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Eine mutige und persönliche Islamkritik, die wachrüttelt und einen wichtigen Beitrag zur Integrationsdebatte leistet. Lamya Kaddor gehört zu einer neuen Generation von deutschen Muslimen. Sie kritisiert das Erscheinungsbild des Islam in Deutschland ebenso wie die Wagenburgmentalität der Nicht-Muslime. Der Islam ist Teil der deutschen Gesellschaft. Nur wollen das viele nicht wahr haben – selbsternannte Islamkritiker nicht und am wenigsten viele Muslime selbst. Die schweigende Mehrheit lässt es zu, dass bärtige Fundamentalisten, Zwangsheirat und Ehrenmorde das Bild vom Islam bestimmen. Lamya Kaddor gibt den liberalen, aufgeklärten Muslimen in Deutschland endlich eine Stimme, vor allem den Frauen, die selbstbestimmt leben wollen, ohne ihre Religion preiszugeben. Sie erzählt von ihrem ganz persönlichen Weg zum Islam als Gläubige und als Islamwissenschaftlerin.
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Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.deISBN 978-3-492-99127-8© Piper Verlag GmbH, München, 2018 © Lamya Kaddor, 2010, 2018 Originalausgabe: »Muslimisch – weiblich – deutsch!« bei Verlag C. H.Beck oHG, München, 2010 Covergestaltung: zero-media.net, MünchenCovermotiv: © Marc Darchinger Datenkonvertierung: Fotosatz Amann, Memmingen Sämtliche Inhalte dieses EBooks sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.
Inhalt
Cover & Impressum
Vorwort
1. Zwei mal Drei macht Vier
2. Gründe und Abgründe der Migration
3. Die K-Frage
4. Sexualität und Geschlecht: Alles eine Frage der Ehre
5. Islam in Schwarz-Rot-Gold
6. Integration als moderner Dschihad
7. Ausgeschlafen: Muslimische Jugendliche in Deutschland
8. Der Koran in der Schule
9. Die Islamische Depression
10. Der Domino-Effekt: Muslimische Aufstellungen
Epilog: Sesam öffne dich!
Tipps zum Weiterlesen
VORWORT
Wir Muslime in Deutschland stehen in der Öffentlichkeit schlecht da. Eine undifferenzierte und diffamierende «Islamkritik» einerseits und dogmatische Ansichten übereifriger Muslime andererseits zeichnen das fundamentalistische Zerrbild von einem gefährlichen und rückständigen Islam. Anhaltende innerislamische Spannungen zwingen zwar mitunter zu mehr Differenzierung, aber sie machen die Sache nicht wirklich besser. Das schlechte und verzerrte öffentliche Image des Islams ist für liberal-gläubige Muslime wie mich inzwischen unerträglich geworden. Mit diesem Buch möchte ich endlich einmal aus einer liberalen, weltoffenen muslimischen Perspektive eine zu wenig wahrgenommene Form muslimischen Lebens in Deutschland vorstellen. Ich weiß nicht, ob ich damit die Mehrheit der hiesigen Muslime repräsentiere – es könnte immerhin sein. Auf jeden Fall hoffe ich, dass es in nicht allzu ferner Zukunft so sein wird, dass liberale Muslime mehr wahrgenommen werden.
Freilich ist eine offene, differenzierte und lebensnahe Sicht auf den Islam weniger spektakulär. In den öffentlichen Islam-Debatten, in denen sich Experten die Köpfe heiß reden, geht sie unter. In den sechziger Jahren, als die ersten Muslime einwanderten, war man entweder «deutsch» oder «muslimisch», aber spätestens in der zweiten, dritten und vierten Einwanderergeneration sind wir «deutsch» und «muslimisch». Wir können gläubige Muslime und gleichzeitig loyale Staatsbürger dieses Landes sein. Es ist möglich, die eigene Stimme gegen einen Dogmatismus und Fundamentalismus im Islam zu erheben, ohne seinen islamischen Glauben preiszugeben und zum «säkularen Kulturmuslim» zu mutieren.
