechte wollen, müssen wir auch die gleichen Pflichten akzeptieren. So verstehe ich Gleichberechtigung. Auch wenn mir solche Versuche persönlich nicht gefallen, kann ich sie menschlich nachvollziehen. Es ist ein schmaler Grat zwischen dem Einfordern »besonderer« Rechte und dem Wunsch, nicht immer nur als Jude wahrgenommen zu werden. Manchmal ist das Einfordern richtig und wichtig, manchmal aber auch kontraproduktiv. Da bedarf es großen Fingerspitzengefühls – nach innen wie nach außen.
LAMYA KADDOR: Also wenn ich richtig verstehe, ist es für dich durchaus legitim, dass jüdische Lobby-Gruppen die beinahe 2000-jährige leidvolle Geschichte in Europa für Ziele im Hier und Jetzt für sich einsetzen?
MICHAEL RUBINSTEIN: Es kommt immer darauf an, was man damit erreichen möchte, zum reinen Selbstzweck sind solche Hinweise illegitim. Aber vor der Zuwanderungswelle Ende der 1980er-Jahre gab es noch 30000 Juden in Deutschland. Es gibt Berechnungen, die besagen, wir wären heute nur noch 5000. Dass man vor diesem Hintergrund auf die Geschichte verweist, um Juden ein vereinfachtes Einreiseverfahren zu ermöglichen, um jüdisches Leben in Deutschland lebendig zu erhalten, halte ich wiederum für legitim.
LAMYA KADDOR: Es gibt den Vorwurf, Juden und Israelis würden immer in einen Topf gesteckt. Und du hast anfangs erklärt, dass Israel für viele Juden ein »Back-up« ist. Die jüdische Theologie lässt sich zwar von Israel weitgehend trennen, aber von den Gläubigen dann doch nicht ganz so einfach. Ist es da nicht unheimlich schwierig, Israels Politik zu kritisieren?
MICHAEL RUBINSTEIN: Gut, dass du schon mal nicht fragst, ob man »Israel« überhaupt kritisieren darf. Das ist nämlich der klassische Stereotyp. Natürlich ist es möglich, man muss sich in der Tat mehr Mühe geben und besser darauf achten, keine Verallgemeinerungen zu benutzen, als bei der Kritik an deutschen Parteien. Das ist wie mit der Islamkritik. Du achtest ebenfalls darauf, dass nicht von »dem« Islam und »den« Muslimen gesprochen wird.
Und es ist leider so, dass die Kritik an Israels Regierung häufig pauschalisiert und auf alle Bürger des Landes oder gleich auf alle Juden übertragen wird. Wenn ich deutsche Parteien kritisiere, käme niemand auf die Idee, diese Kritik auf alle Deutschen zu beziehen. Weder die israelische Politik ist einheitlich, noch denkt jeder Israeli gleich. Die schärfsten Israelkritiker sind oftmals selbst Israelis oder Juden.
LAMYA KADDOR: