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Verlernen wir die Demokratie? Alle reden davon, wie Flüchtlinge, Einwanderer sich integrieren können – Lamya Kaddor dreht die Frage um: Muss sich nicht auch die Mehrheitsgesellschaft ändern? Geht es nicht für alle darum, liberale Grundsätze zu leben? Mit Sorge beobachtet Kaddor, dass die Angst vor den Flüchtlingen, dem Islam, die Demokratie in Deutschland schwächt; dass sich Denkweisen etablieren, für die die Beschränkung der Freiheit zugunsten einer angeblichen Sicherheit legitim ist. Wer hinnimmt, dass Nordafrikanern der Zutritt zu Schwimmbädern verwehrt wird, läuft Gefahr, bald auch über die Beschränkung ganz anderer, fundamentaler Rechte sprechen zu müssen. Umgekehrt gilt, dass keine Ideologie, keine Weltanschauung über unserem Grundgesetz stehen darf: Auch hier droht der Demokratie in Deutschland Gefahr. Die «Verfassungspatriotin» Lamya Kaddor ist Tag für Tag mit der Integrationswirklichkeit konfrontiert; sie sieht, welche Probleme, aber auch Chancen auf die deutsche Gesellschaft zukommen. Eines ist für sie klar: Wir brauchen ein neues deutsches Wir. Und wir müssen uns mehr über Identität und Integration unterhalten, weniger über Religion. Dieses Buch ist ein streitbarer, ganz persönlicher Bericht – ein Blick auf die Gesellschaft von einer Deutschen mit syrischen Wurzeln.
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Seitenzahl: 273
Lamya Kaddor
Die Zerreißprobe
Wie die Angst vor dem Fremden unsere Demokratie bedroht
Ihr Verlagsname
Verlernen wir die Demokratie?
Alle reden davon, wie Flüchtlinge, Einwanderer sich integrieren können – Lamya Kaddor dreht die Frage um: Muss sich nicht auch die Mehrheitsgesellschaft ändern? Geht es nicht für alle darum, liberale Grundsätze zu leben? Mit Sorge beobachtet Kaddor, dass die Angst vor den Flüchtlingen, dem Islam, die Demokratie in Deutschland schwächt; dass sich Denkweisen etablieren, für die die Beschränkung der Freiheit zugunsten einer angeblichen Sicherheit legitim ist. Wer hinnimmt, dass Nordafrikanern der Zutritt zu Schwimmbädern verwehrt wird, läuft Gefahr, bald auch über die Beschränkung ganz anderer, fundamentaler Rechte sprechen zu müssen. Umgekehrt gilt, dass keine Ideologie, keine Weltanschauung über unserem Grundgesetz stehen darf: Auch hier droht der Demokratie in Deutschland Gefahr.
«Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen.»
Chinesische Weisheit
Hass aller Orten. Im Netz kocht die Wut hoch. Auf der Straße stehen Unterkünfte in Brand. Deutschland scheint in Teilen zu einer Hassgesellschaft zu verkommen. Die Partei AFD zieht trotz oder wegen teils offen rassistischer Aussagen ihrer Mitglieder mit Pauken und Trompeten in ein Parlament nach dem anderen ein. In Österreich wird 2016 der Rechtspopulist Norbert Hofer fast ins höchste Staatsamt des Landes gewählt. In Frankreich wird der Vorsitzenden des rechtsextremen Front National prognostiziert, sie habe gute Chancen, 2017 in die Stichwahl zum Staatspräsidenten zu kommen. Die Europäische Union droht, auseinanderzubrechen. Was ist los in Europa und im geeinten Deutschland? Ein Vierteljahrhundert nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Mauer? Siebzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg?
Seit dem 11. September 2001 ist in meinem Berufsleben nichts mehr, wie es einmal war. In den neunziger Jahren fing ich mit einem Studium an, das damals als sogenanntes «Orchideenfach» galt: Islamwissenschaft und Arabistik. Arab-was? Jedes Mal wenn man mich fragte, was ich studierte, musste ich ausufernd ausholen, um mein Studienfach zu erklären und überhaupt eine Idee davon vermitteln zu können, was das ist und was das soll. In den meisten Kursen saß ich mit sehr wenigen anderen Studenten. Überfüllte Hörsäle gab es bei uns nicht. Ein «Orchideenfach» halt, ein ungewöhnliches, ein seltenes, ein ausgefallenes Studienfach.
Doch das änderte sich mit den Anschlägen in den USA 2001. Das kleine Fachgebiet wurde in den Folgejahren von zahlreichen Studienanfängern nahezu erstürmt, und die bisherige interessierte Aufmerksamkeit für ein unbekanntes Fach wich zunehmend der Ablehnung. Bereits unmittelbar nach dem 11. September bekamen wir am Institut Drohanrufe, Sachbeschädigungen wurden vermeldet.
Spätestens seit dieser Zeit bin ich von dem Thema Migration und Fremdenfeindlichkeit nicht nur persönlich – aufgrund der syrischen Herkunft meiner Familie – betroffen, sondern auch beruflich: als Wissenschaftlerin, als Lehrerin, als Funktionärin und als Autorin. Neben dem akademischen Blick von außen hilft mir der persönliche Blick, die Entwicklungen zur Fremdenfeindlichkeit in Deutschland, die Protagonisten und Diskussionen besser erkennen und verstehen zu können. Auch die Beweggründe für mich, dieses Buch zu schreiben, sind unmittelbares Ergebnis meiner alltäglichen beruflichen und persönlichen Erfahrungen – als Privatperson und als Person des öffentlichen Lebens.
