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Lamya Kaddor gibt liberalen Muslimen in Deutschland eine Stimme. Doch wer ist eigentlich der Mensch hinter der bekannten Islamwissenschaftlerin? Was war für sie prägend, als sie als Kind syrischer Einwanderer in Deutschland aufwuchs? Warum waren Pippi Langstrumpf und Michael Jordan ihre großen Vorbilder? Und was passierte, als sie zum ersten Mal von einem Jungen geküsst wurde? In ihrem neuen Buch erzählt Lamya Kaddor sehr persönlich und humorvoll, was an den Klischees über muslimisches Leben in Deutschland dran ist, was passiert, wenn man als muslimisches Kind auf dem Grillfest im Kindergarten aus Versehen eine Bratwurst verspeist und wie sie in Frau Hermann aus der Nachbarschaft eine deutsche Oma fand. Ein überraschender Einblick in das private Leben der »Muslimin aus dem Fernsehen«.
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ISBN 978-3-492-99048-6© Piper Verlag GmbH, München 2018Covergestaltung: FAVORITBUERO, MünchenCovermotiv: Dominik AsbachDatenkonvertierung: psb, BerlinSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
Vorwort
Prolog – Der Apfeltraum meiner Mutter
Bye-bye, geliebte Heimat
Eine Reise ins Ungewisse
Ahlen – nicht Aalen!
Arabische Wurzeln und deutsche Flügel
Irrungen und Wirrungen im deutschen Schulsystem
Wie schreibt man eigentlich Integration?
Die Sache mit Gott
Teile, was du hast – Urgroßmutter Fattoums Vermächtnis
Lamya Langstrumpf
Wo wohnt Gott?
Jenseits oder Diesseits?
Der Familienmufti
Heute im Programm: Beten
Ramadan – Das erste Mal fasten
Das Hundetrauma
Schwein gehabt – oder eben nicht
Die Sache mit der Bratwurst
Küssen muss gelernt sein
Mein Syrien
Ärger im Paradies
Tétéh und Dschiddo
Es bleiben nur Erinnerungen
Das Geisterhaus
Das satanische Prinzip
Der ockerfarbene Shaykh und ein mysteriöser Fluch
Das verbotene Buch
Krieg
Syrische Community in Deutschland
Bindestrich-Identität
2 mal 3 macht 4
Zwischen Basketball und Lahmacun
Gefühlschaos eines Teenagers
Es gibt keine Zufälle
Die 60-Stunden-Woche
Sagen Sie mal »Hammamdschi«
Islam, Islam, Islam
Beruf oder Berufung?
#NichtMitUns
Stolpersteine – Warum das Judentum Teil meines Lebens ist
Zu Gast beim »Feind«
Shabbat Schalom – Jüdischer Kindergarten
Warum Jesus mein ständiger Begleiter war
Der Islam und die Frauen – eine Geschichte voller Widersprüche
Wo ist Mr. Right?
Gott ist nicht mehr der Größte?
Das Stück Stoff
Macht und Herrschaft
Dank
Die Freiheit nutzt sich ab, wenn du sie nicht nutzt!
REINHARD MEY** »Was ich noch zu sagen hätte« von Reinhard Mey und Bernd Schroeder © 2005, Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Köln
Vor acht Jahren wurde ich gebeten, ein Buch über muslimisches Leben in Deutschland zu schreiben. Ich arbeitete an der Universität Münster, sollte Lehrer für islamischen Religionsunterricht in deutscher Sprache ausbilden. Zudem unterrichtete ich selbst Islamkunde in deutscher Sprache. Ich hatte bereits 2008 den deutschlandweit ersten Koran für Kinder und Erwachsene gemeinsam mit Rabeya Müller ins Deutsche übersetzt und kommentiert. Mir war es ein großes Anliegen, bestimmte Themen wie islamische Religionspädagogik, muslimische Jugendliche, Identitätsfragen, Integrationspolitik, Radikalisierung und Grundzüge eines liberalen Islam vorzustellen und zu diskutieren. Viele dieser Themen waren den meisten Menschen in unserem Land fremd. Ich war in gewisser Hinsicht eine Art Pionierin, die über diese Fragen im Kontext des Islam in Deutschland aufklären wollte, daher freute ich mich über die Anfrage.
Doch je mehr ich »aufklärte«, desto bekannter wurde ich. Je bekannter ich wurde, desto mehr Aufmerksamkeit aus allen möglichen Lagern bekam ich. Wenn ich »pro-islamisch« in Sachthemen argumentierte, wurde mir von Islamgegnern vorgeworfen, ich sei in Wirklichkeit eine Schläferin. Wenn ich »liberal-islamisch« argumentierte, wurde mir von konservativen beziehungsweise orthodoxen Muslimen vorgeworfen, ich sei gar keine richtige Muslimin. Für die einen bin ich zu viel muslimisch, für die anderen zu wenig. Aber ich fühle mich »dazwischen« ganz gut und sehe keine Veranlassung, an meiner Haltung und meinem Anliegen etwas zu ändern, obwohl auch ich Ausgrenzungserfahrungen in meinem Leben machen musste. »Anderssein« war lange Zeit Teil meiner Identität. Aber diese Erfahrungen waren notwendig, um meinen Standort im Leben zu finden. Denn je mehr ich angegriffen und bedroht wurde, desto mehr reflektierte ich über Sinn und Bedeutung meines eigenen Ichs. Die Zuschreibungen, die man für mich fand und immer noch findet, weil Frauen wie ich manchen suspekt sind, begleiten mich inzwischen fast vierzig Jahre lang.
Ich weiß heute mehr denn je, wie ich mich verstehe: Ich bin Deutsche mit syrischen Wurzeln und muslimischen Glaubens – im Einzelnen bedeutet das für mich, Mutter und Wissenschaftlerin, Frau und selbstbestimmt, liberal und gläubig, frei und denkend, humorvoll und menschlich zu sein. Vielen passt das nicht. Selbstverständlich setzen mir Morddrohungen und Belästigungen zu, denen ich regelmäßig ausgesetzt bin, aber Aufgeben ist nicht mein Weg.
