So wie es einmal war - Elizabeth Noble - E-Book
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So wie es einmal war E-Book

Elizabeth Noble

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Beschreibung

Ein Blick, tiefer als der Ozean … Der berührende Liebesroman »So wie es einmal war« von Elizabeth Noble jetzt als eBook bei dotbooks. Susannah ist gerade sechzehn, als sie Rob zum ersten Mal begegnet – und doch spürt sie sofort, dass er ihre große Liebe sein wird. Schon bald sind die beiden unzertrennlich, machen zusammen den Abschluss, träumen von einer gemeinsamen Zukunft – bis Rob zum Militär geht und im Ausland stationiert wird: Die Beziehung zerbricht an der weiten Entfernung … Erst Jahre später treffen die beiden zufällig wieder aufeinander und plötzlich sind all die komplizierten Gefühle wieder da – doch während Susannah in einer zunehmend unglücklichen Beziehung steckt, hat Rob erst vor Kurzem geheiratet. Entschlossen versucht sie, der Vernunft zu folgen, aber im Herzen weiß sie, dass es nie jemand anderen für sie geben kann als Rob. Könnte es zwischen ihnen jemals wieder so werden, wie es einmal war? »Ein wunderbarer Blick auf die unerwarteten Wendungen des Lebens. Ergreifend!« Daily Mail Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Schicksalsroman »So wie es einmal war« von Bestsellerautorin Elizabeth Noble wird alle Fans von Cecilia Ahern und »Zwei an einem Tag« begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 486

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Über dieses Buch:

Susannah ist gerade sechzehn, als sie Rob zum ersten Mal begegnet – und doch spürt sie sofort, dass er ihre große Liebe sein wird. Schon bald sind die beiden unzertrennlich, machen zusammen den Abschluss, träumen von einer gemeinsamen Zukunft – bis Rob zum Militär geht und im Ausland stationiert wird: Die Beziehung zerbricht an der weiten Entfernung … Erst Jahre später treffen die beiden zufällig wieder aufeinander und plötzlich sind all die komplizierten Gefühle wieder da – doch während Susannah in einer zunehmend unglücklichen Beziehung steckt, hat Rob erst vor Kurzem geheiratet. Entschlossen versucht sie, der Vernunft zu folgen, aber im Herzen weiß sie, dass es nie jemand anderen für sie geben kann als Rob. Könnte es zwischen ihnen jemals wieder so werden, wie es einmal war?

Über die Autorin:

Elizabeth Noble wurde 1968 in England geboren und studierte englische Literatur in Oxford. Danach arbeitete sie einige Jahre im Verlagswesen, bis sie die Liebe zum Schreiben schließlich dazu brachte, ihre eigenen Romane zu veröffentlichen, von denen viele zu internationalen Bestsellern wurden.

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre Romane:

»Die Farbe des Flieders«

»All die Sommer zwischen uns«

»Für immer bei dir«

»So wie es einmal war«

»Das leise Versprechen des Glücks«

»Wo die Liebe zu Hause ist«

***

eBook-Neuausgabe Oktober 2023

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2010 unter dem Originaltitel »The Way We Were« bei Michael Joseph, an imprint of Penguin Books, London.

Copyright © der englischen Originalausgabe 2010 by Elizabeth Noble

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2014 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)

ISBN 978-3-98690-867-6

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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***

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Elizabeth Noble

So wie es einmal war

Roman

Aus dem Englischen von Bernhard Liesen

dotbooks.

Prolog

Juni

Wie alles andere an diesem Tag war auch der Kuss wie aus dem Bilderbuch. Weder zu zurückhaltend noch zu leidenschaftlich. Der Bräutigam, einige Zentimeter größer als die schlanke Frau an seiner Seite, drückte für einen Augenblick zärtlich seine Stirn an die der Braut, bevor sich ihre Lippen berührten. In ihren Augen standen Freuden tränen. Die Hochzeitsgäste seufzten ergriffen. Es war alles eine einzige Postkartenidylle.

Nach dem Kuss drehten sich die Neuvermählten zu ihren Gästen um. Ihre Wangen berührten sich. Die Braut hatte eine Stupsnase und lächelte schüchtern. Der vor einigen Augenblicken zurückgezogene Tüllschleier rahmte malerisch ihr Gesicht ein.

Der Pfarrer hob die Hände. »Meine Damen und Herren, Mr und Mrs Hammond.« Alle Anwesenden brachen in spontanen Applaus aus.

Susannah saß in der zweiten Bankreihe auf der Seite des Bräutigams, und ihr gingen etliche Fragen durch den Kopf.

Seit wann wird in Kirchen applaudiert?

Wie kann es sein, dass mein kleiner Bruder schon alt genug ist, um zu heiraten?

War ich jemals so naiv wie die beiden?

Seit wann bin ich so zynisch und verbittert?

Schnell beantworten ließ sich allenfalls die erste Frage. Offenbar galt es als zeitgemäß, in einer Kirche zu klatschen. Nicht zum ersten Mal empfand Susannah ein seltsames Unbehagen angesichts der Bräuche ihrer eigenen Generation. Eine Kirche war kein Konzertsaal. Dies sollte eine feierliche, würdevolle Zeremonie sein.

Ihr »kleiner« Bruder war dreiunddreißig und damit nach Ansicht der meisten Leute keineswegs zu jung, um zu heiraten. Sein Alter rief ihr ins Gedächtnis, dass sie neununddreißig war, und das schockierte sie ein bisschen. Sie hatte eine lebhafte Erinnerung an seine Geburt. Damals war der Traum eines sechsjährigen Mädchens in Erfüllung gegangen.

Aber ja, natürlich war sie so naiv gewesen. Und nicht nur das. Naiv, vor Glück außer sich, mit demselben seligen Gesichtsausdruck wie diese beiden Neuvermählten. Und sie war sich so sicher, so verdammt sicher gewesen, dass ihre Ehe für alle Zeiten halten würde. Sie hatte vor dem Altar gestanden, wo Alex und Chloe jetzt standen, und sie glaubte, sich damals exakt so gefühlt zu haben. (Obwohl sie sich auch an das unangenehme Gefühl erinnerte, als ihr der unbequeme Strumpfhalter herunterzurutschen drohte.)

Die Sicherheit, die sie seinerzeit empfunden hatte, war ihr abhandengekommen. Sie hätte nicht ohne ihn leben können. Damals wäre ihr das als fast physisch unmöglich erschienen. Sie hatte geglaubt, dass ihr Herz stehen bleiben würde, wenn er nicht mehr an ihrer Seite gewesen wäre.

Jetzt gab es nichts mehr, dessen sie sich sicher war.

Und ihr Zynismus, die Verbitterung? Das war die Frage, auf die sie keine Antwort fand. Wenn sie sich der Entwicklung bewusster, zur distanzierten Selbstbeobachtung fähig gewesen wäre, wäre es nicht so weit gekommen.

Oder doch?

Chloe strahlte vor Glück. Wirklich. Doch das sagte alle Welt von jeder Braut. So etwas äußerte man an Tagen wie diesem, doch es traf eben nicht auf jede Braut zu. Zumindest nicht so sehr wie heute auf Chloe. (Hatten es damals alle über sie gesagt?)

Chloe war Kanadierin und strotzte vor Gesundheit. Perfekte weiße Zähne, seidiges blondes Haar. Susannah musste zugeben, dass sie heute ganz besonders gut aussah in ihrem langen, hellen Hochzeitskleid. Es war elegant und zeitlos und passte perfekt zu ihr. Als sie an Susannahs Bank vorbeikam, winkte sie ihr mit ihrem Blumenstrauß triumphierend zu.

Neben ihr ging Alex, mit stolzgeschwellter Brust. Chloe hatte sich bei ihm untergehakt. Er ließ den Blick über die Gäste schweifen und schaute dann wieder Chloe an, als könnte er es immer noch nicht fassen, dass sie nun tatsächlich seine Frau war.

Wenn man die beiden beobachtete, fiel es einem schwer, nicht an ihr Glück zu glauben. Selbst auf Susannah traf das zu.

Vielleicht würde mit Alex und Chloe alles gut gehen. Bei manchen Ehepaaren war das doch so, oder?

Susannahs Mutter Rosemary wandte sich ihrer einzigen Tochter zu. Sie weinte »Glückstränen«, wie Susannah das als Kind genannt hatte, und betupfte sich Augen und Wangen mit einem weißen Spitzentaschentuch, das nur bei besonderen Anlässen zum Einsatz kam.

