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Zwei Wendy Morgan Thriller in einem E-Book.
Von schwarzem Herzen.
Sie liebt mich ... sie liebt mich nicht... Ich will sie ... ich will sie tot... Als eine selbstgemachte, herzförmige Valentinskarte ohne Unterschrift im Briefkasten von Rose Larrabee auftaucht, ist sie überrascht, da sie als Witwe und Mutter zweier kleiner Kinder wenig Zeit für Romantik hat. Aber was man für ein romantisches Geschenk halten könnte, ist in Wirklichkeit eine erschreckende Erinnerung an das dunkle Geheimnis, das sie mit zwei anderen Frauen teilt ... ein Geheimnis, das tödliche Folgen hat. Als das Telefon mitten in der Nacht klingelt und ein Lied spielt, das Rose das Blut in den Adern gefrieren lässt, ist sie fest entschlossen, ihre Familie vor der Bedrohung zu schützen. Eine Bedrohung, die sie nicht sehen kann, von der sie aber weiß, dass sie da draußen ist ... und sie beobachtet. Nachdem eine der anderen Frauen tot aufgefunden wird, ist Rose klar, dass die Valentinskarte nicht das Geschenk eines geheimen Verehrers ist, sondern eine Warnung des Verrückten, der ihren tiefsten, dunkelsten Ängsten allzu nahe kommt - und den sie seit Jahren fürchtet ...
Schlafe sanft und ewiglich.
Mit neununddreißig Jahren hat Peyton Somerset ein beneidenswertes Leben, mit einer erfolgreichen Position in der Werbebranche und einer schönen Wohnung in Manhattan. Sogar ihr sehnlichster Wunsch - ein Baby zu bekommen - wird bald erfüllt. Der Vater des Kindes hat sich zwar aus dem Staub gemacht, doch Peyton plant ihr Kind alleine großzuziehen. Aber dann wird ihr Glück überschattet. Peyton wird das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmt. Jemand beobachtet sie. Jemand war in ihrer Wohnung. Jemand verfolgt sie. Ist es nur eine hormonelle Paranoia, dass sie allen um sich herum zu misstrauen? Oder ist Peyton wirklich in Gefahr? Ihre Angst steigert sich, als eine gute Freundin, die ebenfalls schwanger ist, plötzlich spurlos verschwindet ...
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Seitenzahl: 1029
Zwei Wendy Morgan Thriller in einem E-Book!
Von schwarzem Herzen.
Sie liebt mich ... sie liebt mich nicht... Ich will sie ... ich will sie tot... Als eine selbstgemachte, herzförmige Valentinskarte ohne Unterschrift im Briefkasten von Rose Larrabee auftaucht, ist sie überrascht, da sie als Witwe und Mutter zweier kleiner Kinder wenig Zeit für Romantik hat. Aber was man für ein romantisches Geschenk halten könnte, ist in Wirklichkeit eine erschreckende Erinnerung an das dunkle Geheimnis, das sie mit zwei anderen Frauen teilt ... ein Geheimnis, das tödliche Folgen hat. Als das Telefon mitten in der Nacht klingelt und ein Lied spielt, das Rose das Blut in den Adern gefrieren lässt, ist sie fest entschlossen, ihre Familie vor der Bedrohung zu schützen. Eine Bedrohung, die sie nicht sehen kann, von der sie aber weiß, dass sie da draußen ist ... und sie beobachtet. Nachdem eine der anderen Frauen tot aufgefunden wird, ist Rose klar, dass die Valentinskarte nicht das Geschenk eines geheimen Verehrers ist, sondern eine Warnung des Verrückten, der ihren tiefsten, dunkelsten Ängsten allzu nahe kommt ... und den sie seit Jahren fürchtet.
Schlafe sanft und ewiglich.
Mit neununddreißig Jahren hat Peyton Somerset ein beneidenswertes Leben, mit einer erfolgreichen Position in der Werbebranche und einer schönen Wohnung in Manhattan. Sogar ihr sehnlichster Wunsch - ein Baby zu bekommen - wird bald erfüllt. Der Vater des Kindes hat sich zwar aus dem Staub gemacht, doch Peyton plant ihr Kind alleine großzuziehen. Aber dann wird ihr Glück überschattet. Peyton wird das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmt. Jemand beobachtet sie. Jemand war in ihrer Wohnung. Jemand verfolgt sie. Ist es nur eine hormonelle Paranoia, dass sie allen um sich herum zu misstrauen? Oder ist Peyton wirklich in Gefahr? Ihre Angst steigert sich, als eine gute Freundin, die ebenfalls schwanger ist, plötzlich spurlos verschwindet ...
Wendy Morgan hat englische Literatur mit dem Schwerpunkt kreatives Schreiben studiert. Nach ihrem Studium hat sie zunächst als Lektorin und Journalistin gearbeitet, um sich dann ganz ihrem Traumberuf der Schriftstellerin zu widmen. Wendy Morgan lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen in New York.
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Wendy Morgan
Von schwarzem Herzen &Schlafe sanft und ewiglich
Zwei Wendy Morgan Thriller in einem E-Book!
Ins Deutsche übertragen vonMartin Hildebrand
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Von schwarzem Herzen
Widmung
Dank
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
Epilog
Schlafe sanft und ewiglich
Dank
Prolog
Zehn Jahre später. Erster Monat. Februar
1. Kapitel
Zweiter Monat. März
2. Kapitel
Dritter Monat. April
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
Vierter Monat. Mai
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
Fünfter Monat. Juni
9. Kapitel
10. Kapitel
Sechster Monat. Juli
11. Kapitel
12. Kapitel
Siebter Monat. August
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
Achter Monat. September
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
Neunter Monat. Oktober
Epilog
Impressum
Wendy Morgan
Von schwarzem Herzen
Thriller
Ins Deutsche übertragen vonMartin Hildebrand
Für Stacey und Roman zum zweiten Hochzeitstag.
Auch Brody und Mark liebevoll gewidmet…
Vor allem jedoch für Morgan – wegen der Lösung!
Die Verfasserin bedankt sich ausdrücklich bei folgenden Personen: bei Ginny Baumgartner und Gena Massarone für die professionellen Beiträge; bei Samantha Silag Stearns für ihre zündenden Geistesblitze; bei Richard Siegel für die Karriereberatung sowie für die Bereitschaft, im Notfall als Kindermädchen einzuspringen; und bei Kimberley Omundson für ihre Anleitung und Hinweise zur Recherche. Ein herzliches Dankeschön auch an Leslie Fox, Colleen Genett, Caitlin und Maureen Murphy und Wyatt Cadley sowie ganz speziell an Amy Handler für die Babysitterdienste, wenn Not am Mann war (allerdings immer nur einzeln, wohlgemerkt! Meine Sprösslinge sind noch nicht eine solche Rasselbande, dass ein komplettes Aufpasser-Team vonnöten wäre… noch nicht!). Zum Schluss geht mein tief empfundener Dank an Laura Blake Peterson, meine Agentin; an Kelly Going, ihre Assistentin; an meinen Herausgeber John Scognamiglio sowie an alle Kensington-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter, namentlich Walter und Steve Zacharius, Laurie Parkin, Doug Mendini, Joan Schulhafer und Janice Rossi Schaus.
Ganz privat und persönlich bedanke ich mich bei meiner Familie, die meine Torschlusspanik vor dem Abgabetermin ertragen musste; bei meinen Bekannten für deren Verständnis, als ich im vergangenen Sommer urplötzlich von der Bildfläche verschwand; bei Eve Marx und Beverly Beaver für deren kollegiales Verhalten, als ich unter einem Phänomen litt, das nur Schriftstellerkollegen anfällt; und bei den nicht berufstätigen oder beurlaubten Muttis, die tagtäglich mit Humor und Beistand zur Stelle waren, insbesondere Bethany, Tricia und Big Grandma Honey, die geradezu göttliche Orientierungshilfen bereithielt!
Ihre Rückkehr aus der Bewusstlosigkeit ist ein langwieriger, schmerzhafter Prozess.
Jedes Mal, wenn sie die Augen zu öffnen versucht, jagt ihr ein stechender Schmerz wie eine Messerklinge durch den Schädel. Als es ihr endlich nach mehrmaligen Versuchen gelingt, die Lider offen zu halten, sieht sie nur Schwärze ringsum.
Schwärze …
Noch einmal.
Großer Gott! War das alles ein Traum?
Leicht dreht sie den Kopf, die Zähne wegen der qualvollen Anstrengung zusammengepresst. Vor dem Hintergrund einer schwach glimmenden Lichtquelle nehmen allmählich die Umrisse von Möbeln um sie herum Gestalt an.
Nein, das war kein Traum!
Ein Tisch …
Du kannst sehen!
Eine Couch …
Du bist nicht blind!
Ein Fenster, ein Rollo vor der Scheibe; durch den dünnen Spalt ganz unten sickert ein dünner Lichtstrahl herein.
Aber die Einrichtung stimmt überhaupt nicht! Das ist nicht ihre Wohnung in Richmond! Sie liegt nicht in ihrem Bett! Sondern auf einem kalten, harten Fußboden – ungeschliffenes Holz, das sie kratzig-rau an ihrer Wange spürt.
Wo bin ich?
Was ist passiert?
Zuckend schließen sich ihre Lider. Der Kopf dröhnt zum Zerspringen. Am liebsten würde sie gleich wieder hinüberduseln zu jenem fernen Ort…
Aber das geht nicht!, mahnt sie sich mit einer Eindringlichkeit, die einem natürlichen Instinkt entstammt.
Hier ist was faul!
Du musst nachdenken!
Bilder blitzen vor ihren Augen auf. Rückblicke.
Wie sie das Büro verlässt.
Wie sie durchs Schneegestöber zum Parkplatz stapft.
Die Wagentür aufschließt.
Wie sie sich hinters Lenkrad setzt, nervös, weil sie’s nicht gewohnt ist, auf vereister Fahrbahn zu fahren.
Wie sie urplötzlich spürt, dass sie nicht allein ist.
Ein leises Rascheln vom Rücksitz her, dann …
Ein Schmerz, der in ihrem Schädel explodiert.
Und jetzt…
Dies hier!