Häufig werde ich gefragt, wie ich persönlich damit umgehe und warum ich weitermache. Es wird mir bescheinigt, eine »Muster-Migrantin«, eine »Vorzeige-Muslima« und ein »Energiebündel« zu sein. Da ich mit diesen »Komplimenten« nicht immer d’accord gehe, weil sie nicht unbedingt schmeichelhaft sind, war es mir nun ein Anliegen, Sie, verehrte Leser, mit in »meine Welt« zu nehmen und bestimmte Erfahrungen mit Ihnen zu teilen. An meinem Humor werden Sie dabei allerdings nicht vorbeikommen.
Ja, ich bin eine Idealistin, hoffnungslos, aber durchaus hartnäckig. Ich kann mit Schwarz-Weiß wenig anfangen. Bereits als Kind hatte ich Probleme damit. Und seitdem ist es mir ein unbeschreiblich großes Anliegen, zu vermitteln. Und dies in alle möglichen Richtungen.
In diesem Sinne wünsche ich eine spannende und erkenntnisreiche Lektüre.
Die meisten Namen in diesem Buch sind verfremdet. Ich habe mich dazu entschieden, weil ich niemanden gefährden möchte. Wegen meiner Arbeit habe ich mit verschiedenen Extremisten, mit Verleumdungskampagnen und Diffamierungen zu tun. Mehrfach haben mir Familienangehörige und Freunde durch die Blume zu verstehen gegeben, dass sie Angst davor haben, in etwas hineingezogen zu werden. Aus Respekt und aus Eigenschutz belasse ich sie daher in der Anonymität.
Duisburg im März 2018
»Vor vierzig Jahren hatte ich einen Traum. Ich sah eine riesige Baumkrone mit lauter roten Äpfeln vor mir. Eine Stimme sagte, ich dürfe den schönsten unter ihnen pflücken. Also kletterte ich auf diesen Baum und suchte nach dem schönsten Apfel. Aber kaum bekam ich einen zu fassen, bemerkte ich, dass er eingedrückt oder wurmstichig war. So brachte ich eine lange Zeit zu und suchte nach dem perfekten Stück. Verzweiflung überkam mich. An jedem Apfel fand ich etwas, das mich störte. Aber nach einer Weile entschied ich mich doch. Und ich pflückte den schönsten Apfel, trotz seiner Makel.«
Meine Mutter erzählte mir von diesem Traum am Telefon, sie klang sehr ruhig dabei. Obwohl es schon so lang her ist, kann sie sich gut an ihn erinnern. Das ist für sie nicht ungewöhnlich. Araber haben es mit Träumen. Für sie war an diesem Tag der Zeitpunkt gekommen, mir von diesem Traum zu erzählen, denn sie konnte ihn nun deuten. Sie war sich ganz sicher, dieses Traumbild sollte etwas mit mir zu tun haben. Es galt ihr als eine Prophezeiung für mein Leben.
Das Deuten und Interpretieren von Träumen spielt in der arabischen Kultur eine besondere Rolle. Meine Eltern besitzen ein arabisches Buch eigens über das Traumdeuten. Und es kam nicht selten vor, dass ich in jungen Jahren einen von beiden mit diesem Buch in den Händen antraf.
Heute ist uns die Kunst des Traumdeutens weitgehend abhandengekommen. Sie scheint unserer aufgeklärten Welt zum Opfer gefallen zu sein, ist unter die Räder von Wissenschaft und Rationalität geraten. Dabei ist die Kunst der Traumdeutung vermutlich schon so alt wie der Homo sapiens selbst. In der Antike galt sie den Menschen als eine Gabe, die dem Deuter zu Ruhm und Ehre gereichen konnte. Denken wir beispielsweise an Josef, den Propheten. Die biblische Gestalt, die in Ägypten, einem für ihn fremden Land, vom Sklaven zum Berater des Pharao aufstieg, indem er ihn und sein Volk vor dem Hungertod bewahrte – das alles ausgelöst durch die Deutung von Träumen.
Meine Mutter rief mich an einem Sonntag an. Wir reden oft zu dieser Zeit miteinander. Wir sprechen über Gott und die Welt – und das immer in der gleichen Reihenfolge: über ihre Gesundheit, über meine Kinder, unsere Verwandtschaft in Syrien, über Freunde und Bekannte in Deutschland, die Politik im Land und die Politik in Syrien, über meine Arbeit und über den Tod. Ja, Sie haben richtig gelesen. Wir sprechen regelmäßig über den Tod. Als wir uns an jenem Tag wieder einmal darüber austauschten, dass der Tod uns eines Tages ereilen würde, fiel ihr jener Traum ein, den sie vor rund vierzig Jahren geträumt hatte. Sie erzählte von dem Baum und der Stimme, die ihr den schönsten Apfel vom Baum gewährte. Als sie ihre Erzählung mit dem Ergebnis beendete, sie hätte sich den schönsten Apfel vom Baum gepflückt, fragte ich sie natürlich, wie sie dies alles deute. Sie antwortete trocken und selbstbewusst: »Nun, du bist dieser Apfel. Ich habe den Traum kurz vor deiner Geburt gehabt.«
Nun kenne ich viele Geschichten, darunter die aus Tausendundeiner Nacht. Aber wenn einem die eigene Mutter eine solche Geschichte erzählt, ist das etwas ganz besonders Schönes. Für meine Mutter mit ihrer eher nüchternen Art war das nichts Aufsehenerregendes, aber mir legte sie damit Wärme ums Herz und spendete mir neue Kraft für das, was da täglich auf mich zukommen sollte in meiner Rolle als Islamwissenschaftlerin, als Vorhut der islamischen Religionspädagogik und des liberalen Islam, als Publizistin, als Lehrerin, als Kind syrischer Eltern, als Muslimin, als Deutsche, als Frau. Fortwährend muss ich meine Kämpfe gegen muslimische Funktionäre, konservative Gläubige, gegen Fundamentalisten und Islamisten auf der einen Seite, sowie gegen Rassisten, Völkische, gegen Islamfeinde, Religionshasser und sonstige Chauvinisten auf der anderen Seite ausfechten. Und das als Frau in durchweg männerdominierten Kreisen zu einer Zeit, in der Social Media über uns hereingebrochen ist. Aber ich bin nun einmal eine sture und unverbesserliche Verfechterin der Maxime: Leben und leben lassen.