»War es nicht wundervoll?«

Susannah setzte ein nachsichtiges Lächeln auf, doch das war gar nicht so leicht. Sie gab die obligatorische Antwort. »War es. Einfach wundervoll!«

»Ist sie nicht eine strahlende Braut?«

»Absolut!«

Dieses Frage-und-Antwort-Spiel konnte eine Zeit lang so weitergehen, obwohl die meisten Fragen ihrer Mutter rhetorischer Natur waren und eigentlich keine Antwort erforderten. Gleich würden die Hochzeitsfotos geschossen werden. Susannah fragte sich, wie lange es wohl noch dauerte, bis sie endlich das erste Glas Champagner trinken konnte. Zu lange. Vielleicht hätte sie einen Flachmann in ihre Handtasche stecken sollen.

»Ich bin so glücklich, dass sie hier geheiratet haben.«

Das war nicht weiter überraschend. Die St Gabriels Parish Church stand in der Mitte des Dorfs und war das spirituelle Zentrum von Rosemary Hammonds Leben. Es gab eine unauflösliche Verbindung zwischen ihr, der Familie und der Gemeindekirche. Glücklich und zufrieden dachte sie an ihre eigene Trauung zurück, die im Juli 1966 an dieser Stelle stattgefunden hatte, ausgerechnet an jenem Tag, als England die Fußball-Weltmeisterschaft gewann. Rosemarys drei Kinder waren hier getauft und konfirmiert worden, und ihre Eltern, die in einem Abstand von zwölf Jahren gestorben waren, lagen Seite an Seite auf dem Friedhof hinter der Kirche.

Wie so viele Engländer hatten Susannahs Eltern im Ruhestand einen Zweitwohnsitz in Frankreich bezogen, eine umgebaute Scheune, doch zuvor hatte Rosemary den sonntäglichen Gottesdienst in St Gabriels nur verpasst, wenn sie sich im Urlaub befand. Und zweimal, als ihr im Jahr 2005 die Gebärmutter herausgenommen worden war. Seit fünfzehn Jahren putzte sie an fast jedem Freitagnachmittag mit drei oder vier Freundinnen die Kirche. Ihr Mann Clive nannte das »Feudeln für Jesus«, was ihm stets einen harmlosen Stups mit dem Staubwedel eintrug.

Alastair, ihr Ältester, hatte als Erstes der drei Kinder geheiratet, und zwar in der Heimat seiner Frau Kathryn in der Nähe von Cambridge. Wenngleich Rosemary bewusst war, dass eigentlich nichts dagegen sprach, wurmte es sie, dass niemand aus der Familie besonders gläubig zu sein schien und dass Kathryn den Vikar, der sie später trauen sollte, bis zur Planung der Hochzeit nie gesehen hatte. Auch die Blumen hatten Rosemary nicht besonders gefallen. Gerbera, wie gewöhnlich! Sie war sich ziemlich sicher, dass in dieser Kirche seit Wochen keine Trauung stattgefunden hatte.

Alastairs und Kathryns Töchter waren heute die Brautjungfern. Millie und Sadie trippelten aufgeregt hinter Chloe das Kirchenschiff hinab und erfreuten sich an dem Rascheln des Hochzeitskleides und der wirklich ganz fantastischen Frisur der Braut.

Vor sechzehn Jahren hatte Susannah in dieser Kirche Sean geheiratet. Zu Beginn ihrer Verlobungszeit hatte sie Witze darüber gerissen, mit Sean durchzubrennen und ihn heimlich zu heiraten, doch Rosemary wusste, dass sie ihr das nie angetan hätte.

Sie war ihre einzige Tochter, und damit verband sich für Rosemary die einmalige Chance, die ganze Hochzeit in allen Einzelheiten selbst zu organisieren.

Seit Susannahs Geburt hatte sie von der Hochzeit ihres kleinen Mädchens geträumt. Und für den großen Tag gespart, indem sie etwas von ihrem Haushaltsgeld abzwackte. Zur Zeit ihrer eigenen Hochzeit war das Geld knapp gewesen. Extras ‒ »Schnickschnack«, wie es Clive nannte ‒ waren nicht drin. Aber Susannah sollte auf nichts verzichten müssen. Blumenbouquets nicht nur am Altar, sondern am Ende jeder Bankreihe. Reichlich richtiger Champagner ‒ nicht nur ein Glas zum Anstoßen während der Glückwünsche für das Brautpaar.

Alex Hochzeit war eine Zugabe. Wie schon seine Geburt, sechs Jahre nach der Susannahs. Rosemary hatte längst die Hoffnung aufgegeben, dass es noch einmal klappen könnte, und beschlossen, sich mit den beiden Kindern zufriedenzugeben, die Gott ihr und Clive bereits geschenkt hatte. Glücklicherweise hatte Chloe auf einer traditionellen englischen Trauung bestanden. Sie liebte die St Gabriels Parish Church, seit sie vor drei Jahren die Weihnachtsfeiertage bei den Hammonds verbracht und mit ihnen am Heiligen Abend dort die Christmette besucht hatte.

Alex hatte Chloe vor drei Monaten während eines Wanderurlaubs in Schottland den Heiratsantrag gemacht. Sie hatten aus einem Pub bei Rosemary angerufen, und Chloe hatte glückstrunken und gefühlsselig (befördert durch zwei Gläser Whisky) gesagt, sie wolle in St Gabriels heiraten, sie könne sich gar keinen anderen Ort dafür vorstellen.

Rosemary musste einräumen, dass vielleicht alles ein bisschen schnell gegangen war. Zum Glück hatte Reverend Trevor an diesem Samstag zum ersten Mal seit Ostern keinen Termin gehabt. Danach wäre er bis nach den kurzen Universitätsferien Mitte Oktober erneut ausgebucht gewesen. Sie vermutete, dass jemand abgesagt hatte, traute sich aber nicht zu fragen, weil das ein schlechtes Omen gewesen wäre … St Gabriels war eine sehr pittoreske Kirche, die an den Film Vier Hochzeiten und ein Todesfall erinnerte. Sie war für Trauungen sehr gefragt, und weder durch freitägliches Putzen der Kirche noch durch Gebete bekam man sonst im Sommer an einem Samstag kurzfristig einen Termin.

Aber letztlich hatte sich die Mühe gelohnt, die harte Arbeit, alles zu organisieren. Allein die Blumenbouquets an den Bankreihen waren eine Augenweide. Das Haus und das im Garten aufgebaute Zelt sahen wundervoll aus. Eine Jazzband würde spielen, der Champagner lag auf Eis. Chloes Eltern hatten darauf bestanden, einen großzügigen Scheck auszustellen, für die Extras, den »Schnickschnack«. Als Chloes Mutter vor der kirchlichen Trauung alles inspiziert hatte, sagte sie, man rechne damit, Hugh Grant im Morgenmantel um eine Ecke kommen zu sehen. Rosemary betrachtete das als ein großes Kompliment.

Als sie ihren jüngeren Sohn und ihre geliebten Enkelkinder betrachtete, wurde es ihr ganz warm ums Herz. Sie drückte die Hand ihres Mannes, der ebenfalls gerührt zu sein schien. Sie waren seit mehr als vierzig Jahren verheiratet, und dies waren die wundervollen Tage, von denen sie geträumt hatten während der anstrengenden Zeit, als die Kinder noch zur Schule gingen und die Hypotheken für das Haus abbezahlt werden mussten.

Die Augenblicke der Freude, über die Clive stets gewitzelt hatte, dass für sie bezahlt werden musste.

Was stimmt nicht an dieser Idylle?, fragte sich Susannah, als sie den Blick über ihre Eltern und Geschwister, ihre Nichten und Neffen schweifen ließ. Wer passt nicht ins Bild? Neben ihren euphorischen Eltern kitzelte ihre Schwägerin Kathryn ihren kichernden kleinen Oscar, während der nach den Federn an ihrem Hut griff, die ihn kitzelten, wenn sie seine Nase berührten.

