So laut du kannst - Wendy Morgan - E-Book

So laut du kannst E-Book

Wendy Morgan

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Beschreibung

Schatten der Vergangenheit.

Lake Charlotte ist ein kleiner, idyllischer Ort. Hier ist die Welt noch in Ordnung. Doch der Schein trügt - vor zehn Jahren verschwanden hier drei junge Mädchen, die nie wieder aufgetaucht sind. Rory Connelly, deren Schwester eine der Vermissten war, hat die Folgen der Tragödie am eigenen Leib erfahren. Angst und Verzweiflung zerstörten damals ihre Familie, und Rory flüchtete ins College. Nun ist sie zurückgekehrt, um sich um ihre kranke Mutter und ihre jüngere Schwester zu kümmern. Als am Jahrestag des Dramas erneut ein Teenager verschwindet, scheint Rory die schreckliche Vergangenheit eingeholt zu haben. Kehrt das Grauen zurück?

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Über Wendy Morgan

Wendy Morgan hat englische Literatur mit dem Schwerpunkt kreatives Schreiben studiert. Nach ihrem Studium hat sie zunächst als Lektorin und Journalistin gearbeitet, um sich dann ganz ihrem Traumberuf der Schriftstellerin zu widmen. Wendy Morgan lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen in New York.

Informationen zum Buch

Lake Charlotte ist ein kleiner, idyllischer Ort. Hier ist die Welt noch in Ordnung. Doch der Schein trügt  vor zehn Jahren verschwanden hier drei junge Mädchen, die niemals wieder aufgetaucht sind. Rory Connelly, deren Schwester eine der Vermissten war, hat die Folgen der Tragödie am eigenen Leib erfahren. Angst und Verzweiflung zerstörten damals ihre Familie, und Rory flüchtete ins College. Nun ist sie zurückgekehrt, um sich um ihre kranke Mutter und ihre jüngere Schwester zu kümmern.

Als am Jahrestag des Dramas erneut ein Teenager verschwindet, scheint Rory die schreckliche Vergangenheit eingeholt zu haben. Kehrt das Grauen zurück?

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Wendy Morgan

So lautdu kannst

Ins Deutsche übertragen vonMartin Hillebrand

Inhaltsübersicht

Über Wendy Morgan

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Dank

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Epilog

Impressum

WIDMUNG

Meinem geliebten, gerade geborenen Söhnchen Brody

Alexander Staub sowie Morgan James, seinem großen

Bruder, und natürlich seinem Daddy Mark

liebevoll gewidmet.

DANKSAGUNG

Ein aufrichtiges Dankeschön an Leonard Staub,

meinen Schwiegervater, für ein unglaublich großzügiges

Geschenk: einen nagelneuen Computer nämlich,

der die Recherche für dieses Buch sowie das Schreiben

an sich zu einem Vergnügen machte.

Prolog

Carleen Connolly ist schon die Dritte, die verschwunden ist.

Rory wird hinterher klar, dass sie irgendwie die ganze Zeit darauf gewartet und es quasi geahnt hat. Eines Tages würde sie nach dem Aufwachen feststellen, dass ihre ältere Schwester für immer fort ist.

Das Eigenartige ist nur: Eigentlich hatte Rory eher damit gerechnet, dass Carleen, draufgängerisch und impulsiv wie sie ist, einmal in einen schrecklichen Unfall verwickelt werden würde, und zwar mit dem Chevrolet, den sie schon seit Jahren klammheimlich aus der Garage klaut. Lange vor ihrem 16. Geburtstag und dem Erwerb des Führerscheins. Sobald Rory nachts im Bett das unheilverkündende Sirenengeheul eines Krankenwagens hörte, machte sie sich darauf gefasst, dass umgehend das Telefon läuten oder jemand an der Haustür klingeln würde, um ihr mitzuteilen, ihre Schwester sei tot. Carleen habe den Chevy um einen Laternenpfosten gewickelt oder sei auf der kurvenreichen Uferstraße von der Fahrbahn abgekommen.

Vielleicht hatte sie auch vermutet, Carleen sei mit einem der älteren Typen, mit denen sie sich ständig herumtrieb, auf und davon, womöglich nach Maryland durchgebrannt, wie ein paar Jahre zuvor Diana, die Tochter von Mrs. Shilling.

Nicht ausgeschlossen andererseits, dass Carleen auf eigene Faust ausgerissen ist, beispielsweise Richtung New York, denn das liegt ja nur ein paar Autostunden südlich. Wie oft hat sie schon damit gedroht, wenn sie sich mit ihren Eltern mal wieder lautstark gestritten hat? »Ich haue ab! Ihr werdet schon sehen! Ich mach mich vom Acker!«

»So, weg willst du also?«, schrie Daddy dann immer zurück. »Nur zu! Mal sehen, wie weit du kommst! Ohne Geld und einen Schulabschluss!«

Und Rory, zu der Zeit noch so klein, dass sie tatsächlich glaubte, ihre Schwester wolle allen Ernstes von zu Hause fort, flehte Carleen dann stets unter Tränen an, nicht wegzulaufen. Obwohl Carleen offensichtlich ständig für Zoff sorgte, war ein Leben ohne sie eine ziemlich deprimierende Vorstellung.

Tja, nun ist Carleen wirklich fort. Und für Rory ist das Leben weit mehr als deprimierend – es hat sich geradezu in einen Albtraum verwandelt.

Denn ihre Schwester hatte keinen Unfall. Sie ist auch nicht ausgerissen oder durchgebrannt. Carleen ist schlicht und einfach verschwunden.

Genau wie die beiden Teenager vor ihr.

Nette, quietschvergnügte Mädchen, die hier in Lake Charlotte aufgewachsen sind, einem verschlafenen Nest im hügeligen Vorland der Adirondack Mountains im Bundesstaat New York. In einem Örtchen, in dem die Nachbarn vor der Haustüre miteinander plaudern, gegenseitig auf die Kinder Acht geben und nachts ihre Haustüren unverschlossen lassen …

Bis zu diesem Sommer.

Alles wurde anders, als das erste Mädchen verschwand. Kirstin Stafford. Achtzehn Jahre alt. Brach an einem warmen Juniabend nach dem Abendessen zu einer Fahrradtour um den See auf und kehrte nie wieder nach Hause zurück.

Ein paar Wochen später dann die 15-jährige Allison Myers, die bei einem Picknick im Point Cedar Park verschwand, das man anlässlich des Unabhängigkeitstags veranstaltet hatte. Von beiden Mädchen fehlt bis heute jede Spur.

Und jetzt Carleen Connolly, siebzehn. An einem Morgen Ende Juli fand ihre Mutter Carleens Himmelbett in dem großen alten Haus in der Hayes Street 52 leer vor.

Seit Jahren zuckt Rory jedes Mal zusammen, wenn sie ein Mädchen mit langem, glatten Haar sieht, wenn ihr die Duftnote von Carleens Parfüm in die Nase steigt oder wenn sie einen schrillen, hohen Pfiff hört, so, als pfeife jemand auf zwei Fingern.

Carleen trug ihr schwarzes Haar lang und glatt.

Carleen benutzte Poison.

Und Carleen pfiff gerne auf zwei Fingern.

Doch Carleen ist fort.

»Wahrscheinlich ist sie nur weggelaufen.«, sagt Emily Anghardt von nebenan immer wieder, um Rory zu beruhigen. Emilys große braune Augen blicken dabei ernst, und ihre Stimme, in der nach wie vor eine Spur von Südstaatenakzent mitschwingt, klingt tröstlich und tief. »Du kennst doch Carleen!«

Klar, Rory weiß, wie ihre Schwester ist. Jeder in Lake Charlotte weiß, was für ein Kaliber Carleen Connolly ist.

Alle Welt hielt sie für ein richtig nettes Mädchen, bis sie als Teenager mit dem Rauchen und Trinken anfing und dann beim Ladendiebstahl im Supermarkt erwischt wurde. Respektlos redete sie über ihre Eltern und benutzte deren Vornamen, mitunter sogar dreist in ihrer Gegenwart. Sie prahlte damit, ihrer Mutter Geld aus dem Portemonnaie gestohlen zu haben, sie fluchte und schwänzte den Unterricht, mogelte sich durch die Schule.

Eins allerdings weiß kaum noch jemand: dass Carleen auch eine andere Seite hatte – eine verletzliche.

Einmal brachte sie schluchzend ein Kaninchen aus dem Wald mit nach Hause. Das Tier war in ein Falleneisen geraten, ein Lauf war gebrochen und es war blutüberströmt. Carleen ließ sich nicht davon abbringen, vom eigenen Geld den Tierarzt zu bezahlen, der das arme Kaninchen dann von seinem Leiden erlöste. Carleen hielt es auf ihrem Schoß und streichelte ihm das filzige Fell, während es seinen letzten stockenden Atemzug tat.

Regelmäßig besuchte Carleen die alte Miss Prendergast, spielte ihr etwas auf dem Klavier vor und schaufelte ihr, wenn es geschneit hatte, den Bürgersteig und Gehweg frei. Von sämtlichen Nachbarskindern durfte nur Carleen die Früchte von den Himbeerbüschen pflücken, die hinten in Miss Prendergasts Garten am Zaun entlang wucherten.

Und zuweilen schlüpfte sie auch zu Rory ins Zimmer und spielte mit ihr Barbie. Rory musste dann hoch und heilig versprechen, niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen zu verraten, denn eigentlich war Carleen den Barbies, die sie früher immer gemeinsam mit der Schwester umsorgt hatte, längst entwachsen, ja, sie mokierte sich mittlerweile sogar über das »Babyspielzeug« der kleinen Schwester – zumindest dann, wenn jemand in der Nähe war und es hören konnte.

