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Lamya Kaddor

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Beschreibung

»Wir sehen uns im Paradies«, schrieben die fünfzehnjährige Sabina und ihre Freundin Samra an ihre Eltern, bevor sie spurlos nach Syrien verschwanden. Ahmed C. ist in Ennepetal geboren und liebte Fußball – bevor er sich als Selbstmordattentäter in Bagdad in die Luft sprengte. Über fünfhundertfünfzig deutsche Dschihadisten, der jüngste von ihnen dreizehn Jahre alt, befinden sich zurzeit unter den IS-Kämpfern und dienen als »Gotteskrieger«, während ihre Freunde zu Hause in Deutschland Abitur machen. Die islamische Religionslehrerin und Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor kennt selbst zahlreiche junge Menschen, die auf der Suche nach Anerkennung und Akzeptanz der Dschihad-Romantik verfallen sind. Sie berichtet von einer orientierungslosen Generation und erklärt, was wir tun können und müssen, um die Radikalisierung unserer Kinder zu stoppen.

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Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

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Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Es gibt keine Zufälle

Vorwort

Dieses Buch wäre vermutlich nie entstanden, wenn ich nicht in mehrfacher Hinsicht betroffen wäre. Es geht um Syrien, es geht um Jugendliche in Deutschland, und es geht um den Islam. Zu allen drei Themen habe ich starke Bezüge.

Ich bin gläubige Muslimin und als Kind syrischer Eltern 1978 in Deutschland geboren. Ich bereiste Syrien beinahe jährlich. Seit fast vier Jahren ist mir das nicht mehr möglich. Dass es dort einmal zu solch einem Bürgerkrieg kommen würde und ich mich wegen dieses Teils meiner Identität und vor einem so katastrophalen Hintergrund erneut mit der Frage nach Heimat auseinandersetzen müsste, hätte ich nicht für möglich gehalten. Syrien war seit meiner Kindheit ein fester Bezugspunkt für mich. Syrien bedeutete für mich Familie, Fernweh, aber auch Fremdheit.

Als ich mich nach dem Abitur 1997 entschloss, Arabistik und Islamwissenschaft zu studieren, war das eine reine Bauch- und Sympathieentscheidung. Ich hätte nie daran gedacht, dass ich mit diesem Studium jemals etwas zum Zusammenleben der deutschen Gesellschaft beitragen könnte.

Im Jahr 2003 begann ich, im Stadtteil Dinslaken-Lohberg als Lehrerin für Islamkunde (seit 2014 als Lehrerin für Islamischen Religionsunterricht) zu arbeiten. Inzwischen muss ich in den letzten zwölf Jahren weit mehr als 1000 Schülerinnen und Schüler muslimischen Glaubens unterrichtet haben. Bereits zu Beginn meiner Tätigkeit stellte ich große soziale und emotionale Defizite bei meinen Schülern fest. Seit Jahren beschäftige ich mich mit der Problematik der sozialen und emotionalen Integration dieser muslimischen Jugend.

Im Frühjahr 2013 wurde ich dann von der Nachricht überrascht, dass eine Handvoll meiner ehemaligen Schüler in das Land meiner Eltern gereist war, um sich dort an den Aktionen der islamistischen Terrorgruppen zu beteiligen. In Deutschland waren sie von Salafisten angeworben worden. Sie hatten sich ihnen angeschlossen, weil sie bei ihnen das zu bekommen glaubten, was sie zuvor vergeblich suchten: Respekt, Orientierung und Zusammenhalt. Das Ganze traf mich wie ein Schlag. Ich begann, mich noch intensiver als früher mit den Fragen des Salafismus zu beschäftigen. In den Medien wurde und wird derweil vieles dazu geschrieben. Aber stimmt das auch? In seiner Titelgeschichte »Der Dschihad-Kult« vom 18. November 2014 skizziert der Spiegel beispielsweise zwei in Deutschland angeworbene Kämpfer wie folgt: »Es sind junge Männer wie David G. aus dem Allgäu, ein höflicher, ruhiger Junge, der eine Lehre machte und 18 war, als er Deutschland verließ, sich dem IS anschloss und getötet wurde im Gefecht. Männer wie Mustafa K. aus Dinslaken, der mit abgetrennten Köpfen in Syrien in die Kameras lächelt. Übergewicht, schlecht in der Schule, keine Chance bei Frauen, einer, der oft verprügelt wurde und zu viel trank und im Morgengrauen besoffen in der Dönerbude am Marktplatz saß.«

Ich schreibe dieses Buch nicht als ausgewiesene Salafismusexpertin. Da die Bewegung des Salafismus noch so jung ist, stehen Forscher, Behörden und Praktiker ohnehin erst am Anfang, wenn es darum geht, das Phänomen zu begreifen. Zum jetzigen Zeitpunkt kann also niemand allgemeinverbindliche Aussagen auf der Grundlage von wissenschaftlichen Daten treffen. Vieles basiert auf Beobachtungen und ersten Analysen. Wir müssen uns dem Problem noch viel weiter annähern. Denn wir können dem Salafismus in Deutschland erst dann gezielt und effektiv etwas entgegenstellen, wenn wir ihn richtig verstehen.