Zu Anfang des Jahrtausends machte das altbekannte Motiv der Fremdenfeindlichkeit wieder mal eine Metamorphose durch: Es wurde zur Islamfeindlichkeit. Ein Begriff, ein Sachverhalt, den die Bevölkerung zuvor nicht kannte und angesichts der Anschläge vom 11. September sowie weiterer Attentate auch zunächst nicht verstehen wollte: Wieso sollten jetzt die Muslime bedroht sein? Die bedrohen doch uns! Diese Frage und die dazugehörige Ansicht, von einer ganzen Glaubensgemeinschaft bedroht zu werden, war es, die umtrieb – und es bis heute tut. Mehr noch: Immer stärker rückt diese Überzeugung in den Fokus vieler deutscher Bürger.
Doch es geht im Grunde nicht um Muslime. Diese bieten lediglich zum jetzigen Zeitpunkt und im Zuge jüngster Ereignisse und Entwicklungen eine besonders geeignete Angriffsfläche. Letztlich können die Anfeindungen, die von bestimmten politischen Gruppen und Parteien ausgehen, jeden treffen. In Deutschland wird dieser Tage aggressiv versucht, einen Konformitätsdruck zu erzeugen. Er soll politische Gruppen wie die Partei «Bündnis 90/Die Grünen» marginalisieren, wissenschaftliche Gruppen wie die Genderforschung, sexuelle Gruppen wie Homosexuelle, intellektuelle Gruppen wie Journalisten, religiöse Gruppen wie Kirchenvertreter etc.
Als Lehrerin arbeite ich mit Schülern unterschiedlichster Herkunft. In meiner Dialogarbeit – insbesondere mit jüdischen Kollegen – erlebe ich, dass neben den Muslimen auch viele andere Menschen mit einem vermeintlich fremden Merkmal in diesem Land Probleme im Zusammenleben mit der Mehrheitsbevölkerung haben. In meinen Vorträgen, Lesungen und Reden erfahre ich fast jedes Mal von einzelnen Personen im Publikum eine unbändige Starrsinnigkeit, gepaart mit Chauvinismus und bisweilen offenem Rassismus. Meine Verbandstätigkeit als Gründungsvorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes, die Etablierung von islamischem Religionsunterricht, islamischen Universitätslehrstühlen und meine politischen Beratungstätigkeiten führen mich nicht nur mit Vertretern der großen Parteien in diesem Land zusammen, sondern zwingen mich auch, die Menschen, das Volk in diesem Land genauer zu betrachten.
Ebendiese Beobachtungen alarmieren mich nun schon seit geraumer Zeit. Überall fühlen sich Menschen bedroht – überall muss ich das hören und lesen. Ich habe nie aufgehört, meine Antworten auf diese fatale Schlussfolgerung immer und immer wieder und in allen sozialen Schichten der Gesellschaft zu streuen. Ein Ende dieser Bemühungen ist nicht in Sicht. Nicht alle scheinen mich zu hören. Und allzu viele wollen mich nicht hören.
Diese «neue Fremdenfeindlichkeit» ist die Ausgangslage zu unseren aktuellen Debatten. Meine bisherigen Hauptthemen – Islam im Speziellen und Religion im Allgemeinen – sollen in diesem Buch nur am Rande eine Rolle spielen, denn sowohl der Islam als auch andere Religionen sind nur eine Facette dessen, was unsere Gesellschaft derzeit vor eine Zerreißprobe stellt. Eine Zerreißprobe im wahrsten Sinne des Wortes: Von der einen Seite ziehen die immer radikaleren und immer offener auftretenden völkisch-nationalistischen Gruppierungen und Sympathisanten, von der anderen Seite versuchen die Freunde einer offenen, freien, rechtsstaatlichen, auf Pluralismus und kultureller Vielfalt basierenden Gesellschaft dagegenzuhalten.
Dieses Buch hätte schon vor langer Zeit geschrieben werden können. Vieles von dem, was heute Diskussionsthemen im großen Stil sind, beobachte ich im Kleinen und auf fachlicher Ebene schon seit Jahren. Dabei kommt es auch darauf an, wie sehr man sich selbst in die Öffentlichkeit begibt: Wenn man aktiv an den Debatten zur Entwicklung der deutschen Gesellschaft teilnimmt – im realen Leben oder im virtuellen –, nimmt man diese Spannungen, diesen Druck, die Emotionen, die dieses Land vor eine Zerreißprobe stellen, zunehmend deutlicher wahr. Seit 2015 hielten immer mehr Menschen, die diese Öffentlichkeit selbst erleben, erschrocken inne. Erschrocken über den Hass, den sie da beobachten und erfahren, diese Menschenverachtung, diese längst überkommen geglaubte Nähe zur fatalen Vergangenheit dieses Landes.
Deutsche Menschen schwadronieren offen über das Anheizen der Verbrennungsöfen in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten, von der Wiedereröffnung von Treblinka, von Majdanek, von Auschwitz. Sie tun es im Internet, sie tun es auf offener Bühne. Der Autor Akif Pirinçci spielte bei der Kundgebung der Pegida-Bewegung in Dresden vor fünfzehntausend bis zwanzigtausend Teilnehmern mit diesen Gedanken: «Es gäbe natürlich andere Alternativen. Aber die KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb», sagte er und stellte damit die Gegner der deutschen Asylpolitik auf eine Stufe mit den Verfolgten und Ermordeten des NS-Regimes. Dafür bekam er Applaus. Ungestört redete er weiter, sammelte weiteren Applaus und Jubelrufe seiner Zuhörer ein. Natürlich bleiben Äußerungen wie die von Pirinçci nicht ungestraft, auch das gehört zur Wahrheit: Akif Pirinçci hat mit dieser Rede seine berufliche Zukunft aufs Spiel gesetzt und sich isoliert, selbst Freunde und Mitstreiter distanzierten sich von ihm.