Rory hatte auch tatsächlich nie einen Ton gesagt.

Im Übrigen weiß sie noch etwas über ihre große Schwester, das sie niemandem zu erzählen wagt, nicht einmal Emily, obgleich sie und Emily dicke Freundinnen sind, seit Emilys Familie vor ungefähr zwei Jahren das Haus der alten Miss Prendergast bezog.

Das tiefste, dunkelste Geheimnis ihrer Schwester darf Rory nicht preisgeben, selbst jetzt nicht, wo Carleen fort ist. Schließlich hat sie es ihr versprochen.

»Sei unbesorgt, Rory«, sagt Emily jeden Tag. »Früher oder später kommt Carleen wieder.«

Rory weiß zwar, dass Emily sie bloß trösten will, trotzdem möchte sie am liebsten laut losschreien, sie solle damit aufhören und gefälligst die Klappe halten. Denn was soll einem eine Freundin in so einer Situation auch groß sagen? Emily kann wohl kaum das aussprechen, was alle hier denken, während die trostlosen, schwülen Augusttage verstreichen – ohne einen Beweis, ohne eine Spur, ohne eine Nachricht.

Nein, Emily kann wohl kaum sagen: »Wahrscheinlich hat irgend so ’n perverser Kinderschänder Carleen gekidnappt und umgebracht. Ist nur ne Frage der Zeit, wann der wieder zuschlägt.«

Also lässt Rory wortlos die Beschwichtigungen ihrer Freundin über sich ergehen. Den ganzen endlosen, schwülen Sommer hindurch schaut sie sich immer wieder gehetzt um, und es vergeht wohl kaum ein Moment, in dem sie nicht über Carleen nachgrübelt und sich fragt, was ihr zugestoßen sein könnte.

Und als es dann wieder passiert, als ihre beste Freundin Emily Anghardt unmittelbar vor dem Tag der Arbeit verschwindet, da erkennt Rory: Ganz egal, wohin das Leben sie verschlägt, ganz gleich, was mit ihr von nun an bis zu ihrem Tode geschieht – sie wird sich nie wieder sicher fühlen.

KAPITEL 1

Also dann, Rory … danke fürs Mitkommen«, brummt Kevin mürrisch, den Blick forschend auf den Monitor mit den Abflugdaten geheftet, als suche er seinen Zubringerflug zum New Yorker Flughafen »John F. Kennedy«. Dabei hat er Nummer und Abflugzeit bereits x-mal überprüft und gegengecheckt.

Gate vier, pünktlich um 16:35 Uhr.

Und jetzt ist es erst halb vier!

Rory beobachtet den ernsten Ausdruck auf dem Gesicht ihres jüngeren Bruders. Wann er wohl zum Mann geworden ist? Sie hat das Gefühl, als habe sie ihn bei den wenigen Gelegenheiten seit ihrem Fortgang von zu Hause nie genau angesehen.

Sie war erst spät am Vorabend eingetroffen und von der stundenlangen Autofahrt derart erschöpft, dass sie keine Lust hatte, noch lange aufzubleiben und zu reden. Heute hingegen, während sie sich in ihrem Elternhaus häuslich einrichtete und Kevin sich abreisefertig machte, herrschte hektische Betriebsamkeit.

Dann chauffierte sie ihn zum Flughafen, und da sind sie nun. Zum ersten Mal fällt ihr der Schatten von Bartstoppeln an Kevins Kinn auf. Außerdem hat seine sonst so schlaksige Figur ein wenig angesetzt, was ihn in dem dünnen Baumwollhemd und den eng sitzenden Jeans etwas fülliger erscheinen lässt. Er ist erwachsen geworden und bricht erstmals auf eigene Faust zu einer Reise auf.

Jetzt erst merkt sie, dass er sie angesprochen und sich bedankt hat.

»Gern geschehen«, erwidert sie und streicht ihm dabei eine blonde Haarsträhne aus den Augen.

»Bestell Mom …« Achselzuckend bricht er ab. »Ach, nichts. Ist eh egal, was du ihr sagst. Sie versteht es ja doch nicht. Sie kapiert überhaupt nichts – nur, dass ich wegfliege. Warum ich fahre und dass ich wiederkomme, das begreift sie nicht, obwohl ich’s ihr erklärt habe …«

»Mom schafft das schon«, versichert Rory ihm, bemüht, das plötzliche Schuldgefühl zu verdrängen, das sie angesichts des besorgten Blicks in seinen grünen Augen überkommt.

Er wirkt älter, als er ist, ihr kleiner Bruder.

Gealtert. Ihretwegen.

Denn er war schließlich daheim gewesen und stand vor dem Scherbenhaufen, als Daddy anderthalb Jahre nach jenem furchtbaren Sommer durch einen Hirnschlag tot umfiel. Dass sie auch noch Witwe wurde, gab ihrer Mutter den Rest, konnte sie sich doch auf keinen Ehemann mehr stützen, der immer für sie da war wie Daddy während ihrer zwanzig Ehejahre.

Maura Connolly war immer schon anfällig gewesen, immer nervös und psychisch labil.

Nach Kevins Geburt, so erinnert Rory sich, war ihre Mutter in eine tiefe und fast ein Jahr andauernde Depressionen verfallen und hatte sich in ihr Zimmer eingeschlossen, das sie nicht einmal wie sonst üblich für den täglichen Gang zur Heiligen Messe verließ. Nachdem Daddy ein Kindermädchen eingestellt hatte, das sich um den Kleinen und um Rory kümmerte, zwang er Mom schließlich dazu, sich in ärztliche Behandlung zu begeben. Obwohl das Wort Psychiater nie fiel, musste es wohl doch einer gewesen sein, wie Rory später begriff. Nach einer Therapie mit Medikamenten hatte Mom dann allmählich wieder ins Leben zurückgefunden. So wie früher wurde sie zwar nicht, verhielt sich jedoch immerhin wieder wie ein normales menschliches Wesen.

Daddys Tod konnte sie seelisch endgültig nicht mehr verkraften. Die Augen allmählich blicklos und leer, die Stimme tonlos, wurde sie körperlich schwach und zerbrechlich. Ihr Geist, so schien es, zog sich in ferne Gefilde zurück.

Rory war diese Entwicklung nicht entgangen. Sie hätte auch blind sein müssen, um die Flucht ihrer Mutter aus der realen Welt nicht zu bemerken.

Zu der Zeit studierte Rory allerdings bereits auf dem College, weitab vom Schuss, drüben in Kalifornien, so weit von Lake Charlotte und daheim fort, wie es nur ging. Und sie ließ sich nur selten blicken, da sie das hohle, hallende Echo im großen alten Haus in der Hayes Street nicht ertragen konnte, vielleicht auch nicht wollte – und nicht die Gegenwart der drei, die dort immer noch inmitten der Erinnerungen hausten.

Mom und Kevin und Molly, die zum Zeitpunkt von Carleens Verschwinden gerade drei geworden war und sich wohl kaum noch an ihre Schwester oder an ihren Vater erinnern konnte, auch wenn sie das Gegenteil behauptete.

Eine Zeit lang, als Vorschulkind, hatte Molly sich nicht davon abbringen lassen, ihren Bruder »Daddy« zu nennen. Dabei blieb sie ein, zwei Jahre lang, obwohl er sie ständig korrigierte.

Na ja, Kevin hat tatsächlich eine Art Vaterrolle für Molly übernommen, denkt Rory. Richtige Eltern hat Molly durch die geistige Abwesenheit ihrer Mom ja nie kennen gelernt.

Und nun tritt Kevin, frischgebackener Absolvent des Albany College, eine Europareise an, die den ganzen Sommer über dauern wird.

Aus diesem Grund ist Rory endlich nach Hause zurückgekehrt.

Weil Molly mit ihren dreizehn Jahren noch zu jung ist, als dass man sie uneingeschränkt sich selbst überlassen könnte.

Und Mom …

Klar, um Mom muss sich ebenfalls jemand kümmern.

»Sie lässt den Gasherd an, Rory«, bemerkt Kevin, während Rory gedankenverloren mit dem Schulterriemen seiner neuen, seesackähnlichen Bordtasche spielt. »Also, abends vorm Schlafengehen immer kontrollieren, ob die Gasflamme auch abgedreht ist! Mom setzt nämlich Teewasser auf und vergisst es dann.«

»Ich passe schon auf.« Er hat sie bereits zum dritten Mal auf Moms Vergesslichkeit bezüglich des Herdes hingewiesen.

»Und jeden Tag will sie einen Pullover anziehen, selbst bei dreißig Grad im Schatten. Lass ihr das nicht durchgehen. Sie kriegt sonst einen Hitzschlag, wie vorigen Sommer. Ich hab die meisten ihrer Pullover …«

»… in die schwarze Truhe auf dem Dachboden getan. Ich weiß.«

»Kann aber sein, dass sie die findet. In letzter Zeit stöbert sie dauernd da oben herum. Weiß der Himmel, wozu. Na, die Truhe ist jedenfalls abgeschlossen. Der Schlüssel …«

»… liegt in der Schublade überm Brotkasten in der Speisekammer.«

»Entschuldige!« Er ringt sich ein gequältes Lächeln ab. »Ich weiß gar nicht mehr, was ich dir gesagt habe und was nicht. Es gibt so viel zu bedenken, wenn man auf beide Acht geben muss, auf Molly und auf Mom …«

Rory nickt. Dem Vernehmen nach muss sich Molly mit ihren dunklen Locken und den blitzenden blauen Augen in jüngster Zeit wie ein ziemlicher Feger aufgeführt haben.

»Ich mach mir halt Sorgen, Rory«, murmelt Kevin, tief Luft holend und aus vollen Backen wieder ausblasend, wobei er wippend auf den Absätzen balanciert.