Sie selbst, Susannah, passte nicht ins Bild, sie war der Fremdkörper. Plötzlich traten ihr Tränen in die Augen. Guter Gott. Sie schlug den Blick zu Boden, öffnete ihre Handtasche und suchte nach einem Taschentuch. Sie spürte, dass eine Träne an der Seite ihrer Nase hinabrann. Das waren keine Freudentränen, die einer solchen Bilderbuchhochzeit gebührten. Sie stand kurz davor, in ein hemmungsloses Schluchzen auszubrechen, war aber fest entschlossen, es auf jeden Fall zu verhindern. Sie bohrte die Fingernägel ihrer Linken in den rechten Handteller und biss die Zähne zusammen. Falls es passierte, würde sie ein erbärmliches Bild abgeben. Wenn sie eine Minute richtig heulte, hatte sie für eine Stunde geschwollene, gerötete Augen und eine rote Nase. Man würde sie anblicken, ihr Fragen stellen … Fragen, auf die sie gut verzichten konnte.

Ihr Bruder Alastair kniff sie in den Ellbogen und drückte ihr ein Taschentuch in die Hand. »Oh nein, bitte nicht.«

Die anderen Gäste gingen durch das Mittelschiff zum Ausgang der Kirche. Alastair packte ihren Arm und zog sie in die entgegengesetzte Richtung, in die des Altars, und sie ließ es geschehen.

»Beherrsch dich noch einen Augenblick«, sagte er in einem energischen, aber durchaus teilnahmsvollen Ton. Seine Stimme klang ein bisschen so, als würde er mit seiner kleinen Tochter Sadie reden.

Die Sänger zogen in einem kleinen Vestibül im hinteren Teil der Kirche ihre Chorhemden aus.

»Stören Sie sich nicht an uns, wir nehmen nur die Abkürzung«, verkündete Alastair, als er die Tür öffnete, durch die man auf den stillen Friedhof hinter der Kirche trat.

Er ließ den Ellbogen seiner Schwester erst los, als sie sich nebeneinander auf eine Bank gesetzt hatten.

Susannah nahm ihren kleinen runden Pillbox-Hut ab und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

»Danke.«

Er lehnte sich zurück, zerrte an seinem Kragen und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Für ein paar Minuten saßen sie schweigend da. Susannah schluchzte ein paarmal leise, und sie hörten das Stimmengewirr der anderen Gäste aus der Richtung des Kirchenportals.

Alastair schlug seine langen Beine übereinander. »Auf dieser Bank habe ich mit dreizehn meine erste Zigarette geraucht. Zehn Minuten später habe ich mich erbrochen … Da drüben.« Er zeigte auf einen zehn Meter entfernten Baum.

Susannah lächelte. Ihr Bruder war nie ein richtiger Raucher gewesen. Sie schon. Während ihrer drei Jahre an der Universität hatte sie täglich zehn Zigaretten geraucht, als gehörte das für eine Studentin dazu, doch am Tag ihrer Abschlussprüfung hatte sie das Rauchen urplötzlich wieder aufgegeben. Trotz Alastairs Drohungen, es ihren Eltern zu erzählen, hatte er sie nicht verraten und dichtgehalten. Rosemary und Clive hatten nie etwas davon erfahren.

»Vielleicht hätte ich auch auf dieser Bank meine Unschuld verloren, wenn Sally Harris’ Jeans nicht so extrem eng gewesen wären. Außerdem musste sie ja leider Gottes um Punkt zehn zu Hause sein.«

Susannah musste laut lachen. »Sally Harris. Mein Gott, wie lange ist das her.«

»Wahrscheinlich hätte sie die Jeans nie wieder anbekommen, wäre sie erst einmal runter gewesen. Bestimmt hatte sie Schiss, im Schlüpfer nach Hause gehen zu müssen … Ich konnte kaum meine Hand hinter den Bund quetschen.«

»Was für eine Geschichte.«

Er grinste. »Immerhin hat sie dafür gesorgt, dass du nicht mehr heulst.«

»Wahrscheinlich werde ich gleich keinen Bissen herunterbekommen.«

»Das kann nicht schaden, Pummelchen.«

So hatte er sie zwischen ihrem zehnten und elften Lebensjahr ständig genannt, zu einer Zeit, als sie tatsächlich pummelig gewesen war. Doch dann hatte sie im nächsten Sommer abgenommen und war seitdem immer schlank geblieben. Trotzdem nannte er sie noch manchmal »Pummelchen«, aber nur, wenn sie allein waren.

Sie versetzte ihm scherzhaft einen Stups.

So war Alastair. Der typische große Bruder. In jüngeren Jahren war er oft herablassend und unfreundlich zu ihr gewesen. Manchmal schien es, als würde er den ganzen Tag darüber nachdenken, wie er sie ärgern konnte.

Aber wenn ein anderer sich mit ihr anlegte, hatte er stets zu ihr gehalten. Auf ihn hatte sie sich immer verlassen können. Und das war auch jetzt noch so.

»Also?« Er schaute ihr direkt in die Augen.

Sie wich seinem Blick aus. »Was, also?«

»Warum die Tränen?«

»Jeder heult bei Trauungen, oder etwa nicht? Du hast Mum und Kathryn gesehen.«

»Dann willst du es also nicht sagen?«

»Was?« Nur weil er sie gerettet hatte, musste sie ihm nicht alles erzählen.

»Okay, du glaubst, mir nicht alles erzählen zu müssen, nur weil ich dich gerettet habe.« Es war unheimlich, wie er ihre Gedanken lesen konnte. »Aber wenn du doch reden möchtest … Ich bin ganz Ohr. Und das ist deine letzte Chance, denn ich habe Kathryns Erlaubnis, mich später sinnlos zu betrinken. Ich habe vor, nichts mehr zu merken, wenn sie den Kuchen anschneiden … Oscar hat die letzten vier oder fünf Nächte nur Theater gemacht … Ich bin erschöpft und werde mich schnell volllaufen lassen. Also, wenn du reden möchtest, ist das jetzt der richtige Augenblick. Der Seelenklempner sitzt neben dir.«

»Vermutlich habe ich an Sean gedacht.«

»Unsinn.«

»Redet so ein Psychiater mit seinem Patienten?«

»Vielleicht sollten diese Typen es häufiger tun.«

»Warum glaubst du mir nicht?«

»Weil ich seit Jahren nicht mehr gesehen habe, dass du wegen Sean heulst. Ich kaufe dir das nicht ab. Das waren keine Tränen, die etwas mit der Vergangenheit zu tun hatten. Da ging es um die Gegenwart. Zumindest sehe ich das so.«

»Wirklich? Woher willst du das wissen?«

»Hör zu, Schwesterchen. Auch wenn du nichts sagst, muss man keine Hellseher sein, um zu merken, dass etwas nicht in Ordnung ist. Seit ein paar Monaten sieht man dich kaum noch. Du hat alles abgesagt, was mit der Familie zusammenhing, und warst nicht mal bei Oscars Taufe.«

Sie wollte etwas sagen, wollte die Entschuldigung wiederholen, von der sie geglaubt hatte, man hätte sie ihr abgenommen, doch Alastair hob eine Hand. »Doch das spielt keine Rolle, darum geht es mir nicht. Aber heute tauchst du auf. Allein, ohne Doug. Wieder mal.«

»Er hat die Kinder.« Das klang selbst in ihren Ohren nicht überzeugend.

Wieder hob er auf diese ärgerliche Weise die Hand. Aber er hatte natürlich recht, wenn er nachhakte.

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Vielleicht geht mich das alles auch gar nichts an. Aber ich mache mir Sorgen um dich, Suze. Wir alle sind ein bisschen beunruhigt.«

»Dann habt ihr also über mich geredet.« Der Gedanke war ihr verdammt unangenehm. Sie sah sie zusammensitzen, zufrieden mit sich selbst, und über sie reden. Über das einzige Familienmitglied, das nicht glücklich zu sein schien.

»Du siehst das falsch. Ich rede nicht von Mum und Dad. Unsere Mutter hatte seit Wochen nichts als Alex und Chloes Hochzeit im Kopf. Du kennst unseren Vater und weißt, wie schweigsam er ist. Ich rede von mir und Kathryn. Aber die war auch vollauf mit dem Baby beschäftigt. Okay, ich habe mir Sorgen gemacht.«

»Na großartig.« Fast hätte sie gelacht. »Also bin ich allen anderen völlig egal.«

Beide mussten schmunzeln.

Alastair nahm sie in den Arm, und sie legte ihren Kopf auf seine Schulter.