Die Staatsanwaltschaft verfolgt erste Hassparolen auf Facebook, ob von Privatpersonen oder Personen des öffentlichen Lebens. Menschen verlieren ihren Job, ihren Ausbildungsplatz, weil sie im Internet gegen Menschengruppen gehetzt haben. Journalisten stellen Privatpersonen öffentlich an den Pranger, die Flüchtlingen Tod und Verderben an den Hals wünschen. Das sind erste Schritte, um deutlich zu machen: Stopp! Es gibt Grenzen. Aber: Ist es nicht schlimm genug, dass immer mehr Bürger überzeugt sind, es sei legitim, solche Äußerungen zu tätigen? Dass es Bürger gibt, die so etwas für «Meinung» halten?
Es fällt schwer, hier von einer Diskussions-«Kultur» zu sprechen, es handelt sich vielmehr um eine Diskussions-«Dekadenz». Wir erleben eine Agonie des demokratischen Austauschs. Menschen haben sich zum Teil derart verrannt in ihre Überzeugungen, dass kein Zugang zu ihnen mehr möglich ist. Wie kann es dazu kommen? Warum geschieht so etwas gerade mit Menschen aus nahezu allen sozialen Gesellschaftsschichten? Warum sitzen auch Oberstudienräte, Ingenieure, Ärzte und Professoren bei der AFD in der ersten Reihe und klatschen frenetisch, wenn eine ganze Großgruppe von Menschen pauschal herabgewürdigt wird? Auf diese Fragen möchte ich ein paar Antworten geben.
Ich erlebe diese Hetze Tag für Tag. Und das inzwischen seit Jahren. Durch Anfeindungen im Internet, durch Anfeindungen bei meinen öffentlichen Auftritten. Dabei ist es unerheblich, was ich sage. Für die hasserfüllte Ablehnung, die mir entgegenschlägt, reicht es, dass ich überhaupt etwas sage. Denn es gibt genug Mitbürger, die mich als Mensch ablehnen, bloß weil ich arabische Wurzeln habe, und die mich als Mensch ablehnen, bloß weil ich mich trotzdem als Deutsche sehe. Und noch viel mehr Menschen haben ein Problem damit, dass ich es wage, mich mit solchen Voraussetzungen im Gepäck auch noch öffentlich zu äußern. Da werden Versatzstücke aus Reden und Äußerungen genommen und verdreht; wenn ich auf rassistische Vorstellungen hinweisen möchte und zur Veranschaulichung erkläre, dass Deutschsein eben nicht mehr allein heißen kann, blaue Augen und blonde Haare zu haben (das konnte es übrigens auch in der Vergangenheit nicht heißen), dann wird daraus ein Hype konstruiert, der bis ins Ausland schwappt: Die Kaddor möchte Blonde ausrotten, die Kaddor beschwört ein Deutschland ohne Deutsche, sie ist eine Deutschenhasserin, eine «Antigermanistin» (sic!). Wenn die Reaktionen dieser Menschen nicht so verstörend wären, könnte man glatt drüber schmunzeln. Ich meine, was soll ich sonst sagen, wenn ich mich mit schwarzen Haaren und braunen Augen auch als Deutsche sehe?
In jeder öffentlichen Debatte, die den Gedanken an eine völkische deutsche Nation entlang ethnischer und religiöser, sprich christlicher Linien auch nur am Rande berührt, stößt man heutzutage unweigerlich auf diese Hetze. Gewiss, ich könnte mich auch zurückziehen. Aber bislang bin ich ein Teil der öffentlichen Debatten, ich stelle mich diesen Herausforderungen, weil ich es als Bürgerin dieses Staates auch als meine Pflicht sehe, zum Gelingen unseres Zusammenlebens, zum Erhalt unserer Freiheiten beizutragen.
Also erlebe ich Menschen, die vorgeben zu diskutieren, aber nicht diskutieren wollen, sondern ganz im autoritären Sinne ihre Meinung zur Richtschnur erhoben sehen. Demokratie ja, aber nur wenn sie der eigenen Meinung zum Triumph verhilft. Und wenn das geschafft ist, werden anderslautende Stimmen ausgeschaltet. Ein klassisch diktatorisches Denken. Diese Menschen wollen ihre Grenzen abstecken, und alles, was jenseits dieser Grenzen liegt, wird abgelehnt. Natürlich betrifft das nur eine Minderheit in Deutschland – die AFD etwa steht in Wahlumfragen irgendwo zwischen zehn und fünfundzwanzig Prozent. Das heißt, fünfundsiebzig bis neunzig Prozent wählen derzeit keine AFD. Aber mit dieser Erkenntnis ist das Problem nicht erledigt, denn diese Minderheit der Autoritären injiziert ihr Gift in den breiten politischen Diskurs. Und dieses Gift wirkt weit über die eigentliche Gruppe dieser Aktivisten hinaus.
Etablierte Kräfte lassen sich von solchen radikalen Stimmungen treiben – nicht direkt, nicht offen heraus, nicht bewusst. Politiker, Journalisten, Intellektuelle: Für alle ist diese neue Radikalität eine Herausforderung. Und es gibt unterschiedliche Formen, damit umzugehen. Eine Strategie scheint der Versuch der «Widerspenstigen Zähmung» darzustellen. Man versucht, die Radikalen einzufangen, indem man ihnen teilweise nach dem Mund redet, sie als «besorgte Bürger» tituliert, nicht als Rassisten, wie es viele von ihnen in Wahrheit sind. Eine andere Handlungsweise ist die der Stigmatisierung: Radikale werden als solche bewusst ausgeschlossen aus den gesellschaftlichen Verhandlungen.