Wo bin ich?
Gewaltsam zwingt sie erneut die Lider auseinander. Schmerzen! Bohrende Schmerzen! Ein Brechreiz überfällt sie, sodass sie die säuerliche Brühe hinunterwürgen muss. Allmählich verliert sie die Herrschaft über ihre Augenlider, aber sie darf sich nicht gehen lassen, darf jetzt nicht wieder hinüberdämmern! Noch nicht! Erst muss sie begreifen, was hier eigentlich vor sich geht!
Ihre übrigen Sinne – Sinne, auf die sie sich all die Jahre, zu viele Jahre, wie selbstverständlich verließ – gewinnen schrittweise an Schärfe.
Die Luft riecht muffig – wie das Innere eines Autos mit angeschimmelten Polstern. Oder wie die Truhe in Tante Luandas Esszimmer, die Kiste, in der sie die Weihnachtstischdecken aufbewahrt!
Und da sind Geräusche! Gedämpfte, rhythmische Laute. Das Ticken einer Uhr. Ihre eigenen vernehmlichen Atemzüge. Dazu ein kratzendes Stoßen und Schaben, unterbrochen von Knistern und Knacken … ein Kamin etwa? Jemand, der mit einem Schürhaken stochert?
Auf neuerliche Höllenqualen gefasst, zwängt sie die Lider abermals auseinander, mustert die im Halbdunkel verschwimmende Umgebung.
Couch …
Fenster…
Dreh den Kopf!
Herrgott noch mal, tut das weh!
Weiter!
Das Flackern von Flammen, orangefarben und unmissverständlich!
Auf einem niedrigen Tisch, vom Schein des Feuers beleuchtet, ein Gegenstand, der wie eine Schneekugel aussieht. In der gläsernen Glocke ein weißliches Wirbeln, als hätte jemand das Ding soeben geschüttelt und wieder hingestellt.
Dann erfasst sie die Umrisse einer menschlichen Gestalt, unmittelbar hinter dem Tisch.
Panik überfällt sie.
Da sitzt jemand! Vor dem Kamin, nur wenige Fuß entfernt!
Wer ist das?
Was geht hier vor?
Die Gestalt rührt sich, beugt sich vor, zu ihr hin, spricht! »Ach, du bist wach! Schön! Wurde aber auch Zeit, Angela! Wäre doch schade, wenn du das hier verpassen würdest!«
Die Stimme kommt ihr auf grausige Weise bekannt vor.
Der Name aber sagt ihr nichts.
Als die Gestalt sich erhebt und über die knarrenden Dielen auf sie zukommt, da wirbeln ihr die Gedanken so panisch im Kopf herum wie die künstlichen Schneeflocken in der gläsernen Halbkugel.
Angela…
Die schattenhafte Gestalt ragt drohend über ihr auf, den Schürhaken wie eine Klinge gezückt, die Spitze glühend rot.
Bevor das nackte Entsetzen sich Bahn bricht, zuckt ihr ein letzter zusammenhängender Gedanke durch den Kopf.
Wer ist Angela?
Mommy!«
Rose Larrabee macht sich auf einiges gefasst, als ihr Dreijähriger über den von Spielzeug übersäten Fußboden der Kindertagesstätte auf sie zugestürmt kommt. Das Gebäude ist fast verwaist, wie immer um diese Zeit, wenn sich bloß noch Leo und ein Erwachsener in der Einrichtung aufhalten.
Sie lächelt, als ihr Sohn herangehüpft kommt, ein olympischer Hürdenläufer in Miniformat, der über abenteuerlich gestapelte Holzbauklötze und Spielzeugwolkenkratzer turnt.
»Hi, Schätzchen!« Schmerzhaft verzieht sie das Gesicht, als Leo sich in ihre Arme wirft, schwungvoll und derart ungestüm, dass ihr sein drahtiger dreijähriger Körper mit voller Wucht gegen die Rippen kracht. Auf diese Weise begrüßt er sie jeden Nachmittag beim Abholen von »Toddler Tyme«. So heißt die Tagesstätte. Angesichts des Gefühls der Erleichterung, dass sie ihn wieder wohlbehalten in ihre Arme schließen kann, nimmt sie den Stoß gegen ihren empfindlichen Brustkasten mit der verräterischen Narbe darauf gern in Kauf.
Rose legt ihr Gesicht in Leos hellbraunes Haar und atmet tief seinen Duft ein – ein Hauch von Erdnussbutter, gemischt mit dem unverkennbaren Aroma von Knetgummi. Lächelnd tätschelt sie ihm den Schöpf, wobei ihre Fingerspitzen auf einen verklebten, strohähnlichen Klumpen stoßen. »Hast du dir beim Mittagessen wieder Traubengelee ins Haar geschmiert, Leo?«
»Nö!« Den Kopf schräg gelegt, entzieht er sich ihren Fingern und wehrt mit heftigem Kopf schütteln ab.
»Ganz bestimmt?« Sie streichelt die klebrige Stelle.
»Ja.«
»Er meint, es war wohl Gelee, nur nicht von Trauben!« Grinsend taucht Gregg Silva neben den beiden auf. »Sondern Erdbeermarmelade!«
Rose begrüßt den neuen Mitarbeiter bei Toddler Tyme mit einem Lächeln. »Der nimmt aber auch alles wörtlich, der Schlingel!« Sie beugt sich vor, um den Kleinen auf die Füße zu stellen.
»Tun sie das nicht alle?« Gregg gluckst verhalten in sich hinein. »Wir hielten Erdbeermarmelade für angebracht, weil ja diese Woche Valentinstag ist!«
Valentinstag! Ach, du liebe Zeit! Und morgen schon! Das hat Rose total verschwitzt. Gottlob hat sie ihren beiden Kleinen bereits die Schächtelchen mit Karten zum Verschenken in der Schule und in der Tagesstätte gekauft. Sie bekommt im Buchladen auf sämtliche Artikel einen Angestelltenrabatt von fünfzehn Prozent, auch auf Schreib- und Papierwaren.
Klar, Jenna nörgelte über die Allerweltskärtchen, die Rose für sie ausgesucht hatte. Leos hingegen stammten aus dem Bereich Baumaschinen: Planierraupen, Muldenkipper, Betonmixer und dergleichen. Damit gab er sich vollauf zufrieden. Im Augenblick interessiert er sich brennend für alles, was irgendwie mit Dreck zu tun hat oder zum Buddeln benutzt wird.
Während sie zusieht, wie Gregg sich bückt und geschickt den obersten Knopf an Leos winzigem blau-türkis gestreiften Rugby-Trikot schließt, verblüfft es sie zum wiederholten Mal, dass dieser erwachsene Mann – ledig, um die dreißig, kinderlos – ein solches Händchen für Kinder beweist.
Seit ein paar Wochen erst arbeitet Gregg als Vollzeitkraft in der Einrichtung. Von Candy Adamski, der überaus mitteilsamen Leiterin der Tagesstätte, weiß Rose, dass er nach einem Umzug seit kurzem hier im Osten von Long Island wohnt. Er hat Grundschulpädagogik studiert; bei Toddler Tyme arbeitet er tagsüber, und abends absolviert er am Stony Brook College ein Aufbaustudium zum Master.
»Ich dachte, gar nicht so schlecht, mal ein Mann im Kollegium«, hatte Candy gemeint und dabei bedeutungsvoll geguckt. »Besonders für Jungs wie Leo!«
Innerlich hatte Rose sich gekrümmt, auch wenn sie der Leiterin die Anspielung nicht verübelte. Richtig, Jungen wie Leo – Jungen, die vaterlos aufwachsen – brauchen positive männliche Vorbilder. Und Frauen wie Rose – junge, verwitwete Mütter – sollten eigentlich dankbar sein für jede Gelegenheit, bei der sich ihre Söhne mit Männern wie Gregg Silva auseinander setzen müssen.
Das bedeutet indes nicht, dass sie sich innerlich je damit abfinden wird, dass ihre Kinder nicht mehr einer »normalen« Familie angehören! Einer Familie mit zwei Elternteilen, die alle gemeinsam unter einem Dach leben.
Leben, wohlgemerkt!
Vater, Mutter, Schwester und Bruder.
Die ideale Familie.
Alles war so vollkommen!
Wie konnte es sein, dass sie sich dessen damals nie recht bewusst war? Wie konnte sie bloß so viel Zeit vergeuden und sich den Kopf über Banalitäten zerbrechen?
Unbegreiflich, dass sie damals hin- und herüberlegte, ob sie fünf Dollar zusätzlich pro Monat für einen Premium-Kabelkanal ausgeben sollte! Oder dass sie sich aufregte, als ihr chinesisches Stammrestaurant es ablehnte, beim $ 4.95-Sonderangebot für den Mittagstisch Suppe süß-sauer gegen Won Ton zu tauschen!
Nicht zu fassen, dass sie die turnusmäßigen Trainingsstunden im Fitnessstudio schwänzte, nur weil sie wegen ihrer Periode an Unterleibskrämpfen litt! Oder dass sie über die wochenlang anhaltenden Schmerzen jammerte, nachdem sie sich im Kickboxen-Kurs den Rücken gezerrt hatte!
Unglaublich, dass sie Sam immer anschnauzte, wenn der vergaß, sich an der Hintertür die verdreckten Schuhe auszuziehen, wenn er seine Lieblingseiskrem direkt aus der Familienpackung futterte oder wenn er versäumte, ihr telefonisch mitzuteilen, er mache Überstunden und komme erst später nach Hause.
Warum hatte sie Gott nicht gedankt für jeden einzelnen Abend, an dem ihr Mann überhaupt heimkam?
Warum war sie nicht dankbar gewesen für jeden gesegneten Tag, an dem sie morgens aufstand? Mit Schmerzen zwar, die aber nichts weiter waren als eine belanglose Unpässlichkeit, keinesfalls etwas Lebensbedrohendes!
Warum hatte sie sich nicht an solch simplen Genüssen erfreut wie Imbisse zum Mitnehmen, Filme im Kabelfernsehen und den zahllosen anderen Alltagsköstlichkeiten, die sie sich nun nicht mehr leisten kann?