»Ich meine ja nur …«

»Ich weiß.«

Für ein paar Minuten saßen sie schweigend in der warmen Sonne. Susannahs Herzschlag beruhigte sich, und das Bedürfnis zu weinen ließ langsam nach.

Als sie sich beruhigt hatte, stand Alastair auf. »Wir sollten wieder zu den anderen gehen. Wisch dir die verschmierte Wimperntusche ab. Wir müssen dabei sein, wenn die Hochzeitsfotos geschossen werden.«

»Ja, du hast recht.« Sie kramte in ihrer Tasche nach einem Spiegel und benetzte die Ecke des Taschentuchs mit Spucke, bevor sie die schwarzen Flecken unter ihren Augen wegwischte.

»Wie immer.«

»Ich weiß nicht, wie Kathryn es mit dir aushält.« Sie trug noch etwas Lippenstift auf, schloss die Handtasche und gab Alastair sein Taschentuch zurück. Er schien angewidert zu sein, knüllte es zusammen und steckte es weg.

»Warum sollte sie es nicht mit mir aushalten? Sie küsst mir die Füße.«

Auch Susannah stand auf. Er nahm ihre Hand, und sie schlenderten zur Vorderseite der Kirche.

»Mein armes kleines Mädchen.«

So hatte er in ihrer Kindheit auch immer mit ihr geredet.

»Ich bin verdammt gut im Bett. Sally Harris hat keine Ahnung, was sie damals verpasst hat.«

Sie schnaubte. Das banale Geplauder tat ihr gut und lenkte sie ab.

Bevor sie um die Ecke bogen, drückte er noch einmal sanft ihre Hand und ließ sie dann los. »Glaubst du, dass du deine Gefühle jetzt unter Kontrolle hast?« Er rollte die Augen, als hätte er die Nase endgültig voll.

»Ich denke schon. So halbwegs.«

»Gut. Um Himmels willen, reiß dich zusammen. Und setz diesen komischen Hut wieder auf. Vom Alkohol solltest du dich besser fernhalten. Es gibt nichts Schlimmeres als eine einsame Frau in mittleren Jahren, die sich volllaufen lässt und einen der Kellner anzumachen versucht.«

»Ich werde daran denken.«

Ihre Mutter erwartete sie etwas verärgert und mit leicht gerötetem Gesicht. Sie seufzte und steckte eine widerspenstige Haarsträhne unter Susannahs Hut, als wäre sie ein renitentes Kind. Sie schien nicht zu bemerken, dass ihre Tochter geweint hatte. »Wo habt ihr beiden gesteckt?« Wie immer wartete sie nicht auf eine Antwort. »Mit Chloes Anhang sind wir durch. So viele waren es ja nicht. Jetzt kommt die Familie des Bräutigams an die Reihe. Kommt schon, der Fotograf wartet.«

Douglas hätte dabei sein sollen. Vermutlich war es ihre Schuld, dass es nicht so war. Sie hatte ihm gesagt, er solle nicht kommen. Aber sie hatte es nicht so gemeint. »Mach dir nicht die Mühe zu kommen«, hatte sie gesagt.

Er wusste, dass sie es nicht so meinte. Und war trotzdem nicht gekommen.

Indem er nicht gekommen war, hatte er eine unsichtbare Linie überschritten. Er wusste nur zu gut, dass sich die anderen nach dem Grund fragen würden. An ihrem Tisch in dem Zelt war ein Platz für ihn gedeckt. Sein Name stand auf der Karte, in perfekter Schönschrift. Ein leerer Stuhl. Ihm war klar, dass sie seine Abwesenheit erklären musste. Neugierige Tanten, besorgte Freunde und wohlmeinende Fremde würden sie ausfragen. Er wusste, dass man ihr ihre Erklärungen nicht abnehmen würde, so plausibel sie auch klingen mochten und so überzeugend sie sie vortrug. Und damit war eine Linie überschritten ‒ etwas Privates wurde öffentlich. Er wusste, wie verhasst ihr so etwas war. Aber in letzter Zeit überschritten sie häufiger Grenzen. Mittlerweile wusste sie nicht einmal mehr, wo diese verliefen. Früher war das anders gewesen. Sie wusste in jeder Situation, wie er reagieren, wie er sich verhalten würde.

Sie hatten sich an den Lebensrhythmus des anderen angepasst. Jetzt war sie sich all dessen nicht mehr sicher. War sich ihrer selbst nicht mehr sicher. Es hatte eine Zeit gegeben, als sie sich nicht gestritten hatten. Später, als sich das geändert hatte, rückten sie beide immer weiter an den Rand des riesigen Bettes, und sie schliefen voller Groll ein. Während der letzten beiden Monate hatte sie zweimal im Gästezimmer übernachtet. Beim ersten Mal hatten sie beide zu viel Wein getrunken. Er war mitten in der Nacht zu ihr gekommen und hatte versucht, sie in ihr Bett zurückzuholen. Beim zweiten Mal waren sie beide nüchtern gewesen, und er hatte es nicht mehr versucht.

Der nervöse junge Fotograf leierte sein kleines Repertoire von abgedroschenen Sprüchen herunter, um die Familie für die Hochzeitsfotos zum Lachen zu bringen. Augenscheinlich gelang ihm das aber nicht so gut wie der vierjährigen Sadie, die ihr Brautjungfernkleid hochzog und so ihr Bäuchlein und ihren Schlüpfer enthüllte. Kathryn lachte, während sie zugleich versuchte, einen zunehmend unruhigen und zappeligen Oscar festzuhalten und Sadies Kleid herunterzuziehen.

»Das war’s fürs Erste. Ich hab alles im Kasten. Besten Dank an alle.« Die Stimme des Fotografen klang unüberhörbar erleichtert. Dies war erst seine vierte Hochzeit, und bei keiner der anderen waren so viele Gäste da gewesen. Seine Wangen waren gerötet, und er schwitzte. Susannah fragte sich, wie der arme Kerl sich im weiteren Verlauf der Veranstaltung schlagen würde.

Diese Horde war schon nüchtern schwer zu kontrollieren, nach ein paar Gläsern Champagner aber bestimmt nicht mehr zu bändigen.

Von der Kirche bis zum Haus ihrer Eltern brauchte man zu Fuß fünf Minuten. Der Weg führte durch den Park und dann eine enge Straße hinab. Die Leute schlenderten in diese Richtung, angeführt von einem durstigen Nachbarn, der außerdem auf eine gefüllte Blätterteigpastete hoffte, bevor die nächsten Fotos geschossen wurden. Eine kleine Schar nicht eingeladener Dorfbewohner hatte sich während des Gottesdienstes vor dem Eingang des um die Kirche gelegenen Friedhofs versammelt. Susannah erinnerte sich, dass sie als junges Mädchen auch oft dort gewartet hatte. Damals waren Dauerwellen und Glockenärmel bei den Bräuten der letzte Schrei gewesen, und die Bräutigame trugen alle Koteletten und einen Haarschnitt wie Kevin Keegan.

Im Sommer hatte an den meisten Samstagen eine Trauung stattgefunden. Sie hatte beobachtet, wie die Gäste eintrafen. Dann stieg die Braut aus dem Auto und strich nervös ihr Kleid glatt, bevor sie den Arm ihres Vaters ergriff. Anschließend radelte Susannah zum Laden des Dorfes, wo sie ihr Taschengeld für Bonbons, Brausepulver und die Zeitschrift Smash Hits ausgab.

Wenn die Glocken zu läuten begannen, fuhr sie zurück, um die Neuvermählten aus der Kirche treten zu sehen. Sie liebte die Kleider, die Brautjungfern, die Blumen und die mit Bändern geschmückten Autos. Einmal gab es sogar eine Hochzeitskutsche. Die Männer trugen Hüte, die Frauen Schuhe mit hohen Absätzen. Das Geläut der Glocken hielt sie für das schönste Geräusch der Welt. Am meisten liebte sie den Augenblick, wenn das Brautpaar sich in einem Konfetti- oder Blütenregen küsste.