Meines Erachtens ist die erstere Idee, die des Appeasements, ein fataler Trugschluss. Erkennen wir an, dass man nicht mit allen Menschen reden kann. Es wird immer welche geben, die sich dem gesamtgesellschaftlichen Konsens der Mitte verweigern. Es gab sie auch schon immer. Aber seit uns das Internet Live-Berichterstattungen und Standleitungen zu den Stammtischen der Republik liefert, fühlen wir uns dazu gedrängt, daran teilhaben, darauf eingehen zu müssen. Nur: Rassistisches Gedankengut gehört als solches benannt. Niemand kann und sollte mit überzeugten Radikalen diskutieren, denn ihrer ist der sachliche Dialog nicht. Sie wollen nur eines: die Oberhand gewinnen. Hier bleibt nur noch: sich dagegen zu positionieren. Diese Positionierung zielt weniger auf die Radikalen selbst ab, diese Positionierung zielt auf den großen Teil der Mitte der Gesellschaft ab. Die Menschen in dieser Mitte müssen davon abgehalten werden, aufgrund von überbordender Propaganda und Gruppendruck einzuknicken. Dazu müssen aber auch die freiheitlich-demokratisch gesinnten Kräfte aktiv werden. Dafür müssen sie zum Teil dorthin, wo es schmutzig ist, wo es weh tut.
Von Friedrich Nietzsche stammt die Idee des «feinen Schweigens», der Historiker Fritz Stern hat sie dann in seinem gleichnamigen, lesenswerten Buch aufgegriffen. Das «feine Schweigen» beschreibt die vornehme, gewiss auch bequeme Haltung gebildeter und gut situierter Menschen (Nietzsche nahm sich Goethe zum Beispiel), über das Vulgäre, Proletarische des gemeinen Volkes lieber hinwegzusehen. Fritz Stern nahm diesen Gedanken auf und übertrug ihn auf das Bürgertum der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als dieses sich pikiert von dem Theater, das die junge NSDAP auf den Straßen aufführte, abwandte, in der guten Hoffnung, der Spuk würde schon bald wieder vorübergehen.
Im Mai 2016 griff der «Spiegel online»-Kolumnist Georg Diez in seinem Beitrag «Sie taten liberal» auf diese Gedanken zurück und formulierte sie anklagend gegen das heutige Bürgertum beziehungsweise die gesellschaftliche Mitte, deren Vertreter wieder nur zusehen: «Sie weigerten sich, laut zu werden, sie waren sich zu gut dafür, in den Streit der Meinungen einzugreifen, sie überließen das Feld den Geiferern, sie taten liberal und hatten doch nicht gelernt, für diese Liberalität zu kämpfen.»
Zu dieser gesellschaftlichen Mitte, um deren Köpfe wir kämpfen und die wir aktivieren sollten, zähle ich für meinen Teil sowohl Teile der AFD (Alternative für Deutschland) als auch der MLPD (Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands), Wähler der NPD (Nationaldemokratische Partei Deutschlands) als auch Anhänger der Autonomen-Szene, sowohl Teile des Zentralrats der Ex-Muslime als auch Teile der muslimischen Fundamentalisten. Diese Mitte ist aus meiner Sicht ein sehr weites Feld, das sich allein dadurch abgrenzt, dass man, egal wo man selbst steht, eine gewisse ehrliche Offenheit für die Argumente der Gegenseite mitbringt. Erst wenn dieses Grundprinzip nicht mehr gilt, ist ein Mensch für mich radikal und von dieser Mitte abgerückt.
Die Herausforderungen, die auf uns als Gesellschaft zukommen, sind immens und müssen allen in aller Deutlichkeit und Schonungslosigkeit aufgezeigt werden. Wir müssen über Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Deutschomanie sprechen, über all das, was permanent vor unseren Augen geschieht und doch nicht ernsthaft, sondern allenfalls oberflächlich thematisiert wird. Wir müssen raus aus der Komfortzone. Die Aufgaben, die auf uns zukommen, sind schwierig, und nicht alle werden diese Aufgaben für sich lösen können. Es wird eine Reihe von Verlierern geben. Aber jeder von uns hat die Möglichkeit zu entscheiden, auf welcher Seite er am Ende stehen will. Lassen wir die Radikalen spüren, dass sie sich selbst aus einem vernünftigen Diskurs verabschiedet haben. Sperren wir ihnen die Tür zu und machen sie erst wieder auf, wenn sie ihre Bereitschaft zum Dialog wiedergefunden haben. Bis dahin schicken wir nur noch die Polizei- und Justizbehörden zum Schutz der Gesellschaft zu diesen Leuten raus. Polarisierung sucht man sich nicht aus, Polarisierung ist das Ergebnis vereinfachten Denkens.