»Mrs. Larrabee?« Greggs Stimme zwängt sich in ihre Grübeleien – mit dem Unterton von jemandem, der schon einige Zeit versucht, auf sich aufmerksam zu machen.
»Ja?« Sie lässt ihre Gedanken zurückschwenken in die Gegenwart.
In Greggs blaugrauen Augen liegt gespannte Erwartung.
Rose kommt nicht umhin zu bemerken, wie gut er aussieht: groß, schlank und breitschultrig, bekleidet mit einem maisgelben Rollkragenpullover. Ein üppiger, flachsblonder Haarschopf krönt seine hübschen Gesichtszüge und verleiht ihm die jungenhafte Aura eines kernigen, sonnengebräunten Surfers, selbst jetzt, mitten im Winter. Ohnehin hat er offenbar etwas Farbe bekommen; vermutlich verbringt er die Wochenenden auf den Skihängen nördlich oder westlich von New York City. Wenn Sam ein Wochenende draußen mit den Kindern spielte, kriegte er auch immer so ein frisches, gerötetes Gesicht, sogar hier auf Long Island.
Ach, Sam, was warst du für ein toller Daddy …
»Die Cupcakes!«, sagt Gregg, derweil Leo ungeduldig an ihrem Hosenbein zupft.
»Cupcakes?«, echot sie völlig verständnislos, noch dabei, das Bild ihres Mannes aus ihren Gedanken zu verdrängen.
»Na, für morgen! Die Party zum Valentinstag! Bei der Planungssitzung im Oktober, da haben Sie sich verpflichtet, Törtchen zu backen! Ich wollte Sie nur daran erinnern.«
»Ach ja, sicher! Klar, die Cupcakes! Wie viele sollte ich denn noch mal mitbringen?«
»Dreißig.«
»Stimmt, dreißig.« Sie strahlt Gregg verkrampft an, bemüht zu begreifen, was in Dreiteufelsnamen im Oktober bloß in sie gefahren war, als sie sich überreden ließ, dreißig Törtchen zum Valentinstag zu backen.
Ach was, sie weiß genau, was damals in sie gefahren war! Sie bildete sich nämlich ein, sie könnte auftreten wie eine jener Muttis, für die es ein Klacks ist, Cupcakes zu Feiertagspartys mitzubringen. Selbst gebackene Törtchen, dreißig Stück an der Zahl, möglichst mit rosafarbenem Zuckerguss drauf und Herzchen aus Streuseln!
»Mommy! Meine Jacke!«
Gedankenverloren nimmt sie Leos hellroten Parka vom Haken und hilft ihm beim Anziehen. Das gute Stück stammt von Jenna. Damals, als ihre Tochter noch Einzelkind war, mussten sämtliche Klamotten entweder pink sein oder mit Blumenmuster. Sobald aber Leo das Licht der Welt erblickte, begriff Rose im Handumdrehen, dass kleine Mädchen in Rot, Waldgrün oder sogar Marineblau genauso niedlich aussehen können.
Zum Glück besteht Jenna, was Kleidung betrifft, nicht auf ausgesprochene Mädchensachen. Bis jetzt begnügt sie sich mit Jeans und Pullovern, die ihr kleiner Bruder noch gut auftragen kann. Nur wird, so denkt Rose insgeheim, bald die Zeit kommen, in der ihre Tochter nicht davon abzubringen sein wird, ihre Garderobe selbst auszusuchen. Als Mutter wird Rose es dann wohl nicht leicht haben. Ihr Budget lässt für Mode nicht viel übrig.
Schließlich steht sie hier selber in einem kamelfarbenen Wintermantel, der schon zehn Jahre auf dem Buckel hat. Darunter trägt sie ein formloses kastanienbraunes Trägerkleid aus Cord, das ihr bereits damals während der ersten sechs Monate der ersten Schwangerschaft als Umstandskleid diente.
Während sie Leo bei Mütze, Schal und Handschuhen hilft, wenden sich ihre Gedanken wieder dringenderen Angelegenheiten zu.
Du hast doch nicht etwa auch noch Törtchen für Jennas Klasse versprochen, oder? Obwohl von einem unsicheren Gefühl beschlichen, entsinnt sie sich immerhin noch dunkel daran, dass Mrs. Diamond, Jennas Lehrerin, zu Schuljahresbeginn allen Eltern mittels eines Umschreibens mitteilte, die Schule werde ausschließlich originalverpackte, ladenfrische Süßigkeiten mit Angabe der Zutaten akzeptieren. Einer von Jennas Mitschülern litt angeblich an irgendeiner Lebensmittelallergie …
Na, so sagt sie sich, falls du dich erboten hast, die Grundschule gleichfalls mit deinen Leckerbissen zu beglücken, wird Jenna dich todsicher dran erinnern! Keine große Sache, nachher noch schnell eine Packung von diesen roten Lutschern im Supermarkt zu holen. Wahrscheinlich könnte man dort auch gleich die Cupcakes erstehen!
Falls sie noch welche haben.
Und falls sie genug Taschengeld zusammenkratzen kann, um sich die drei Dutzend benötigten Törtchen auch leisten zu können.
Geld!
Immer geht es ausschließlich ums Geld!
Kaum zu glauben, dass es mal eine Zeit gab, als sie so viel auf der hohen Kante hatten, dass es sogar als Anzahlung für das Haus reichte! Einschließlich einer eisernen Reserve, um damit eines Tages den Kindern das Studium zu finanzieren.
Die Erbschaft von damals aber, auf die hätte sie gern verzichtet, wären ihr nur noch weitere zwanzig Jahre mit ihrer Mutter vergönnt gewesen, denn die starb viel zu früh.
Und überhaupt: Das Geld ist längst futsch, aufgezehrt von den immensen Aufwendungen für Behandlungskosten. Der letzte Rest ging für Sams Beerdigung drauf.
Seufzend zieht sie Leo den Reißverschluss des Parkas bis unters Kinn, als ihr auf einmal einfällt, dass sie ja noch seine Taschen kontrollieren muss. Vor einigen Monaten durchlief er eine kleptomanische Phase. Da ließ er nicht nur Kleinspielzeug aus dem Kindergarten mitgehen, sondern auch Süßigkeiten beim Einkaufen. Einmal klaute er Rose sogar das Kleingeld von der Kommode herunter.
Sowohl Candy Adamski als auch die Kinderärztin versicherten ihr, dies sei eine ganz normale Phase für Kleinkinder in Leos Alter. Jenna indes blieb davon verschont.
Andererseits hat Jenna auch erst sehr viel später den Vater verloren. Rose wird das Gefühl nicht los, dass der Kleine nicht stehlen würde, wäre Sam noch am Leben.
Wenn Sam noch am Leben wäre …
Ihr ganz persönliches Mantra!
Nachdem sie sich überzeugt hat, dass Leos Taschen leer sind, nimmt sie ihn bei der in einem Fäustling steckenden Hand. »Auf, Schätzchen, ab nach Hause! Jenna ist sicher auch schon unterwegs.«
»Jenna ist wohl Leos große Schwester, wie?« Gregg reicht Rose mehrere Bögen, einige aus Schablonenpapier, andere aus farbigem Bastelkarton: Leos jüngste Kunstwerke.
»Ja. Sie ist sechs.« Rose klemmt sich die Bögen zusammengerollt unter den Oberarm.
»Besucht sie die Grundschule? Hier in Laurel Bay?«
»Genau, das erste Schuljahr«, informiert sie ihn mit einem Blick auf ihre Armbanduhr. »Donnerstagnachmittags hat sie Pfadfinderinnentreffen. Da müsste sie ungefähr jetzt Schluss haben.«
Gregg zieht die Augenbrauen hoch. »Danach geht sie ganz allein nach Hause?«
»Natürlich nicht!« Sofort fällt bei Rose eine Art mütterliches Visier herunter. Sie mahnt sich, dass er’s nur gut gemeint hat und einfach bloß zwanglos plaudert, wie immer, wenn sie Leo abholt. Keinesfalls will er ihr unterstellen, sie wäre als Mutter inkompetent.
Nee, wenn das einer glaubt, dann du!, schilt Rose sich.
»Die Mutter ihrer Freundin nimmt sie im Auto mit«, erklärt sie, schon etwas milder gestimmt. »Bis zu uns nach Hause. Sie kann jeden Augenblick dort eintreffen, also, wir müssen! Bis morgen! Sag Mr. Silva auf Wiedersehen, Leo!«
»Der heißt doch Mista Gwegg!«, gibt Leo empört zurück.
»Dann eben bye bye, Mr. Gregg.«
»Tschüs, Mista Gwegg!«
»Bis morgen, kleiner Mann!«, ruft Gregg Silva ihnen nach.
»Bis morgen!« Mit einiger Mühe zerrt Rose ihren Knirps durch die Eingangstür hinaus ins schneeberieselte Dämmerlicht.
Er ertappt sich dabei, wie er wieder einmal durchs Fenster hinausstarrt in die winterliche Abenddämmerung, noch immer nicht gewöhnt an den dicken weißen Belag auf Ästen und Dächern. Januar und Februar sind zwar in diesem Winter nervtötend mild auf Eastern Long Island, doch über Laurel Bay hat der Schneesturm der vergangenen Nacht immerhin mehrere Zoll Neuschnee abgeladen.
Laut Wetterbericht wird der aber bis Ende der Woche schmelzen.
Verdammt! Die ganze Pracht umsonst!
Angesichts der Ironie schüttelt er den Kopf: ein seltener Schneefall, genau am Vorabend des Tages, an dem Rose das erste Geschenk von ihm bekommen soll!
Eine genau vorausberechnete Geschenkübergabe ist unverzichtbarer Bestandteil seines Plans. Und dazu gehört, wie könnte es anders sein, auch Schnee.
Doch er hat Zeit. Mehr als ein ganzer Wintermonat liegt ja noch vor ihm. Da werden noch weitere Schneestürme folgen.
Derweilen, so sein Vorsatz, wird er weiter fleißig in seinem Allerweltsjob arbeiten, der es ihm ermöglicht hat, in der kleinen Gemeinde Fuß zu fassen. Und ganz allmählich wird er Rose das Gefühl geben, dass er sie beobachtet. Und sein Sammelalbum weiter vervollständigen.