»Nicht nötig. Ich kümmere mich um alles.«

Nun bin ich an der Reihe, fügt sie stumm hinzu, erneut vom schlechten Gewissen geplagt. Wie konnte ich die drei bloß so viele Jahre ignorieren? Wie konnte ich Kevin mit allem allein lassen?

Ganz einfach.

Zurückzuschauen, das hat sie sich verboten. Hat sich nicht von den quälenden Erinnerungen einholen lassen. Und je mehr Zeit verging, desto leichter fiel es ihr, sie alle zu vergessen, die sie verloren hatte – die Schwester, den Vater und die beste Freundin, und letztlich auch die Familie.

Zwischendurch, nach Abschluss des Kunststudiums an der Universität von Berkeley, war sie einige Jahre kreuz und quer durchs Land gestreift, ungebunden und unbeschwert, als sei sie aller Sorgen ledig. Im Winter Skilehrerin in Colorado, dann im Frühjahr nach Texas, Versicherungen verkaufen. Danach nach New York, wo sie sich als Aushilfssekretärin an der Wall Street verdingte, bis sie genug hatte von der Finanzwirtschaft und dem Leben in der Großstadt und an die Westküste zurückkehrte, um in Santa Cruz als Malermodell zu arbeiten.

Natürlich ließ sie den Kontakt zur Familie nie völlig abreißen. Alle paar Wochen rief sie zu Hause an, gab ein Lebenszeichen von sich, meldete, wo sie zu erreichen war – für alle Fälle.

Für alle Fälle?

Für den Fall, dass Mom etwas zustieß? Oder Molly? Oder Kevin?

Für den Fall, dass einer von ihnen wie Carleen oder Emily von der Bildfläche verschwand oder tot umfiel? Wie Daddy?

In diesem Winter wohnte sie in Miami, als Kevin ihr am Telefon mitteilte, er plane eine Europareise.

»Ich bin jetzt seit einem Jahr mit Katherine zusammen«, hatte er ihr berichtet. »Sie macht eine Rucksacktour durch Europa. Ich soll mitkommen, meint sie.«

»Mann, toll! Unbedingt!«, hatte Rory enthusiastisch erwidert. »So eine Tour hab ich zwischen Vor- und Hauptstudium auch unternommen, weißt du noch? Beinahe wäre ich überhaupt nicht wieder in die Staaten zurückgekehrt! Das war ein Riesenerlebnis! Lass dir das nicht entgehen, Kevin!«

Schweigen.

Und dann war ihr allmählich aufgegangen, weshalb er sie anrief.

Weil er, falls sie nicht nach Hause kam, um sich um Mom und Molly zu kümmern, unmöglich auf Reisen gehen konnte.

Und deshalb steht sie nun hier auf dem Flughafen.

Den Sommer über daheim.

In Lake Charlotte, wo der Sommer von damals nach wie vor Gesprächsthema ist, jener Sommer, als vier junge Mädchen auf rätselhafte Weise verschwanden und man nie wieder von ihnen hörte.

»Du hast dir die Haare wachsen lassen.«

Rory hebt den Kopf und schaut ihre Mutter an, die ihr am Tisch gegenübersitzt und sie mustert.

Verunsichert durch den starren Blick jener vertrauten grünen Augen mit dem Farbton ihrer eigenen, weiß Rory nicht recht, was sie erwidern soll. Sie trägt ihr schulterlanges, kastanienbraunes Haar sogar kürzer als noch im Winter in Miami, wo es ihr, zu einem dicken Zopf geflochten, bis hinunter auf den Rücken reichte. Freilich, länger als der burschikose Bubikopf, den sie vor geraumer Zeit etwa ein Jahr lang getragen hat, ist es schon. Durchaus möglich, dass sie damals ihre Mutter das letzte Mal gesehen hat.

Maura hält den Blick weiter musternd auf die Tochter gerichtet und nestelt an dem schweren Silberkreuz, das ihr an einer Kette um den Hals hängt. Sie hat es immer schon getragen, wie Rory sich erinnert, ein Geschenk ihrer eigenen Mutter zu Mauras Firmung. Als Carleen und später Rory das heilige Sakrament der Firmung empfingen, schenkte Maura ihnen ähnliche Kreuze. Rory selbst legte ihres ein einziges Mal an, bis jemand zu ihr sagte: »He, was ist denn mit dir los? Plötzlich Nonne geworden?« Danach vergrub Rory das Kruzifix in der untersten Schublade ihrer Frisierkommode, in der Hoffnung, ihre Mutter würde nie danach fragen.

Hatte sie auch nicht.

»Warum hast du’s wachsen lassen?«, will ihre Mutter wissen, den Blick unvermindert auf Rorys Kopf gerichtet.

»Ich … trage es eben gern lang.«

Automatisch zuckt die Hand ihrer Mutter zu den eigenen, kurz geschorenen grauen Locken. Alle sechs Wochen trimmt ein Friseur ihr Haar in diese pflegeleichte Fasson. Noch ein Termin, den Kevin seiner Schwester ans Herz gelegt hat und den Rory nicht verpassen darf.

Als Rory ein Kind war, hatte Maura Connolly dichtes, glänzendes Haar gehabt, das ihr bis hinunter zur Taille reichte. Meist trug sie es offen, doch mitunter, an heißen Sommertagen etwa, wand sie es hinten im Nacken zu einem kunstvollen Knoten, und zwar so, dass man fälschlicherweise glauben konnte, sie brauche dazu weiter nichts als ein paar Haarnadeln. Auf dem überbreiten Ehebett hockend, schaute Rory dann staunend zu, wie Mauras Hände geschickt die Haare im Nacken ordneten und ihnen dabei auch nicht eine einzige Haarsträhne entging, obwohl Maura überhaupt nicht sehen konnte, was sie machte.

»Jetzt meine Haare, Mommy!«, bettelte Rory dann immer, worauf ihre Mutter lächelnd vorgab, die widerspenstige, feuerrote Mähne ihrer Tochter zu einer Haartracht zu bändigen, die der eigenen ähnelte.

Doch Rory wusste, dass sie in keiner Weise ihrer Mutter oder Carleen ähnlich sah. Zu beiden gehörte nämlich jene äußerst seltene Farbkombination aus Ebenholz und Elfenbein: pechschwarzes Haar und heller, makelloser Teint.

Rory hingegen hatte die sommersprossige Haut und das rote Haar des Vaters geerbt, nicht etwa seidenweich rotes, nein, sondern drahtiges, widerborstiges Kraushaar, das im Nacken abstand und sich absolut nicht an die Kopfhaut anlegen wollte.

»Molly?«, fragt ihre Mutter auf einmal, wobei sie den Kopf wendet und über die Schulter blickt, hinüber zur entgegengesetzten Seite der Küche, wo sich die Tür mit dem Moskitogitter befindet. »Wo ist Molly?«

»Nebenan, Mom. Beim Babysitten. Das weißt du doch, nicht wahr?«

»Und Kevin?«

»Der ist nicht hier«, sagt Rory geduldig.

Ihr fällt ein, wie sie ihren kleinen Bruder am Flughafen zum Abschied umarmt hat. Schade, sie hätte gern mehr Zeit mit ihm verbracht. Vielleicht bleibt sie ein Weilchen länger, wenn er im September heimkehrt.

»Fahr ruhig, Rory!«, hatte er in seiner unwirschen Art geknurrt und sich ungelenk aus der Umarmung gewunden, als sei er herzliche Gesten nicht gewohnt. »Brauchst nicht extra zu bleiben. Deine Parkuhr läuft sonst ab!«

»Soll ich denn nicht warten, bis du in deinen Flieger einsteigen kannst?« hatte sie gefragt, durchaus nicht nur spaßeshalber.

»Ach was!« Er hatte lässig abgewinkt, als befürchtete er, sie könne ihn mit einer rührseligen Abschiedsszene in Verlegenheit bringen. Vielleicht schwankte er auch und war unschlüssig, ob er nicht in letzter Minute noch seine Entscheidung bezüglich der Reise revidieren sollte.

»Kevin ist den Sommer über in Europa, Mom«, erklärt Rory nun. »Entsinnst du dich?«

Ihre Mutter nickt zwar, doch mit leerem Blick.

Rory nimmt einen Bissen von dem Salat, den sie zum Dinner zubereitet hat. Der Teller ihrer Mutter ist noch gehäuft voll, wie sie feststellt.

»Iss doch, Mom!«, drängt sie.

»Es ist zu heiß zum Essen.« Ihre Stimme klingt monoton.

»Deshalb habe ich ja Salat gemacht, leicht und gesund! Du magst doch Salat!«, fügt Rory hinzu, um sich anschließend zu fragen, wozu sie das sagt. Schließlich weiß sie gar nicht, ob ihre Mutter tatsächlich gern Salat isst. Sie hat nicht die geringste Ahnung von dem, was ihre Mutter mag.

Der Kochkunst hatte Maura nie viel abgewinnen können. Zuweilen überraschte sie ihre Lieben allerdings und zauberte tatsächlich etwas auf den Tisch, das appetitlich aussah und zudem lecker schmeckte. Beispielsweise das irische Brot, das sie üblicherweise am St. Patrick’s Day, dem irischen Nationalfeiertag, backte. Oder die Gemüsesuppe, von der sie ganze Kochtöpfe voll zusammenrührte, wenn der Garten im Sommer Riesenmengen an Tomaten und Bohnen und Zucchini hervorbrachte.

Zumeist jedoch gab es Hot Dogs oder Spaghetti, dazu eine Sauce aus dem Glas. Falls selbst das misslang, was mehrmals in der Woche vorkam, wurde Pizza bestellt.