In meinem Buch «Zum Töten bereit» führte ich aus, dass Salafismus und Fremden- beziehungsweise Islamfeindlichkeit zwei Seiten derselben Medaille darstellen. Alle Radikalismen fußen auf demselben Sockel. Allein das äußere Erscheinungsbild ist anders. Die Mechanismen, die zur Radikalisierung eines Menschen führen, und die Mechanismen, diese Radikalisierung umzusetzen, sind sehr ähnlich, nahezu identisch. Die Auseinandersetzung mit dem gewaltbereiten Salafismus hat mich gelehrt: Um diese gefährliche Bewegung zu bekämpfen, muss man zugleich die grassierende Islamfeindlichkeit bekämpfen, denn beides dient einander als Legitimation und Triebfeder. Wir werden dem Salafismus niemals etwas Effektives entgegenstellen können, wenn wir nicht zugleich eine der zentralen Ursachen beseitigen beziehungsweise entschärfen. Dieses Muster lässt sich übertragen. Wir werden den Neonazismus nicht eindämmen können, wenn wir die Kriminalität und Radikalität von Ausländern nicht gleichsam bekämpfen. Wir werden Linksextremisten nicht einhegen können, wenn wir dem Raubtierkapitalismus keine Grenzen setzen.
Entsprechend dieser Logik ist es im Hinblick auf das Thema dieses Buchs lange, lange überfällig, sich endlich dem Streben einiger Landsleute entgegenzustellen, die lautstark vorgeben, auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen, und eine «völkische Gemeinschaft» fordern. Diese «Deutschomanie», wie ich es nenne, unterscheidet sich von den bisherigen Vorstellungen des Rechtsradikalismus. Beim Rechtsradikalismus ist das völkische Gedankengut ein fester Bestandteil. Ein weiterer fester Bestandteil des klassischen Rechtsradikalismus ist aber auch die Ablehnung demokratischer Werte und die Bereitschaft zur Gewalt. Diese Elemente jedoch lehnen Deutschomanen nach außen ab beziehungsweise würden ihre Zustimmung dazu nicht offen zugeben. In ihrer Vorstellungswelt ist die Demokratie dem völkischen Gedanken untergeordnet. Demokratie und Gewaltlosigkeit kann sich erst dann entfalten, wenn eine ethnisch weitgehend homogene Gesellschaft (wieder)hergestellt ist. Mitunter sind ihnen diese Zusammenhänge gar nicht bewusst, aber dadurch, dass sie permanent von Freiheit und Demokratie und Einhaltung des Grundgesetzes reden, sorgen sie im Rest der Bevölkerung für Verwirrung. Da das eben nicht zur herkömmlichen Vorstellung von Rechtsradikalismus passt, können viele dieses Phänomen bis heute kaum einschätzen. Diese Problematik ist zum ersten Mal durch Thilo Sarrazins Buch «Deutschland schafft sich ab» für alle wahrnehmbar zutage getreten. Das wochenlange Aufsehen um ihn und sein Buch erklärt sich auch mit ebendieser Verunsicherung über die Ausdifferenzierung des politischen Spektrums in Deutschland.
Die Stimmen dieser Gruppe, dieser Menschen und ihrer Sehnsucht nach dem «Deutsch-Deutschen» dürfen wir nicht überhören, diese Menschen dürfen wir nicht aus den Augen lassen. Sie sind heute eine der Hauptgefahren für Frieden und Freiheit und Demokratie in diesem Land. Was viele von ihnen betreiben, ist nicht weniger als: organisierter Hass. Hass ist ihr Antrieb und auch ihr Mittel. Mithin ist dieses Buch ein Appell an die Politik, endlich den nötigen Mut aufzubringen, sich mit dieser gesellschaftlichen Gruppe der «Deutschomanen» auseinanderzusetzen. Unsere Demokratie ist in Gefahr.
Ich möchte mich hier klar gegen die aussprechen, die sich jeder Annäherung, jeder differenzierten und abwägenden Diskussion vehement verwehren. Die, die die Brücken in die Mitte unserer Gesellschaft hinter sich abgebrochen haben und nicht bereit sind für ein Aufeinanderzugehen. Denn ein Aufeinanderzugehen – das ist wohl das Mindeste, was man einem jeden Mitglied einer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft, das wahrgenommen werden will, abverlangen können muss.
Dieses Buch soll all solchen Bürgern, die ganzen Gruppen von Menschen feindlich gesinnt sind, deutlich machen, dass sie keinen Platz in Deutschland haben werden – außer am Rande der Gesellschaft. Und dort ist es ungemütlich. Das Buch soll aber auch klarmachen: Wenn die Politik, wenn wir anderen Bürger nicht aufpassen, nicht aufwachen, wird sich diese Ungemütlichkeit vom Rand her in die Mitte der Gesellschaft bewegen – zum Schaden aller.
Ich schreibe dieses Buch aber auch, um Ängste abzubauen. Ängste von echten besorgten Bürgern, von Menschen, die sich um die Zukunft sorgen, die Angst vor der zunehmenden Veränderung der Gesellschaft haben. Das ist weder verwerflich noch problematisch. Jeder kann und darf solche Sorgen haben. Nur muss man sich damit auseinandersetzen. Sachlich. Denn anders als alle fanatischen, alarmistischen und angstschürenden Politiker und Aktivisten uns weismachen wollen, wandelt sich Deutschland nur sehr gemächlich – und dieser gemächliche Wandel ist seit Jahrtausenden ein Normalzustand für die Gesellschaften in Europa. Das deutsche Volk wird weder «ausgetauscht», noch findet eine «Umvolkung» statt, wie es in Kreisen rechtsradikaler und neonazistischer Scharfmacher immer wieder heißt.
Ich möchte also auch Antworten finden für Menschen, die zweifeln – selbst wenn diese Antworten nicht immer angenehm sein werden. Ich werde sicher auch schmerzhafte Wahrheiten benennen, denen wir trotzdem ins Auge blicken müssen. Das wird mir weiteren Hass einbringen, aber die Hoffnung, dass dieses Buch am Ende auch Gutes schaffen, etwas bewirken kann, überwiegt.