Am Tag nach Weihnachten hat er sich das gekauft, und zwar in einem teuren Schreibwarengeschäft in East Hampton, um mickrige zehn Prozent im Preis herabgesetzt. Die barsche blonde Verkäuferin versicherte ihm, er habe eine vorzügliche Wahl getroffen; auf dem säurefreien Papier würden sich seine Erinnerungsstücke über Jahre hinaus halten.
Er hatte sich lächelnd bedankt.
»Soll’s ein Geschenk werden, Sir?«
»Nein, es ist für mich«, hatte er ihr geantwortet.
Während er ihr dabei zusah, wie sie seinen Einkauf in Bögen aus blassblauem Geschenkpapier einschlug, stellte er sich amüsiert den entsetzten Ausdruck vor, der sich auf ihr kühles Gesicht legen würde, falls er ihr sein Vorhaben verriete.
»Wissen Sie, die meisten meiner Kunden sind Frauen«, bemerkte sie und reichte ihm das Päckchen. »Wie schön, dass auch mal einem Mann so viel daran liegt, Erinnerungen zu bewahren.«
Und ob, denkt er jetzt mit selbstzufriedenem Grinsen. Ganz bestimmte Erinnerungen zu bewahren, daran liegt ihm sehr viel.
Während sie die Treppe vor der Kindertagesstätte hinuntersteigen, zählt Rose laut mit Leo zusammen jede einzelne Stufe und mahnt ihn, sich am Geländer festzuhalten. Hier draußen herrscht Frost, für Long Island ungewöhnlich kaltes Wetter. Am Tag zuvor sind mehrere Zentimeter Schnee gefallen, sehr zum Entzücken der Kinder. Falls er liegen bleibt, so nimmt sie sich vor, wird sie am Wochenende mit ihnen rodeln gehen.
Leo trödelt so dahin. Tragen ginge schneller, aber die Zeiten sind längst vorbei.
Gemeinsam stapfen sie den frisch geräumten Gehweg entlang, der von dem niedrigen Gebäude wegführt, vorbei an dem schneebedeckten Spielplatz und dann hinüber zu Roses Chevrolet Blazer. Der andere Wagen, der noch außer ihrem auf dem Parkplatz steht, ist ein dunkelgrüner Nissan, der vermutlich Gregg Silva gehört.
»Los, Leo, rein mit dir!«, befiehlt Rose. Sie hält dem Kleinen die Tür auf und hilft ihm in seinen Kindersitz.
»Ich die Gurte!«, kräht er entrüstet, als sie ihn anschnallen will.
»Nee, Leo, das dauert mir zu lange. Ich mache das!«
»Nein! Ich kann das auch!«
Seufzend gibt Rose nach, in der frostigen Luft bibbernd, während der Knirps sich mit dem Gurtzeug seines Sitzes abmüht. Am liebsten würde sie seine unbeholfenen Patschehändchen beiseite schieben und den Verschluss schnell selber einrasten lassen, aber gemäß der pädagogischen Philosophie bei Toddler Tyme soll man die Kleinen ja zur Selbstständigkeit erziehen. Die meisten Eltern finden das ganz prima. Rose auch, normalerweise.
An diesem Abend ist sie zu müde, um ewig zu warten, bis Leo spitzhat, wie man die Metallbügel in die entsprechenden Schlitze bugsieren muss. Schon will sie ihm die Mühe abnehmen, da ertönt ein metallisches Klicken. Triumphierend strahlt der Kleine sie an.
»Siehst du? Geschafft!«
»Guck einer an, Schätzchen!« Erleichtert lässt sie sich hinters Lenkrad gleiten.
»Tschüs, Todda Time!«, piepst Leo, während sie vom Parkplatz herunterfahren.
Rose lächelt, heilfroh darüber, dass es ihm in der Tagesstätte gefällt. Angefangen hat die Einrichtung im Keller der Blessed Trinity Church, einige Häuserzeilen von hier. Das neue Gebäude wurde vor zwei Jahren errichtet, um den Erfordernissen der jahraus, jahrein wachsenden Einwohnerzahl von Laurel Bay gerecht zu werden.
Immer mehr berufstätige Eltern entschließen sich zum Umzug und werden Pendler: enge, überteuerte Wohnungen in der City, dazu die mit dem Stadtleben verbundenen Ängste vor Terroranschlägen im Tausch gegen die kleinstädtische Ruhe und Beschaulichkeit des östlichen Long Island, auch wenn das lange Fahrten zum Arbeitsplatz erfordert. Ja, auf seinen Konferenzen hat sich das zuständige Schulamt schon mit dem ständigen Zustrom von Familien auseinander gesetzt und beraten, wie man zu volle Klassen vermeiden könnte.
Als sie die Center Street entlang gondelt, die Einkaufsmeile von Laurel Bay, muss Rose vor einem Stoppschild abbremsen. Automatisch blickt sie hinüber zu »Bayview Books« auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Sie kann ihren Kollegen Bill Michaels sehen, der direkt jenseits des hell erleuchteten Panoramafensters an der Ladenkasse steht. Seine Schicht endet erst um fünf. Bewundernd streift ihr Blick über die im Schaufenster ausgestellten Liebesromane, die sie eigenhändig auf einer roten Satinauslage angeordnet hat, extra zum Valentinstag.
Falls der neue Inhaber nicht die Schaufenstergestaltung für März schon im Kopf hat, kann sie, so überlegt Rose, im nächsten Monat vielleicht dasselbe machen, mit grünem Satingewebe und Werken irischer Autoren. Oder einfach nur Bücher mit grünem Einband …
Aber Luke Pfleuger, der neue Eigentümer des Buchladens, verfolgt zweifellos schon seine eigenen Ideen für die Schaufensterdekoration. Er hat ihr die kreative Gestaltung für den Valentinstag nur deshalb gestattet, weil er sich unmittelbar im Anschluss an die Weihnachtsfeiertage eine Bronchitis zuzog und einige Tage krankfeiern musste.
Während Rose weiter der Center Street folgt, fällt ihr auf, dass jede einzelne der diagonal angeordneten Parkbuchten besetzt ist, selbst zu dieser späten Nachmittagszeit. Passanten bummeln die Bürgersteige entlang von Geschäft zu Geschäft, ein ständiges Kommen und Gehen.
Es ist noch gar nicht so lange her – Jenna war gerade geboren –, da kannte Rose die Gesichter der meisten Fußgänger und auch die Mehrzahl der Fahrzeuge, an denen sie auf dieser Route vorbeikam. Aus und vorbei! In jüngster Zeit wimmelt es in dem Städtchen offenbar von Fremden.
Selbst die vertrauten Geschäfte an der Center Street ändern sich, und das liegt nicht nur daran, dass der hundert Jahre alte Eisenwarenladen, der Diner und der Shop für Angelzubehör eine längst überfällige Verschönerung erfahren haben.
Das »Peking Panda« hat sich eine Kimono tragende Hostess sowie eine Sushi-Bar zugelegt, das »Pizza Village« eine neue, in Leder gebundene Speisekarte. Die Gerichte, nunmehr auf elfenbeinfarbenem Pergament statt wie bisher auf laminiertem Karton gedruckt, umfassen toskanische Vorspeisen zu Preisen von $ 7.95 an aufwärts. »Belizzis Coffee Shop« ist einem schicken Café gewichen – allerdings keinem Starbucks. Noch nicht! Nur – in dem ganzen Laden ist kein Donut zu kriegen, sehr zu Leos Verdruss. Haselnuss-Biscotti sind nämlich nicht seine Kragenweite.
Während Rose abbremst, um einen ihr Unbekannten mit angeleintem Hund die Fahrbahn überqueren zu lassen, wirft sie einen Blick in den Rückspiegel, nach besten Kräften bemüht, ihr Spiegelbild zu ignorieren. Abgehetzt sieht sie aus: der Scheitel in ihrem langen, lohfarbenen Haar schief und nicht mittig; die braunen Augen zwar ohne jedes Make-up, dafür aber mit dunklen Ringen; der breite Mund, dem eine wohltuende Schicht Lippenbalsam nicht schaden würde.
Ein weiterer Blick in den Rückspiegel zeigt ihr, dass ihr Söhnchen tief und fest in seinem Sicherheitssitz schlummert. Armer kleiner Kerl! Volle acht Stunden Kindertagesstätte nehmen ihn ganz schön mit, zumal er in letzter Zeit nachts nicht sonderlich gut schläft.
Schuldgefühle machen sich breit, wie immer … und mit ihnen lahme Ausflüchte.
Sie kommt nicht umhin, ganztags in dem Buchgeschäft zu arbeiten. Sams dürftige Lebensversicherung deckt kaum das Lebensnotwendigste. Ohne ihr Gehalt käme das Haus unter den Hammer.
Inzwischen nähern sie sich den Vororten der Stadt. Die Geschwindigkeitsbegrenzung steigt auf fünfundvierzig Meilen die Stunde. Rose stoppt vor der letzten Ampel von Laurel Bay. Fast daheim!
Während sie auf Grün wartet, redet sie sich wie immer ein, dass eine Zwangsversteigerung nicht infrage kommt.
Das Eigenheim in der Shorewood Lane Nummer 48 verkörpert die letzte Erinnerung an Sam und an jene flüchtige, glückliche Zeit.
Nein! Das ist nicht wahr! Du hast die Kinder!
Und nach allem, was sie durchmachen mussten, brauchen die Kinder ein Zuhause sogar noch dringender als Rose.
Sie nimmt den Fuß von der Bremse und lässt den Wagen anrollen, etwa noch eine halbe Meile, bevor sie das Tempo wieder allmählich verlangsamt. Der Winterdienst hat die Straßen zwar gründlich gestreut, aber in letzter Zeit ist es in dieser Ecke besonders glatt. Irgendwo muss da ein Leck in einer Wasserleitung sein. Glatteis!
Krampfhaft umklammern ihre Finger das Steuer.
Bei vereister Fahrbahn schlägt sie das Lenkrad ein. Die Reifen greifen, der Wagen bleibt in der Spur. Kein Schlittern mitten auf der Kreuzung!
Der Gedanke aber, dass sie trotzdem ins Schleudern geraten könnte, nervt sie jedes Mal, wenn sie hier bei Minusgraden vorbeifährt.