Nach langjährigen Erfahrungen als «Berufsmuslimin», die ich in der islamischen Theologie und als eine der ersten islamischen Religionspädagoginnen in Deutschland sammeln konnte, kann ich keine Entwarnung geben. Zu viel läuft bei der Integration von Muslimen in Deutschland immer noch schief. Ich kritisiere in diesem Buch Muslime ebenso wie Nicht-Muslime, die Politik ebenso wie gesellschaftliche Entwicklungen. Das tue ich in der Überzeugung, dass eine fundierte und differenzierte Kritik uns wirklich weiterbringen kann, weiter als die pauschalen Anklagen, die die Debatte bis jetzt dominierten.
Mein Buch «Muslimisch – weiblich – deutsch!» richtet sich an alle interessierten Leser, vor allem aber auch an junge Muslime, die hier in Deutschland wie ich ihre Heimat gefunden haben. Die Diskriminierung als «Ausländer» oder «Migrant» ist unsere alltägliche Erfahrung. Sie darf aber nicht zu einer Barrikadenmentalität führen. Wir müssen vielmehr den Islam für uns so lebbar machen, dass er modernen Werten wie Toleranz, Weltoffenheit und Freiheit nicht widerspricht. Dazu will ich mit diesem Buch beitragen.
Mein herzlicher Dank gilt meinem Ehemann und meinem multikulturellen und multireligiösen Familien- und Freundeskreis! Ihr liefert mir durch die vielen Diskussionen und Gespräche rund um Gesellschaft, Religion und Politik immer wieder neue Denkanstöße und Perspektiven.
Ich möchte hier auch meinen aufrichtigen Dank an alle meine Schülerinnen und Schüler aussprechen. Danke, dass ihr mich an eurem Leben und euren Problemen teilhaben lasst. Ich bin stolz auf euch!
Alle Namen von Schülern und anderen Personen wurden geändert.
Duisburg, im Juli 2009Lamya Kaddor
2GRÜNDE UND ABGRÜNDE DER MIGRATION
Religion oder Tradition?
Was wissen muslimische Jugendliche in Deutschland über den Islam – und was glauben sie zu wissen? Da sich viele von ihnen nicht in erster Linie als Deutsche, Türken oder Araber verstehen, sondern als Muslime, könnte man annehmen, dass sie ein bestimmtes Verständnis vom Islam haben. In meiner zehnten Klasse der Glückauf-Hauptschule in Dinslaken habe ich im Islamkunde-Unterricht die fünfzehn- bis siebzehnjährigen Schüler einmal aufschreiben lassen, was den Islam für sie ausmacht.
Mustafa ist ein mittelmäßiger Schüler. Er spielt regelmäßig Fußball, kleidet sich sehr modern, ist extrem selbstbewusst und bezeichnet sich selbst als gläubig. Nach eigenen Angaben ordnet er sich der DITIB-Moscheegemeinde zu. Seine Antwort: «Man darf kein Schweinefleisch essen.»
Dennis, ebenfalls ein mittelmäßiger Schüler, verfolgt besonders aufmerksam den Islamkunde-Unterricht. Er ist ein sehr schüchterner junger Mann, der mit sechzehn Jahren zum Islam konvertierte. Er ist davon überzeugt, dass der Islam die richtige Religion für ihn ist. Nach eigenen Angaben besucht er regelmäßig die einzige arabische Moschee im Stadtteil. Er schreibt: «Das Wichtigste am Islam ist, dass man an die fünf Säulen glaubt und nur an einen Gott, nämlich Allah! Und der Koran ist wichtig.»
Melek bringt bei Klassenarbeiten meistens eine drei oder vier nach Hause. Am Unterricht allgemein zeigt sie nur geringes Interesse, was man jedoch im Hinblick auf den Islam nicht sagen kann. Sie bezeichnet sich als sehr gläubig, und das möchte sie mit ihrem Kopftuch auch zum Ausdruck bringen. In ihrem Auftreten ist sie zurückhaltend und beinahe krankhaft schüchtern. Nach eigenen Angaben ordnet sie sich der Süleymanci-Moscheegemeinde zu, die vom Dachverband Islamischer Kulturzentren organisiert wird. Sie antwortet: «Dass man an den Koran, an Gott und an die Propheten glaubt. Die letzte Religion ist der Islam.»