Schweigen, Wegducken, Ablenken – das darf keiner mehr tun, dem etwas an seinem Land liegt. Das wurde schon zu lange getan. Wir alle müssen uns verantwortlich fühlen und Verantwortung übernehmen. Müssen uns den aktuellen Entwicklungen innerhalb unserer Gesellschaft stellen und uns ihnen entgegenstellen. Und ich habe mir zur Aufgabe gemacht, genau das zu tun und niemanden von dieser Pflicht auszunehmen.
Dieses Buch ist eine Bestandsaufnahme, eine Streitschrift, eine Anklage und ein Vermittlungsversuch – von einer deutschen Verfassungspatriotin mit syrischen Wurzeln.
Wir haben ein Rassismusproblem in Deutschland. Lasst uns endlich öffentlich darüber reden.
Es gibt verschiedene Erklärungsmuster für das Entstehen von Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit. Endgültig geklärt ist die Frage danach nicht, und sie wird es vermutlich auch nie sein, denn dazu ist der Mensch einfach ein zu komplexes Wesen. Ich möchte hier nicht umfassend in die theoretische Materie einsteigen, das können im Zweifelsfall auch die Soziologen in diesem Land besser. Aber ich halte es für wichtig, sich zu diesem Thema ein paar tiefergehende Gedanken zu machen, sich mit dem Begriff und seiner Bedeutung auseinanderzusetzen. Denn dadurch lernt man viel über einige Entwicklungen in unserer Gesellschaft.
Rassismus hat nichts mit menschlichen Rassen zu tun. Bereits dieser Gedanke deutet auf rassistische Ansichten hin. Oder wie es der amerikanische Journalist und Autor Ta-Nehisi Coates sagt: «Rasse ist das Kind des Rassismus, nicht seine Mutter.» Mein Verständnis von Rassismus gründet sich auf Stuart Hall und Robert Miles. Halls Vorstellung vom «Rassismus ohne Rassen» hat den biologischen Argumenten früherer Jahre meines Erachtens wirksam den Boden entzogen. Und Miles bringt die soziale Konstruktion des Rassismus treffend auf den Punkt, wonach Rassismus ein «Fall ideologischer Bedeutungsbildung» ist, «in dem eine soziale Gruppe als eine diskrete und besondere, sich selbst reproduzierende Bevölkerung konstruiert wird. Dies geschieht unter Bezugnahme auf bestimmte (reale oder vorgestellte) biologische Merkmale und durch eine Verknüpfung mit anderen negativ bewerteten (biologischen und/oder kulturellen) Eigenschaften.»
Nach solchen Definitionen sind auch Einwände wie etwa, Juden oder Muslime seien keine Rasse, könnten somit auch nicht Opfer von Rassismus sein, substanzlos. Rassismus kann von allen ausgehen – von Menschen, die in der Mehrheit sind, aber auch von Menschen, die in der Minderheit sind. Rassismus hat nichts mit Logik zu tun. Rassismus entsteht nicht im Kopf, sondern im Bauch. Es geht um Emotionen: Angst, Unsicherheit, Selbstzweifel, Unzufriedenheit, Minderwertigkeitsgefühle.
Schon in den neunziger Jahren ist es niemandem gelungen, einem Rassisten auszureden, dass Ausländer den Deutschen nicht die Arbeitsplätze wegnehmen. Unzählige Traktate, Medienberichte, Interviews, Stellungnahmen gab es zu dieser Frage. Und schon immer war klar, dass rein sachlich an dieser Feststellung nichts dran ist. Wir wissen, dass die Gastarbeiter ins Land gekommen sind, weil es in Deutschland zu wenig Arbeitskräfte gab beziehungsweise weil einige Bürger gewisse Arbeiten nicht mehr machen wollten, weil sie es zu mehr Wohlstand gebracht hatten. Wir wissen auch, dass Flüchtlinge nicht sofort auf den Arbeitsmarkt dürfen, wenn sie in Deutschland ankommen, und wir wissen auch, dass sie als letztes Glied der Kette bei der Vergabe eines Arbeitsplatzes zum Zug kommen würden. Das galt früher noch strikter als heute.
Aber nach wie vor gibt es in Deutschland gesetzliche Regelungen, wonach erst Deutsche, dann EU-Ausländer/innen und an dritter Stelle erst Menschen, die sogenannten Drittstaaten angehören, Anspruch auf einen Arbeitsplatz haben. Der Migrationsrat Berlin-Brandenburg zum Beispiel spricht für den Personenkreis von einem faktischen Arbeitsverbot, und zwar vor allem in einer Stadt wie Berlin mit hoher Arbeitslosenquote. Das heißt also, gerade dort, wo viele Menschen um eine Arbeitsstelle konkurrieren, haben die «echten Ausländer» die schlechtesten Karten auf eine Anstellung. Also nichts mit: «Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg.»
Aber hat das den Rassismus, die Fremdenfeindlichkeit reduziert? Mitnichten. Wir müssen nur an die Ausfälle in Heidenau, Freital, Clausnitz und vielen anderen Orten in Deutschland denken – oder an Thilo Sarrazin mit seinem megaerfolgreichen Buch, das am Ende des Tages nur eines erreicht hat: die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit im Land weiter zu schüren. Wir können davon ausgehen, dass sowohl Sarrazins Thesen als auch die bisweilen positive öffentliche Verhandlung dieser Thesen (sie wurden ernst genommen, sie wurden als Diskussionsgrundlage genommen, bekannte Politiker, Intellektuelle und Journalisten – der Philosoph Peter Sloterdijk, die SPD-Politiker Helmut Schmidt und Klaus von Dohnanyi, die Journalisten Matthias Matussek, Jan Fleischhauer oder Michael Klonovsky – verteidigten seine Thesen, wenn auch nicht in allen Punkten) die Mitte der Gesellschaft motiviert haben, an Demonstrationen wie Pegida teilzunehmen.