Ich schreibe dieses Buch, weil ich junge Menschen kennengelernt und zeitweise begleitet habe, die sich haben verführen lassen. Ich konnte mit Menschen sprechen, deren Kinder verschwunden sind. Ich habe mit Jungen wie Mädchen gesprochen, die in den selbst ausgerufenen Dschihad gezogen sind und wiederkamen oder hier dafür werben. Und ich kenne mich als Islamwissenschaftlerin mit jener Religion aus, die hier von Extremisten benutzt wird.

In diesem Buch möchte ich Fragen stellen und nach Antworten suchen. Lässt sich die Radikalisierung aufhalten? Wie? Mit welchen Menschenfängermethoden gewinnt der politische Salafismus unsere Kinder? Warum lassen sich muslimische wie nichtmuslimische Kinder im 21. Jahrhundert überhaupt auf eine alte, äußerst dogmatische Lehre ein? Gibt es Unterschiede zwischen deutschstämmigen Familien und Familien mit ausländischen Wurzeln? Das Buch gibt Einblicke in die Gedankenwelt von jungen Deutschen, die bereit sind, im Irak und in Syrien zu töten. Nur, wenn wir verstehen, was unsere Kinder antreibt, sind wir in der Lage, mögliche Präventionsmaßnahmen zu entwickeln. Ich möchte zeigen, dass wir alle dazu beitragen können und müssen, dass salafistische Menschenfänger weniger erfolgreich Jagd auf unsere Jugend machen können.

1

Ist Salafismus in Deutschland gefährlich?

Es gibt wenige Begriffe, die in unserer Gesellschaft so schnell Karriere gemacht haben, wie der des »Salafismus«. Das Wort war vor weniger als zehn Jahren gerade mal einer Handvoll Experten bekannt. In seiner heutigen Bedeutung bezeichnet es ein relativ neues Phänomen des Extremismus, das neben die schon länger bekannten Formen des Rechts- und des Linksextremismus getreten ist. Der Verfassungsschutz befasst sich seit 2006 mit dem Salafismus. Nur kurz davor hatte einer der bis heute prägenden Köpfe der Bewegung, Pierre Vogel, die Öffentlichkeit gesucht. Bereits damals sorgte er unter Jugendlichen mit öffentlichen Auftritten und Darstellungen im Internet für Aufsehen. Auch ich nehme das Phänomen seit etwa dieser Zeit bei meiner Arbeit verstärkt wahr.

Zunächst müssen wir kurz klären, was Salafismus überhaupt ist. Der religiöse Salafismus ist eine Strömung innerhalb des Islam. Im Islam gibt es verschiedene Glaubensrichtungen wie die der Sunniten und der Schiiten sowie liberale, konservative und fundamentalistische Hauptströmungen, die sich wiederum unterteilen lassen. Der Salafismus gehört zum sunnitischen Islam und ist ein Teil des fundamentalistischen Spektrums. Fundamentalisten geben vor, sich auf die Ursprünge der Religion zu konzentrieren. Sie wollen den Koran wortwörtlich verstehen. Damit ignorieren sie, dass die Zeit stetig fortschreitet und neue Erkenntnisse bringt. Fundamentalisten sind rigide, verweigern Kompromisse und wehren jegliche Kritik an ihren Auffassungen ab.

Der Salafismus selbst lässt sich ebenfalls unterteilen: in eine unpolitische Strömung, in der es den Anhängern nur darum geht, ihre religiösen Vorstellungen privat zu leben. Hier sprechen wir von puristischem Salafismus. Dann gibt es politische Salafisten, die gezielt die Gesellschaft und den Staat, in dem sie leben, durch Missionierung nach ihren Vorstellungen verändern wollen. Die dritte Gruppe schließlich setzt sich aus dschihadistischen Salafisten zusammen. Sie wollen auch die Gesellschaft verändern, das aber unter ausdrücklicher Einbeziehung von Gewaltanwendung. Die Bezeichnung »dschihadistisch« kommt vom arabischen Wort dschihad. Im Deutschen wird das zumeist mit »Heiliger Krieg« übersetzt, womit der bewaffnete Kampf für die Religion des Islam gemeint ist. Die Übersetzung ist unglücklich, weil sich die Vorstellung von »heilig«, wie man sie im Christentum kennt, so nicht einfach auf den Islam übertragen lässt.