In Wahrheit weiß Rose ganz genau: Es liegt nicht an der Angst vor einem Blechschaden, dass sie bei frostigem Wetter die große Flatter bekommt. Glatteis erinnert sie stets an jene Nacht. An Sams Tod.
Erfüllt von Frühlingssehnen, jedoch in der Erkenntnis, dass auch der Beginn des Frühjahrs die ständigen Erinnerungen an den grässlichen Unfall, der ihr den Ehemann nahm, nicht verscheuchen kann, folgt Rose weiter der Straße, immer in südliche Richtung.
Unscheinbare Eigenheime aus der viktorianischen Gründerzeit säumen die Straßenzeile, die meisten mit Holzschindeln aus rötlich braunem Zedernholz gedeckt und mit weißen Zierkanten abgesetzt. Die Häuser sind klein, einige eher von der Größe eines Cottage, andere mit winkligen, relativ neuen Anbauten, deren erheblich dunklere oder hellere Anstriche sich scharf von den dezenten, salzgebleichten Farbtönen der Altbauten abheben.
Fast ein Jahrzehnt ist es her, seit Rose und Sam sich das Häuschen im Queen-Anne-Stil kauften. Es liegt in einer stillen Seitenstraße, nur einen Häuserblock von der Bucht entfernt. Was hatten sie Großes damit vor! Immerhin war Sam ja selbstständiger Zimmermann! Doch die Geschäfte boomten geradezu; er bekam dermaßen viele Aufträge von Städtern, die in Laurel Bay erworbene Eigenheime renovieren ließen, dass er im eigenen Haus zu so gut wie nichts kam. So schaffte er’s gerade mal, die abgesackte Vordertreppe auszutauschen und den wandhohen Einbau-Bücherschrank in Angriff zu nehmen. Auf den war Rose schon immer scharf gewesen – für die kleine Nische gleich neben dem Wohnzimmer.
Die Außenelemente, die sind noch fertig geworden; rechteckige Schrankteile aus Holz, zwei Meter fünfzig hoch vom Boden bis zur Decke, links und rechts an die Seitenwände der Nische angepasst. Damals, an dem besagten Wochenende, hatte Sam versprochen, er werde zum Baumarkt fahren, um die Regalträger zu holen und Holz für die Regalböden …
An jenem Wochenende!
Über ein Jahr ist seitdem vergangen, und dennoch kommt es vor, dass Rose die Endgültigkeit der ganzen Sache noch immer nicht recht begreift.
Im Jahr davor, als Rose so schwer krank war, da hatten sie sich einmal über den Tod unterhalten. Sie hatte Sam mitgeteilt, sie wolle für den Fall, dass ihr etwas zustoße, eingeäschert werden. Sam hatte sich vor Entsetzen geschüttelt.
»Tu mir das bloß nie an, Schatz«, hatte er sie angefleht. »Wenn ich mal sterbe, dann will ich nicht in einen Ofen geschoben und verbrannt werden! Ich möchte im offenen Sarg liegen wie meine Großeltern, damit mich jeder ein letztes Mal anschauen und mir zum Abschied die Hand tätscheln kann, bevor sie mich einbuddeln.«
Dazu ist es nie gekommen. Eingeäschert wurde er zwar nicht, aber sein Gesicht war durch Brandwunden so schwer entstellt, dass der Bestatter zu einem geschlossenen Sarg riet. Rose erhielt nie Gelegenheit, ihm die Hand zu streicheln und ihm Glück zu wünschen für die letzte Reise.
Gottlob nimmt sie das alles nur noch verschwommen wahr, ähnlich wie damals, als es passierte. Die vielen Menschen beim Totengebet. Das Seelenamt in der Blessed Trinity Church, wo Sam früher mal Ministrant war. Die ergreifende Grabrede von Scott Hitchcock, seinem besten Freund, der seinen Worten zufolge hauptsächlich Sams wegen erst einige Monate zuvor in den Osten von Long Island zurückgekehrt war und der damals am Grab versprach, für Sams Familie zu sorgen. Die Beisetzung auf dem Friedhof auf der anderen Seite der Stadt, unter einem weinenden grauen Himmel.
Zum letzten Mal hat Rose das Grab am vorjährigen Vatertag besucht, gemeinsam mit den Kindern. Für die Kleinen war’s eine beklemmende Erfahrung, und ihre eigene Trauer hat es nur verstärkt. So etwas wie Nähe hatte sie dort ohnehin nie verspürt. Nahe fühlt sie sich ihrem verstorbenen Mann allein im Herzen. Einem Herzen, das drei Jahrzehnte lang in der Brust einer anderen Frau schlug, ehe es in Rose eine bleibende Heimstatt fand – nur um gebrochen zu werden.
Als Leslie Larrabee den Wasserhahn an der Küchenspüle aufdreht, stöhnt die Wasserleitung zwar gequält, ist aber zumindest nicht eingefroren und spuckt erst einmal Stöße von rostbrauner Brühe aus. Leslie lässt das Wasser fließen, durchquert dann die eiskalten, beklemmend leeren Zimmer und geht in das Badezimmer am Ende des Flurs, um dort dieselbe Prozedur durchzuführen. Das Bad liegt zwischen den beiden Zimmern, die einst ihr und Sam gehörten.
Während der Wasserstrahl in die altmodische, goldfarbene Porzellanbadewanne rauscht, kommt es Leslie fast so vor, als hörte sie, wie ihr Bruder mit der Faust gegen die Tür bollert und mit seiner neuerdings männlicher klingenden Halbstarkenstimme ruft: »Du nimmst doch wohl nicht schon wieder eins von deinen Zwei-Stunden-Vollbädern, Leslie, oder? Ich bin nämlich spät dran zum Training …«
Ach, Sam! Was gäbe ich dafür, könnte ich die Zeit zurückdrehen und dich Wiedersehen …
Seufzend lässt sie das Badezimmer hinter sich, die Mischbatterie über Wanne und Waschbecken bis zum Anschlag aufgedreht. Dad zufolge soll das Wasser bei kaltem Wetter mindestens fünf Minuten laufen. Mom hingegen, die bei den zweimal wöchentlich stattfindenden Ferngesprächen ständig an dem zweiten Apparat mithört, bedeutete ihr prompt, sie solle nichts darauf geben.
»Die hat andere Sorgen, Doug!«, pfiff sie ihren Mann an. »Sie arbeitet jetzt voll in dem Fitnessstudio, und außerdem muss sie die Hochzeit planen! Da hat sie keine Zeit, dauernd rüber zum Haus zu rennen und den ganzen Winter über die Kräne auf- und zuzudrehen!«
»Ist kein Thema, Mom, echt«, hatte Leslie geflunkert. »Macht mir nichts!«
In Wirklichkeit macht’s ihr sehr wohl etwas aus. Gar nicht so leicht, die Rückkehr in den verwaisten Bungalow mit seinen gespenstischen Erinnerungen und dem dumpfen Muff eines verlassenen Hauses. Ihrem Vater würde sie’s zwar nie beichten, aber an manchen Frosttagen lässt sie die Besuche absichtlich aus.
Heute jedoch ging das nicht. Sie musste hin und Schnee schippen, auf dem Bürgersteig sowie in der rechteckigen, schmalen Einfahrt vor der angebauten Garage. Damit es so aussieht, als wäre jemand daheim – obwohl das Haus schon gut und gerne ein Jahr leer steht.
Sie schlendert zurück zum Wohnzimmer. Das ist noch unverändert wie beim Auszug der Eltern, inklusive gerahmter Fotos auf jedem verfügbaren Quadratzentimeter Oberfläche und Wand. Von Babybildern über die alljährlichen Porträts aus Sams und Leslies Schulzeit bis hin zur Abiturfeier mit Robe und Doktorhut, dazu eine Reihe offizieller Aufnahmen von Sams und Roses Hochzeit. Und natürlich die zahllosen Schnappschüsse von Jenna und Leo, den heiß geliebten Enkeln. Keine aber sind neueren Datums als jene, die im Sommer vor zwei Jahren aufgenommen wurden – dem letzten Sommer, den Leslies Eltern zu Hause verbrachten.
Davor hatten sie immer nur den Winter in Florida verlebt, und zwar seit dem Jahr, in dem Sam heiratete. Leslie kann sich noch sehr klar daran erinnern, weil die Trauung im November stattfand und ihre Mutter darüber nörgelte, dass sie nun wohl einen ganzen Monat später in Boca Raton eintreffen würden als die anderen Bewohner der Seniorenanlage. Daher wollte sie unbedingt schon im Oktober runter nach Florida fahren und zur Hochzeit zurückfliegen. Dad hielt das für rausgeworfenes Geld. Wie üblich setzte er sich durch, aber Mom lag ihm trotzdem unablässig damit in den Ohren.
»Bitte, erschieß mich, Sam, wenn ich irgendwann mal so zu faseln anfange wie Mom!«, flehte Leslie einmal ihren großen Bruder an, der die heitere Gelassenheit und stille Kraft des Vaters geerbt hatte.
Aber gern, Les! Wo ist eigentlich meine Schrotflinte?
Sam zog sie mit Vorliebe auf und behauptete immer, sie sei genauso wie ihre hypernervöse Mutter. Nicht ganz zu Unrecht, wie Leslie einräumen muss; sie hat in der Tat einige der weniger angenehmen Charakterzüge abbekommen, wie beispielsweise die Unart, erst zu reden und dann zu überlegen oder sich dauernd einzubilden, dass alle Welt ihre Hilfe braucht, egal, ob die gelegen kommt oder nicht.
Jawohl, auch die Neigung zu spontanen Käufen, so gibt sie zu, als ihr Blick auf das Klavier fällt. Es steht zwischen Wand und Dads Fernsehsessel, eng in eine Zimmerecke gezwängt.