Die eingefleischten Rassisten wissen natürlich, dass viele ihrer «Argumente» der Logik nicht standhalten. Aber sie wissen auch, dass sich ihre «Argumente» trotzdem und nach wie vor in der Bevölkerung verfangen. Warum? Weil die Bevölkerung, die für solche Thesen zugänglich ist, solche Aussagen nicht hinterfragen will und hinterfragen kann. Sie klingen möglicherweise für den Moment sogar nachvollziehbar: Mehr Ausländer im Land gleich mehr Konkurrenz um den Arbeitsplatz für die Alteingesessenen.
Rassismus hat zwei Dimensionen: die individuelle und die gesellschaftliche. Rassismus kann frühzeitig oder auch sehr spät im Leben eines Individuums zum Vorschein treten. Ich selbst kann beispielsweise schlechte Erfahrungen etwa in einer Beziehung mit einem «Ausländer» machen, und um diese Erfahrungen zu verarbeiten, projiziere ich meine Gedanken einfach auf die gesamte Gruppe, der ich diesen Menschen, der mich so verletzt hat, zuordne: Das können «die Russen» sein, das können «die Türken» sein, das können auch einfach «die Ausländer» sein.
Personen wie etwa Ayaan Hirsi Ali, Mina Ahadi oder andere haben in ihrem Leben schreckliche Erfahrungen mit der eigenen Familie oder dem eigenen familiären Umfeld gemacht. Hirsi Ali und Ahadi machen dafür «die» Religion verantwortlich – und mithin diejenigen, die dieser Religion anhängen. Solche Vorlagen sind wiederum Wegweiser für andere Menschen. Menschen, die selbst gar keine schlechten Erfahrungen mit «Fremden» gemacht haben, aber trotzdem zu Rassisten oder Fremdenfeinden geworden sind.
Die kritische Psychologie hat ebenfalls Erklärungsmuster für Rassismus erarbeitet. Menschen haben Angst vor einer Umgebung, die sich rasch und massiv zu verändern scheint. Denken wir nur an Stadtteile wir Duisburg-Marxloh oder Berlin-Neukölln: Menschen, die dort bereits seit dem Zweiten Weltkrieg oder noch länger heimisch sind, finden heute ein ganz anderes Umfeld vor als noch 1955. Auch hier fällt die Vorstellung nicht schwer, dass einige mit so einer Veränderung besser umgehen können als andere.
Diejenigen, die nicht besser damit umgehen können, sind erst einmal hilflos. Sie suchen nach Erklärungen, nach Möglichkeiten, ihre neue Situation zu erfassen. An dieser Stelle werden ihnen nun Sündenbocke angeboten. Sie lernen von den gesellschaftlichen Debatten, wem man ganz gut die Schuld für die Veränderungen zuschieben kann. Nach dem Krieg waren es die Vertriebenen aus Ostpolen, dann kamen die Gastarbeiter, wahlweise unterteilt in «Itaker», «Polacken» oder «Kümmeltürken», in den neunziger Jahren kam dann die «Asylanten-Flut», seit den nuller Jahren fällt der Fokus auf die Muslime, und diesen Fokus teilen sie sich heute mit den Flüchtlingen. Auf wen das Augenmerk jeweils fällt, ist auch ein Produkt der öffentlichen Debatten, des Auftretens von Vorsprechern.
Wenn man solche Kurzschlüsse aus der Welt schaffen will, muss man anfangen zu erklären. Damit ist man bei vielen Menschen schon raus aus dem Spiel. Man ist immer im Nachteil gegenüber Populisten, denen die Logik egal ist und die sich am Ende in einer Diskussion einfach im Kreis drehen und wieder von vorne anfangen – es ist wie beim Wettrennen von Hase und Igel. Das Problem an vereinfachten Thesen ist, dass es immer vieler Exkurse, Differenzierungen und Querverweise bedarf, um sie zu entkräften. Und auf diese Umwege müssen die Menschen, die diese Vereinfachungen vertreten, mitgenommen werden. Man kann in einer Diskussion in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat aber nur die Leute mitnehmen, die freiwillig mitkommen wollen. Das sind also solche Leute, die zumindest eine grundsätzliche Bereitschaft aufweisen, sich Argumente anzuhören.
Auf die absolute Mehrheit in Deutschland treffen dieser Wille und diese Bereitschaft zu. Auf einen gewissen Teil nicht. Letztere begeben sich immer wieder in meine Veranstaltungen. Ich erkenne sie nicht zuletzt daran, dass sie sich im Prinzip all ihre kritischen Fragen längst selbst beantwortet haben. In Veranstaltungen zum Thema Islam setzen sie sich aber trotzdem, um sich selbst, dem Publikum, vor allem aber mir zu beweisen, dass sie bereits eine «Lösung für das Problem» gefunden haben.
Ich erinnere mich an einen Vortrag in Bad Münder. Betitelt war die Veranstaltung mit: «Was ist der Islam?» Es war ein freier Vortrag ohne Skript und ohne die geplante Powerpoint-Präsentation, die ausfiel, weil die Technik versagt hatte. Nach den ersten Sätzen begann ein Mann in der ersten Reihe die erste «Frage» zu stellen. Es war aber keine Frage, sondern eine als Frage verklausulierte Aussage: «Was ist mit den gewaltverherrlichenden Passagen im Koran? Solange dies drinsteht, kann man nur zum Terroristen werden.»