Der Begründer der sunnitisch-hanafitischen Rechtsschule, Abu Hanifa (699 – 767), soll die Welt schon in der Frühzeit des Islam in dār al-harb (wörtl. »Haus des Kriegs«) und dār al-islām (»Haus des Islam«) eingeteilt haben. So werden Gebiete, in denen der Islam und damit die Scharia nicht als Gesetzesgrundlage praktiziert werden, als dār al-harb bezeichnet. Alle anderen Gebiete, in denen der Islam das Staatsgefüge bestimmt, nennt man dār al-islām. Etwas später wurde dann zur Aufweichung dieser Polarisierung auch noch die Kategorie des dār al-’ahd (»Haus des Vertrags«) eingeführt. Das sind Gebiete, in denen rechtliche Absprachen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen getroffen wurden und somit ein befristeter Frieden gesichert wurde. Nach klassischer theologischer Vorstellung heißen die Kriege gegen die Menschen im Kriegsgebiet dschihād. Der Märtyrertod wird als schahīd bezeichnet.

Dschihad bedeutet aber zunächst schlicht »Anstrengung« oder »Bemühung«. Es gibt zwei Formen dieser Bemühung: Die wichtigere Bemühung liegt darin, täglich eine Art Selbstüberwindung und -läuterung durchzuführen. Das ist der dschihād al-akbar, der »größere Dschihad«. Der »kleinere Dschihad« (dschihād al-asghar) bezieht sich vor allem auf kriegerische Verteidigungskämpfe, aber auch auf Eroberungskämpfe. Diese theologischen Konzeptionen müssen im historischen Kontext betrachtet werden. Um beispielsweise einen kriegerischen Dschihad auszurufen, bedarf es eines religiösen Oberhaupts, dem alle Muslime auf der ganzen Welt loyal ergeben sind. Da dies seit dem Tod des Propheten Muhammad de facto nicht mehr der Fall ist, wird es nie einen Dschihad geben können, an dem sich alle Muslime geschlossen beteiligen würden. Auch das völkerrechtliche Verständnis von Kriegs- und Friedensgebiet ist damit im Grunde hinfällig, da es keinen von allen Muslimen anerkannten Kalifen mehr gibt.

Fakt aber ist heute: Die Idee des Dschihad wird ungeachtet dessen, in allen Nuancen seiner Bedeutung gelebt. Der kriegerische Dschihad ist de facto Realität, auch wenn er kaum noch etwas mit den klassischen religiösen Überlegungen zu tun hat, sondern vorwiegend auf dem brutalen weltlichen Machtstreben einiger selbsternannter Anführer beruht. Vor allem aus einer politischen Motivation heraus entsteht also der Wille, die ganze Welt den religiösen Überzeugungen der jeweils treibenden Kraft zu unterwerfen. Wie das zu geschehen hat – ob mit Gewalt oder ohne –, wird allerdings sehr unterschiedlich verstanden – auch bei den Salafisten. Ihnen gilt der Islam als die beste Religion, und sie sind davon überzeugt, dass ihre Religion für alle gelten muss. Allerdings gehen die Puristen unter ihnen nicht kämpferisch vor, sondern missionieren mit gewaltfreien Mitteln. Und selbst wenn auch das nicht unserer Toleranzvorstellung entsprechen mag, so stellen diejenigen keine direkte Bedrohung für uns dar.

Anders ist es mit jenen Salafisten in Deutschland, die als Prediger agieren und die politischen und gesellschaftlichen Strukturen verändern wollen, auch wenn sie nicht direkt zu Gewalt aufrufen, und natürlich mit solchen, die aktiv Werbung für den dschihadistischen Salafismus machen. Letztere werden von Staat und Polizei verfolgt, inhaftiert oder gegebenenfalls abgeschoben. Was jemand in seinen eigenen vier Wänden glaubt, geht dagegen erst einmal niemanden etwas an. Und gegen öffentliche Prediger, die nicht zu Gewalt aufrufen, können die Sicherheitsbehörden eines demokratischen Rechtsstaats kaum vorgehen. Sie müssen von uns, der Zivilgesellschaft, mit den Mitteln der Aufklärung bekämpft werden. Denn brandgefährlich sind auch die politischen Salafisten, die sich friedlich geben. Es sind vor allem sie, die Jugendliche anlocken, mit der salafistischen Szene in Kontakt bringen und in das Gedankengut einführen. Wer dann erst einmal in der Szene ist, kommt auch leicht in Berührung mit dschihadistischen Salafisten.