Wie aus heiterem Himmel haute Mom eines Tages das Haushaltsgeld für zwei Wochen auf den Kopf, um dieses klobige Monstrum auf einem Flohmarkt zu erstehen, damit die Sprösslinge Klavierstunden nehmen konnten. Dad ging unter die Decke, und Sam lehnte es glattweg ab, das Ding auch nur anzurühren – mit der Begründung, Musikunterricht sei was für Muttersöhnchen. Leslie indes musste wohl oder übel drei Jahre lang Klavierunterricht über sich ergehen lassen, und zwar bei Mrs. Herwig, der Lehrerin mit dem schlimmen Mundgeruch, die drüben in der Blessed Trinity Church die Orgel spielte.
Nun hebt Leslie gedankenverloren den Deckel von der Klaviatur und lässt die Finger über die Tasten spazieren. Das Instrument ist arg verstimmt, aber trotzdem gelingt es ihr, die ersten paar Takte von Beethovens »Für Elise« zu klimpern. Vielleicht, so grübelt sie, kann Rose das Klavier übernehmen, falls Mom und Dad sich doch noch dazu durchringen, das Haus zu verkaufen, statt es ewig in diesem Schwebezustand zu belassen. Dann könnte Jenna Stunden nehmen.
Wäre das nicht schön, Sam?
Leslie ertappt sich dabei, wie sie sich schon den Klavierabend ausmalt, den ihr Bruder, der stolze Vater, niemals besuchen wird.
Den Tränen nahe wendet sie sich vom Klavier ab und begibt sich zurück zu den rauschenden Wasserhähnen. Plötzlich hat sie es eilig, dieses einsame Haus mit all seinen Erinnerungen endlich wieder hinter sich zu lassen.
Rose seufzt schwer, als sie die letzte Kurve nimmt und in die Shorewood Lane einbiegt. Ihr Haus, ein mit Zedernschindeln gedecktes viktorianisches Gebäude, zwei Hausnummern weiter auf der rechten Seite, hebt sich dunkel vor dem schwarzvioletten Winterhimmel ab.
In der Einfahrt noch keine Spur von Brittanys Mutter und deren Auto. Prima. Zumindest ist Rose ihrer Tochter zuvorgekommen und eher daheim. Vergangenen Donnerstag traf sie fünf Minuten nach Brittanys Mutter ein. Jenna wartete derweil im Wagen, zusammen mit ihrer Freundin, deren kleinem Bruder und Lori, der Mama von Brittany. Die ist schwanger und soll in ein paar Wochen niederkommen.
Rose kennt diese Lori nicht näher. Die Familie stammt aus Huntington und ist kürzlich erst zugezogen, zu Beginn des Schuljahres. Jenna und Brittany kamen sich rasch näher. Anscheinend ist Lori ganz sympathisch; jedenfalls hat’s ihr nichts ausgemacht, dass Rose sich verspätete.
Nur Jenna, der schon!
Und Rose selbst war’s auch nicht einerlei, denn sie will daheim sein, wenn ihre Tochter aus der Schule kommt. Zumindest in dieser Hinsicht soll Jenna Sicherheit haben.
Sie setzt den Wagen in die Garageneinfahrt und stellt den Motor ab. Den Kopf gegen die Nackenstütze gelehnt, schließt sie die Augen und stöhnt leise auf. Sämtliche Knochen tun ihr weh. Was würde sie dafür geben, könnte sie jetzt hineingehen, sich ein heißes Schaumbad einlassen und es sich mit einem guten Buch in der Wanne gemütlich machen!
»Und nie wieder raus steigen«, murmelt sie.
Stattdessen kommt einiges auf sie zu: das Dilemma mit den Cupcakes, dann Leo und Jenna helfen, vier Dutzend Valentinstagskärtchen zu beschriften, zu adressieren und zu verkleben, alles gemeinsam. Dann die Frage, was es zum Abendbrot geben soll – die Kinder wollen zweifellos sofort etwas essen. Überlegen, was sie angesichts ihres spärlichen Proviantvorrats am nächsten Tag den Kindern als Lunchpaket mitgeben kann. Außerdem noch Jenna bei den unvermeidlichen Hausaufgaben helfen, die Mrs. Diamond so gern als Motivationsübung aufgibt, damit Eltern und Kinder jeden Abend »einige Zeit miteinander verbringen«.
Die Augen jäh aufgerissen, fährt Rose kerzengerade hoch und stöhnt noch einmal. Diesmal lauter.
Leo rührt sich nicht.
Sie öffnet die Fahrertür, setzt mit einem Schwung die Füße auf die verschneite Einfahrt und wirft dabei rasch einen Blick auf den an der Bordsteinkante stehenden Briefkasten.
Soll sie den Kleinen erst ins Haus bringen und dann wieder hinausrennen, um die Post zu holen? Oder doch lieber erst zum Postkasten, bevor sie Leo aus dem Kindersitz hievt?
Wieder so ein Alltagsdilemma, nur eben zusätzlich erschwert durch die schiere Erschöpfung.
Vorab die Post, beschließt sie, lässt Leo also noch ein klein wenig schlafen und setzt sich dadurch vorerst nicht seiner schlechten Laune aus, welche todsicher folgen wird und dann anhält, bis der Kleine ins Bett muss.
»Prämenstruelles Syndrom für Gören« nannte Sam das immer, als Jenna noch klein war und des Öfteren abends Zeter und Mordio brüllte, weil sie nicht schlafen gehen wollte.
Zuweilen taten Rose und Sam das lachend ab. Nunmehr, als Solo-Elternteil, findet Rose an den vor ihr liegenden Herausforderungen des heutigen Abends nichts Lustiges.
Sie inhaliert den angenehm riechenden Rauch von brennenden Holzscheiten, der in der frostigen Luft schwebt, und stapft dann hinunter zum Fuße der Einfahrt. Im pappigen Schnee verursachen die Gummisohlen ihrer uralten Moonboots ein scharfes, kratziges Knirschen.
Das Geräusch jagt ihr stets einen Schauer über den Rücken.
Von Sam wurde sie deswegen immer verulkt. Er bezeichnete es als ihren »Kratzefuß« – eben auf seine einmalig schlagfertige Art, mit Worten zu jonglieren. Er meinte damit jene alltäglichen Kratz- oder Schabgeräusche, die einem gewöhnlich durch Mark und Bein gehen. Seiner Ansicht nach litten die meisten Leute, namentlich auch er selber, unter so genannten »Kratzefüßen«. Beispielsweise, wenn eine Gabel über eine Wandtafel schabt. Oder das Quietschen beim Reiben von Styropor.
Das Knirschen von Schnee zählte er nicht dazu.
»Das empfinden die meisten als angenehmes Geräusch, Rose!«
»Ich kann nichts dafür, Sam. Mir geht das durch und durch.«
Vor dem aus Kunststoff gefertigten Briefkasten mit dem gewölbten Deckel bleibt sie stehen. Dabei fällt ihr auf, dass der schwarze Metallständer noch mit den roten Schleifen umhüllt ist, die Leslie in der Woche nach Thanksgiving unbedingt drum herumwickeln musste. Außerdem brachte Sams Schwester ihr einen Buchsbaumkranz mit, als Haustürschmuck. Der hängt auch noch draußen an der Tür, schon verschrumpelt und mit braun gewordenen Blattspitzen.
Eigentlich müsste Rose ihn entfernen, die Schleifen am Briefkasten am besten gleich mit. Auf einen Tag mehr oder weniger kommt’s aber inzwischen auch nicht mehr an. Im Übrigen, so denkt sie wehmütig, passen rote Samtbänder ja nicht nur zu Weihnachten. Morgen ist Valentinstag.
Und mein Herzliebster ist von mir gegangen. Für immer.
Ein Kloß setzt sich in ihrer Kehle fest.
Ach, Sam …
Sie blättert die Post durch, um sich abzulenken. Sonderangebote, Telefonrechnung, Antragsformulare für Kreditkarten, Mitteilungsblatt der Schulpflegschaft…
Und ein rechteckiges, rotes Kuvert, an sie adressiert. Die Anschrift maschinengeschrieben. Ein Umschlag von der Art, wie man sie gewöhnlich für Einladungen benutzt oder für Grußkarten.
Oder für einen Liebesgruß zum Valentinstag.
Aber sicher!
Rose dreht den Umschlag um und schaut nach der Absenderangabe. Fehlanzeige.
Die Stirn in Falten gelegt, drückt Rose die Außenkanten zusammen, um in den Umschlag spähen zu können.
Zuerst sieht sie es gar nicht. Im fahlen Licht der Abenddämmerung verschmilzt es fast mit dem Rot des Kuverts.
Dann entdeckt sie es.
Zieht es heraus.
Faltet es auseinander.
Ein rotes Papierherz, mittig geknickt.
Sonst nichts.
Eine Bastelarbeit, wie Jenna oder Leo sie in der Bastelstunde gefertigt haben könnten, mit Sicherheitsschere aus Bastelkarton herausgeschnippelt.
Das hier jedoch wirkt nicht wie eine Kinderbastelei. Dazu ist es zu akkurat geschnitten.
Wer sollte ihr denn ein Papierherz schicken?
Rose wendet es von links nach rechts und von rechts nach links, immer wieder, ob sich wohl eine Unterschrift findet.
Ebenfalls Fehlanzeige.
Ein rotes Papierherz.
Ein Herz!
Ein kalter Schauer rinnt Rose den Rücken hinunter. Und diesmal hat er nichts mit dem Knirschen von Schnee zu tun.
Auf das Klappen einer Autotür hin erhebt Christine Kirkmayer sich von der Couch und schiebt die Vorhänge, die das breite, zur Straßenseite gehende Erkerfenster verdecken, einen Spaltbreit auseinander.
Das kleine Mädchen von nebenan ist nach Hause gekommen. Jenna.
Ein seltsam verstümmelter Name, wie Christine findet. Als wäre jemand zu faul gewesen, ihn auf der Geburtsurkunde voll auszuschreiben.
Jennifer klingt viel besser. Sollten Christine und Ben mal ein kleines Mädchen bekommen, werden sie es vermutlich Jennifer nennen.
Doch wenn schon ein Baby, dann hoffentlich kein Mädel! Zumindest keins mit den glücklosen Genen der Mutter!
Seufzend sieht Christine zu, wie Jenna Larrabee dem Auto nachwinkt, von dessen Fahrerin sie eben am Bürgersteig abgesetzt wurde. Dann fällt ihr auf, dass die Mutter der Kleinen drüben neben dem eigenen Auto steht, im Schatten der Hofeinfahrt.