In diesem Ton und mit dieser Art von «Fragen» ging es dann eineinhalb Stunden weiter. Immer wieder meldete er sich zu Wort:
«Was sagt denn der Koran zu Frauen? Er ist ja sehr frauenunterdrückend.»
«Wieso lehnen die Muslime die Scharia nicht ab? Solange sie dies nicht tun, besteht keine Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben.»
«Es kommen doch alle terroristischen Anschläge aus dem Islam. Also ist der Islam doch das Problem?»
«Wir leben in einer Demokratie. Wer außer dem Islam macht denn hier sonst Probleme?»
«Ich bin Psychotherapeut, und aus meiner Sicht ist der Islam als die Grundlage für extreme Taten und Handlungsweisen bei Muslimen verantwortlich.»
Solche Situationen demaskieren diese Menschen. Denn irgendwann wird auch dem Letzten im Publikum klar, dass hier jemand seine fremdenfeindliche Gesinnung hinter vermeintlich kritischen Fragen verstecken will. Nachdem der Mann aus Bad Münder mindestens fünfzehn dieser Kommentare und «Fragen» loswerden konnte, entwickelte sich im Publikum spürbar ein immer größerer Widerstand gegen seine Schwarz-Weiß-Sicht.
Aber auch ich komme bei solchen Dialogen, für die dies ein sehr typisches Beispiel ist, an meine Grenzen, denn es ist ein Ding der Unmöglichkeit, diese Zuhörer zu mehr Differenzierung zu ermuntern. Im Grunde genommen ist der Mann ein lebendes Beispiel dafür, wie gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit funktioniert. Es war ihm völlig egal, dass ein gläubiger Muslim neben ihm saß, der sich weigerte, mit Islamisten gleichgesetzt zu werden. Auch eine weitere Muslima mit Kopftuch saß im Publikum und sprach sich vehement gegen solche Darstellungen aus. Aber nichts und niemand hätte diesen Mann an diesem Abend von seiner Haltung abbringen können.
Wenn man sich nun die Wahlergebnisse in westeuropäischen Ländern (bei den osteuropäischen Staaten ist die Sache etwas anders gelagert, hier muss man auch die unterschiedliche geschichtliche Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg berücksichtigen) für rechtsradikale und rechtspopulistische sowie linksradikale und linkspopulistische Parteien anschaut, dann kann man über den Daumen gepeilt sagen: Die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit betrifft in etwa ein Fünftel bis ein Drittel der Bevölkerungen.
Radikale Verhaltensweisen haben in der Regel immer persönliche Ursachen. Oft stehen hinter solchen Verhaltensmustern schlimme Lebensgeschichten. Diese Probleme lassen sich nur in einer ganz intensiven persönlichen Arbeit aufbrechen. Denn gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit basiert nicht auf logischen Überlegungen, sondern ist das Ergebnis emotionaler Defizite. Dieser Mangel an persönlichem Sicherheitsgefühl und Festigkeit im Leben lässt sich von außen nur schwer kompensieren.
Das bedeutet nicht, dass man diese Verhaltensweisen dulden darf. Man muss sich aber darüber im Klaren sein, dass es zwischen der Ablehnung bestimmter Haltungen und der Ablehnung eines Menschen als Person große Unterschiede gibt. Es gibt Menschen, die einfach nicht mehr bekehrbar sind, die tiefergehende psychische Probleme haben und deren Rassismus ein Ventil für ihren Selbsthass ist. Die Hilfe, die solche Menschen benötigen, kann die Gesellschaft nur bedingt leisten. Hier ist das persönliche Umfeld gefragt. Nur jemand, der der betreffenden Person nahesteht und sie auch im Alltag begleitet, kann hier effektiv helfen.
Reporter eines deutschen Fernsehmagazins machten 2015 einen Hetzer gegen Flüchtlinge auf Facebook ausfindig. Es handelte sich um einen 1-Euro-Jobber, einen im philanthropischen Sinn armen Menschen, schüchtern, mit ausgefallenen Zähnen, einen Verlierer dieser Gesellschaft, einen, dem das Leben offenbar nie wohlgesinnt war, seit der Wende arbeitslos, unzählige Bewerbungen ohne Erfolg. Ihm fehle nach eigenem Bekunden die Ausbildung. Auf den Hinweis der Reporter hin, dass die Flüchtlinge doch nichts dafür könnten, antwortet er ebenso ratlos wie schnell: «Aber ich doch auch nicht!» Das Beispiel zeigt, wie wichtig Schul-, Sozial- und Familienpolitik ist. Fast alle gesellschaftlichen Probleme nehmen hier ihren Ausgang. Später kann die Gesellschaft daran nur noch wenig ändern. Man darf solche Menschen nicht als Menschen verachten, was jedoch verachtenswert ist, sind ihre Äußerungen.
Die Aufgabe der Gesellschaft muss darin bestehen, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gar nicht erst aufkommen zu lassen. Ist sie dennoch entstanden, muss man alle Ansätze in diese Richtung klipp und klar verurteilen. Rassismus lässt sich nicht wegdiskutieren, Rassismus kann nur jeder für sich selbst überwinden, wenn er bereit dazu ist. Wichtig ist nur, dass man Rassisten nie, nie aus den Augen lässt. Und es nicht verharmlost, wenn rassistisches Gedankengut als «Fremdeln» ausgelegt wird. Denn das bringt uns wirklich in Gefahr.