Salafismus in Deutschland können wir auch nicht mit der Terrorgruppe »Islamischer Staat« gleichsetzen. Diese nutzt zwar den dschihadistischen Salafismus als ideologischen Rahmen für ihren Terror, aber nicht jeder Salafist schließt sich dieser Gruppe an, die im Irak und in Syrien mit schockierender bestialischer Gewalt eine Region besetzt und den Menschen dort ihre Schreckensherrschaft aufgezwungen hat. Früher schlossen sich kampfbereite deutsche Salafisten noch unterschiedlichen islamistischen Terrorgruppen in Syrien an, seit dem Aufstieg im Sommer 2014 und den militärischen Erfolgen üben die IS-Dschihadisten nun die größte Anziehungskraft auf gewaltbereite Salafisten in Deutschland aus. Sie haben das zuvor dominierende Terrornetzwerk al-Qaida in den Schatten gestellt.

Bis Ende 2014 waren nach Angaben der deutschen Behörden etwa 550 Menschen aus Deutschland ausgereist, um im Irak und in Syrien zu kämpfen. Etwa 60 starben dort. Knapp ein Drittel kam zurück und lebt nun wieder in Deutschland. Die Zahl der Salafisten bewegte sich nach Darstellung des Verfassungsschutzes zu diesem Zeitpunkt auf knapp 7000 Mitglieder zu. Die Zahl bezieht sich allerdings nur auf den harten Kern, Sympathisanten im Umfeld sind dabei nicht eingeschlossen. Es ist jedoch weniger die reine Zahl der Mitglieder, die die Szene so gefährlich macht. Das quantitative Bedrohungspotenzial im rechtsextremistischen Bereich ist deutlich größer. Auch die Linksextremisten können noch wesentlich mehr Menschen mobilisieren. Unter 4,5 Millionen Muslimen machen Salafisten in Deutschland nur einen verschwindend geringen Anteil aus, erst recht in Relation zu mehr als ca. 80 Millionen Deutschen. Das besonders Besorgniserregende am Salafismus ist seine Dynamik. Die Zahl der Mitglieder wächst rasant. Immer mehr Jugendliche schließen sich an. Die Zahlen haben sich in wenigen Jahren vervielfacht. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Angaben über die Größe der Szene allein auf Erhebungen des Verfassungsschutzes und der deutschen Sicherheitsbehörden basieren, deren Finanzierung auch von der Einschätzung abhängt, wie brisant eine Szene gerade eingestuft wird. Unabhängige Zahlen gibt es bislang so gut wie keine. Die meisten Experten gehen jedoch davon aus, dass die gezeigten Tendenzen zutreffend sind.

Die meisten deutschen Muslime kritisieren den sogenannten »Islamischen Staat« vehement. Sie sind genauso entsetzt und verängstigt angesichts der Geschehnisse wie die meisten anderen Bürger auch. Die ganze islamische Welt leidet unter den aktuellen Entwicklungen. Sie leidet darunter, dass ihre Hoffnungen in die Revolutionen des Arabischen Frühlings enttäuscht wurden und diese teilweise in einer neuen Form von Extremismus gipfelten. Das betrifft in erster Linie die Menschen, die vor Ort der unmittelbaren Gefahr durch den IS ausgesetzt sind. Aber es betrifft auch diejenigen, die sich fernab der Krisenregion bedroht fühlen durch pauschale Anschuldigungen – als ob ihre Religion sie automatisch zu Sympathisanten der Salafisten machen würde.

Bei den Arabern spielt der Islam stets eine wichtige Rolle, aber lange Zeit traten sie allenfalls als konservative Gläubige auf. Die islamische Radikalisierung unter Arabern begann in dem Moment, als die politischen und ökonomischen Bedingungen in den arabischen Ländern sich verschlechterten beziehungsweise keine Verbesserungen brachten. Seit der Iranischen Revolution von 1979 setzten einzelne Gruppen verstärkt auf politische Ideologien, die sich auf den Islam berufen, weil ihnen das authentischer und erfolgversprechender erschien, als die importieren westlichen Ideen von Nationalismus, Kapitalismus, Sozialismus oder Kommunismus. Gerade jetzt, wo auch der Arabische Frühling eben nicht erreicht hat, was man sich erhofft hatte, wird der IS – jenseits der Gräueltaten, durch die er in erster Linie wahrgenommen wird – beispielsweise von den Verlierern aus den Reihen des hinweggefegten Regimes von Diktator Saddam Hussein im Irak auch als Chance zur Rückkehr an die Macht gesehen. Die einfache Bevölkerung arrangiert sich manchmal schon aus rein existenziellen Gründen: Der IS zahlt bereits einfachen Kämpfern mehrere hundert Dollar pro Monat. Das ist für Menschen in Syrien oder im Irak sehr viel Geld. Ihre Entscheidung, für den IS zu kämpfen, ist also längst nicht immer ideologisch, sondern oft sehr pragmatisch motiviert. Für einige geht es ums pure Überleben.