Belin ist eine sehr gute Schülerin, aber ebenfalls ein wenig schüchtern. Sie spielt in ihrer Freizeit Keyboard, trägt schicke, moderne Klamotten und bezeichnet sich als gläubig. Sie besucht keine Moscheegemeinde. Ihre Antwort: «Die Freiheit, die uns unser Glauben schenkt. Die Gleichheit zwischen Mann und Frau. Die Reinheit der Seele. Zu wissen, dass jeder gleich ist und das gleiche Recht hat. Die Geschichte zu kennen, die den Islam begleitet, um ihn besser zu verstehen und um zu wissen, was unser Glaube erlaubt und verbietet.»
Taylan ist extrem selbstbewusst. Er spielt Fußball im Verein, und auch in der Schule hält er gut mit. Bei ihm bilden Glaube und Modernität ebenfalls eine Einheit. Er ordnet sich einer alevitischen Gemeinde in Duisburg zu. Er schreibt: «Der Koran ist wichtig, weil darin alles steht, was man darf und was man nicht darf. Der Islam ist eine Chance, ins Paradies zu kommen.»
Kemal ist ein ruhiger, mittelmäßiger bis schlechter Schüler. Er bezeichnet sich als gläubig und ordnet sich der DITIB-Moscheegemeinde zu. Seine Antwort: «Das Wichtigste ist, dass wenn man Muslim ist und die Regeln im Koran beachtet, kommt man ins Paradies. Deswegen ist der Islam die Chance, ins Paradies zu kommen.»
Esma ist eine sehr gute Schülerin. Sie interessiert sich für Mode und gilt als sehr hilfsbereit und aufgeschlossen. Auch sie beschreibt sich als gläubig. Nach eigenen Angaben gehört sie zur DITIB-Moscheegemeinde, betont aber, dass sie nicht regelmäßig hingeht. Sie schreibt: «Für mich ist das Wichtigste am Islam der Koran. Weil, wenn der Koran nicht wäre, dann würden wir über den Islam bzw. über Muhammad (Prophet) nichts erfahren.»
Die Antworten der anderen Schülerinnen und Schüler sind ähnlich. Überrascht war ich über die Antworten nicht, denn ich hatte damit gerechnet, dass viele junge Muslime den Islam vor allem an seinen Geboten festmachen würden. Die Antworten sind nicht verkehrt, vor allem die von Belin und Esma zeugen auch von etwas weitergehenden Überlegungen. Obwohl mich die Antworten nicht mehr überraschen, empfinde ich die Vorstellungen der Schüler vom Islam als beklagenswert. Die Jugendlichen haben überhaupt keinen Sinn dafür, was den eigentlichen Kern des Islams ausmacht. Das erste, womit sie argumentieren könnten oder sollten, wäre doch, dass es keinen einheitlichen Islam gibt. Auch scheinen sie sich nicht vorstellen zu können, dass es im Islam jenseits seines Regelwerks auch noch etwas anderes gibt: Ethik, Spiritualität, Glaubensfreude.
Die Vorstellungen vieler Muslime vom Islam sind von ihrer Herkunftskultur und von Traditionen geprägt, die durch das Elternhaus und durch die eine oder andere Gemeinde transportiert werden. Doch wie können sie sich gegen diese Einflüsse wehren? In der Regel haben junge Menschen keine Chance, herauszufiltern, was an ihrem Glauben Religion und was Tradition ist. Nur ein «neutraler» deutschsprachiger Islamunterricht an öffentlichen Schulen kann ihnen die Möglichkeit geben, zwischen Traditionen der Herkunftskultur und kulturübergreifender Religion zu unterscheiden. Mit meinen Schülern konnte ich über die Ergebnisse der schriftlichen Abfrage sprechen. Wir haben miteinander erarbeiten können, dass Traditionen zwar sehr wichtig sind, aber einem stetigen Wandel unterliegen. Jede neue technische Errungenschaft, jede neue wissenschaftliche Erkenntnis trägt dazu bei. Die Religion, der Glaube ist indes nur bedingt wandelbar. Unter Muslimen muss man sich über die Auslegung von Schriften unterhalten, aber man kann nicht darüber streiten, ob Gott ein einziger ist oder ob im Koran tatsächlich seine Worte niedergeschrieben sind. Meine Schüler verstanden bald, dass sich Traditionen leichter verändern lassen als Glaubensgrundsätze. Und sie merkten, dass eine Verquickung von beidem es enorm erschwert, gegen (überholte) Traditionen anzugehen. Solange es diese Möglichkeit des Islamunterrichts als Anlaufstelle aber nicht für alle jungen Leute gibt, wird die Verwechslung von Tradition mit Religion noch lange bestehen bleiben – ebenso wie die daraus resultierenden sozialen Probleme.