Chloe und Alexander bahnten sich ihren Weg durch die Menge und gingen in Richtung des Hauses. Chloe fand das unglaublich romantisch ‒ sie sagte, sie würde sich dann fühlen wie eine Heldin aus einem Roman von Thoma Hardy oder Jane Austen. Die älteren Damen aus dem Frauenverein hielten den Atem an. »Sie sehen wundervoll aus, meine Beste.« ‒ »Gott segne euch.« Das war altmodisch, aber trotzdem schön. Die Wünsche dieser Frauen wirkten für Susannah überzeugender und bewegender als die jener Leute, die seit sechs Wochen die aufwendig gedruckten Einladungen auf dem Kaminsims liegen und im Kaufhaus fünfzig Pfund für ein Geschenk berappt hatten. Diese Dorfbewohner waren die wahren Romantiker, so wie auch sie einst. Sie hatten keinen anderen Grund dafür, hier zu sein. Sie hatten weder mit Alexander die Schule besucht, noch gehörten sie zu Chloes Vorgesetzten. Und es handelte sich auch nicht um irgendwelche ältlichen Tanten aus der entfernten Verwandtschaft.

Da erblickte sie unter den Schaulustigen jemanden, den sie kannte, und ihr stockte der Atem. Sie hatte nicht damit gerechnet, sie hier zu sehen, und fragte sich, warum sie nicht über diese Möglichkeit nachgedacht hatte. Schließlich hatten sie früher mehr als nur einmal vor der Kirche nebeneinander gestanden, um die Brautpaare zu sehen. Doch das war eine Ewigkeit her.

Die meisten Menschen, die jetzt vor dem Eingang des Friedhofs standen, kannte sie nicht. Sie lebte schon seit Jahren nicht mehr hier und kam nur noch ziemlich selten zurück. Wenn sie es tat, hielt sie nur vor dem Haus ihrer Eltern. Doch dies war jemand, den sie einst gut gekannt hatte. Mittlerweile waren zwei Jahrzehnte vergangen, seit sie sich zuletzt gesehen hatten. Lois Rossi. Alter und definitiv ein bisschen fülliger. Ihr einst brünettes Haar, früher meistens zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, war nun kürzer geschnitten und glänzte silbrig.

Lois lächelte sie an. Susannah fragte sich, ob Lois sie überhaupt erkannt hatte, und hätte sich fast umgedreht, um zu sehen, wem das Lächeln sonst gelten könnte.

Und hinter Lois stand ihr sehr viel größerer Sohn. Sie war sich absolut sicher, dass der Blick seiner dunkelbraunen Augen direkt auf sie gerichtet war.

Roberto Rossi. Rob.

Der große, dunkelhaarige, attraktive Junge, in den sie sich mit sechzehn Jahren verliebt hatte. Die große Liebe ihres Lebens.

Jetzt war Rob ein Mann, den sie seit zwanzig Jahren nicht gesehen hatte.

Für einen Moment wusste sie nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie wollte weglaufen, blieb aber wie angewurzelt stehen, ganz so, als hätten die Blicke der beiden sie gelähmt. Es war sowieso nicht so einfach, mit Stöckelschuhen auf Gras wegzurennen … Sie schaute sich nach ihrem Bruder um, sah aber weder ihn noch sonst jemanden, den sie kannte. Sie stand wie erstarrt da, während Fremde mit Hüten plaudernd und lachend an ihr vorbeischlenderten ‒ vermutlich Freunde von Chloe und Alex. Pastellfarbene Kleidung, Federn, der Geruch von Parfüm und Haarspray. Ihr wurde ein wenig schwindelig.

Vor vielen Jahren hatte es eine Zeit gegeben, als es ihre größte Angst gewesen war, zufällig über Lois oder Rob zu stolpern, wenn sie ihre Eltern besuchte. Einmal war sie zu der Tankstelle am Rand des Dorfs gefahren. Ein Blick auf die Benzinuhr hätte ihr gesagt, dass es idiotisch war, dort nicht zu tanken. Als sie dann aber an der gegenüberliegenden Zapfsäule Robs Vater Frank sah, war sie gleich weitergefahren, weil sie Angst hatte, seinem Blick zu begegnen. Nach ein paar Kilometern war ihr Auto dann mit leerem Tank stehen geblieben.

Wegen ihrer Angst hatten sie und Sean für das Aufgebot sogar St Gabriels gemieden. Am Tag der Trauung waren Lois und Frank im Urlaub gewesen. Aber auch sonst wären sie vermutlich nicht gekommen.

Nicht nach dem, was geschehen war.

Irgendwann hatte ihre Angst nachgelassen, wie das bei Ängsten meistens so ist. Die Besuche bei ihren Eltern waren seltener geworden. Zunächst war sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, dann zu gedemütigt, als in ihrem Leben alles schiefzugehen begann. Als die Ehe mit Sean endgültig in die Brüche ging, bekam sie kaum noch etwas auf die Reihe.

Auch mit Douglas war sie in den letzten Jahren selten bei ihren Eltern gewesen. Die Kinder, Dougs geliebtes Boot, das im Hafen von Chichester lag, ihr Beruf…

Das Leben zog sie in so viele Richtungen. Wochen vergingen, Monate, Jahre …

Ihre Eltern waren im Ruhestand und verbrachten ein paar Monate des Jahres in Frankreich, was für ihren Vater ein Triumph war. Er hatte bezweifelt, seine Frau jemals davon überzeugen zu können, dem Dorf und St Gabriels den Rücken zu kehren. Wenn sie zu Hause waren, ließen sie es langsam angehen. Ihre Mutter sagte, sie habe in ihrem Leben genug Zeit in der Küche verbracht, und deshalb beschäftigten sie eine Köchin.

Alastair und Kathryn luden sie zu Weihnachten, Ostern und zu Kurzurlauben in Cornwall ein, damit sie Zeit mit ihren Enkelkindern verbringen konnten.

Mittlerweile blickte sie also nicht mehr nervös über die Schulter, wenn sie nach Hause kam, und sie verzichtete auch auf die große Sonnenbrille á la Jackie Onassis. Nun hatte sie sie also gesehen. Das passte. Konnte es an diesem Tag noch schlimmer kommen?

Lois Rossi kam mit ausgestreckten Armen auf sie zu. Guter Gott.

Ja, es konnte noch schlimmer kommen.

Da musste sie an Frank denken, Lois’ Mann. Er war krank, schwer krank. Vor etwa drei Jahren war bei ihm eine schwere Form von Muskelschwund diagnostiziert worden. Ihre Mutter hatte es ihr erzählt. Sie hielt Susannah über die Ereignisse im Dorf auf dem Laufenden und tratschte auch über Leute, die ihre Tochter gar nicht kannte. Susannah hatte darüber nachgedacht, Lois einen Brief zu schreiben, als sie von der Erkrankung ihres Mannes hörte. Doch was hätte sie schreiben sollen? Wenn jemand gestorben war, fielen einem mühelos die passenden Floskeln ein. Es war deutlich schwieriger, etwas über Frank zu schreiben ‒ sie wusste praktisch nichts über diese Krankheit, höchstens, dass Stephen Hawking der Einzige zu sein schien, der nach der fatalen Diagnose länger mit dieser Krankheit, einer amyotrophen Lateralsklerose, überlebt hatte. Für die meisten Menschen, da war sie sich sicher, bedeutete diese Diagnose den baldigen Tod. Über die Einzelheiten wusste ihre Mutter nichts, und so hatte sie den Brief nicht geschrieben.

Und nun kam Lois auf sie zu und sie wünschte sich, sie hätte es getan. Das Schreiben eines Briefes wäre unendlich viel leichter gewesen, als sich nun inmitten des fröhlichen Hochzeitstrubels die richtigen Worte einfallen zu lassen.

»Susannah!«

Nur dieses eine Wort. Und dann nahm Lois sie in den Arm. Es war ein vertrautes Gefühl. Erleichterung überkam sie. Natürlich war Lois ihr nicht mehr böse. Nicht nach all diesen Jahren. Und vielleicht war sie es nie gewesen.

Kapitel 1:1987

September

Alastair und Susannah warteten morgens um Viertel nach acht auf den Schulbus. Wie etwa achtzig Prozent der ungefähr tausend Jugendlichen an ihrer Schule wurden sie mit dem Bus zu dem knapp zehn Kilometer entfernten Gymnasium gebracht, einem riesigen grauen Betongebäude in der nächstgelegenen Stadt. Ihr Bus hielt unterwegs fünfmal, und an ihrer Haltestelle, der zweiten, stiegen die meisten Schüler zu. Es waren etwa fünfundzwanzig, die größtenteils in den Häusern in den stillen Straßen auf dieser Seite des Parks wohnten. Weitere Busse holten die Schüler von der gegenüberliegenden Seite ab, zudem die aus der Siedlung jenseits der Hauptstraße und jene, die auf außerhalb gelegenen Bauernhöfen lebten. Die Sonne schien, und alle waren sauer, dass sie nach den sechswöchigen Sommerferien wieder so früh aufstehen mussten.