Mit den militärischen »Erfolgen« wuchs die Faszination für diese Terrorgruppe auch unter deutschen Salafisten. Das bedeutet freilich nicht, dass der IS nun über diese gezielt nach Deutschland greifen würde. Die konkrete Gefahr des Salafismus hierzulande zeigt sich zunächst auf subtile Art und Weise. Es geht zum Beispiel um unser Wertesystem, unser Freiheitsverständnis, das mit den Wertevorstellungen der Salafisten kollidiert. In Deutschland gilt die Freiheit jedes Individuums. Von den Salafisten wird Freiheit untergraben, vor allem die Freiheit von »Schwächeren«, Frauen oder Andersgläubigen, die als nicht gleichwertig gelten. Auch uns selbstverständlich erscheinende Werte wie die Meinungsfreiheit oder die Demonstrationsfreiheit werden untergraben oder missbraucht. Dass sich salafistische Wertevorstellungen auch in Deutschland ausbreiten, sehen wir auf offener Straße, wenn Jugendliche bei öffentlichen Veranstaltungen lautstark »allāhu akba« – »Gott ist groß« brüllen und sich unseren gesellschaftlichen Normen und Werten widersetzen. Oder wenn zur Aushebelung des deutschen Rechtsstaats die sogenannte »Scharia-Polizei« in Wuppertal patrouilliert. Immer wieder werden auch Materialien mit islamistischem Gedankengut auf deutschen Straßen verteilt.

Eine unmittelbare Gefahr geht von jenen aus, die in Syrien oder dem Irak bereits gekämpft haben und dann nach Deutschland zurückgekehrt sind. Von den 150 bis 180 Heimkehrern haben wohl mindestens 30 Kampferfahrung, wobei die Dunkelziffer vermutlich um einiges höher liegt. So gering ihre Zahl ist: Sie haben eine militärische oder paramilitärische Ausbildung erhalten, und man muss davon ausgehen, dass sie einer Art »Gehirnwäsche« unterzogen wurden, die mit der Rückkehr nach Deutschland nicht unbedingt ausgelöscht wird. Vielmehr: Diese zumeist jungen Menschen kennen radikales islamistisches Gedankengut aus eigener Erfahrung, sie haben ihre Gewaltbereitschaft bereits unmissverständlich unter Beweis gestellt und verfügen möglicherweise über Kenntnisse im Vorbereiten von Anschlägen. Und wir wissen nicht, welche Ziele sie hier verfolgen. Könnte man ihnen ihre Taten nachweisen oder wüsste man, dass sie in Deutschland Terrorplanungen anstrebten, hätte man sie längst festgenommen und angeklagt. Und nicht jeder kommt hasserfüllt aus Syrien und dem Irak zurück. Manche Rückkehrer haben der Ideologie abgeschworen. Sie haben sich abgewandt vom Dschihadismus, begreifen ihr Handeln als großen Fehler und wollen am liebsten durch nichts mehr an diese Episode ihres Lebens erinnert werden.

Allerdings kehren manche auch traumatisiert zurück. Vor allem aus dem Internet kennt man die Bilder von Jugendlichen, die an Enthauptungen beteiligt sind, die abgetrennte Köpfe in die Kameras halten, an Erschießungen teilnehmen. Und wenn sie nicht selbst aktiv mitmachen, so sehen sie zumindest zu oder bekommen Bilder und Videos dieser Gräueltaten gezeigt. Solche Erfahrungen wirken sich unweigerlich auf die Psyche oder die Persönlichkeit dieser jungen Menschen aus. Die Folgen sind nicht absehbar, bergen aber sicher Herausforderungen für unsere Gesellschaft. Hier stellen sich Fragen der psychologischen Betreuung und der Resozialisierung, um sie wieder in unsere Gesellschaft zurückzuführen.