Mein Vater kam 1975 aus Damaskus nach München. Erst im Jahr darauf holte er meine Mutter und meine beiden Geschwister, meine ältere Schwester und meinen älteren Bruder, nach. Wie üblich unter Minderheiten, hielten sich bereits einige wenige entferntere Verwandte und Bekannte in Ahlen auf. Also hatte mein Vater beschlossen, das Wagnis Deutschland ebenfalls dort zu beginnen. Da war es also: dieses historisch und wirtschaftlich so bedeutende Land mitten in Europa, von dem sie bis dato immer nur gehört hatten. In Deutschland werden Arbeitskräfte gesucht! In Deutschland läuft alles geregelt ab! In Deutschland sind die Menschen korrekt! Es war nicht die Hoffnung auf eine Zukunft, die meinen Vater angelockt hatte. Wie schon die »Gastarbeiter« vor ihm, war er nicht mit dem Ziel gekommen, in Deutschland sesshaft zu werden. Er wollte »nur etwas Geld verdienen« und dann wieder zurück nach Syrien. Heimat und Familie dauerhaft verlassen? Das kam für ihn nicht infrage. So dachten zunächst alle »Gastarbeiter«. G-a-s-t-a-r-b-e-i-t-e-r – dieses Wort ist so unpassend wie vergiftet. Mag die Wortwahl ursprünglich treffend und neutral gedacht gewesen sein, der Realität hielt sie schon nach Kurzem nicht mehr stand. Wer aus einem Land mit schlechteren Lebensumständen in ein Land mit besseren geht, und sei es auch »nur«, um zu arbeiten, wird bereits nach kurzer Zeit automatisch an das Land gebunden. Die Einsamkeit schreit nach Familiennachzug oder Familiengründung, es folgt Nachwuchs, und mit ihm festigt sich die Verwurzelung in der Fremde. Die Kinder gehen in den Kindergarten, in die Schule und mit einem Mal haben sie eine neue Heimat. Bis heute aber pflanzt das Wort »Gastarbeiter« Menschen in Deutschland die Vorstellung in die Köpfe, dass die, die da einst zu uns gekommen sind, Gäste sind – und Gäste verhalten sich wie? Sie sind zurückhaltend, und nach einer Weile gehen sie wieder, bleiben sie zu lange; werden sie zum Ärgernis.
Bei den »Gastarbeitern« trug der Begriff dazu bei, allzu lang ihren Selbstbetrug aufrechtzuerhalten. Über Jahrzehnte verharrten sie in dem Glauben: Eines Tages kehren wir wieder zurück in die »Heimat«. Wunderbar selbstironisch und ihrer Zeit voraus, haben sich in den 1990er-Jahren die Rapper um den Ruhrgebiets-Musiker Gandhi Chahine treffend »Sons of Gastarbeita« genannt.
Nachdem sich mein Vater eingelebt hatte, beschloss er, nun sei die Zeit gekommen, um seine Familie nachzuholen. Meine Mutter landete am Vormittag des 29. Dezember 1976 mit ihren beiden Kindern auf dem Flughafen München-Riem und betrat erstmals deutschen Boden. Bei der Ankunft stach ihr so viel Fremdes ins Auge: zum Beispiel der Schnee. Natürlich hatte meine Mutter schon Schnee gesehen, in Nordsyrien wird es im Winter kalt, und selbst in Damaskus rieselt mitunter die weiße Pracht vom Himmel, aber eine solche Menge wie in München war auch für sie neu. »Meterhoch lag der Schnee«, erzählt sie noch heute. Draußen vor dem Terminal sah sie Pärchen, die sich in aller Öffentlichkeit küssten. Das gab es in Syrien so kaum, schon gar nicht in den traditionellen ländlichen Regionen, aus denen sie stammte. Meine Eltern wuchsen in einem typisch syrischen Dorf auf, mit patriarchaler Gesellschaftsstruktur und alten Traditionen. In ihrer Kindheit gab es weder fließendes Wasser noch Strom aus der Steckdose. Syrien und die Landbevölkerung waren arm. Als Frau in so einer Gesellschaft aufzuwachsen gestaltete sich für meine Mutter damals nicht einfach. Sie war die jüngste von vier Geschwistern und als Einzige noch nicht verheiratet. Zudem hatten die vier ein Dutzend jüngerer Halbgeschwister, die ihr Vater mit einer Zweitfrau gezeugt hatte. Für die Kleinen war sie die große Schwester. Mama lebte mit ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrer verwitweten Großmutter väterlicherseits zusammen in einem Haus. Ihre älteren Geschwister waren bereits flügge. Direkt nebenan wohnte die Zweitfrau ihres Vaters mit deren Kindern.
Zwar erlebten meine Eltern, wie sich das Land technisch langsam modernisierte – in den Siebzigerjahren gab es bereits fließendes Wasser und Stromleitungen auf dem Land –, allerdings versorgten diese die Bevölkerung nur für eine begrenzte Zeit am Tag. Dieser »luxuriöse« Zustand sollte noch bis in die späten Neunzigerjahre hinein andauern. Selbst in Aleppo wurden bis zur Jahrtausendwende Strom und Wasser zu bestimmten Tageszeiten noch abgestellt. Hier in Deutschland war man in gewisser Weise in allen Bereichen weiter. Meine Eltern müssen sich wie in einer Zeitkapsel vorgekommen sein. Ihre Einwanderung bedeutete einen Zeitsprung von vielleicht fünfzig Jahren. Der Fortschritt und der Wohlstand in diesem Land begeisterte sie, aber beides machte ihnen auch Angst.
Meinen Vater interessierten die küssenden Pärchen vor dem Flughafen nur wenig, er kannte das schon. Seine Aufmerksamkeit galt den Maschinentypen, die auf dem Rollfeld standen; er war beim syrischen Militär zum Flugzeugtechniker ausgebildet worden. Das machte ihn theoretisch wie praktisch fit für den Umgang mit allerlei Motoren und Maschinen. Seine Ausbildung hatte ihm nicht nur handwerkliches Geschick vermittelt, sondern auch Kreativität, Improvisationsfähigkeit und Einfallsreichtum, denn Ersatzteile ließen sich nicht so ohne Weiteres bestellen wie in anderen Ländern. Sie mussten vielmehr selbst gebastelt oder überbrückt werden. In dieser Hinsicht kam der Mangel in Syrien meinem Vater für seine Jobsuche in Deutschland zugute. Als versierter Mechaniker fand er leicht einen Arbeitsplatz in einer Autowerkstatt.