Alex besuchte noch die Grundschule im Dorf, auf die auch seine beiden Geschwister gegangen waren. Seine Mutter brachte ihn hin, etwa eine halbe Stunde nachdem Susannah und Alastair das Haus verlassen hatten. Alex wurde nach dem Frühstück von Rosemary gefragt, ob er sich auch anständig die Zähne geputzt habe, und dann gingen die beiden gemeinsam durch den Park. Die Mutter wartete am oberen Ende der Straße, an der die Schule lag, und sah ihrem Jüngsten nach, der die letzten hundert Meter allein zurücklegte. Nun waren für die nächsten paar Stunden die Lehrer für ihn verantwortlich.

Es war das letzte Jahr, in dem Susannah und Alastair gemeinsam den Bus nahmen. Alastair war in der Abschlussklasse und würde im nächsten Sommer die Hochschulreife erwerben.

Im folgenden September wollte er an der Universität in Exeter ein Ingenieurstudium aufnehmen, wenn seine Noten gut genug waren. Doch daran zweifelte niemand.

Susannah besuchte die vorletzte Klasse. Die beiden letzten Schuljahre wurden auf einem zur Hochschulreife führenden College absolviert. Dieses College war nur knapp fünf Kilometer von der Schule entfernt, und doch lagen Welten dazwischen. Eigentlich war es eine Schande, dass man noch immer mit den jüngeren Schülern in einem Bus fahren musste.

Seit dem vergangenen Jahr wusste sie, wie es lief. In den letzten beiden Klassen musste man keine Schuluniform mehr tragen, und mit den »Zivilklamotten« änderte sich der Status. Man stand an der Haltestelle ein gutes Stück von den Kleinkindern entfernt und beschlagnahmte die letzten sechs oder sieben Reihen im Bus. Das war ein ungeschriebenes Gesetz. Man stieg zuletzt in den Bus und trat vorher demonstrativ mit dem Absatz den Stummel seiner Zigarette aus. Man redete nicht mehr mit jedem.

Im vergangenen Jahr, als Susannah noch nicht auf dem College gewesen war, hatte Alastair an der Haltestelle nicht ein einziges Mal mit ihr geredet. Auf dem Weg dorthin und auf dem Heimweg schon, denn sie hatten sich immer gut verstanden. Doch an der Haltestelle und während der Fahrt war sie eine Fremde für ihn, und sie akzeptierte das. Im nächsten Schuljahr, ihrem letzten, würde Alex aufs Gymnasium kommen, und alles würde genauso laufen. In der Gegenwart der anderen würde er für sie nicht existieren, und dann würden sie gemeinsam nach Hause gehen.

Gott allein wusste, was im nächsten Jahr mit ihrer Mutter passieren würde. Die Kirche würde blitzblank geputzt sein, so viel war sicher. Doch Alastair würde dann nicht mehr zu Hause wohnen und Alex mit dem Bus in die Stadt fahren. Und im übernächsten Jahr? Der arme Alex. Dann war er ganz allein mit den Eltern.

Susannah war heilfroh, die unattraktive flaschengrüne Schuluniform nicht mehr tragen zu müssen. Eine Krawatte war immer noch vorgeschrieben, und mit der sah man nie gut aus, auch wenn man sie fantasievoll band und lässig das Hemd aus der Hose hängen ließ. Besonders dann nicht, wenn man Brüste hatte, was bei ihr zu ihrem großen Erstaunen der Fall war.

Nach der Zeugnisausgabe im letzten August hatten ihre Eltern ihr als Belohnung unglaubliche zweihundertfünfzig Pfund für neue Klamotten geschenkt. Sie war einen Tag nach London gefahren und hatte das Geld in der Oxford Street bis zum letzten Penny auf den Kopf gehauen. Heute trug sie Röhrenjeans, einen schwarzen Pullover, einen blau-schwarz gestreiften Schal und Wildlederstiefel, die sie bei Chelsea Girl erstanden hatte. Nun konnten Alastair und die anderen mit ihr reden, doch bis jetzt war das nicht passiert.

Ein neues Schuljahr. Neue Hefte, eine neue Tasche, ein neuer Anfang. Wahrscheinlich hätte sie es anderen gegenüber nie zugegeben, aber sie hatte sich auf diesen Tag gefreut. Eigentlich war es üblich, über das Ende der Sommerferien zu lamentieren. Man tat so, als wäre der Wiederbeginn der Schule der Weltuntergang. Aber im Gegensatz zu allen anderen mochte Susannah die ziellose Freiheit der langen Sommertage nicht besonders. Dieses Jahr hatte sich die Zeit noch mehr in die Länge gezogen, während sie gespannt auf ihre Zensuren wartete. Die Zeugnisse wurden immer erst Mitte August ausgegeben.

Im Gegensatz dazu ließ Alastair sich durch nichts aus der Ruhe bringen. An diesem Morgen hatte Mum ihm fast einen Eimer kalten Wassers über den Kopf schütten müssen, um ihn aus dem Bett zu bekommen. Da war sie bereits fertig angezogen und frühstückte, als ihr Vater die Treppe herunterkam.

Das Zeugnis. Acht Einsen und eine Zwei (in Geografie). Ein neuer Familienrekord. Auch Alastair hatte sich gut geschlagen im letzten Schuljahr, aber nicht ganz so gut wie sie. Susannah wusste, dass er kein bisschen weniger intelligent war. Er hätte ebenso gute Noten haben können, doch es war ihm nicht wichtig genug. Seine Interessen waren vielseitiger. Er tat nur so viel, dass es für ein paar Einsen und Zweien genügte. Ansonsten beschäftigte er sich mit anderen Dingen. Er war ein guter Sportler, ein Musikkenner und Plattensammler. Er hatte einen großen Freundeskreis, ging mit ihrem Vater angeln und führte Kunststückchen auf seinem Geländerad vor, die ihrer Mutter die Schweißperlen auf die Stirn trieben. Er hatte bereits eine ganze Reihe von Freundinnen gehabt. Alastair war ausgeglichen. Susannah hatte schon immer geahnt, dass sie das nie sein würde.

Sie war intelligent, das wusste sie. Sehr intelligent. Sie konnte Klassenbeste sein, ohne sich wirklich anzustrengen. Die Lehrer waren begeistert, das Verhalten ihrer Mitschüler war eine Mischung von Ehrfurcht und Abneigung, an die sie sich nie hatte gewöhnen können. Doch außerhalb des schulischen Bereichs fehlte es ihr an Selbstsicherheit. Deshalb bekam sie erst durch den Schulbeginn wieder festen Boden unter die Füße.

»Hey, Suze!«

Amelia Lloyd. Sie rief schon aus fünfzig Metern Entfernung und fuchtelte wild mit den Armen, ohne sich um die entgeisterten Blicke der anderen zu kümmern. Amelia war seit der dritten Grundschulklasse Susannahs beste Freundin. Erst kurz vorher war sie mit ihren Eltern in das Dorf gezogen.

Die Familie wohnte in dem großen, alten Pfarrhaus hinter der Kirche. Unter der Aufsicht von Amelias Mutter war das Haus zwei Jahre lang renoviert worden. Es gab jetzt dort einen Wintergarten und einen Swimmingpool. Sie hatten einen wahrhaft erstaunlichen Esstisch, der zu einem Snookertisch wurde, indem man die Platte umdrehte und die Taschen für die Kugeln herausklappte. Ihr Vater war Rechtsanwalt und Teilhaber einer Kanzlei in London.

Susannah glaubte, dass die Lloyds reich waren. In den Osterferien fuhren sie zum Skifahren in die Schweiz, wo Amelias Großeltern ein Chalet besaßen. Die Sommerferien verbrachten sie an Orten, deren Namen für Susannah ziemlich exotisch klangen. Amelia hatte ein Zimmer mit einem eigenen Bad und besaß ein Pony. Auf der staatlichen Schule sei sie nur, sagte sie, weil ihre Eltern politisch links stünden.