Die Möglichkeit, diesem Gefahrenpotenzial ganz einfach durch eine Abschiebung entgegenzuwirken, erübrigt sich bei den meisten durch eine simple Tatsache: Diese Jugendlichen sind deutsche Staatsbürger. Ohne konkrete Veranlassung können wir sie auch nicht zeitlebens wegsperren, und schließlich wurden sie ja hier in unserem Land sozialisiert.

Was wir gerade erfahren, ist: Die Gefahr, die vom militanten Salafismus ausgeht, macht vor Landesgrenzen nicht halt. Langfristig wird es darum gehen, die Ursachen der Radikalisierung in der salafistischen Szene ausfindig zu machen und zu benennen, um dann Strategien dagegen zu entwickeln. Es wird nicht reichen, die Symptome zu bekämpfen. Die Rückkehrer sind definitiv ein Sicherheitsproblem, und es empfiehlt sich, sie im Auge zu behalten – ihr Verhalten, ihre Reintegration. Doch während die Behörden diese Rückkehrer im Visier haben, geraten weit mehr Jugendliche in unserer Gesellschaft ins Visier der Salafisten – als potenzielle Rekruten. Wir müssen diese Jugendlichen schützen und schon früh genug gegen solche Übergriffe stärken – mit Aufklärung, mit langfristigen Programmen und Initiativen, in denen vor allen Dingen ihre Sozialkompetenz im Vordergrund steht. Wir müssen dafür sorgen, dass ihnen die Möglichkeit geboten wird, ein gesundes Islamverständnis zu bekommen. Hier kann beispielsweise der Islamische Religionsunterricht helfen. Wir müssen beginnen, Präventionsarbeit zu leisten, wenn wir verhindern wollen, dass auch unsere eigenen Kinder nach Syrien gehen, um zu töten – auch wenn diese in nicht muslimischen Familien aufwachsen, denn auch Nichtmuslime konvertieren zum Salafismus.

Die Frage dieses Kapitels kann ganz eindeutig beantwortet werden: Ja, der Salafismus in Deutschland und darüber hinaus ist gefährlich. Letztlich hat er das Ziel, moderne, muslimische wie nicht muslimische Gesellschaften, zu unterwandern. Diese Gefahr ist zwar wegen der geringen Größe der Gruppe derzeit noch nicht groß und eher theoretisch vorhanden, nimmt aber zu. Die Fakten sprechen für sich: Immer mehr junge Menschen ausländischer wie auch deutscher Herkunft wenden sich dem Salafismus zu, und auch wenn die deutsche Innen- und Sicherheitspolitik bereits versucht, diesem Phänomen etwas entgegenzusetzen, genügt das nicht. Wir alle, Muslime wie Nichtmuslime, müssen mehr tun, um unsere Gesellschaft zu schützen.

2

Dinslaken-Lohberg – wie wird ein Stadtteil zur »Hochburg« der Salafisten?

Dinslaken liegt am nordwestlichen Rand des Ruhrgebiets und hat fast 70 000 Einwohner. Bundesweit in den Fokus gerückt ist die Stadt erst in jüngster Zeit wegen ihres Stadtteils Lohberg. Dort hat sich nämlich eine Gruppe gebildet, die dem kleinen Ort international den Ruf einer Salafisten-Hochburg beschert hat. Das ist natürlich ein Blickwinkel, der weder dem Stadtteil noch seinen Einwohnern und den Menschen, die sich vor Ort aktiv um die sozialen Probleme kümmern, gerecht wird. Unter dem schlechten Ruf leiden die Lohberger verständlicherweise. Fakt aber ist, dass sich etwa 20 aus ihrer Mitte zu Dschihadisten entwickelt haben und von hier aus nach Syrien aufgebrochen sind, um für die vermeintliche Sache Gottes zu kämpfen.

Ich musste erleben, dass unter ihnen auch fünf meiner ehemaligen Schüler waren. Diese jungen Menschen hatten sich der sogenannten »Lohberger Brigade« angeschlossen. Als ich davon erfuhr, empfand ich es als eine persönliche Niederlage. Denn sie kämpften nicht nur im Land meiner Eltern, in dem zurzeit einer der schlimmsten Bürgerkriege dieser Welt wütet. Es sind auch fünf mir eigentlich gut bekannte und sympathische Menschen, die ich in gewissem Sinne verloren habe. Mir ist bewusst, dass ich sie wahrscheinlich nicht hätte aufhalten können, und dennoch stelle ich mir die Frage, ob ich es voraussehen oder irgendetwas hätte anders machen können. So begann für mich mit dieser Erfahrung eine Reise, die mich dazu führte, noch besser zu erkennen, wer diese Jugendlichen sind, wo sie herkommen und was sie dazu angetrieben hat, an der Seite brutaler Terroristen in den Kampf zu ziehen.