Die Familie kannte es nicht anders und war zufrieden.

»So, Mom«, stellt Rory aufgeräumt fest und schaut sich dabei in der Küche um, um den so unangenehm blicklosen Augen auszuweichen. »Ich habe mir gedacht, wir verschönern das Haus ein wenig. Was hältst du davon?«

Keine Antwort.

Rory weist auf das Fenster über der verkratzten alten Porzellanspüle. »Da könnten wir doch ein paar hübsche Gardinen aufhängen«, schlägt sie vor. Was wohl aus den weißen Spitzenstores mit dem roten Zickzacksaum geworden ist, die dort früher hingen? »Und die Hängevitrinen sind so nachgedunkelt – vielleicht kann man das Holz abbeizen oder überstreichen. Die Schränke im Vorratsraum auch.«

Ihr Blick wandert hinüber zum schmalen, direkt an die Küche angrenzenden Stauraum – drei Wände, voll gestellt mit Schränken, oben Glastüren und darunter Reihen von Schubladen. Wäre doch ansprechender, überlegt sie, wenn man die Schränke weiß streichen würde und man hinter den Scheiben hübsches Porzellan oder blitzendes Glas sähe, nicht dieses Wirrwarr von Konservendosen und Schachteln mit Cornflakes und Müsli.

Was ließe sich alles aus diesem Haus machen, sinniert Rory wehmütig angesichts der vollendet geformten Kehlleisten, der Massivholzdielen und der hohen Decken.

Aber bislang hat sich niemand die Mühe gemacht, dieses weitläufige, im viktorianischen Stil errichtete Gebäude in Schuss zu bringen – die Vorbesitzer nicht, und Daddy und Mom erst recht nicht. Daddy hatte zwei linke Hände, und für Mom galt das in punkto Kreativität gleichermaßen. Als Mom mit Rory schwanger war, hatten die beiden das Haus kurzerhand erworben und waren gleich eingezogen, weil sich herausstellte, dass ihre Zwei-Zimmer-Wohnung über Taluccis Pizzeria für die bald vierköpfige Familie zu eng sein würde.

Und damit hatte es sich.

Als Kind und Heranwachsende war für Rory ihr Elternhaus nie mehr als ein Dach überm Kopf, ein Zuhause, wo sie über ihr eigenes Zimmer und einen großen Garten zum Spielen verfügen konnte. Ganz hinten, jenseits der Grundstücksgrenze, erstreckte sich das riesige bewaldete Areal, das sich sanft zum Seeufer hinunter senkte.

Erst jetzt wird ihr klar, dass dieses Gebäude früher einmal ein nobles Anwesen gewesen sein muss, abseits an einer leicht ansteigenden, von Bäumen gesäumten Pflasterstraße oberhalb des Stadtzentrums gelegen. Heutzutage residiert die begüterte Klasse von Lake Charlotte in einem Neubaugebiet namens Green Haven Glen, einem Gewirr von Sackgassen im Westen der Stadt. Ende des 19. Jahrhunderts jedoch war die Hayes Street eine der mondänsten Adressen am Ort.

Die übrigen zu dieser Häuserzeile gehörenden Bauten sehen ähnlich aus – architektonische Scheußlichkeiten, Hexenhäuser wie aus Pfefferkuchen mit Schnörkeln, Türmchen, Kuppeln und rundum laufenden Veranden. Wie Rorys Elternhaus auch, sind die meisten umfriedet von hohen, schwarzen Gitterzäunen aus Gusseisen und werden von riesigen, weit ausladenden Laubbäumen beschattet. Düstere Büsche und winterharte Stauden wie Hortensien und Pfingstrosen verdecken Steinfundamente und Fachwerk.

Anders als ihr Elternhaus jedoch, hat man die meisten Häuser in den vergangenen Jahren sorgsam restauriert. Seit das benachbarte Saratoga Springs neuerdings wieder Kurortstatus genießt, hat sich die einst kränkelnde örtliche Wirtschaft erholt, und zwar unübersehbar.

Bereits bei ihrer Ankunft hatte Rory aus dem Auto heraus schon bemerkt, dass die Straßenlaternen in der Main Street mit Blumenampeln voller farbenprächtiger Petunien und Fleißiger Lieschen geschmückt sind. Reizvolle, nostalgisch anmutende Holzfronten haben die im Stil der 50-er Jahre gestalteten Aluminiumfassaden und Neonreklamen der Geschäfte und Firmengebäude ersetzt. Bei einigen baumelt gar eine handbemalte Schindel über dem Eingang. In der Nachbarschaft einer Bäckerei, die Bagel verkauft, haben ein paar ausgeprägt trendig gestylte Cafés eröffnet, und das ehemalige Heim der Familie Shilling, unmittelbar hier in der Hayes Street gelegen, ist nun eine Pension.

In dieser Umgebung fällt das heruntergekommene Haus der Connollys aus dem Rahmen. Selbst das Nachbarhaus, in dem einst Miss Prendergast wohnte und nach ihr Emilys Familie, prangt in neuem Glanz: kontrastierende Schattierungen von Rosa und Blau, ähnlich dem ursprünglichen Anstrich vor hundert Jahren, wie Rory am Nachmittag von Molly erfahren hat.

»Woher weißt du das?«, hatte Rory ihre kleine Schwester gefragt.

»Die Familie, die da wohnt, kenne ich ganz gut. Die Randalls. Sie haben einen kleinen Jungen, auf den ich aufpasse. Als Babysitter.«

So wie auch an diesem Nachmittag. Durchs offene Fenster kann Rory Mollys Stimme hören. Im Nachbarsgarten schaukelt sie ihren Schützling in dem von einem Ast baumelnden Autoreifen.

Vermutlich, so geht es Rory durch den Kopf, ist es gut, dass das alte Haus nach all den Jahren wieder bewohnt ist. Kurz nach Emilys Verschwinden zog die Familie fort. Soweit Rory weiß, stand das ohnehin sanierungsbedürftige Gebäude viele Jahre leer.

Sie versucht, nicht länger diesem bedrückenden Gedanken nachzuhängen. Erinnerungen an die Freundin, die sie vor einem Jahrzehnt hier verlor, gestattet sie sich nur selten. Auch keine Gedanken an Carleen.

Aber hier in Lake Charlotte wird sie dem Thema nur schwer ausweichen können. Obwohl alles so lange her ist … wie viele Jahre? Neun? Nein, zehn.

In genau dieser Woche vor zehn Jahren verschwand das erste Mädchen.

Wie konnte es sein, dass sich vier Mädchen scheinbar in Luft auflösten, ohne den kleinsten Hinweis zu hinterlassen?

Lange war Rory davon ausgegangen, man werde eines Tages eine Leiche oder auch mehrere auffinden. Verfolgt man abends in den Fernsehnachrichten, wie derartige Fälle ablaufen, dann hat es den Anschein, als würden Vermisste früher oder später unausweichlich tot aufgefunden. Und damit ist die Sache gelöst oder wird zumindest ad acta gelegt.

Die Polizei von Lake Charlotte hatte rund um die Uhr ermittelt, um irgendeinen Anhaltspunkt für das, was geschehen war, zu Tage zu fördern. Fehlanzeige.

Auf Spielplätzen, an Imbisstheken und über Gartenzäune hinweg hatten Theorien unterschiedlichster Art kursiert. Manche Leute meinten, man habe die Mädchen gekidnappt, unter Drogen gesetzt und außer Landes verfrachtet, um sie an Menschenhändler zu verhökern. Andere, Mittelstufenschüler zumeist, vermuteten eine Entführung durch Außerirdische. Und zudem machte die grausige Spekulation die Runde, sie seien von einem Serienmörder abgeschlachtet und die Leichen anschließend verbrannt oder verscharrt oder mit einem Gewicht beschwert im See versenkt worden.

Gewiss, Vermutungen wie diese wurden niemals je in Rorys Gegenwart geäußert. Sie kann sich noch gut erinnern, wie peinlich es war, wenn so manche Unterhaltung bei ihrem Auftauchen jäh verebbte. Als Schwester eines der Opfer und als engste Freundin eines weiteren war sie fast schon so etwas wie eine Berühmtheit. Trotz ihres für das mittlere Kind einer Familie charakteristischen Hungers nach Zuwendung hatte ihr der Sinn nach dieser Art von Publicity allerdings am wenigsten …

»Wo ist Kevin?«

Die Worte ihrer Mutter lassen Rory abrupt in die Wirklichkeit zurückschnellen. »Nicht da, Mom«, sagt sie, leise seufzend. »Vor ein paar Minuten haben wir doch noch darüber gesprochen. Weißt du nicht mehr?«

»Ist er oben?«

»Nein.«

Jenseits des Ozeans. Du wirst ihn Monate nicht sehen.

»Er macht Urlaub«, erklärt Rory sanft. »Aber ich bin ja da. Ich passe auf dich und Molly auf. Wenn du was brauchst, dann sagst du’s mir einfach, und ich besorge es dir. Ja?«

Obwohl auf Rorys Gesicht gerichtet, wirkt der Blick ihrer Mutter beklemmend unscharf, so, als könne sie in Wirklichkeit gar nichts sehen. In Gedanken offenbar wieder ganz woanders, weicht sie aus zu jenem fernen Ort, wo keiner an sie herankommt … und wo ihr – vielleicht – nichts geschehen kann.

Rory nimmt eine Gabel voll von dem Salat, der vor ihr steht, obgleich ihr der Appetit plötzlich vergangen ist.