Für meine Eltern gab es viel zu entdecken in diesem Deutschland. Die Neuankömmlinge mussten lernen, sich zurechtzufinden. Das galt zunächst einmal für die Behördengänge. Hierzulande schimpft man oft über die Bürokratie, aber in vielen Ländern wiehert der Amtsschimmel noch um einiges lauter. Von einem Schalter zum anderen geschickt zu werden und wieder zurück über den Umweg diverser anderer Büros, das ist auch in Syrien so. Nur kommen dort oft noch Korruption, Schikane und Willkür hinzu. So erlebten meine Eltern Deutschland in dieser Hinsicht als wahre Wohltat – mal abgesehen von den sprachlichen Hürden. Es wirkte fast surreal auf sie: so viel Ruhe und Ordnung, Verbindlichkeit und verlässliche Informationen im Vergleich zu Syrien.
Wenn heute Menschen eine Reise in ein fernes Land tun, studieren sie Ratgeber mit so treffenden Titeln wie »Kulturschock« oder »Kauderwelsch«. Kurz: Sie bereiten sich auf die Fremde vor, erwarten Exotisches und Ungewöhnliches. Meine Eltern waren keine geübten Reisenden. Im Gegenteil. Das Abenteuer ihres Lebens begann für Mama in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Ihr Bruder begleitete sie zum Flughafen. Der Gang zum Check-in fiel ihr schwer, ihre Beine fühlten sich an, als wären die Knochen aus Blei. Sie war neunundzwanzig Jahre alt und hatte zwei Kinder im Alter von vier und fünf Jahren bei sich. Sie hatte Syrien nie zuvor verlassen und sie stand vor ihrem ersten Flug überhaupt – und das ohne Rückreiseticket. Sie sprach weder Deutsch noch Englisch. Nur Arabisch. Mein Onkel machte sich Sorgen. Er bat einen Mitreisenden, einen Blick auf seine Schwester und deren Kinder zu werfen und ihr gegebenenfalls zu helfen. Die Abschiedsumarmung fiel lang und intensiv aus. Man weinte. Die beiden Kinder waren mucksmäuschenstill, schauten meist verlegen auf den Boden und immer nur für einen kurzen Moment blickten sie zu ihrer Mutter hoch. Der Kummer lag schwer auf ihren kleinen Seelen, denn sie wussten kaum, wie sie ihn zu deuten hatten. Mama bemerkte es und fing sich wieder. Sie musste jetzt stark sein. Aufgewühlt und in Sorge um die Kinder stieg sie mit einem starken Gefühl der Ungewissheit ins Flugzeug. Was würde das Leben noch für sie bereithalten?
Die drei nahmen ihre Sitzplätze ein und langsam fieberten sie dem Wiedersehen mit ihrem Ehemann beziehungsweise ihrem Vater entgegen. Mitten in die Vorfreude hinein platzte eine Durchsage aus dem Cockpit: »Wir werden nicht in München landen. Wir fliegen jetzt aufgrund des starken Schneesturms nach London.« Was? London? Was bitte soll sie in London? Wo soll sie denn da hin? Was ist mit dem Gepäck? Meine Mutter war kurz davor, in Panik zu geraten. Der Mitreisende, den mein Onkel gebeten hatte aufzupassen, wandte sich an sie und beruhigte sie damit, dass man allen Flugreisenden am Flughafen Heathrow ein Zimmer zur Verfügung stellen werde.
Papa stand in München und wartete am Flughafen. Ein Freund hatte ihn mit seinem Auto hingefahren. Nach eineinhalb Stunden erfuhr er von der Umleitung des Flugzeugs. Da wurde auch er richtig nervös, seine Frau konnte sich in dem fremden Land nicht verständigen. Was war mit den Kindern? Papa fragte nach dem Namen des Hotels, nach einer Telefonnummer, nach irgendeiner Möglichkeit, seine Frau zu erreichen. Doch es hieß nur: »Beruhigen Sie sich, es wird alles gut. Die Kollegen in London kümmern sich um Ihre Familie.« Die Fluggesellschaft versicherte ihm, die Maschine werde am nächsten Morgen ganz sicher ankommen. Papa und sein Freund verbrachten die Nacht in der Ankunftshalle.
Gegen neun Uhr abends fiel die Tür des Hotelzimmers in London hinter meiner Mutter ins Schloss. Die beiden Kinder waren völlig übermüdet und verstanden nicht, was geschehen war. Sie hatten sich gefreut, ihren Vater wiederzusehen, und nun standen sie in einem spartanischen Zimmer irgendwo weit weg. Nachdem meine Mutter sie ins Bett gebracht hatte, legte sie sich ebenfalls hin und sprach ein Bittgebet (du’â) nach dem anderen. Beim Frühstück traf sie den Mitreisenden wieder, der ihnen ein Omelett und etwas zu trinken bestellte. Dazu gab es »sweet pickled cucumber«. Für meine Mutter etwas völlig Ungewöhnliches: eingelegte Gewürzgurken. Sie fand sie zunächst scheußlich. Gurken müssen doch in Knoblauch und Salz eingelegt werden, fand sie, so wie man es eben in Syrien macht. Der süßliche Geschmack irritierte sie. Doch nach ein paar Wochen sollte sie diese Dinger lieben.
Von London aus lief am nächsten Morgen alles glatt. Die kleine Familie stieg wieder ins Flugzeug und landete planmäßig in München. Mama freute sich, alle Koffer bei der Gepäckausgabe vorzufinden. Schließlich hatte sie sich in Syrien so viel Mühe damit gegeben, Lebensmittel so zu konservieren, dass sie sie mitbringen konnte. Getrocknete Minze und Thymian, getrocknete ausgehöhlte Auberginen, Pinienkerne, selbst gemachter Käse, eigenes Olivenöl – das brauchte sie, um sich wenigstens für einige Wochen etwas Heimat in Deutschland bewahren zu können. Den freundlichen Mitreisenden sah sie hier zum letzten Mal, er half ihr noch mit den Koffern, und dann war die Familie endlich wieder vereint.