In Deutschland sind Menschen mit geringer Bildung in der Regel auch in Fragen der Religion unterdurchschnittlich gebildet. Dem schulischen Religionsunterricht fällt dann in erster Linie die Aufgabe zu, solides Wissen zu vermitteln. Die Elternhäuser oder Koranschulen leisten dies in der Regel nicht, ja sie verstärken meist noch die Gleichsetzung von traditioneller Kultur und Religion. Da Schüler mit Migrationshintergrund bei der Bildung ohnehin benachteiligt sind, wie diverse Studien von PISA bis IGLU belegen, wird es gerade diesen Schülern, die unter Muslimen die überwiegende Mehrheit ausmachen, umso schwerer fallen, in Sachen Religion besonders gebildet zu sein und differenziert zu denken.
Muslime diskutieren, ob die Entwicklung eines «deutschen Islams» erstrebenswert sei und ob man überhaupt davon reden dürfe. Die meisten wehren sich gegen eine solche Nationalisierung ihres Glaubens. Sie argumentieren, man müsse den Islam als immer und überall gleiche und gleich gelebte Religion verstehen. Die Befürworter eines «deutschen Islams» oder eines «Euro-Islams» meinen dagegen, dass der Islam je nach Kultur, Tradition und Geschichte eines Landes und je nach den Lebensumständen der dort lebenden Muslime modifiziert werden muss.
Beide Sichtweisen sind falsch. Der Islam besteht einerseits immer aus der gleichen religiösen Lehre und zeichnet sich gerade durch einen Nationen, Ethnien und Sprachen übergreifenden Glauben aus. Andererseits kann und muss der Glaube für das Leben in den verschiedenen Regionen der Welt interpretiert werden. Ein einfaches und prominentes Beispiel ist der Anfang und das Ende eines Fastentages im Monat Ramadan. Vom ersten Morgenlicht bis zum Sonnenuntergang, heißt es nach klassischer Lehre, enthält sich der Muslim der Nahrung und anderer Sinnesfreuden. Was aber, wenn es im Extremfall kein Morgenlicht und keinen Sonnenuntergang gibt, etwa nördlich des Polarkreises? Dazu findet sich weder im Koran noch in den Hadithen eine Aussage. Es kann also höchstens darum gehen, von einem «zeitgemäßen Islam» zu sprechen, der zwar über nationale Grenzen hinausgeht, aber zugleich flexibel genug ist, um regionale Eigenheiten zu integrieren. Gäbe es wirklich einen «deutschen Islam», dürfte ich schon in Amerika damit nichts mehr anfangen können, weil es dort ja einen «amerikanischen Islam» geben müsste und umgekehrt. Vielleicht ist das bis zu einem bestimmten Punkt sogar zutreffend. Zu Ende gedacht aber würde die muslimische Gemeinschaft auf diese Weise erneut gespalten, nämlich entlang nationaler Grenzen. Das Zusammenleben würde weiter erschwert werden. Mit einem «zeitgemäßen» Verständnis vom Islam hingegen kann ich überall auf der Welt leben – es sei denn, ich befinde mich in einem totalitären Gottesstaat oder ähnlichem.
