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Im Abschiedsbrief ihres Patenonkels Hermann Richter stößt Claudia Kramer auf einen USB-Stick. Darauf findet sich ein Romanfragment mit dem Titel "So war das eben in meinem Leben". Die Memoiren des Patenonkels bestehen aus kurzen Texten und Briefen, die wie Schlaglichter einzelne Lebensabschnitte erhellen. Erzählt wird von den Töchtern Marie und Laura, den Söhnen Lucas und Philipp und einem erbitterten Scheidungskrieg. Ein Briefwechsel mit der Schwester zeigt, dass viele Probleme in der Kindheit begründet sind. Es entsteht das Bild eines Menschen, dessen Leben unter keinem guten Stern steht. Kann es ein Happy End in einem Lebensroman geben, der in einem Abschiedsbrief gefunden wurde?
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Seitenzahl: 64
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Erinnerungen eines »braven« Sohnes, der es versäumt hat, mehr aus seinen Talenten und Begabungen zu machen. Der aber die Hoffnung auf ein Happy End nie verloren hat.
Der Wunsch, geliebt zu werden, ist bei manchen Menschen stärker als der Wunsch, einen anderen Menschen zu lieben. Nicht geliebt zu werden ist für diese Menschen die größte Strafe.
Sigmund Freud
Vorwort
Der Sturz aus dem Waggon
Die Operation
Der Theaterbesuch
Wie wird es mit ihnen weitergehen
Das Auto
Oma Frieda
Die Hochzeitsrede
Marlenes Universalsoße
Der nicht abgeschickte Brief
Die sympathische Sie
Ein spätes Wiederfinden
Die drei Ohnmachten
Der Menschenfreund
Ein paar Jahre später
In dem Abschiedsbrief meines Patenonkels Hermann war auch ein USB-Stick. Darauf fand ich einen Roman mit dem Titel»So war das eben in meinem Leben«.
Mein Onkel erzählt in diesem Buch einiges von dem, was er in siebzig Jahren erlebt hat. Das letzte Kapitel »Ein paar Jahre später« war als handschriftlicher Entwurf ebenfalls in dem Brief. Ich habe diese Geschichte so geschrieben, wie mein Patenonkel sie skizziert hatte, und habe den Roman damit abgeschlossen.
Claudia Kramer
Lucas und Philipp waren mit ihrer Mutter zum Güterbahnhof gefahren. Dort stand auf einem Abstellgleis ein ausgedienter Güterwaggon. Ein freundlicher Türke verkaufte dort nachmittags direkt vom Waggon herunter Obst und Gemüse. Wir brauchten für unsere beiden Pferde jede Woche einen großen Sack Möhren, dazu für uns Äpfel, Tomaten, Bananen, Schlangengurken und und und … Das alles bekamen wir dort immer frisch und sehr preiswert. Dieses Einkaufen war bei den beiden Jungs außerordentlich beliebt. Sobald sie beim Waggon angekommen waren, musste ihre Mutter sie sofort in den Güterwagen heben und sie halfen ganz eifrig und gewissenhaft beim Obst- und Gemüseverkauf.
Ich saß an diesem Nachmittag in meinem Büro und arbeitete die Tagespost durch. Meine Leute hatten wie immer um Viertel vor vier Feierabend gemacht und wie jeden Tag genoss ich die ruhige Zeit. Bei einem Espresso und Musik aus dem Radio ging die Arbeit leicht von der Hand. Als um sechzehn Uhr die Nachrichten begannen, bekam ich von jetzt auf gleich heftigste Kopfschmerzen. Mir wurde übel, ich lief, so schnell ich konnte, zur Toilette und musste mich übergeben. Ich war kreidebleich, zitterte am ganzen Körper, Schweißperlen standen auf meiner Stirn. Ich schleppte mich nach nebenan in unser Wohnhaus, ließ im Wohnzimmer die Jalousien herunter, da ich die Helligkeit nicht vertragen konnte, und legte mich auf die Couch.
Gegen halb sechs wurde ich durch das schrille Klingeln unseres Haustelefons geweckt. Eine Krankenschwester des Krankenhauses teilte mir mit, dass Philipp einen Unfall erlitten habe. Er sei um kurz nach sechzehn Uhr eingeliefert worden und befinde sich zurzeit auf der Kinderstation. Er sei am Güterbahnhof aus einem Waggon gestürzt und habe eine ordentliche Gehirnerschütterung. Gebrochen sei nichts, die Schürfwunden würden momentan behandelt, die Röntgenaufnahmen des Kopfes würden Gott sei Dank keine inneren Verletzungen zeigen. Philipp müsse auf jeden Fall drei Tage in einem verdunkelten Zimmer liegen, er dürfe nur zur Toilette gehen und ansonsten nicht aufstehen. Da er sich bereits übergeben habe, wollten sie ihn unbedingt in der kommenden Nacht zur Beobachtung auf der Station behalten.