Das Positive vorweg: Immerhin vier meiner fünf Exschüler erkannten rechtzeitig, dass sie sich nicht auf den Weg zu Heldentaten begeben hatten, sondern im Begriff waren, einen Riesenfehler zu machen. Diese vier sind jedenfalls nach kurzer Zeit zurückgekehrt. Nur einer blieb dort und hielt am Irrglauben fest, für die Sache Gottes zu kämpfen.

Seit über einem Jahr vergeht beinahe kein Tag mehr, an dem nicht Journalisten durch die Straßen Lohbergs streifen oder versuchen, auf dem Marktplatz O-Töne von vermeintlich radikalen Jugendlichen einzufangen. Die Lohberger reagieren ihrerseits verstört bis genervt auf die fragenden Journalisten, die dem Phänomen »Pop-Dschihad« auf die Spur kommen wollen.

Lohberg ist eigentlich ein sehr beschaulicher Stadtteil von Dinslaken. Auf den ersten Blick wirkt er sehr harmonisch und friedlich. Viele eher ältere Menschen leben dort, viele davon sind die sogenannten »Gastarbeiter« der ersten Einwanderergeneration. In großer Zahl kamen sie in den Sechzigerjahren nach Deutschland, um hier Tätigkeiten zu übernehmen, die die Einheimischen nicht mehr ausüben wollten. In Dinslaken führte sie der Weg vor allem in die Steinkohlenflöze der mittlerweile stillgelegten Zeche Lohberg.

Die überwiegend bräunlichen Gebäude – viele davon unter Denkmalschutz – reihen sich dicht aneinander, sodass der Eindruck einer geschlossenen Siedlung entsteht, mit vielen verspielt gestalteten Häusern, die oft von kleinen Rundbögen geziert werden: eine ansprechende, einladende Architektur. Viel ist in Lohberg nicht los. An dem von Bäumen begrünten Marktplatz findet sich der deutsche Supermarkt neben dem türkischen Lebensmittelmarkt, dem türkischen Friseursalon und dem türkischen Schnellimbiss, der so heißt wie sein Besitzer. Dazwischen gibt es einen Schreibwarenladen mit Lottoannahmestelle und einige Meter weiter eine Sparkasse. Mitten auf dem Marktplatz steht ein für das Ruhrgebiet typischer Kiosk mit der wenig überraschenden Kundschaft, die hier ihr viertes oder fünftes »Feierabendbierchen« einnimmt. Sonst gibt es in Lohberg wenig zu sehen. Lohberg ist eine klassische Zechensiedlung, wie man sie fast in jeder Stadt im Ruhrgebiet findet.

Die Stilllegung des Verbundbergwerks Lohberg-Osterfeld vor einigen Jahren hat allerdings mit dafür gesorgt, dass dieser Stadtteil ökonomisch immer mehr abgehängt wurde. Einige Bewohner zogen auf der Suche nach neuer Arbeit weg. Bei manchen Verbliebenen konnte man nach der Zechenschließung den finanziellen Abstieg deutlich beobachten, und in der Schule erzählten die Jugendlichen davon, dass Papa oder Opa jetzt arbeitslos waren.

Selbstverständlich ist Lohberg auch von seinen vor allem aus der Türkei stammenden ehemaligen Gastarbeitern und deren Nachkommen geprägt. Es ist eigentlich alles sehr kleinbürgerlich, nur eben multikulti. Man sieht türkische neben deutschen Fahnen an den Häuserwänden. Gepflegte Vorgärten sind hier sowohl in herkunftsdeutscher als eben auch in neudeutscher Hand. Deutsch und Türkisch hört man gleich oft.

Die hiesige Hauptschule Glückauf, wo ich als Lehrerin zunächst anfing, wurde vor einigen Jahren ebenfalls geschlossen, weil es »schulpolitisch notwendig« wurde. In wenigen Jahren werden wohl alle Hauptschulen in Dinslaken diesem Schicksal folgen, weil unsere Schulpolitiker stärkere Chancengleichheit durch andere Schulkonzepte umsetzen wollen. Seit dem Schuljahr 2013/14 arbeite ich an einer Schule, die Ergebnis dieser Überlegungen ist: der Friedrich-Althoff-Schule. Als Sekundarschule ist sie in der Tat konzeptionell und pädagogisch besser aufgestellt. Die Kinder unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft können hier viel individueller und besser gefördert werden, ein sehr motiviertes, junges und buntes Lehrerkollegium arbeitet mit Unterstützung von Sonder- und Sozialpädagogen tagtäglich daran. Ein Bestandteil der Bemühungen um Förderung der Schüler ist auch hier das für Nordrhein-Westfalen noch sehr junge Angebot des Islamischen Religionsunterrichts.