Auf dem Weg zum Auto löcherten die Kinder ihren Vater mit allerlei Fragen, nachdem die erste Verlegenheit gewichen war, schließlich hatten sie ihn fast ein Jahr lang nicht mehr gesehen, sondern nur am Telefon gesprochen, und das ist für Kinder in diesem Alter eine Ewigkeit. Mama war sehr erschöpft, als sie ins Auto stieg. Die Nacht im Hotel war kurz, an Schlaf war vor lauter Aufregung kaum zu denken gewesen. Papas Freund setzte sich ans Steuer. Ächzend zog der alte Ford Taunus an. Sie verließen den Flughafen und fuhren über die A3 gen Norden, dem neuen Leben entgegen. Papa und sein Freund sprachen nicht viel, schauten meist schweigend geradeaus auf die Straße. Meine Mutter betrachtete derweil die fremde Landschaft, die draußen vor der Fensterscheibe vorbeiflog. Sie blickte auf die weißen Anhöhen, die verschneiten Nadelwälder und kleinen Dörfer mit ihren pittoresken Kirchtürmen – Bayern halt. Sogar einen echten Hirsch habe sie am Waldrand stehen sehen, betont sie, wenn sie heute davon erzählt – vielleicht war es aber auch nur das Gemälde eines röhrenden Zwölfenders, den sie später mal bei irgendjemandem über dem Sofa hängen sah und das sich mit ihren Erinnerungen vermischt hatte. Eisiger Wind schnitt ihr ins Gesicht, wenn Papa das Fenster einen Spalt öffnete, um den blauen Qualm seiner Zigarette abziehen zu lassen. Sie fror. Doch es war nicht nur die feuchte Kälte, die ihr unter die Haut ging. Sie atmete schwer, und die Gedanken schossen ihr nur so durch den Kopf. Zu viele neue Eindrücke wechselten sich mit den Bildern der Vergangenheit und den Vorstellungen von der Zukunft ab. Sie nahm die Jacken und legte sie über ihre Kinder, die neben ihr auf der Rückbank saßen. Als sie eingeschlafen waren, fielen auch ihr die Augen zu.
Die Autofahrt von München in die nordwestdeutsche Provinz dauerte mehr als acht Stunden. Längst war es dunkel, als sie die Stadtgrenze passierten. Die Kinder waren inzwischen wieder wach und schauten mit großen müden Augen in die nächtliche Stille. Der Schnee war schon seit einer ganzen Weile aus der Landschaft verschwunden. Immerzu durchbrach die Weihnachtsbeleuchtung die Dunkelheit, hier und da konnten sie die Christbäume hinter den Fenstern sehen. Weihnachten war gerade erst vorbei. Das Auto rollte weiter in Richtung ihres neuen Zuhauses in der Klosterstraße. Wie schon meinem Vater ein Jahr zuvor, fiel ihr vor allem eines auf: die Ruhe in Ahlen. Da waren kaum Menschen auf der Straße. Keine Stimmen zu hören. Kein Lachen. Die Bürgersteige hochgeklappt. Ein Mann steht einsam vor einem Kiosk. Es nieselt. Er stellt seinen Mantelkragen hoch. Als das Auto mit Ahlener Neubürgern aus Syrien an ihm vorbeirollt, zündet er sich eine Kippe an, atmet tief ein, und während der Rauch noch entweicht, schaut er über den nassen Asphalt in die trübe Nacht. Beiläufig greift der Mann zu einer Flasche neben ihm und nippt an einem Bier. In der Ferne biegt ein einsamer Opel Ascona um die Ecke. Außer ihm erspäht die einsame syrische Familie niemanden.
Die Stille von Ahlen sollte meine Mutter noch lange beschäftigen. Ganz besonders an den Abenden, wenn sie vor die Tür trat, um zu rauchen, brüllte sie sie förmlich an. Sie betrachtete die gelben Lampen in den Küchen und Wohnzimmern der Häuser, die ihren fahlen Schein auf die Straße warfen, wo er sich mit dem schummrigen Licht der Laternen mischte. Es herrschte beinahe absolute Ruhe. Nur im Hintergrund war leise der Geräuschteppich zu vernehmen, der vom Betriebsgelände der Firma Kaldewei – dem berühmten Badewannenhersteller – oder von der Zeche herüberdrang. Dann und wann erhob sich eine streitende Stimme, die von irgendwo aus den Wohnungen herüberschallte und die kleinstädtische Stille für einen Moment zerriss.
Zwar kamen meine Eltern aus einem Dorf, wo es abends auch eher ruhig zuging, aber in Deutschland war das anders. Bis zu ihrer Ankunft in Mitteleuropa verbanden sie mit dem Wort »Stadt« vor allem Chaos, quirlige Menschenmassen, krakeelende Straßenverkäufer, Hupkonzerte, laute Gebetsrufe – all das gerne auch mal mitten in der Nacht. Für sie war eine Stadt so wie Aleppo, die Metropole nahe ihrem Dorf, wohin ihre Freunde und Verwandten zuletzt immer häufiger zum Einkaufen oder Studieren fuhren, oder wie Damaskus, die großartige Kapitale, die älteste durchgängig bewohnte Stadt der Welt, in deren Nähe mein Vater stationiert gewesen war, in der mein Onkel lebte und in der meine beiden älteren Geschwister zur Welt gekommen waren. Und nun also Ahlen.
Die vorrangigsten Herausforderungen für meine Eltern in diesen ersten Tagen war die Überwindung des Abschieds. Sie hatten sich von ihren Liebsten in der alten Heimat trennen müssen. Mit solch einem Schritt sind intensive Emotionen wie Verlustängste, Existenzängste und zugleich Hoffnungen verbunden. Einerseits waren sie freiwillig nach Deutschland gekommen, andererseits nicht. Sowohl mein Vater als auch meine Mutter wussten, hätten sie in Syrien die gleichen Chancen gehabt, wie sie sie in Deutschland für sich und ihre Kinder vermutet haben, hätten sie ihre Heimat nie verlassen.
Nun hofften sie, in ihrem neuen Zuhause den Trennungsschmerz zu überwinden. Ihre wichtigste Medizin war die feste Überzeugung: Es ist ja nicht für immer. Wird ja nicht lange dauern, bis wir in die Heimat zurückkehren. Das schaffen wir schon. Sie gingen von drei bis vier Jahren aus, etwa so lange, bis die Kinder die Grundschule beendet haben.