Tatsächlich leben die Muslime hier in Deutschland einen anderen Islam als beispielsweise in Algerien, Kuwait oder Indonesien. Denn erstens leben Muslime im demokratischen Deutschland nicht in einem muslimischen Staat, zweitens bilden sie in Deutschland eine Minderheit und drittens verändert sich das Religionsverständnis und mithin die Religion durch Migration. So gibt es beispielsweise in Deutschland keinen regelmäßigen Muezzinruf, der die Gläubigen daran erinnert, dass die Zeit des Gebets angebrochen ist. Es gibt niemanden, der während des Ramadans vor Anbruch der ersten Morgendämmerung mit Trommeln durch die Straßen fährt und die Gläubigen weckt, damit sie eine letzte Speise vor dem Fastentag einnehmen. Es ist in Deutschland leider nur bedingt möglich, mit Kopftuch eine adäquate Arbeitsstelle zu erhalten, auch wenn man hervorragend qualifiziert ist. Die muslimischen Feiertage sind ganz normale Arbeitstage. Bis vor kurzem gab es hierzulande keine «richtigen» Moscheen, sondern nur Gebetsräume in Hinterhöfen und Industriegebieten. Viele Dinge sind durch die hiesige Kultur, Religion und Tradition anders geregelt. Daher liegt es auf der Hand, dass Muslime in Deutschland andere Schwerpunkte setzen und ihren Glauben anders leben als etwa in Bosnien, im Jemen oder in China.
Eine Religion mit Migrationshintergrund
Der Islam hat in Deutschland ebenso wie seine Anhänger einen Migrationshintergrund. Er reiste im Gepäck der «Gastarbeiter» mit nach Deutschland ein und wurde erst so zu einer nennenswerten Kraft im Land. Genau wie seine Anhänger verändert sich der Glaube allmählich von Generation zu Generation. Die ersten Veränderungen werden langsam sichtbar. Das lässt sich besonders in der Schule bei jungen Muslimen aus der dritten Einwanderergeneration beobachten. Sie denken, dass der Islam die wichtigste Rolle in ihrem Leben spielt. Ein Großteil der ersten Gastarbeiter-Generation aus islamischen Ländern dachte anders. Die ersten Einwanderer verstanden die Religion lediglich als einen Mosaikstein ihrer Identität. Fragt man bei den heutigen Jugendlichen genauer nach, warum der Islam so wichtig für sie ist, bekommt man erstaunlicherweise nicht viel zu hören außer einigen Floskeln. In etwas ausgefeilteren Antworten lautet der Tenor entweder, dass es eine natürliche, angeborene Selbstverständlichkeit ist, dass der Islam das wichtigste im Leben ist, oder dass Gott der Einzige ist, auf den man sich verlassen kann – denn er ist gerecht.
Verschiedene Faktoren sind für diese ebenso erstaunlichen wie diffusen Aussagen verantwortlich: die Art und Intensität der religiösen Erziehung und der Glaubenspraxis in Elternhaus und Gemeinde; die Rolle der Herkunftskultur, Tradition und Sprache; die Sicht der «Außenwelt» auf muslimische Jugendliche; mehrfach erlebte Diskriminierung, ob sie einen nun selbst betrifft oder andere Muslime; und insbesondere auch Protest gegen eine vermeintlich feindlich eingestellte Gesellschaft, wie es ihn ähnlich auch in der Punkbewegung der achtziger Jahre gab.
Viele der heutigen muslimischen Jugendlichen in Deutschland sind zu wenig in der hiesigen Gesellschaft verwurzelt. Aber Jugendliche benötigen einen Halt und einen Anker, den sie auswerfen können und der sie fest an etwas bindet. Diesen «Rettungsanker» finden sie im Islam, denn in Deutschland fühlen sie sich nicht deutsch: Hier werden sie als «Türken» oder «Ausländer» bezeichnet. Die Mehrheitsgesellschaft gibt ihnen nicht das Gefühl, Deutsche zu sein – aber im Grunde genommen wissen «die» Deutschen selbst nicht so genau, was Deutschsein bedeutet. In ihrer «Heimat», die sie wenn überhaupt nur aus dem Urlaub kennen, geht es den Jugendlichen oft nicht anders, dort sind sie «die Deutschen». Interessanterweise nennt man in Deutschland selten muslimische Jugendliche «Migranten». Als «Migranten» werden eher inzwischen eingebürgerte ehemalige Ausländer bezeichnet, die Erfolg haben und in der Mittelschicht angekommen sind. «Migranten» sind in der allgemeinen Wahrnehmung nicht die «Türken» und «Ausländer», denen auch von ganz oben gerne eine besonders ausgeprägte Jugendkriminalität unterstellt wird. Dabei sind die Rollen von Täter und Opfer bei weitem nicht so einfach auseinanderzuhalten, wie es hier suggeriert wird.