Links oder nicht, ihren Eltern wäre es trotzdem lieber gewesen, wenn sie die letzten beiden Klassen auf einer renommierten Privatschule absolviert hätte, in Roedean, Marlborough oder Ascot. Amelia hatte während des letzten Jahres energischen Widerstand geleistet, tatkräftig unterstützt von Susannah. Schließlich hatten Amelias Eltern nachgegeben und gesagt, sie könne auf ihrer jetzigen Schule bleiben, wenn ihr Zeugnis gut genug sei.

Amelia hätte ein unerträglich verwöhntes Mädchen sein können, aber sie war es nicht. Okay, sie war verwöhnt, doch sie war auch fröhlich und humorvoll, großzügig und charakterstark. Durch sie war Susannahs Leben sehr viel farbiger geworden. Kennengelernt hatten sie sich bei den Pfadfinderinnen und waren zu Susannahs großem Erstaunen fast sofort unzertrennliche Freundinnen geworden.

Als sie aufs Gymnasium kamen, hatte Susannah befürchtet, dass Amelia sich neue Freundinnen suchen würde, doch glücklicherweise war das nicht passiert. Ihre Persönlichkeiten ergänzten sich, beide hatten einen wohltuenden Einfluss aufeinander. Und sie wussten ihre Freundschaft sehr zu schätzen.

Nun aber hatten sie sich während der ganzen Ferien nicht gesehen, denn Amelia war erst am Vortag aus dem Urlaub zurückgekehrt. Auch das war ein Grund dafür gewesen, warum sich dieser Sommer für Susannah so in die Länge gezogen hatte. Amelia war eine Ewigkeit weg gewesen, und Susannah hatte sie sehr vermisst. Gestern Abend hatte Amelia angerufen, um erfreut von ihrem Zeugnis zu berichten. Fünf Einsen, drei Zweien und eine Drei (in Mathematik). Das reichte, um ihre Eltern zu zwingen, sie auf der staatlichen Schule zu lassen, und nur das zählte. Sie hatten beide drei Fächer für die schriftlichen Abschlussprüfungen ausgewählt ‒ Amelia Englisch, Geschichte und Französisch, Susannah Mathematik, Englisch und Wirtschaft. Sie hatten vor, dieselbe Universität zu besuchen, wussten aber noch nicht, für welche sie sich entscheiden sollten. Im Augenblick favorisierten sie Bristol, aber es gab ein staatliches Zulassungsverfahren für die Studienplätze. Man konnte nie sicher sein, wo man landete.

Amelia hatte einen Cousin, der in Bristol studiert hatte und der die Uni und die Stadt in den höchsten Tönen lobte. Am Telefon hatte Amelia vage angedeutet, sie habe ihr etwas Wichtiges zu erzählen, doch das müsse bis zur Busfahrt am nächsten Morgen warten. Susannah wusste, dass es sinnlos war, etwas aus ihr herausquetschen zu wollen ‒ Amelia machte es gerne spannend. Es musste tatsächlich um etwas Interessanteres gehen als Zeugnisnoten …

Und nun stand sie vor ihr, mit hellen Strähnchen in ihrem goldfarbenen Haar. Sie umarmte Susannah und wirbelte sie im Kreis herum. Die jüngeren Schüler starrten sie an.

»Suze! Ich kann’s nicht fassen, wie sehr du mir gefehlt hast!«

»Du siehst großartig aus. Unglaublich, wie braun du bist. Ich hasse dich.«

Amelia strahlte zufrieden. Trotz des kühlen Herbstmorgens trug sie eine kurzärmelige weiße Bluse, die deutlich weiter aufgeknöpft war, als Susannahs Mutter es bei ihrer Tochter zugelassen hätte. Wahrscheinlich war es bei Amelias Mutter genauso, und Amelia hatte die Bluse auf dem Weg zur Bushaltestelle aufgeknöpft. Ihre langen, schlanken Beine wirkten heute noch länger und schlanker.

»Ich weiß. Ich glaube nicht, dass ich schon jemals so braun war. Dafür musste ich mich drei Wochen in der Sonne braten lassen.«

»Du Glückliche. Wie war’s in Italien?«

»Fantastisch. Ich kann’s gar nicht abwarten, dir alles zu erzählen.«

Mittlerweile war der Bus da, die Kids in den Schuluniformen waren bereits eingestiegen. Die Anfänger wirkten nervös, die anderen gaben sich gelangweilt. Susannah nickte dem Fahrer zu, den sie nicht kannte, und ging demonstrativ gleichgültig durch den Mittelgang in den geheiligten hinteren Teil des Busses, wo sie sich drei Reihen vor Alastair auf einen Sitz fallen ließ. Er lächelte sie an und winkte lässig Amelia zu, die ihm eine Kusshand zuwarf. Sie setzte sich neben Susannah und beugte sich verschwörerisch zur Seite. Der Fahrer schaltete Radio 1 ein, wahrscheinlich, um den Lärm zu übertönen. Es lief ein Hit von Paul Young.

»Also, Italien«, flüsterte Amelia. »Italien war wundervoll. Wir waren in Venedig und Rom und haben alle Museen und Galerien besucht. Mum wollte das so, und danach sind wir shoppen gegangen. Alles war großartig. Venedig ist unglaublich. Spätestens auf meiner Hochzeitsreise werde ich es wiedersehen. Auch Rom war ziemlich cool. Aber der Höhepunkt war die letzte Woche.«

»Wo wart ihr denn letzte Woche?«

Susannah und ihre Brüder waren eine Woche bei ihrer Großmutter in Suffolk gewesen. Danach hatte die ganze Familie eine weitere Woche in einem Ferienhaus im regnerischen und kühlen Pembrokeshire verbracht. Sie war nicht gerade neidisch auf Amelia, hätte aber alles dafür gegeben, diese Orte im Süden selbst einmal zu sehen. Sie wollte nach dem Schulabschluss mit einem Interrail-Ticket auf Reisen gehen, und Amelia hatte gesagt, sie wolle mitkommen. Susannah konnte nicht verstehen, warum sie sich nach den Vier-Sterne-Hotels und luxuriösen Ferienanlagen, an die sie gewöhnt war, mit billigen Pensionen und Privatzimmern zufriedengeben sollte.

»An der Küste bei Amalfi«, antwortete sie. »In Sorrent, der romantischsten Stadt der Welt.«

»Und?«

»Ich habe einen Jungen kennengelernt.« Amelia strahlte.

»Einen Italiener?«

»Einen Engländer. Er heißt Tristan und wohnte mit seinen Eltern in unserem Hotel. Ich bin ihm schon am ersten Abend begegnet. Auch er ist ein Einzelkind, und wir haben beide am Pool gefaulenzt. Ich bin dann schwimmen gegangen, und er kam mir nach und ist ganz zufällig mit mir zusammengestoßen. Wir haben lange miteinander geplaudert. Danach waren wir wie siamesische Zwillinge, als wären wir an den Hüften zusammengewachsen. Wir haben jede Minute zusammen verbracht. Es war so romantisch.«

»Und deine Eltern?«

»Die waren fast nie da. Ich weiß nicht, was in sie gefahren war ‒ sie haben mir noch nie so viel Freiheit gelassen. Vielleicht halten sie mich allmählich für erwachsen. Sie machten ständig Tagesausflüge, nach Capri, dieser Insel vor der Küste von Amalfi, zu den Ruinen von Pompeji unter dem Vulkan. Oder sie saßen bei langweiligen, endlosen Mittagessen, weil sie sich zur heißesten Tageszeit nicht in der Sonne aufhalten wollten. Hast du schon mal so was Lächerliches gehört? Wir waren meistens allein, denn seine Eltern waren auch nicht oft da. Am Pool haben sie sich nicht blicken lassen.«

»Im Gegensatz zu euch beiden?«

»Wenn wir nicht gerade auf seinem Zimmer waren.« Amelia sprach nicht weiter und zwinkerte lasziv.