Während Papa sich schon einigermaßen eingelebt hatte und seine Wege ganz gut kannte, fing meine Mutter an, sich den Alltag in Deutschland peu à peu zu erobern. Zunächst verschaffte sie sich einen Eindruck von ihrer Umgebung, erkundete die Nachbarschaft und die Wohngegend. Irgendwann schwand die Verwunderung über die zumeist unbevölkerten Straßen. Ihre Wege wurden immer länger und führten zum Marktplatz, zur alten Schuhfabrik, zur Sankt-Marien-Kirche, an den Schaufenstern entlang und bald hinein in die Geschäfte.
Eines Tages musste sie Obst und Gemüse besorgen. So wenig Auswahl! In den Siebzigerjahren gab es in deutschen Supermärkten noch selten Zucchini, frische Blattpetersilie oder scharfe Peperoni. Als sie vor den Tomaten stand und bereits die Tüte in der linken Hand geöffnet hielt, nahm sie mit der rechten eine der noch unreifen, geruchs- und geschmacklosen Tomaten. Anstatt sie in die Tüte zu legen, hielt sie die Frucht an die Nase, roch und dachte an die Tomaten, aus denen sie früher selbst Tomatenmark hergestellt hatte. Dafür braucht man große, saftige, sonnengereifte Tomaten. Mit diesem Bild im Kopf und dem süßsauren Tomatenduft in der Nase merkte sie plötzlich, wie sie angestarrt wurde. Eine junge Frau, wohl im gleichen Alter wie sie, stand mit ihrem etwa zehnjährigen Sohn neben ihr. Als ihr der Blick meiner Mutter begegnete, schaute sie rasch weg und versuchte ihre Neugier zu überspielen. Genau in diesem Moment sagte der Junge zu ihr: »Mama, Mama, schau mal, die Ausländerin trägt ’n Kopftuch!« Er zeigte mit dem Finger auf sie, als stünde eine Außerirdische vor ihm. Seine Mutter lief rot an, schnell drückte sie seinen Arm herunter und hoffte, dass »die Ausländerin« kein Wort verstanden habe. Schnell zog sie ihren Sohn hinter sich her zur Fleischtheke.
Meine Mutter aber hatte den Satz sofort verstanden – »Ausländer« und »Kopftuch« waren zwei Wörter, die man als muslimische Einwanderin schnell lernt, wenn man in Deutschland lebt. Faktisch gesehen hatte das Kind recht mit seinen Feststellungen, sie war eine Ausländerin und sie trug ein Kopftuch, dennoch fühlte sich Mama schlecht. Es war der Tonfall, der das auslöste, und sie fragte sich, warum es schlecht sei, aus dem Ausland zu stammen und ein Kopftuch zu tragen. Schließlich gab es in Syrien viele Frauen, die kein Kopftuch trugen: Christinnen wie Musliminnen, Drusinnen wie Alawitinnen. Diese Frauen wurden öffentlich nie auf ihre Art zu leben angesprochen. Sie packte ein Kilo Tomaten in die Tüte, tröstete sich mit dem Gedanken an ihre Geschwister, Eltern und Freunde in Syrien und hoffte, dass sie nicht mehr allzu lange in diesem Land leben muss.
In den ersten Monaten klappte diese Selbstvergewisserung ganz gut. Doch dann kam alles anders. Ganz anders. Als meine Eltern noch zurück konnten, wollten sie es nicht. Und als sie dann zurück wollten, ging es nicht mehr. Die geschlagenen Wurzeln waren bereits zu tief in die deutsche Erde eingedrungen. Gewachsen dank eines besonderen Düngers: meiner jüngeren Schwester und mir.
Als ich früh an einem Sommersonntagmorgen des Jahres 1978 im St. Franziskus-Hospital als drittes Kind der Familie das Licht der Welt erblickte, begann meine Mutter kurz darauf zu rauchen. Dass sie nun ein Kind in Deutschland geboren hatte, machte es, wie man vielleicht hätte annehmen können, für sie nicht leichter. Instinktiv spürte sie, dass sich mit meiner Geburt die Ausgangslage verändert hatte und eine Erschwernis damit verbunden war. Die Selbstvergewisserung begann nun zu bröckeln. Was bedeutet diese Geburt für sie? Für ihre Zukunft? Die Fragen waren bohrend. Sie war nicht nur für die meisten ihrer Mitbürger eine Fremde, auch sie waren ihr fremd. Sie war ohne ein Kopftuch eingereist, jetzt trug sie eines, später setzte sie es wieder ab, dann trug sie es doch wieder. Sie lernte Deutsch so gut es eben ging auf eigene Faust. Denn bis 1973 gab es in Deutschland weder staatliche Förderungen noch Konzepte für Sprachkursangebote an »Gastarbeiter«; auch die Volkshochschulen waren damals anders strukturiert. Als die ersten Überlegungen in Richtung Sprachförderung endlich fruchteten, war – mal abgesehen davon, dass sie sich zunächst nur an die Arbeiter selbst richteten, nicht an deren Familien – der Zug für meine Mutter längst abgefahren. Die Dynamik des Neuanfangs war verflogen, sie hatte gelernt, mit dem, was sie hatte und konnte, zurechtzukommen.
In Ahlen das Licht der Welt zu erblicken kann man sich genauso wenig aussuchen, wie in Timbuktu oder Aleppo geboren zu werden. Lange Zeit konnte ich mich nicht allein als Ahlenerin sehen. Es gab ja immer noch dieses andere in mir, das die meisten Ahlener nicht hatten: das Syrische oder das Arabische. Aber als Syrerin oder als Araberin allein konnte ich mich auch nicht sehen. Die meisten Syrer wurden nun mal nicht in Ahlen geboren.