Auch sonst hat in meinen Augen seit einiger Zeit ein gewisses Umdenken in der Stadt Dinslaken eingesetzt. Man nimmt die sozialen Herausforderungen engagierter an als früher und versucht, konstruktiver daran zu arbeiten. Für viele unserer jungen Schulabsolventen sind technische oder handwerkliche Berufe interessant. Einige streben einen Hochschulabschluss an. Die wenigsten der jungen Lohberger erreichen allerdings überhaupt die Hochschulreife. In Lohberg ist die Anzahl sozial schwächerer Einwohner sehr hoch – das gilt unabhängig von der nationalen Herkunft. Eine gehobene Mittelschicht ist deutlich unterrepräsentiert. Häufig mache ich die Erfahrung, dass diejenigen, die eine gute Ausbildung abgeschlossen haben oder denen es finanziell und wirtschaftlich besser geht, diesen Stadtteil verlassen, um ihren eigenen Kindern bessere (Bildungs-)Chancen zu bieten.

Das Zusammenleben der deutschstämmigen Bevölkerung und der türkischstämmigen Migranten-Community in Lohberg empfinde ich als ein friedliches »Nebeneinanderherleben«. Ich spreche ungern von »Parallelwelten«, wie es Politiker und manche Wissenschaftler wohl nennen würden. Man lebt hier einfach so weiter, wie man es seit vielen Jahren der Zuwanderung eben kennt. Jeder pflegt seine eigene Kultur, die allerdings vielfach und schon längst eine Art Mischkultur zwischen Deutsch und Türkisch darstellt. In mancherlei Hinsicht leben hier einfach alle das gleiche Leben: Alle sind betroffen von der Arbeitslosigkeit in diesem Stadtteil und haben Schwierigkeiten in Bezug auf Bildung und Aufstieg.

Besucher aus anderen Städten, aber auch Dinslakener, die es aus irgendwelchen Gründen in diesen Stadtteil verschlägt, sind häufig überrascht, dass Lohberg trotz allem seine schönen Seiten hat und vielleicht weniger heruntergekommen ist, als einem die eigenen Vorurteile über einen solchen »Problemstadtteil« suggerierten. Oft begegnet man der Vorstellung, dass dieser Ort hässlich sein müsse, dass überall Müll auf den Straßen liege, dass dort »nur Ausländer« lebten und es nicht mehr möglich sei, »die deutsche Kultur« zu sehen. Aus Sicht mancher Dinslakener ist das Leben in Lohberg vor allem von »Kriminellen« geprägt. Dieses Vorurteil, das immer wieder bemüht wird, schürt Ängste in und rund um Dinslaken.

Sehr viele waren aber noch nie in ihrem Leben in Lohberg. Jüngst erzählte mir eine Journalistin, die nach Dinslaken, ihre Heimatstadt, gekommen war, um mich zu interviewen, dass sie erst von Dinslaken wegziehen musste, um zu erkennen, dass sie diese Stadt nie ganz kennengelernt hat. In dem Interview, das sie für die Frauenzeitschrift Missy Magazine führte, schreibt sie: »Wenn ich in meine Kindheit und Jugend zurückblicke, denke ich, das Problem ist, dass ich beispielsweise gar keine Muslime kannte. In der Grundschule gab es vier Mädchen mit türkischen Namen. Wir haben nicht mit ihnen gespielt und fanden sie seltsam. Die Kinder kamen auch nicht aus der Nachbarschaft, sondern lebten in Lohberg, wo ›alle Türken wohnen‹. Da gingen wir nicht hin, der Stadtteil hat einen schlechten Ruf, er liegt etwas außerhalb und ein bisschen abgeschottet vom Rest der Stadt. Mein Opa hat dort zwar gearbeitet, aber meine Großeltern wohnten schon im besseren Stadtteil Hiesfeld. In meinem ganzen Jahrgang am Gymnasium gab es dann kein Kind mit türkischem Migrationshintergrund mehr. Die ersten traf ich, als ich während der Oberstufenzeit anfing, bei McDonald’s zu jobben. Da waren meine Kollegen die ganzen türkischen Jungs aus Lohberg. Die waren total nett und lustig, das hat mich erstaunt.«