Meine Kopfschmerzen waren wie weggeblasen, ich war wieder topfit. Ich packte ein paar Sachen für Philipp und mich zusammen und fuhr ins Krankenhaus. Nach einer ruhigen Nacht ohne Komplikationen ging es am nächsten Vormittag wieder nach Hause.
Eines Vormittags kam ein Anruf aus dem Kindergarten, dass ich sofort kommen müsse. Philipp könne nicht mehr Pipi machen und krümme sich vor Schmerzen. Ich fuhr gleich los, wir trugen ihn ins Auto und dann raste ich in die Stadt zum nächsten Notarzt. Mit großer Kraftanstrengung und mit furchtbaren Schmerzen für Philipp schaffte es der Arzt, die Vorhaut wieder beweglich zu machen, so dass er wieder Pipi machen konnte. Der Arzt ging sofort zum Telefon und vereinbarte für den nächsten Tag einen Operationstermin im Krankenhaus.
Ich fuhr also am nächsten Morgen mit Philipp in die Klinik. Wir mussten um 7 Uhr auf der Station sein. Er bekam ein viel zu großes Operationshemd an, erhielt eine Beruhigungsspritze und ein Narkosemittel. Als er eingeschlafen war, fuhren eine Krankenschwester und ich ihn in einem Krankenbett auf die Operationsstation. Ich hob den schlafenden Philipp aus dem Bett und reichte ihn durch eine Öffnung in den Vorraum des Operationssaales. Danach ging ich in den Aufenthaltsraum und wartete auf seine Rückkehr.
Vielleicht eine Stunde später holten ihn zwei Krankenpfleger aus dem OP und schoben ihn in den Aufwachraum. Philipp war noch ohne Bewusstsein, er hatte an seinem rechten Ärmchen eine Infusion und überall am Körper Sensoren mit Kabeln. Er wurde sofort an die Überwachungsgeräte angeschlossen. Die Pfleger beobachteten das Display und wurden zunehmend unruhig. Ein schriller Signalton tat sein Übriges und steigerte ihre Nervosität noch mehr. Ich stand am Fußende des Bettes und hörte ihr leises Gespräch: »Der Blutdruck ist viel zu hoch – wir müssen spritzen – aber wie viel? Wir können doch einem so kleinen Kerl nicht so viel geben wie bei einem Erwachsenen – wir müssen den Professor fragen.«
Ich räusperte mich und fragte: »Darf ich mal?« Ich nahm einen Stuhl und setzte mich zu Philipp an das Bett. Wie jede Nacht nahm ich seine kleine Hand zwischen meine Hände und hielt sie ganz ruhig fest. Der schrille Ton hörte nach einigen Augenblicken auf, die Werte auf dem Display gingen kontinuierlich runter. Die beiden Pfleger guckten sich verwundert an: »Was ist das denn?«
»Passen Sie auf«, sagte ich ihnen, »ich lasse seine Hand wieder los.« Und sofort ging es auf dem Display wieder nach oben. Einer der Pfleger brüllte mich an: »Nehmen Sie sofort wieder seine Hand!« Ich nahm Philipps Hand und nach kurzer Zeit ging der Blutdruck wieder runter.
»Ich schlafe jede Nacht neben ihm und halte seine Hand fest zwischen meinen Händen. Philipp weiß jetzt, dass ich da bin. Wenn Sie mir einen Kaffee besorgen, bleibe ich hier so lange sitzen, bis er wach ist.«
Nach gut einer Stunde wurde Philipp langsam wach, er räkelte und streckte sich, schlug die Augenlider auf, sah mich, lächelte und schlief wieder ein. Ich konnte nun seine Hand loslassen, stand auf und dehnte meinen schmerzenden Rücken.
Gegen Mittag kam der Professor nach seiner letzten Operation aus dem OP und wollte sehen, ob im Aufwachraum alles in Ordnung sei. Sofort schilderten ihm die beiden Krankenpfleger, was sie gerade mit Philipp und mir erlebt hatten. Der Professor schmunzelte, streichelte Philipp über die Wange und sagte beim Hinausgehen: »Es gibt so manches zwischen Himmel und Erde, was die Wissenschaft nicht erklären kann!«
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