KAPITEL 2

Molly trägt Klein-Ozzie ins Haus, setzt ihn auf dem Küchenboden ab, geht neben ihm in die Hocke und klopft ihm mit der Hand den Schmutz von den Shorts. Zwar landet der Dreck auf dem abgetretenen grünen Linoleum, doch das, denkt Molly, ist halb so schlimm. Das gesamte Haus der Randalls ist momentan eine Heimwerkerbaustelle; überall Schutt und Mörtelreste und Gipsstaub. Es kommt wahrscheinlich noch ärger, wenn erst die hintere Außenwand zum größten Teil herausgerissen wird, um Platz für den Anbau zu schaffen, das große Familienzimmer, von dem Michelle gesprochen hat.

»Guck dich mal an! Du bist ja ganz schmutzig!«, ermahnt sie Ozzie, wobei sie ihm Löwenzahnsamen aus den hellblonden Locken zupft.

»Mut-zig!«, echot der Knirps grinsend.

»Jawohl, schmutzig! Ab in die Wanne, eh du ins Bett …«

Auf das Wort Bett reagiert der Zweijährige mit einem durchdringenden Kreischen.

»Nein«, beruhigt ihn Molly hastig, »du brauchst ja noch nicht ins Bett!«

»Bett nich!«, krakeelt der Kleine. »Bett nich!«

»Nein, nicht ins Bett«, bestätigt Molly. »Erst in die Wanne. Willst du baden? Damit du ein bisschen abkühlst? Ist doch so stickig heute Abend! Komm, wir gehen gleich die Hintertreppe hoch!«

Folgsam lässt er sich von Molly auf den Arm nehmen und quer durch die Küche zu einer Holztür tragen. Molly öffnet, und hinter der Tür erscheint eine steile, zum Obergeschoss führende Stiege.

Die Stufen knarren vernehmlich, als sie sich durchs Halbdunkel aufwärts wagt, und damit ihr nicht allzu sehr gruselt, plappert sie in einem fort fröhlich mit Ozzie.

Irgendetwas an diesem alten Kasten kommt ihr nicht geheuer vor, doch was, darüber mag sie nicht nachdenken. Wenn sie sich durch so etwas beeinflussen lässt, dann ist Schluss mit Babysitten für Ozzie. Dann kann sie auch Lou und Michelle nicht mehr besuchen, und das Baby, das im August ankommen soll, auch nicht.

Bevor die Randalls im Vorjahr einzogen, galt der alte Kasten bei Molly, ihren Freundinnen und den meisten anderen Jugendlichen von Lake Charlotte nur als das »Geisterhaus«. Jedermann weiß ja, was Emily Anghardt widerfahren ist, dem Mädchen, das zuletzt hier gewohnt hat.

Na ja, eigentlich weiß es keiner so richtig. Gerade das macht die Sache ja so schauerlich!

Molly erinnert sich tatsächlich an ihre Schwester Carleen, auch wenn alle meinen, das könne sie doch gar nicht. Sie entsinnt sich noch an ein Geschenk von ihr, eine Puppe mit schwarzen Locken, ganz so wie Mollys eigene. Sie hat noch klar vor Augen, wie Carleen auf dem Kinderspielplatz im Cedar Point Park auf sie aufpasste. Und oft fällt ihr ein, wie sie von der ältesten Schwester abends fürs Bad ausgezogen wurde, wie Carleen dabei den Kinderreim aufsagte, den Molly so gern hörte, und ihr dabei ganz sanft nacheinander die nackten kleinen Zehen abzählte:

Das ist der Daumen.

Der schüttelt die Pflaumen.

Der liest sie auf,

der bringt sie nach Haus.

Und das ist der Kleine,

der isst sie alleine.

Und dann kommt das Schweinchen

und beißt ihn ins Beinchen!

Zurückblickend kann sie sich noch gut erinnern, wie Carleen ihr dann die Fußsohlen kitzelte, sodass Molly quietschte vor Vergnügen und ihre Schwester anbettelte, den Reim doch noch mal aufzusagen. Immer und immer wieder.

Und das machte Carleen dann auch, wie Molly noch weiß.

Carleens Verschwinden selbst ist ihr allerdings nicht mehr gegenwärtig – sonderbar, denn man sollte meinen, ein Kind müsse ein so traumatisches Ereignis in der eigenen Familie mitbekommen.

Wie Daddy starb, das hingegen ist ihr nachhaltig im Gedächtnis haften geblieben. Wie Mom eines Nachts schreiend aus dem Schlafzimmer gestürzt kam, und wie Kevin, der Molly gerade eine Geschichte vorlas, blitzartig über den Flur sprintete. Dann das Jaulen der Sirenen vor der Haustür, die Männer, die polternd die Treppe hinaufstürmten. Die ganze Zeit über hatte Mom geschrien wie am Spieß, unaufhörlich und hysterisch.

Und danach hat sie nie wieder laut gesprochen, geschweige denn geschrien. Seit jenem Tag redet sie leise und eintönig, lächelt oder weint nie, lässt sich nicht die geringste Gefühlsregung anmerken.

Kevin meint, sie hat Depressionen. Molly ist sich da nicht so sicher. Deprimiert ist sie nämlich selbst schon gewesen, ziemlich oft sogar – gerade neulich erst, vorigen Monat, als sie erfuhr, dass Ryan Baker, ihr augenblicklicher Schwärm, auf Jessica Thomerson steht. Nur – wenn sie geknickt ist wegen irgendwas, dann benimmt sich Molly nicht wie Mom.

Mom, ja, die ist im Grunde …

Na, ein bisschen verrückt eben.

Ausgesprochen hat Molly das noch nie, vor keinem Menschen, nicht einmal gegenüber ihrer Freundin Rebecca Wasner. Rebecca wohnt zwei Häuser weiter und weiß wohl ziemlich genau, was mit Mom los ist. Doch wer geht schon gern damit hausieren, dass die eigene Mutter nicht ganz richtig im Kopf ist?

Trotzdem: wie soll man es sonst nennen? Größtenteils ist Mom ziemlich weggetreten und fragt völlig wirres Zeug. Und die meiste Zeit über faselt sie mit Leuten, die gar nicht da sind.

»Baden?«, fragt Ozzie, während die beiden über den Flur im ersten Stock an der offenen Badezimmertür vorbeigehen.

»Ach so, richtig«, erkennt Molly. »Baden! Fast hätte ich vergessen, wozu wir überhaupt hier heraufgekommen sind.«

Sie vollführt einen Schlenker ins Badezimmer, lässt Wasser in die alte, auf Klauenfüßen stehende Wanne laufen und stöpselt den an einer Kette aus silbernen Kügelchen hängenden Gummistopfen in den Abfluss. Danach trägt sie Ozzie über den engen Flur mit der abblätternden Tapete zu seinem Kinderzimmer am anderen Ende des Korridors. Das Zimmer des Jungen ist einer der wenigen Bereiche im Haus, wo keine Renovierungsarbeiten im Gange sind. Lou und Michelle haben es gleich nach dem Einzug hergerichtet, die Wände gespachtelt und weiß gestrichen und die Massivholzdielen abgeschliffen, sodass sie jetzt seidig glatt glänzen, ganz anders als die übrigen Fußböden im Haus.

Ein wie ein zartrosa Schweinchen geformter Stopper sorgt dafür, dass die Tür zum Flur nicht dauernd zuklappt. Michelle hat mal erwähnt, ihr Mann wolle demnächst die Scharniere reparieren, sei allerdings bislang noch nicht dazu gekommen. Deshalb hat sie neulich diesen Türstopper von einer Handwerks- und Hobbymesse mitgebracht. »Alle möglichen Tiere gab es da«, hat Michelle Molly erzählt. »Ozzie wollte unbedingt das Ferkel, weil er ganz verrückt auf dein Kinderlied ist!«

Rechts von der Tür steht ein in die Nische eingebautes Regal, gerammelt voll mit Kinderbüchern. An einer Wand prangt ein farbenprächtiges Wandbild, gemalt von Michelle, die Künstlerin ist. Es zeigt eine dickliche, bebrillte Märchentante, umringt von einer Schar aus Kinderliedern entnommener Figuren: der Fuchs, alle meine Entchen und Hänschen Klein und summende Bienchen und Häschen in der Grube und weitere, die Molly aber nicht kennt.

Wahrscheinlich liegt es daran, dass Kinderreime nach Carleens Verschwinden im Hause Connolly nicht angesagt waren. Hin und wieder, so erinnert sich Molly jetzt, hat Kevin ihr mal etwas vorgelesen, üblicherweise aus unbebilderten Büchern mit Abenteuer- oder Sciencefiction-Storys, eigentlich für Jungen in Kevins Alter gedacht.

Ansonsten hat sich keiner je die Mühe gemacht, ihr etwas vorzulesen, obwohl Kevin behauptet, ihr Daddy habe ihr manchmal Geschichten erzählt, bevor er sie abends ins Bettchen steckte. Sie würde sich so gern daran erinnern, wüsste so gern noch mehr von Daddy, von gemeinsamen Unternehmungen. Da hätte sie doch wenigstens etwas – wenn ihr sein Gesicht und seine Stimme und seine Liebe noch in fester Erinnerung wären.

Doch nur ganz wenig ist ihr von ihm im Gedächtnis haften geblieben, lediglich Zeilen von Liedern, die er ihr vorsang, lückenhafte Szenen, wenn er sie in den Arm nahm und ihr Küsschen gab.

Und dass Mom mal zärtlich zu ihr gewesen wäre, daran kann sie sich erst recht nicht erinnern.

Auch von Rory war in der Hinsicht nichts gekommen. Am Abend zuvor allerdings, nach ihrer Ankunft, da hatte sie Molly doch umarmt, wenngleich ein wenig förmlich.