Christine kennt Rose Larrabee nicht näher. Ja, sie hat sie seit Dezember, als Christine und Ben aus der City hierher umzogen, nur ein Mal getroffen und sie außerdem einige Male im Vorübergehen gesehen.
Aber dass da etwas nicht stimmt, das sieht jeder. Das erkennt man an der verkrampften Haltung der Mutter, an dem steifen Winken, als der Wagen sich vom Bürgersteig löst und die roten Rücklichter im Dämmerlicht verglühen.
Als Mutter und Tochter sich an der Treppe begegnen, bemerkt Christine den verstörten Ausdruck auf Roses Gesicht. Außerdem hält sie etwas in der Hand.
Zeitungen wohl. Oder … Post?
Von hier sieht’s jedenfalls wie Post aus.
Hm. Hat vielleicht unangenehme Nachrichten gekriegt.
Allmählich geht die Fantasie mit Christine durch. Inzwischen hat Rose ihr Töchterchen mit einer Umarmung begrüßt und die Haustür aufgeschlossen.
Vielleicht ein Schreiben von der Bank, dass das Haus zwangsversteigert wird! Oder ein Brief von der Geliebten des verstorbenen Mannes … obwohl Christine eigentlich keinerlei Anlass hat für den Verdacht, der Ehemann könne fremdgegangen sein. Aber wär’s nicht interessant, wenn’s doch so wäre?
Sowohl Mutter als auch Tochter sind nun im Haus verschwunden. Gerade als Christine sich vom Fenster abwenden will, kommt Rose wieder heraus, ohne die Post.
Sie geht zum Auto, öffnet die hintere Seitentür und nimmt den Jüngsten aus dem Kindersitz. Der Kleine ist total groggy. Der will nicht mal bis zum Haus laufen, aber die Mutter schubst ihn vorwärts.
Warum nimmt die ihn nicht einfach auf den Arm?
Kopfschüttelnd beobachtet Christine die Szene. Wenn das ihr Junge wäre, würde sie ihn ins Haus schleppen, egal, wie schwer er wäre.
Sie rückt die beigefarbene Gardine zurecht und wendet sich wieder dem Fernseher zu, wo gerade die erste der zahlreichen abendlichen Nachrichtensendungen für New York läuft. Um diese Tageszeit gibt’s nichts anderes zu tun, als sich die Fernsehnachrichten anzusehen. Um 17 Uhr, dann 17.30 Uhr. Danach die 18-Uhr-Berichte und zur Krönung des Ganzen noch die überregionalen eine halbe Stunde später. Vermutlich kennt Christine sich mit den aktuellen Ereignissen besser aus als so mancher Moderator.
Wenn Ben ihr bloß Kabelfernsehen genehmigen würde! Aber dafür ist er zu geizig – oder vielmehr zu sparsam, wie er sich sieht. Kabelfernsehen hält er für Geldverschwendung und, was noch wichtiger ist, für vertane Zeit. Dasselbe gilt seiner Meinung nach fürs Internet, und daher springt er auch nicht auf einen DSL-Anschluss an. Folglich ist ihr Modem dermaßen langsam, dass sie kaum noch Lust hat zum Surfen. Ben ist das nur recht. Er sieht es lieber, wenn sie sich mit anderen Dingen beschäftigt. Sie soll lieber lesen, ein Ehrenamt ausüben oder sich am hiesigen College weiterbilden.
Sicher, das würde zwar ins Geld gehen, aber Ben meint, es täte ihr gut nach allem, was sie durchgemacht hat. Er sagt auch, sie könne sich, wenn sie Lust hat, wieder immatrikulieren und ihr Lehramtsstudium abschließen, das sie vor zehn Jahren abbrechen musste. Damals waren das Studiendarlehen und die Stipendien aufgebraucht, und deshalb ging sie vom City College ab und verdingte sich als Sekretärin.
Was er damit meint, jedoch nie laut sagt, ist dies: Würde sie wirklich Lehrerin, könnte sie irgendwann wieder arbeiten gehen und das Familieneinkommen mit ihrem eigenen Gehalt beträchtlich aufbessern.
Christine interessiert sich nicht für ein College-Diplom oder den Schuldienst. Sie will nur eins.
Ein Baby. Das würde ihr gut tun!
Laut Aussage des Arztes liegt kein organischer Grund vor, warum sie nicht schwanger werden sollte, trotz allem. Lassen Sie sich einfach Zeit, dann klappt es schon! Bloß nicht verkrampfen, dann wird’s schon funktionieren!
Tja, mittlerweile probieren sie es schon fast ein Jahr, und in den zwei Monaten seit dem Umzug nach Laurel Bay hat sie sich in einer Tour entspannt. Was soll man hier auch anderes anfangen?
Dem teuren, übervölkerten Manhattan den Rücken zu kehren, das war Bens Idee. Erst haben sie in der Nähe der City nach Häusern Ausschau gehalten, in Nassau County. Da war aber alles furchtbar kostspielig, und klein obendrein. Hier draußen am südöstlichen Ende von Long Island konnten sie sich etwas Ordentliches leisten. Nicht, dass dieser zweigeschossige viktorianische Kasten aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende Christines Traumhaus wäre! Doch Charme hat das Haus allemal, und die Nachbarschaft wirkt sicher und familienfreundlich. Die See ist so nah, dass die Möwen über den Dächern kreisen, und an wärmeren Tagen hängt schwer der feuchte Geruch von Salz und Tang in der Luft.
Ben meinte, es störe ihn nicht, wenn er jeden Tag zu seiner Steuerberaterfirma in der City pendeln muss. Jeweils zwei Stunden Fahrt, hin und zurück. Und allem Anschein nach macht’s ihm tatsächlich nichts aus.
Christine ist diejenige, der es was ausmacht.
Sie seufzt. Wieder so ein Abend, der kein Ende nehmen will, lang und einsam. Vor knapp neun kommt Ben nicht nach Hause. Sie entspricht mittlerweile genau dem Klischee einer Vorstadt-Hausfrau, die nichts anderes tut als fernzusehen, von Babys zu spinnen und durch einen Gardinenspalt die Nachbarn auszuspionieren.
»Mommy, darf ich die Rührbesen ablecken?«, fragt Jenna, eng an den Ellbogen der Mutter geschmiegt, während Rose den Handmixer einschaltet. Das lange Haar der Kleinen, exakt vom gleichen dunkel glänzenden Farbton wie der Teig für die Schokotörtchen, schwebt gefährlich niedrig über der Rührschüssel.
Rose streicht ihrer Tochter die widerspenstigen, seidig-straffen Strähnen über die Schulter. »Nichts da«, befiehlt sie energisch. »Darfst du nicht. Die Rührmasse enthält rohes Ei!«
»Ich mag rohes Ei.«
»Ist aber nicht gut für dich, Jenna. Davon kannst du krank werden.« Sie wirft einen Blick auf die Rückseite der Schachtel, um noch einmal nachzusehen, wie lange die Schokomasse gequirlt werden muss.
»Früher durfte ich die doch auch immer abschlecken«, nörgelt Jenna.
»Da wusste ich auch noch nicht, dass rohe Eier nicht gut sind für Kinder.« Hoppla! Eigentlich hätte sie den Mixer auf mittlere Drehzahl einstellen sollen, nicht auf langsam. Hastig korrigiert sie den Regler.
Zu hoch!
Prasselnd kleckert ein schokoladenbrauner Schauer über die gesamte Hartfaserarbeitsplatte, über die Hängeschränke aus naturbelassener Kiefer und die grün gestreiften Tapeten.
»Mommy!«, kreischt Jenna.
»Psst!« Eilig stellt Rose den Mixer ab. »Du weckst noch …«
Vom Obergeschoss schallt Leos erschrecktes Gebrüll herunter.
»… deinen Bruder!«, ergänzt sie resigniert.
Das hat ihr gerade noch gefehlt!
Beim ersten Versuch dauerte es eine geschlagene Stunde, bis sie den Kleinen endlich im Bett hatte. Nun wird er verlangen, dass sie bei ihm sitzen bleibt, bis er wieder eingeschlafen ist. Wenn das so weitergeht, wird sie die Cupcakes nicht vor Mitternacht fertig bekommen – und dann muss sie noch die Valentinstagskarten für Leos Kindergartengruppe schreiben und beten, dass mal ein Wunder geschieht und der Bursche durchschläft.
Früher war das kein Problem, aber seit ein paar Wochen schreckt er beim kleinsten Geräusch auf. Zuerst vermutete Rose, er könne sich eine Grippe zugezogen haben; der Virus grassiert ohnehin. Aber krank ist er nicht. Und auch längst über die Zahnphase hinweg.
»Mann, was ’ne Sauerei!« Jennas braune Augen sind noch größer als sonst schon. Der Verzweiflung nahe begutachtet Rose die angerichtete Schweinerei. »Überall Schokokrem, Mommy! Sogar oben am Himmel!«
Rose guckt zur Decke. Genau in diesem Moment löst sich ein Tropfen der braunen Masse und landet in ihrem Auge.
Verdammt, das brennt. Und Leo krakeelt da oben aus Leibeskräften! Am liebsten würde Rose in das Gebrüll einstimmen.
»Ich gehe rauf und beruhige ihn«, sagt sie zu ihrer Tochter und lässt eiligst etwas Wasser in die Küchenspüle laufen, um sich das braune Zeug aus dem Auge zu waschen. »Untersteh dich bloß, den Mixer anzurühren!«
»Aber ich kann doch …«
»Nein!«, blafft sie die Kleine an. »Zu gefährlich! Die Rührstangen könnten dir glatt die Finger wegfetzen.«
»Bei dir ist aber auch alles gefährlich!«, schmollt Jenna brummig und greift sich gedankenverloren Roses elektronischen Pager vom Küchentisch.
»Und Hände weg von meinem Pieper!«, mahnt Rose.
»Ist gar nicht deiner, sondern Daddys!«, faucht Jenna zurück und wirft das Gerät auf den Tisch.