Trotzdem zerrt man diese Jugendlichen nicht nur länderpolitisch als «Täter» ins Rampenlicht, auch bundespolitisch gibt es immer wieder Hinweise – etwa durch das Innenministerium, das Bundeskriminalamt oder den Verfassungsschutz – auf gewaltbereite Bestrebungen junger extremistischer Islamisten. Dazu bekommt man meist die Bilder von dunkelhaarigen Heißspornen geliefert. Die Warnungen mögen notwendig und berechtigt sein, aber angesichts der insgesamt kritischen Haltung in der Öffentlichkeit gegenüber jungen Muslimen tragen sie zur Verfestigung der Vorurteile bei.
Wo man einem solchen Bild entgegentreten könnte, lassen es die Verantwortlichen leider oft an der nötigen Sensibilität fehlen. Anlässlich der Feierlichkeiten zu sechzig Jahren Grundgesetz und damit sechzig Jahren Bundesrepublik Deutschland verlor unser Bundespräsident Horst Köhler kein einziges Wort über die «Gastarbeiter» beziehungsweise die jüngeren «Einwanderergenerationen» in der bundesdeutschen Gesellschaft. Kein Wort davon, dass Muslime und andere religiöse Minderheiten über die Jahre fester Bestandteil des Landes geworden sind und einen entscheidenden Beitrag zu ihrem jetzigen – positiven – Erscheinungsbild geleistet haben. Schätzungsweise mehr als fünfzehn Millionen Einwanderer und ihre Nachkommen leben heute in Deutschland, aber Horst Köhler spricht lediglich von über zehn Millionen deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg. Ausführlich erläutert er: «Ostpreußen kamen nach Schleswig-Holstein, Sudetendeutsche nach Bayern und Bessarabiendeutsche nach Schwaben. Das war oft alles andere als einfach. Aber am Ende stand die Erfahrung: Es gab neue Heimat, und die alte bestand fort im Herzen. Und alle machten die Erfahrung, dass es in Deutschland viele Heimaten gibt und dass diese Vielfalt unser Land bereichert.» Nicht dass man speziell die Muslime in den Vordergrund stellen müsste, aber wenigstens eine Erwähnung der jüngeren Einwanderungsgeschichte wäre zu diesem Anlass angemessen gewesen. Sie wäre kaum aufgefallen, aber sie wäre da gewesen – ein schlichtes Zeichen von Normalität. Dass dieses Signal nicht gegeben wurde, ist bezeichnend für die hohen Hürden, die diese Gesellschaft noch zu nehmen hat.
Die Tatsache, dass (junge) Muslime sich hier nicht heimisch fühlen und sich daher abgrenzen, lässt uns aufhorchen – und diese Jugendlichen unsererseits ganz schnell ausgrenzen. Sofort müssen aufgeregte Debatten darüber geführt werden, wie man mit «ihnen» verfährt. Die Altersgrenze zur Schuldfähigkeit muss diskutiert oder die Abschieberegelung neu überdacht werden. Im Jahr 2009 hatten wir die niedrigsten Einbürgerungszahlen, sodass sich unsere Bundeskanzlerin genötigt sah, medienwirksam einige Einbürgerungsurkunden höchstpersönlich an unsere «Neu-Deutschen» zu überreichen. Diese Unlust, Deutsche zu werden, hat auch etwas damit zu tun, dass Einwanderern immer noch zu wenig Respekt entgegengebracht wird.
Experten und Schläfer
Ende der Leseprobe