Molly setzt Ozzie auf dem Wickeltisch ab und fängt zerstreut an, den Kleinen auszuziehen. Na ja, gesteht sie sich ein, mag sein, dass ich selber auch daran schuld war, wenn Rorys Umarmung so hölzern ausfiel. Große Zuneigung bringe ich meiner Schwester schließlich nicht gerade entgegen. Wie auch, wenn Rory, so lange Molly zurückdenken kann, so weit weg lebt, wie es eben geht? Kevin meint, das sei eben Rorys Art, mit dem umzugehen, was mit Carleen und Emily und mit Dad passiert ist.

Aus Mollys Sicht ist das eine ziemlich verkorkste Art und Weise der Trauerbewältigung. Sie kennt ihre einzig verbliebene Schwester kaum, obwohl die, so jedenfalls behauptet Kevin, Molly durchaus gern habe. Und nicht nur sie, sondern alle aus der Familie.

»Denkt sie etwa nicht immer an deinen Geburtstag?«, fragt er vorwurfsvoll, wenn Molly mal wieder nörgelt, weil Rory nicht da ist. »Schickt sie dir etwa kein Weihnachtsgeschenk?« Als ob ein paar Aufmerksamkeiten – zumeist sowieso unpassende, beispielsweise eine Barbie-Puppe, obwohl Molly zeitlebens nicht mit Puppen gespielt hat – das wieder gutmachen könnten, dass Rory sich kein bisschen um die Familie kümmert.

Und kaum für den gesamten Sommer daheim eingetrudelt, führt sie sich auf, als würden sie beide, Molly und sie, während Kevins Abwesenheit zusammenhalten wie Pech und Schwefel.

Beim Gedanken an ihren älteren Bruder fährt Molly ein scharfer Stich durchs Herz. Schon jetzt merkt sie, wie sehr er ihr fehlt. Dabei ist er gerade diesen Nachmittag erst abgereist.

Wie konntest du mich im Stich lassen?, fragt sie stumm und stellt sich vor, dass er mittlerweile bereits am Flughafen in New York an Bord des Fliegers gegangen sein muss, der nun Richtung London abhebt.

Entweder das, oder Kevin hat es sich anders überlegt, ist doch nicht geflogen und hat stattdessen kurzerhand eine Zubringermaschine zurück nach Albany genommen. Und jetzt hört sie gleich jeden Moment seine Stimme nebenan in der Einfahrt, hört ihn rufen und sagen, er habe es doch nicht über sich gebracht, sie den ganzen Sommer allein zu lassen.

»Molly Aua hat?«

Sie merkt, dass Ozzie ihr ins Gesicht schaut, die großen braunen Augen vor Besorgnis geweitet.

»Aua? Ach, weil ich so traurig gucke, meinst du? Ja, Molly hat Aua, mein Schatz«, sagte sie melancholisch. Ein riesengroßes Loch, mitten im Herzen.

»Aua pusten«, verkündet Ozzie. »Wo Aua is?«

Lächelnd zaust sie ihm die blonden Korkenzieherlocken. »Pass auf, Ozzie: einmal ganz feste drücken, dann geht das Aua weg, ja?«

Sie schließt ihn in die Arme und presst ihn an sich, und dabei spürt sie, wie sein kleines Herz dumpf gegen ihr eigenes wummert.

Er ist so süß, der kleine Kerl! Seine Zuneigung bedeutet ihr so viel. Besonders jetzt, da Kevin fort ist und sie niemanden sonst hat.

Tränen schießen ihr in die Augen, während sie Ozzie umschlungen hält, bis er anfängt zu zappeln, weil er ins Wasser will. Die kleinen Sandalen lässt sie ihm an, denn sie weiß, er will unbedingt selbst über den Flur zum Badezimmer tappen. Barfuß darf er das nicht, seit er sich vor einigen Wochen einen Holzsplitter ins Füßchen gerammt hat.

»Los, gehen«, brabbelt Ozzie begeistert und flitzt, sobald Molly ihn abgesetzt hat, zur Tür. »Los, gehen!«

»Nee, kleiner Mann, rennen!«, lacht Molly.

Sie eilt ihm nach, den Korridor hinunter zum Bad, wobei sie im Hinausgehen den Lichtschalter draußen links von der Kinderzimmertür betätigt. Eine nackte, unter der Decke baumelnde Glühlampe erhellt den langen, engen Flur. Im Finstern in einem Haus, in dem es spukt – da kann Molly sich weiß Gott etwas Besseres vorstellen.

Auch wenn ihr hier noch nie ein Gespenst über den Weg gelaufen ist, auch wenn sie nie auch nur ein verdächtiges Knarren gehört hat – sie ist dennoch davon überzeugt, dass es in diesem Bau nicht mit rechten Dingen zugeht. Rebecca, die im Nachbarhaus auf der anderen Seite wohnt, vertritt dieselbe Meinung und weigert sich standhaft, hier als Babysitter zu fungieren. Wenn Molly den kleinen Ozzie und seine Eltern nicht so gern hätte, würde sie ebenfalls keinen Fuß in dieses Haus setzen.

Ob sie’s will oder nicht: andauernd kommt ihr Emily Anghardt in den Sinn, das Mädchen, das hier früher gewohnt hat. Sie vermag sich zwar überhaupt nicht an sie zu erinnern, doch mitunter, wenn Ozzie schon eingeschlafen ist und Molly allein unten im Erdgeschoss hockt, kann sie sich des unerklärlichen Gefühls nicht erwehren, als stünde sie mit dieser Emily in Verbindung.

Immerhin war das einmal Emilys Zuhause. Hier hat sie gewohnt, geschlafen, gespielt. Und eines Tages, da ging sie – oder vielleicht wurde sie auch getragen – durch die zweiflügelige Haustür mit der Bleiverglasung, um nie wieder zurückzukehren.

Allein der Gedanken an das, was Emily oder Carleen und den anderen damals zugestoßen sein könnte, jagt Molly einen kalten Schauer über den Rücken, trotz des noch drückend schwülen Sommerabends. Und genauso graust es ihr bei der Vorstellung, Emilys Geist spuke hier im Hause herum.

»Komm, Ozzie«, ruft sie fröhlich. »Jetzt kannst du deine Sandalen ausziehen!«

»Zehen pielen!«, quiekt er sogleich und lässt, während Molly die Sandalenriemchen löst, erwartungsfroh die Zehen wackeln. »Molly Zehen pielen!«

»Klar!« Molly fängt an: »Das ist der Daumen …«

Es ist dunkel. Aus den Fenstern der einst hochherrschaftlichen alten Häuser, die düster die Hayes Street säumen, flutet ein warmer Schein. Kein Windhauch stört die bleierne, stille Luft. Er hört das Zirpen der Zikaden; gedämpft dringt die Übertragung eines Baseballspiels aus einem Fernseh- oder Radiogerät. Aus der Ferne klingt das monotone Brummen eines Rasenmähers herüber.

Momentan schlendert nur er die Straße entlang, allem Anschein nach ein Spaziergänger, der nach dem Dinner den lauen Sommerabend ausnutzen und sich gemächlich die Beine vertreten möchte. Als er sich Hausnummer 52 nähert, einem heruntergekommenen, dreigeschossigen Gebäude, das etwas versetzt hinter einem käfigartigen Gitterzaun liegt, verlangsamt er seine Schritte. Das Tor steht halb offen, als winke es einem Besucher ein Willkommen zu – oder, wie ihm im Nachhinein einfällt, als wolle es einen potentiellen Fluchtweg offen halten, sollte ein Bewohner zur Flucht genötigt werden.

Im Vorbeigehen mustert er das Gebäude und bemerkt die schiefen Treppenstufen vor dem Eingang sowie die klaffenden Lücken, wo Sprossen im Geländer des Treppenpodests fehlen. Ein Fassadenanstrich täte dringend Not; die Farbe ist stellenweise abgeblättert oder zu tristen, blassen Schattierungen verblichen, begrenzt von Zierkanten in schmutzigbraunen Abstufungen. Büsche und Sträucher wirken verwildert, der scheckige Rasen allerdings ist zumindest gemäht. In dieser trostlosen Umgebung nehmen sich die in voller Blüte neben der Treppe wachsenden hellrosa Nelken auffällig deplatziert aus.

Hier also wohnte Carleen Connolly, grübelt er, während er weiterschlendert und den Blick über die Fassade des nächsten Hauses gleiten lässt.

Haus Nr. 54.

Und hier hat Emily Anghardt gewohnt.

Das Gebäude wirkt genauso vernachlässigt wie Nummer 52, lässt jedoch dezente Anzeichen erkennen, die verraten, dass jemand etwas gegen den Verfall unternimmt. Auf dem vorderen Podest stapeln sich Farbeimer; eine Leiter lehnt an der Seitentreppe. Hinten, am Ende der langen, geraden Hof einfahrt, welche die gesamte Hausflanke einnimmt, steht ein riesiger Mietcontainer für den bei Reparaturarbeiten an Haus und Hof anfallenden Bauschutt.

Das Erdgeschoss ist dunkel, das Obergeschoss jedoch erleuchtet. Er weiß, dort wohnt nun eine junge Familie, die Zuwachs erwartet. Ob die wohl die Geschichte des Hauses kennt? Und wenn – macht das den neuen Besitzern etwas aus?

Er denkt an die Connollys, die nach wie vor im Haus Nr. 52 wohnen – trotz aller Erinnerungen an die Tochter, die sie verloren haben.

Die Häuser hinter sich lassend, spaziert er weiter den geraden, leicht ansteigenden Bürgersteig hinauf Richtung Straßenecke. Hier lange stehen zu bleiben und die Gebäude anzustarren, das scheint ihm zu gewagt; er könnte auf einen der Bewohner stoßen, und das will er nicht riskieren. Er braucht sie noch nicht kennen zu lernen. Dafür ist später noch Zeit genug.