Rose verschlägt es den Atem. Jenna hat Recht. Es ist in der Tat Sams Funkmelder. Genauer gesagt, er war es. Aber Rose benutzt ihn schon, seit sie wieder arbeiten geht. Sie trägt das Ding nur bei sich, um im Notfall für Schule oder Tagesstätte erreichbar zu sein. Das ist billiger als die Anschaffung eines Handys. Außerdem fühlt sie sich damit Sam näher. Der hakte sich den Empfänger immer in den Gürtel, wenn er das Haus verließ.
Jennas Bemerkung bewusst ignorierend, sagt sie nur: »Hast du dein Mathe-Arbeitsblatt fertig?«
»Hab ich!« Jenna ist sichtlich schadenfroh. »Hast du auch dran gedacht, oben drüber das Datum und deinen Namen zu schreiben?«
»Den Namen schon. Das Datum wusste ich nicht.«
»Wir haben den 13. Februar«, ruft Rose über die Schulter hinweg, schon auf dem Wege zum Eingangsbereich. »Da fällt mir ein … Wenn du die Hausaufgaben fertig hast, kannst du schon mal anfangen, die Karten zum Valentinstag zu schreiben.«
»Du hast gesagt, du hilfst mir dabei!«
»Du weißt doch, wie’s geht!«
»Macht alleine aber keinen Spaß!«
Stimmt. Alleine macht nichts Spaß.
Rose seufzt. »Okay, dann warte hier. Ich komme runter, sobald dein Bruder eingeschlafen ist.«
Sie schnappt sich ihren Mantel und die Kinderjacken, die sie einfach über das Treppengeländer geworfen hat, und trägt sie nach oben. Das Haus ist typisch viktorianisch, also mit wenig Schrank- und Garderobenfläche im Obergeschoss und gar keiner im Erdgeschoss. Sam hatte vor, bei Gelegenheit eine Nische neben dem Wohnzimmer in einen Garderobenschrank umzubauen.
Bei Gelegenheit…
Rose schleppt sich die Treppe hinauf, bemüht, ihren verstorbenen Mann aus ihren Gedanken zu verdrängen. Statt von ihm werden sie wieder von dem mysteriösen roten Umschlag in Beschlag genommen.
Wer mag es geschickt haben, das Herz aus Bastelkarton?
Und wozu der maschinengeschriebene Adressenaufkleber?
Vielleicht ein heimlicher Verehrer! Doch falls dem so wäre – hätte der dann nicht ein paar Zeilen dazugekritzelt? Oder nicht zumindest eine normale Standardkarte geschickt statt nur dieses schlichte rote Herz?
Direkt unheimlich ist es zwar nicht gerade.
Nur … merkwürdig schon!
Für Merkwürdigkeiten bringt Rose weder die Geduld noch die Energie auf. Sie hat sowieso schon alle Hände voll zu tun, den Tag einigermaßen heil zu überstehen.
»Mama!«, greint ihr Jüngster.
»Ich komme, Leo!« Erschöpft stapft sie die Treppe hinauf.
Gerade einem entspannenden, späten Schaumbad entstiegen, beäugt Christine sich kritisch in dem mannshohen Spiegel, der an der Rückseite der Badezimmertür angebracht ist.
Zumindest ihr blondes Haar sieht gut aus. Das babyfeine, hippieglatte Haar, das im Laufe der Chemotherapie ausfiel, das wuchs nie wieder so, wie’s vorher war. Es wich einer dichteren, welligen Fülle, die an der Luft zu jener duftigen Lockenpracht trocknet, wie Christine sie früher immer erfolglos mit einem Lockenstab zu drehen versuchte.
Jawohl, denkt sie sarkastisch. Es bedurfte nur einer lebensbedrohlichen Krebserkrankung und einer mörderischen Chemotherapie, und schon habe ich die Frisur, die ich mir immer wünschte!
Ansonsten ist sie von ihrem Spiegelbild vom Halse abwärts nicht gerade begeistert. Vielleicht, so grübelt sie, hätte sie heute Abend doch lieber eins ihrer Flanellnachthemden aus der Schublade nehmen und anziehen sollen, nicht das knappe Neglige, das sie von den Mädels im Büro zum Polterabend geschenkt bekam. In diesem alten Kasten zieht es dermaßen, dass ihre nackten Arme und Beine von Gänsehaut überzogen sind. Ohnehin passt das Ding nicht mehr so richtig. Das hautenge Etwas spannt sich über ihrer Taille, und im Ausschnitt des Oberteils, dort, wo einmal ihr Dekollete war, klafft eine Lücke.
Sie wendet sich ab, weiß sie doch ganz genau, dass sie nur die Fassung verliert, wenn sie ihr Spiegelbild weiterhin so kritisch unter die Lupe nimmt.
Der Wasserhahn über der Badewanne ist wieder mal undicht. Vorige Woche hat Ben sich mit einer Reparatur versucht, und was er sich da zusammenmurkste, hat auch eine Weile funktioniert. Wenn Christine sich jedoch jetzt nach vorne beugt und den Hahn zudreht, ganz gleich wie fest, tröpfelt es trotzdem mit stetigem Plopp, Plopp, Plopp in den Abfluss.
Ihr erster Gedanke war, den Hausmeister kommen zu lassen.
Bis ihr einfiel, dass jetzt nichts mehr ist mit Hausmeister. Ach, die Freuden des Hauseigentümers!
Sie wird Ben einfach vorschlagen, dass sie einen Installateur beauftragen müssen. Die Nachbarn gleich nebenan, die haben offenbar einen guten – dafür aber wohl miserable Wasserleitungen. Des Öfteren parkt am Straßenrand nämlich ein Lieferwagen mit der Aufschrift Hitchcock & Söhne – Gas, Wasser und Sanitär.
Christine verdrängt den tropfenden Wasserhahn sowie die Grübeleien über Klempner und Installateure, hängt die Badematte über das Gestänge des Duschvorhangs, knipst das Licht aus und tappt über den Flur zum ehelichen Schlafzimmer.
Es ist saukalt im Haus. Sie überlegt schon, ob sie nach unten gehen und den Thermostaten höher drehen soll, ahnt aber, was Ben dazu sagen wird: Heizöl ist teuer. Achtzehn Grad Zimmertemperatur tagsüber ist für ihn das höchste der Gefühle, nachts zwei Grad weniger.
Als sie ins Badezimmer ging, schmökerte ihr Mann gerade in der jüngsten Ausgabe von Kiplinger’s Magazine, dem Finanzfachblatt. Nun liegt er zusammengerollt auf seiner Seite und schnarcht schon, die Zeitschrift noch in der Hand.
Leise Enttäuschung macht sich breit.
Sie schaltet die Nachttischleuchte aus und lässt sich auf ihrer Bettseite zwischen die kalten Laken gleiten.
»Ben?«, wispert sie und piekst ihn mit dem Finger.
Ihr weiter den Rücken zugekehrt, brummt er sich etwas Unverständliches in den Bart.
Fröstelnd streckt sie sich neben seinem warmen Körper aus, legt den Arm um ihn und küsst ihn auf die Schulter. »Ben?«
Grunzend wälzt er sich auf den Rücken. »Warum hast du das Licht ausgemacht?«
»Weil du schon geschlafen hast!«
»Ich war doch am Lesen!« Er schaltet das Licht wieder ein.
»Jetzt liest du nicht mehr.« Sie küsst ihn auf den Hals. Er schließt zwar wieder die Augen, aber eher aus Müdigkeit denn leidenschaftlich erregt.
»Ben! Wärme mich doch mal ein bisschen, ja? Hier drinnen holt man sich ja den Tod!«
»Dann dreh die Heizung höher!«
Versuche ich ja!, denkt sie ergrimmt und schiebt die Zudecke nebst Laken abwärts, um ihr vermeintlich verführerisches Äußeres zur Geltung zu bringen. Vor Kälte klappern ihr fast die Zähne, während ihr Mann nicht einmal die Augen öffnet.
»Ben …?« Nochmals liebkost sie seinen Hals. »Schau mich doch mal an! Bitte!«
Er schlägt die Augen auf. Falls er vom Anblick seiner Frau in ihrem Neglige hingerissen sein sollte, gelingt es ihm verteufelt gut, sein brennendes Begehren in Schach zu halten.
»Kein Wunder, dass du frierst!«, schimpft er. »Zieh dir lieber was Langärmeliges über!«
»Oder ich ziehe das hier ganz aus und gar nichts an«, gurrt sie, wobei sie sich allerdings etwas lächerlich vorkommt. Im Verführen ist sie nicht gut. War sie noch nie. Verflixt, warum ergreift Ben nicht die Initiative? Sie bedeckt sein Schlüsselbein mit lauter Küsschen.
Er windet sich förmlich. »Komm, lass gut sein, Christine. Wir haben Hochphase für Steuererklärungen! Ich brauche meinen Schlaf!«
»Eben hast du noch gesagt, du wärst am Lesen!«
»Aber jetzt schlafe ich! Ich hab vor ’ner Stunde was gegen Erkältung eingenommen, das hat mich umgehauen.«
»Warum das denn? Du bist doch gar nicht krank!«
»Ich glaube, ich kriege die Grippe. Im Büro haben sich alle eine eingefangen.«
Na, super! Ben neigt zur Weinerlichkeit, wenn er daniederliegt. Als sie beide frisch verheiratet waren, da hat sie noch jede Gelegenheit, Florence Nightingale zu spielen, mit Wonne ergriffen. Das gab sich aber relativ rasch, insbesondere nach ihrer eigenen schweren Erkrankung, denn Bens Bemühungen am Krankenbett ließen doch sehr zu wünschen übrig.
»Ich habe meine fruchtbaren Tage, Ben!«, betont sie. »Wie soll ich schwanger werden, wenn du überhaupt kein Interesse an mir zeigst?«
»Ich sage ja gar nicht, dass ich nicht das geringste Interesse an dir habe! Sondern nur, dass ich heute Abend nicht in der rechten Stimmung bin!«
»Das bist du nie!«
»Ich habe die Grippe in den Knochen! Außerdem bin ich schachmatt nach einem Fünfzehn-Stunden-Tag! Gondele du doch mal stundenlang mit der Bahn rum, jeden Morgen und jeden Abend! Wirst schon sehen, wie’s dir geht!«