Ahlen ist ein schönes Städtchen, es gefällt mir, wohlgemerkt das Ahlen in Westfalen im Kreis Warendorf, nicht das Aalen nahe der Schwäbischen Alb. Viele denken zuerst daran, wenn sie den Namen meiner Geburtsstadt hören. Das ist ein wenig ungerecht, dass mein Ahlen weniger bekannt ist. Dabei sind beide Orte fast gleich groß. Beide haben eine lange Geschichte. Mein Ahlen wurde im 9. Jahrhundert erstmals historisch erwähnt, Aalen erst dreihundert Jahre später. Zudem hat mein Ahlen heute ein paar gewichtige Argumente für einen gewissen Bekanntheitsgrad, wie ich finde. Viele Menschen verbinden mit Ahlen zum Beispiel die Westfalenkaserne, vor allem wenn sie gedient haben, oder den Fußballverein LR Ahlen, wenn sie sportbegeistert sind, oder eben die Badewannen von Kaldewei, wenn sie Wert auf Qualität legen. Früher dachten vor allem Arbeiter natürlich an die Zeche Westfalen. Gut hundert Jahre prägte sie die Stadt, 2000 wurde die Förderung dann eingestellt, das war ein harter Schlag für die Menschen. Viele Eltern meiner Freunde hatten auch dort gearbeitet. Politisch Interessierte werden daran denken, dass 1947 in Ahlen das sogenannte Ahlener Programm der CDU in der britischen Zone verabschiedet wurde. Das Papier ist eines der bekanntesten Dokumente aus der Gründungszeit der Partei. Es ist eine Auseinandersetzung mit Kapitalismus und Marxismus und war ein Leitfaden für die künftige Wirtschafts- und Sozialpolitik basierend auf der christlichen Soziallehre. Der Vorsitzende der CDU in der britischen Zone, Konrad Adenauer, erklärte damals: »Das Ahlener Programm ist und bleibt die offizielle Stellungnahme der CDU der britischen Zone zur Frage des Sozialismus und der Sozialisierung.« Menschen mit einem Interesse für die Geschichte des Nationalsozialismus wissen vermutlich auch, dass Ahlen in Westfalen 1939 als eine der ersten Städte propagierte, »judenfrei« zu sein. Die meisten vertriebenen Juden gingen ins Ruhrgebiet, darunter übrigens die Familie Spiegel, deren bekanntester Spross Paul Anfang der Nullerjahre Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland war. Dass ich irgendwann mal in dieser Stadt über Judenfeindlichkeit und Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen sprechen würde, hätte ich mir als junges Mädchen übrigens nie vorstellen können.
Wissen Sie, dass in meinem Vornamen ein Buchstabe fehlt? Keine Sorge, das können Sie nicht wissen, es sei denn, Sie sind der arabischen Sprache mächtig. Das, was für Sprachexperten so aussieht wie gewollt und nicht gekonnt, war pure Berechnung. Ich trage die Variation eines altarabischen Frauennamens, der in der heutigen arabischen Gesellschaft eher ungewöhnlich ist und die Bedeutung »schöne Lippen« hat. Eigentlich heißt mein Name Lamya’ – nicht Lamya. Klingt nach einer Lappalie, nach einer Spitzfindigkeit, ist es aber nicht. Das, was hier mit einem Apostroph dargestellt ist, hat im Arabischen ein eigenes Schriftzeichen. Es bezeichnet einen sogenannten Stimmabsatz. In der Arabistik nennen wir ihn hamza. Man bringt diesen stimmlosen Verschlusslaut mithilfe seines Gaumens hervor. So als ob ich im Deutschen ganz besonders betont »naiv« sagen würde: »na’iv«. In der Phonetik sagen wir Glottisschlag dazu. Dieser Glottisschlag, dieses hamza, müsste in meinem Fall eigentlich am Ende von Lamya stehen und Lamm-ja’ ausgesprochen werden. Ich heiße aber Lamya mit einem langen, ausklingenden »a« am Ende: Lamm-jah. Das hamza wurde von meinen Eltern ganz bewusst weggelassen, und das hatte mit einer guten Freundin von ihnen aus Aleppo zu tun. Sie begutachtete für meine Eltern meine Namensgebung, denn sie kannte sich mit der Zahlenmystik im Islam aus. Das arabische Alphabet hat 28 Buchstaben, und jedem Buchstaben ist ein Zahlenwert zugeordnet: Einer, Zehner, Hunderter. Das sind 28 Zahlen von eins bis tausend. Was auch immer diese Freundin meiner Eltern mit diesen Informationen gemacht hat, weiß ich nicht genau, und meine Eltern wissen es auch nicht. Sie wägte diese Informationen mit dem Horoskop ab, das sie für mich erstellt hatte, und riet meinen Eltern dringend davon ab, das hamza zu setzen. Um mein Schicksal sei es ohne hamza um einiges besser bestellt, sagte sie. Man sollte es nicht meinen, aber Muslime können schon ein ziemlich abergläubisches Grüppchen sein.
Allerdings kann ich mich eh kaum daran erinnern, wann meine Eltern mich zuletzt mit meinem Namen angesprochen haben. Am liebsten benutzen sie unzählige Spitznamen, die ich mir im Laufe meines Lebens »erarbeitet« habe: »Lamo«, »Lamûsch«, »Umm al-Lam« (Mutter des Buchstaben Lâm), »Sitt Lamlam« (Madame Lamlam) und so weiter.
Außerhalb meines Elternhauses und jenseits des relativ kleinen Kreises derer, die Anfang der Achtzigerjahre in Ahlen Arabisch sprachen, war es zuerst mein Name, der mir zu verstehen gab: Irgendetwas ist anders an dir. Immer wieder fragte man mich aus staunenden Augen heraus: »Wie wird denn dein Vorname ausgesprochen? L-a-m-iiii-y-a oder L-a-m-ü-a oder wie?« Das geht im Grunde bis heute so. Es gibt viele Fragen in meinem Leben, die mich seit Jahren begleiten. Eine davon war diese, und etwas später kam dazu: »Wie schreibt man das denn?« Die Antwort darauf verbindet mich mit einem bestimmten Schreibutensil, das sich noch heute in moderner Ausführung in meinem Schreibtisch findet: »Genauso wie der Lamy-Füller, nur mit a hinten dran!« Ich muss meinen Namen seit eh und je erklären, den Deutschen einerseits, den Arabern andererseits, denn die fragen mich andauernd: Wieso Lamya und nicht Lamya’?
Meinen Eltern war die Sache mit dem Namen alsbald schnuppe, denn für sie ging es Ende der Siebzigerjahre nun darum, ein »deutsches« Kind arabischsprachig und islamisch zu erziehen. Genau das war die Erwartungshaltung ihrer Familie zu Hause in Syrien und ihrer arabischen Community, die sie sich Schritt für Schritt in Ahlen und Umgebung aufgebaut hatten. Es hieß: »Die Kinder müssen arabisch erzogen werden, damit sie die Verbindung zu Syrien nicht verlieren.« Und bei mir müsse man das noch einmal anders handhaben und ganz besonders auf der Hut sein, denn gerade bei einem »deutschen Kind« (ich war die erste in der Familie, die in Deutschland geboren wurde) hätten sich die Eltern darum zu bemühen, dass es seine syrisch-arabischen Wurzeln nicht kappe.