Er wird sich schließlich den gesamten Sommer über hier aufhalten.

Ganz so wie vor zehn Jahren.

Die Hand auf dem Knauf, bleibt Rory mit klopfendem Herzen vor der geschlossenen Tür im Flur des zweiten Stocks stehen. Nach kurzem Schließen der Augen dreht sie den Griff und stößt die Tür auf.

Nur Schwärze, sonst nichts.

Ihre Hand tastet gleich rechts neben dem Türrahmen an der Wand entlang, bis sie den Lichtschalter findet. Rory knipst das Licht an und schließt, ’geblendet vom Schein der Deckenbeleuchtung, blinzelnd die Augen, bevor sie sich im ehemaligen Zimmer ihrer Schwester umsieht.

Gleich einer Woge schwappt ein Schwall von Eindrücken über sie hinweg, sodass sie sich mit ausgestrecktem Arm am in der Nähe stehenden Schreibtisch festhalten muss.

Ach, Gott, Carleen!, zuckt es ihr durch den Kopf. Wie sehr hat sie versucht, die Schwester zu vergessen, und doch – wie unsäglich fehlt sie ihr nun! Sie holt tief Luft und ringt um Fassung. Die abgestandene Luft, so fällt ihr auf, riecht muffig. Nur mit Mühe bringt Rory sich dazu, den Blick durchs Zimmer schweifen zu lassen.

Dort, auf dem noch unaufgeräumten Schreibtisch, liegt ein Roman von Stephen King, Shining, sogar mit Lesezeichen zwischen den Seiten. Rory weiß noch, dass Carleen ihn in jenem Sommer gerade gelesen hatte. In irgendetwas schmökerte sie ständig.

Der Bücherschrank an der Wand gegenüber ist voll gestopft mit Doppelreihen von Werken. Weitere stapeln sich auf dem Fußboden direkt daneben – darunter gängige Unterhaltungsliteratur, auch ein paar gern gelesene Klassiker und gebundene Ausgaben. Dann wieder mit Eselsohren versehene Taschenbücher für junge Erwachsene, zumeist so genannte »anspruchsvolle« Romane von Autoren wie Avi und Richard Peck oder Paul Zindel, nicht so sehr die Folgen seichter Serien wie »Sweet Valley High«, die in Rorys Zimmer, gleich gegenüber auf der anderen Flurseite, die Bücherregale füllen.

An der Wand über dem Bücherschrank hängt ein Kruzifix, genau das gleiche wie in allen anderen Schlafzimmern im Haus und natürlich von Maura dort angebracht. Rory entsinnt sich noch, dass sie sich als kleines Mädchen immer vor dem gruseligen Bild der blutverkrusteten, klaffenden Wunden in Füßen und Händen der Erlöserfigur gefürchtet hat. Sogar jetzt wendet sie den Blick rasch von Christus am Kreuze ab und konzentriert sich stattdessen auf die breite Schminkkommode neben dem Bücherschrank.

Eine Schublade steht offen, als habe jemand eben erst etwas herausgezerrt und sie dann halbherzig geschlossen. Auf der mit allerlei Kosmetikartikeln und Haarspangen und Pflegemitteln übersäten Abdeckplatte entdeckt Rory ein violettes rundes Glasflakon – Poison von Christian Dior, Carleens Lieblingsparfüm, ein Geschenk zum 17. Geburtstag von irgendeinem Jungen. Carleen hatte damit geprotzt, weil es so teuer war, und sich stets über und über damit eingesprüht, ungeachtet aller gerümpften Nasen und der oft geäußerten Bemerkung, es sei zu aufdringlich.

Drüben auf dem Nachttisch liegt Carleens Oberstufenjahrbuch von der Highschool, daneben, achtlos auf den Boden geworfen, eine braune Dokumentenmappe, in Leder gebunden – Carleens Abiturzeugnis. Rory hat genauso eine Mappe bekommen, ein Jahr später, als sie die Lake Charlotte Highschool abschloss.

Dort steht Carleens Himmelbett, das sie sich immer so sehnlichst gewünscht und schließlich von Mom und Dad zum 13. Geburtstag geschenkt bekommen hatte – zum Leidwesen von Rory, die – ohnehin der Ansicht, Carleen sei Moms Liebling – natürlich neidisch gewesen war. Großzügigerweise durfte sie jedoch einige Nächte darin schlafen, als Carleen mit den Pfadfinderinnen an einem Zeltlager teilnahm.

Damals, als Carleen noch so war wie immer, bevor …

Na ja, bevor alles anders wurde.

Mit behutsamen Schritten tastet Rory sich weiter ins Zimmer vor, das, wie sie feststellt, genau in dem Zustand belassen worden ist, in dem Carleen es zehn Jahre zuvor zurückgelassen hat. Nach ihrem Verschwinden sorgte Mom dafür, dass niemand hier etwas anrühren durfte. Das Zimmer sollte bereit stehen, wenn Carleen eines Tages zurückkehrte, sagte Mom immer.

Daddy hatte nichts dagegen unternommen.

Vielleicht glaubte er ebenfalls, Carleen käme zurück.

Vielleicht ahnte er aber auch, was es für Mom bedeuten würde, die Hoffnung aufgeben zu müssen.

Während der ersten Wochen und Monate nach Carleens Verschwinden hatte es gelegentlich Grund zu der Annahme gegeben, sie wäre noch am Leben, sei bloß auf und davon und treibe sich irgendwo in der Weltgeschichte herum. Doug McShane, der mit den Ermittlungen beauftragte Kriminalbeamte, hatte nach eigenen Angaben Hinweise von Leuten erhalten, die behaupteten, Carleen gesehen zu haben – Hinweise indes, die in der Folge zu keinerlei Ergebnissen führten.

Außerdem wimmelt die Welt, so sagte Daddy damals immer, von Perversen und Spinnern.

Rory kann sich noch an den Abend entsinnen, als das Telefon klingelte und sich am anderen Ende eine Stimme meldete, ein Mädchen, das sich als Carleen ausgab. Obgleich die Stimme kein bisschen wie die ihrer Schwester klang, hatte Rory das Herz bis zum Halse geschlagen. Im ersten Moment hatte sie sich tatsächlich täuschen lassen, bis die Anruferin sich vor Gekicher gar nicht mehr einkriegte und Rory aufging, dass sie einem Streich von ein paar albernen Gören aufgesessen war.

Ein anderes Mal tauchte eine Spiritistin vor der Haustür auf und wollte Mom weismachen, sie überbringe eine Botschaft von Carleen. Sie sei am Leben und werde von einem Fremden in einem unterirdischen Kerker gefangen gehalten. Gegen ein Entgelt von zweihundert Dollar, so die Wahrsagerin, sei sie bereit, den Fremden zu beschreiben und seine Initialen zu nennen.

Mom, die als fromme Katholikin eigentlich nicht auf solch einen Hokuspokus hätte hereinfallen dürfen, hätte ihr die zweihundert Dollar glatt gegeben, wäre nicht genau in diesem Moment Daddy erschienen. Der nämlich warf die selbst ernannte Hellseherin achtkantig hinaus.

Vor dem geistigen Auge sieht Rory die Frau noch Hals über Kopf zu ihrem am Bordstein geparkten Auto stürzen, während Daddy die hilflos jammernde Mom lauthals beschimpft. »Ja, meinst du etwa, ich würde nicht auch liebend gern glauben, sie lebt noch?«, hatte er Mom angebrüllt, nachdem die Spiritistin davongefahren war. »Mir bleibt genauso das Herz stehen, wenn Doug McShane anruft, weil er wieder mal einen Tipp von jemandem gekriegt hat, der sie gesehen haben will!«

Und in dem Augenblick war Rory, die zusammengekauert oben auf dem Treppenabsatz gehockt und alles gehört hatte, eines klar geworden: Daddy hielt Carleen für tot.

Von da an hatte Rory sich eingestehen dürfen, dass sie es ebenfalls glaubte. Seit dem Zeitpunkt hatte sie keinen Fuß mehr in Carleens Zimmer gesetzt, wusste sie doch, es tat zu weh, weil alles so aussah, als käme sie irgendwann wieder.

Jetzt, zehn Jahre danach, ist der Schmerz abgestumpft und zu einem dumpfen, bedrückenden Gefühl verblasst. Mittlerweile erwachsen, hält Rory es nun aus, dass sie hier steht, hier im ehemaligen Mädchenzimmer ihrer Schwester; dass sie den Verlust von jemandem betrauert, den sie einst geliebt hat. So gelähmt vor Leid, wie sie es früher war, ist sie nicht mehr.

Geblieben ist bloß diese tief sitzende Schwermut.

Und das Rätsel, natürlich.

Was ist nur mit dir geschehen, Carleen?

Und mit dir, Emily?

Während sie über ihre Schwester grübelt, greift sie in den Halsausschnitt ihres T-Shirts, zieht ein an einer Kette befestigtes Medaillon heraus und nestelt gedankenverloren daran. Da ihr die Hitze im Zimmer unerträglich wird, tritt sie ans Schiebefenster, um die Scheibe nach oben zu drücken. Nach einigen vergeblichen Versuchen gibt diese zögerlich nach und hebt sich, begleitet vom typischen ächzenden Knirschen, wenn Holz sich an Holz reibt.

Kühl ist die Außenluft auch nicht, doch bei weitem nicht so erdrückend stickig wie hier im Zimmer. Tief atmet Rory den süßen Duft der blühenden Geißblatthecke ein, die unten, zwei Stockwerke tiefer, wuchert.

Den Blick hinunter in den Garten neben dem Haus gerichtet, erinnert sie sich an die Zeit, als sie und Carleen sich mit ihren Barbie-Puppen im Schatten der großen, alten Eiche, gleich drüben am Zaun, ausbreiteten. Stunde um Stunde waren sie ins Spiel vertieft, tauschten sie Puppenkleider und bauten kunstvolle Häuser inmitten der knorrigen Wurzeln, die sich vom Fuß der Eiche aus in den Boden bohrten.

Carleen hatte die tollsten Ideen, sinniert Rory mit dem Anflug eines Lächelns. Dauernd fiel ihr etwas Neues ein: Mal trat ihre Barbie vor den Traualtar, mal zog ihr Ken in den Krieg. Ich selbst vergaß darüber das Spielen mit meinen Puppen, hockte einfach nur da und schaute, wie Publikum im Theater, den Szenen zu, die Carleen mit ihren Barbies aufführte.

Würde Carleen noch leben, so überlegt Rory wehmütig, dann wäre sie wohl Schauspielerin geworden, vielleicht auch Innendesignerin. Im Einrichten ihrer Puppenhäuser war sie ein wahres Genie: sie funktionierte Briefmarken zu gerahmten »Drucken« für die Wände um oder bastelte Minitische, indem sie Plastikdeckel von Kaffeedosen auf Nähgarnspulen klebte.

Völlig überraschend überläuft Rory ein jähes, unwillkürliches Frösteln.

Sie starrt hinunter ins Halbdunkel unter dem Fenster, und es scheint ihr, als habe etwas sie aufgeschreckt. Dabei liegt dort nur der verlassene Garten, weiter nichts.

Dann fällt ihr aus den Augenwinkeln eine kaum merkliche Bewegung auf. Sie wendet den Kopf zur Seite und erkennt eine dunkle Gestalt, die sich jenseits des schwarzen Eisenzauns den Bürgersteig entlang bewegt.

Augenscheinlich ein Mann, gemächlich schlendernd, das Gesicht in Rorys Richtung gewandt, fast so, als sehe er sie dort oben am Fenster stehen. Gut möglich, denkt sie, denn sie begreift, dass sie sich vor dem Schein der Lampe hinter ihr deutlich abhebt. Instinktiv in Deckung gehend, tritt sie vom Fenster zurück, fragt sich jedoch sofort, warum.

Wahrscheinlich nur einer der Nachbarn, sagt sie sich. Die gesamte Nachbarschaft wird wissen, dass das hier Carleens ehemaliges Zimmer ist – eins jener Details, die in Lake Charlotte zum Mythos geworden sind. Zumindest war das so in dem einen Jahr, in dem Rory nach Carleens Verschwinden noch daheim wohnte.

Sie hat noch gut im Gedächtnis, wie die Autos vor ihrem Haus langsamer fuhren und Passanten neugierig gafften, wie Rad fahrende Kinder sich draußen vor dem Gartenzaun drängelten und durch die Stäbe lugten, als warteten sie darauf, dass jeden Moment Carleens Geist erschien.

Seufzend knipst Rory das Licht aus und taucht so das Zimmer wieder in Dunkelheit. Nachdem sie die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hat, tappt sie behutsam die Treppenstufen zum ersten Stock hinunter.

Vor der geschlossenen Tür zum Zimmer ihrer Mutter zögert sie einen Moment. Soll sie anklopfen und fragen, wie es ihr geht?

Irgendwie erscheint ihr das zu aufdringlich. Von Kevin weiß sie, dass ihre Mutter häufig im Bett liegen bleibt, oft vor ihrem tragbaren Fernseher, zuweilen auch einfach unter die Decke oder aus dem Fenster starrend. Wenn sie das Haus verlässt, dann einzig und allein für den Gang zur Morgenmesse in der Holy Father Church, zwei Häuserzeilen entfernt.

Den Sommer über will Rory alle Anstrengungen unternehmen, bei ihrer Mutter so etwas wie einen Sinneswandel herbeizuführen, sie so weit zu bringen, dass sie sich aus dem Bett aufrafft und in die Außenwelt begibt. Das hat Rory sich bei der Heimfahrt schon vorgenommen.

Heute Abend allerdings will sie noch nicht den Anfang machen. Dazu ist sie zu erschöpft.

Also geht sie an der Tür zum Elternschlafzimmer vorbei und setzt ihren Weg fort zum am Ende des Flurs gelegenen Gästezimmer. Dort wird sie den Sommer über untergebracht sein, nicht oben in ihrem ehemaligen Jungmädchenzimmer, gleich gegenüber Carleens.

Ständig redet sie sich ein, dass sie sich für das Zimmer hier unten entschieden hat, weil es dort kühler ist und weil sie in der Nähe von Molly und von ihrer Mutter sein will.

In Wirklichkeit birgt ihr Mädchenzimmer, genau wie das von Carleen, zu viele quälende Erinnerungen. Zwar ist ihr inzwischen bewusst, dass es unmöglich sein wird, den Sommer hier zu verbringen und gleichzeitig allen Gesprächen und Gedanken über die Vergangenheit aus dem Wege zu gehen. Dennoch will sie sich auf keinen Fall ausschließlich in ebendiese Vergangenheit stürzen.

Beim Betreten des Gästezimmers lässt sie die Tür einen Spalt breit hinter sich offen, damit Licht aus dem Korridor ins Zimmer fällt, und schaltet den wuchtigen, antiquierten Ventilator ein, der kastenförmig im Fenster steckt. Während der Elektromotor surrend anläuft, sieht Rory, auf der Kante des Doppelbetts sitzend, aus dem Fenster, vor sich exakt denselben Blick wie aus Carleens Zimmer genau ein Stockwerk über ihr.

Von dem Mann auf dem Bürgersteig keine Spur.

Und doch läuft ihr aus einem unerfindlichen Grund erneut ein Schauder über den Rücken. Fröstelnd die Arme um den Oberkörper geschlungen, starrt sie hinaus in den stillen, stickigen Sommerabend.

KAPITEL 3

Cap’n Crunch Knusperfrühstück? Hab ich früher auch furchtbar gern gegessen!« Über Mollys Schulter hinweg lugt Rory in die Müslischüssel, die vor ihrer Schwester auf dem Frühstückstisch steht.

Aus verengten Augen guckt Molly zu ihr auf. »Lässt du mich bitte? Ich esse gerade!«

»Wollte nur sehen, ob das die sind mit den bunten Knusperbeeren«, sagt Rory.

Schweigen.

»Und? Sind es die?«

»Nee«, erwidert Molly. »Sind sie nicht.«

»Die mit Erdnussbutter denn?«

»Nee. Zufrieden?«

Schulterzuckend übersieht Rory geflissentlich den Wink ihrer Schwester. Mag sein, dass Molly ein Morgenmuffel ist. Einer wie Carleen. Die maulte jeden an, der sie vor zwölf Uhr Mittag ansprach.

Vielleicht kann Molly mich nicht leiden, grübelt Rory zerknirscht, während sie zum Küchenblock geht und sich nach einer Kaffeemaschine umsieht. Wahrscheinlich darf ich’s ihr nicht mal verübeln. Nach ihrer Ansicht habe ich mich abgesetzt, alle im Stich gelassen und bin die letzten zehn Jahren durch die Lande getingelt.

Und im Grunde liegt sie da gar nicht so falsch.

Seufzend öffnet Rory eine Schranktür, nach wie vor auf der Suche nach der alten Kaffeemaschine, an die sie sich noch vage von früher erinnert.

Inzwischen dröhnt ihr schon der Schädel von den hämmernden Kopfschmerzen, weil ihr die gewohnte Koffeindosis von drei Tassen pro Tag fehlt.

Doch im Schrank findet sie nichts als Stapel von Glasschüsseln, samt und sonders in verwaschenen Pastelltönen, die meisten mit Sprüngen und Kerben, dazu ein Kasserollen-Set, das Rory ziemlich fremd vorkommt und den Eindruck macht, als sei es noch nie benutzt worden.

Ein Blick in einen anderen Schrank: wieder keine Kaffeemaschine, allerdings eine Teekanne aus Porzellan mit abgebrochener Tülle sowie eine ganze Kollektion von Kaffeebechern, Mitbringsel ihres Vaters von Ausflügen und Reisen, Souvenirs mit dümmlichen Sprüchen und Slogans. Rory dreht sie und schaut nach, woher sie kommen. Ein paar stammen aus Albany, einer ist von den Niagarafällen, einer aus den Catskill-Bergen.

Weit weg von zu Hause hat es dich nie verschlagen, was, Daddy?, geht es Rory durch den Kopf. Sie vergleicht seine Fahrten mit den Gefilden, die sie seit ihrem Weggang von Lake Charlotte bereist hat – Skitouren in den Rockys, Segeltörns zu den Florida Keys, Camping in den Black Hills, sogar dem Winter von Minnesota hat sie getrotzt.

Patrick Connolly, ehemals Dozent für Geschichte und Geographie am städtischen Studienkolleg, hätte bei allem begeistert mitgemacht. Als kleines Mädchen saß Rory oft auf seinem Schoß und blätterte die Seiten seines riesigen Atlas um, wenn er von fernen Ländern erzählte und von Ereignissen, die sich dort zugetragen hatten, früher einmal, »anno dazumal«, wie Rory es stets genannt hatte. Stundenlang konnte er so dozieren, wobei Rory, obwohl sie schon längst das Interesse verloren hatte, immer so tat, als sei sie ganz hingerissen, weil ihm ja sonst niemand zuhörte und weil sie sich so geborgen fühlte, so auf Vaters Schoß gekuschelt, die Schultern von seinen starken Armen umfangen, in den Ohren das Dröhnen der tiefen Stimme.

Ach, Daddy, grübelt Rory, und Tränen brennen ihr plötzlich heiß in den Augen.