Der Anspruch, Kinder in Deutschland zu Arabern zu erziehen, scheiterte bei mir und bei meiner jüngeren Schwester, die drei Jahre später geboren wurde, schon im Kindergarten. Die erste Desillusionierung griff Raum: Ich sprach irgendwann schlicht besser Deutsch als Arabisch. Während der ersten Jahre in Deutschland schafften es unsere Eltern noch, Arabisch als »lingua franca« unseres Haushalts aufrechtzuerhalten. Sie sprachen ausschließlich Arabisch mit uns. Der Zungenschlag, der unsere Wohnung mit Leben erfüllte, wandelte sich jedoch bald. Wir Kinder kommunizierten außerhalb der Familie fast nur noch auf Deutsch oder probierten uns in anderen Sprachen aus, wie zum Beispiel Türkisch. Was hätten wir auch sonst tun sollen? In der Schule und in unserer Nachbarschaft gab es kaum Araber. So trainierten wir kontinuierlich Deutsch. Der sprachliche »Übergriff« auf unsere eigenen vier Wände erfolgte schleichend, aber unaufhaltsam. Recht bald unterhielten wir Geschwister uns auch untereinander nur noch auf Deutsch. Manchmal mit voller Absicht, damit Mama und Papa uns nicht verstanden, meist aber aus der Gewohnheit unseres deutschen Alltags heraus. Heute beobachten wir, wie selbst unsere Eltern mit ihren Enkelkindern Deutsch reden, während wir uns wünschen, sie würden ihnen im Sinne eines Zweitsprachenerwerbs lieber gutes Arabisch beibringen.
Während die Besinnung auf das Arabische für meine Eltern in den Vordergrund rückte, gewann für meine Geschwister und mich das Deutsche an Bedeutung. Mir selbst ging es ganz automatisch in Fleisch und Blut über. Deutsch lernte ich spielerisch, Arabisch musste ich mir aktiv erwerben. Das sah vor allem so aus, dass Mama mit mir regelmäßig Arabisch paukte. Deutsch habe ich nie bewusst gelernt. Von daher spreche ich selbstverständlich besser Deutsch als Arabisch. Bei bestimmten Fachtermini muss ich im Arabischen überlegen, im Deutschen nicht. Deutsch lese ich fließend, Arabisch vergleichsweise stockend. Für meine Eltern war dies ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur Erkenntnis, dass Kinder, die man in einem fremden Land zur Welt bringt und großzieht, mit diesem verwachsen und einen anderen Bezug dazu entwickeln, als man es selbst tut. Allerdings waren Mama und Papa sowie ihr Umfeld halbwegs zufrieden mit mir, denn mit ihnen und unseren Verwandten sprach ich ja Arabisch.
Meine Gedanken als Jugendliche drehten sich später darum, welchen Stellenwert das Arabische für mich künftig haben soll. Ich habe nie die eine Sprache besser oder schlechter empfunden als die andere. Es sind einfach zwei Sprachen, die ich beherrsche und die mir den Zugang zu unterschiedlichen Gruppen erleichtern. Beide Sprachen gehören zu meiner Identität. Ich klinge auf Arabisch anders als auf Deutsch. Wenn mich Leute auf Arabisch telefonieren hören, denken sie häufig, ich spräche sehr viel temperamentvoller. Selbst mein engstes Umfeld – sofern es kein Arabisch kann – denkt oft, ich würde mich streiten. Arabisch sei eine harte Sprache, erklären sie dann: »Diese Kehllaute und das schnelle Sprechen sind echt gewöhnungsbedürftig. Außerdem guckst du immer so komisch dabei.« Passend ist es da, wenn mir meine arabischen Verwandten und Freunde mitteilen, Deutsch sei so eine harte Sprache: »Du redest so schnell und immer dieses ›ch‹ (wie bei ›lachen‹). Streitest du dich etwa?«
Wer jetzt aber glaubt, das sei alles so einfach gewesen, Deutsch hier, Arabisch da, den muss ich enttäuschen. Denn natürlich gab es Brüche und sprachliche Hürden. Bei Nachbarskindern etwa, die nicht Deutsch sprachen oder sprechen wollten, weil sie in ihrer Gruppe lieber auf Türkisch oder Aramäisch miteinander redeten, kam ich mit Deutsch nicht weiter. Also musste ich Bröckchen für Bröckchen Türkisch oder eben Aramäisch lernen. In Ahlen gibt es seit Langem eine größere türkischstämmige Community, aber eben auch eine nennenswerte Anzahl an Deutscharamäern. Die Aramäer sind ein semitisches Volk aus dem Nahen Osten mit eigener Sprache und Kultur. Sie leben überwiegend in den Ländern Irak, Syrien, Libanon und Türkei. Darüber hinaus gibt es in den USA und in Westeuropa größere Diaspora-Gemeinden, vor allem in Schweden und Deutschland, genauer gesagt in Ostwestfalen. Die meisten Aramäer sind Christen und gehören den unterschiedlichen Ostkirchen an. Nach 1915 wurden ihre Vorfahren im zusammenbrechenden Osmanischen Reich wie die Armenier Opfer grausamer Vertreibungen und Massaker, womit ihre Fluchtbewegungen einsetzten. In Ahlen wusste ich damals wenig davon. Ich spürte lediglich mal latente, mal offene Unstimmigkeiten zwischen Menschen mit türkischen und aramäischen Wurzeln, ohne dass ich mir einen genauen Reim darauf machen konnte. Noch heute sagen mir türkische und aramäische Freunde nach, ich hätte eine recht gute Aussprache im Vergleich zu anderen, die Türkisch oder Aramäisch als Fremdsprache sprechen. Beide Zungen haben in meinen Ohren einen sehr vertrauten Klang. Ich höre sie sehr gerne, und mein Bezug zu diesen beiden Kulturen ist nach wie vor sehr stark ausgeprägt.
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