Susannah schlug sich die Hand vor den Mund. Plötzlich zweifelte sie nicht mehr daran, was ihre Freundin ihr erzählen wollte. »Sag, dass es nicht wahr ist.«

Amelia antwortete nicht sofort. Dann lachte sie triumphierend. »Oh doch, es ist wahr.«

Susannah spürte, wie sie errötete ‒ ganz im Gegensatz zu ihrer Freundin. »Du musst mir alles erzählen.«

»Natürlich werde ich dir nicht alles erzählen.« Amelia versetzte ihr scherzhaft einen Boxhieb gegen den Arm. »Aber ich werde dir erzählen, wie es dazu gekommen ist. Dann wirst du verstehen, warum ich es getan habe. Perfekter hätte es gar nicht laufen können. Ich wollte nicht, dass es beim ersten Mal in einem Auto passiert, hinter einer Hausecke oder auf einer Party, in einer Mansarde, unter ein paar alten Decken … Ich wollte, dass alles vollkommen ist. Und genau so war es.«

»Ich kann’s nicht fassen, dass du das durchgezogen hast.«

»Glaub’s mir, du hättest es an meiner Stelle auch getan.«

Susannah bezweifelte es. Sie konnte es sich nicht einmal vorstellen.

Amelia erzählte weiter. »Also, zunächst war da dieses unglaublich romantische Abendessen auf der Terrasse. Tristan durfte es auf die Rechnung seiner Eltern setzen lassen. Meine Eltern machten einen Ausflug nach Ravello. Sie waren schon den ganzen Tag weg. Keine Ahnung, wo sich seine Eltern herumtrieben. Wahrscheinlich aßen sie irgendwo außerhalb zu Abend. Sie schienen überhaupt kein Interesse an Tristan zu haben. Das Kerzenlicht, es war großartig. Ich war schon ganz braun und trug dieses silbrige Trägerkleid … Du weißt, welches ich meine?«

Susannah nickte.

»Und nach dem Essen … Es ist einfach passiert. Diese Liegestühle am Pool… Wir haben uns geküsst und befingert, und dann hat er mich einfach gefragt, ob ich mit auf sein Zimmer kommen wolle. Ich habe Ja gesagt.«

»Und deine Eltern?«

Amelia machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich habe ihnen eine Notiz hinterlassen. Habe ihnen geschrieben, ich wäre erschöpft, weil ich zu lange in der Sonne gewesen sei … Ich sei früh zu Bett gegangen …«

Susannah war sich sicher, dass ihre Mutter angeklopft und nach ihr gesehen hätte. Bestimmt hätte sie eine Sonnenbrandsalbe und Paracetamol dabeigehabt. Aber ihr hätte ohnehin für eine solche Lüge der Mut gefehlt. Sie hatte sich noch nie getraut, mit einem Jungen auf sein Zimmer zu gehen.

»Du bist komisch, Suze … Meine Eltern waren mir in dieser Situation völlig egal, aber du fragst ausgerechnet danach.«

Sie zog eine Grimasse, und Susannah kam sich ein bisschen töricht vor. »Ich habe noch andere Fragen. Wie war es? Du weißt schon …«

»Da kommen wir der Sache schon näher.« Amelia beugte sich zu Susannahs Ohr vor. »Es war wundervoll«, flüsterte sie.

»Das war’s, wundervoll?«

»Ja, wundervoll. Einfach wundervoll. Es war viel, viel schöner, als ich es mir vorgestellt hatte. Aber mehr erzähle ich nicht.«

Susannah bezweifelte das. Amelia wollte die Story bestimmt nur in die Länge ziehen.

»Wirst du diesen Tristan wiedersehen?«

»Keine Ahnung. Wir haben Adressen und Telefonnummern ausgetauscht. Er ist ein Jahr älter als wir. Seine Eltern wohnen in der Nähe von Lincoln, und er besucht da irgendwo ein Internat. Ja, ich denke schon, dass wir uns vielleicht irgendwann Wiedersehen werden.«

Susannah war ein bisschen geschockt, hätte es aber nie zugegeben. Das klang alles so … beiläufig. Ihre Freundin ‒ noch Jungfrau ‒ hatte einen Jungen kennengelernt und mit ihm geschlafen. Und jetzt wusste sie nicht einmal, ob sie ihn überhaupt Wiedersehen würde. Aber vielleicht tat Amelia auch nur so, als wäre sie daran nicht besonders interessiert.

Amelia lächelte sie gönnerhaft an. »Jetzt hör mal gut zu. Dies ist nicht der Typ, den ich heiraten werde. Er war großartig, wir hatten unseren Spaß. Ich bin glücklich, dass er es war beim ersten Mal. Wie gesagt, es war perfekt. Aber deshalb bin ich nicht gleich eine Schlampe, die es mit jedem treibt. Ich habe das mit dem ersten Mal hinter mich gebracht und alles richtig gemacht.«

Susannah hatte es noch nie so gesehen, dass der Verlust der Jungfräulichkeit etwas war, was man »hinter sich bringen« musste. »Ich dachte, man würde auf jemanden warten, den man wirklich liebt.«

»Da kannst du lange warten. Ich will dich nicht beleidigen, aber du bist wirklich eine sentimentale, altmodische Tante.«

Susannah schnaubte verächtlich. »Du tust geradezu so, als würde ich mir die Kerle gewaltsam vom Hals halten.«

»Das meine ich nicht. Du hast einfach nicht die richtige Ausstrahlung. Du bist hübsch, humorvoll und intelligent, aber auf deiner Stirn steht ›Rühr mich nicht an‹.« Amelia schüttelte den Kopf. »Das kommt nicht gut an.«

Susannah wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Ich glaube nicht, dass da was draufsteht.«

Amelia verschränkte die Arme vor der Brust. »Hast du jemanden geküsst in diesem Sommer?«

»Nein, aber …«

»Nichts aber. Ich habe dazu nichts mehr zu sagen. Du weißt genau, was ich meine. Du bist sechzehn, fast siebzehn, und bisher hat dich noch niemand geküsst, zumindest nicht richtig. Wie fühlt man sich da?«

Susannah hoffte, dass niemand mitgehört hatte. Als sie den Kopf drehte und über die Rückenlehne ihres Sitzes blickte, waren die anderen alle in ihre eigenen Gespräche vertieft. Niemand schenkte ihr auch nur einen Blick.

»Ich habe jetzt eine Mission«, sagte Amelia.

»Was für eine?«

»Ich werde dich dieses Jahr mit einem Typen verkuppeln.«

Susannah prustete verächtlich.

»Was hattest du denn mit Amelia zu tuscheln?« Alastair hatte sie eingeholt. Der Bus war angekommen. Die Schüler stiegen aus und schlurften widerwillig zu ihren Klassenzimmern. Amelia plauderte mit ein paar Mädchen, die sie aus dem Stall kannte, wo ihr Pony stand.

Seit zwei Jahren glaubte Susannah, dass Alastair in ihre beste Freundin verliebt war, auch wenn er selbst das natürlich abstritt. Aber er zeigte einfach ein bisschen mehr Interesse an ihr, wenn sie Besuch von Amelia hatte. Manchmal hätte sie schwören können, dass er sich das Haar gebürstet hatte, wenn er aus seinem Zimmer nach unten kam und wusste, dass sie da war. Selbst Alex war etwas aufgefallen, aber ihre Mutter war ihnen über den Mund gefahren, als sie Alastair hänselten.

Susannah grinste. »Geht dich nichts an.«

»Ging es um mich? Habe ich ihr gefehlt?«

Das sollte witzig sein, doch Susannah wusste es besser. »Wahrscheinlich erinnert sie sich nicht mal an deinen Namen.«

Alastair fasste sich theatralisch ans Herz. »Du tust mir weh, Schwesterchen.«

»Ich wünsche dir einen schönen Tag, Romeo.«

»Ich dir auch, Pummelchen.«

»Weiß jemand etwas über die Entstehungsbedingungen dieser damals neuartigen, im Arbeitermilieu angesiedelten Dramen?«

Niemand antwortete. Natürlich nicht. Was erwartete Mr Blythe in der ersten Stunde eines neuen Schuljahres? Er versucht es eben, dachte Susannah. Sie hatte schon im letzten Jahr Englisch bei ihm gehabt ‒ einige Lehrer unterrichteten in beiden Gebäuden, in der Schule und auf dem College. Sie hatten Der große Gatsby und Othello gelesen. Sie mochte Mr Blythe. Aber er war einer jener Lehrer, die bei den meisten Schülern nicht ankamen und über die man sich lustig machte. Er hatte einen vorspringenden Adamsapfel, eine ständig vom Rasieren gerötete Gesichtshaut und einen entsetzlichen Geschmack, was die Wahl seiner Kleidung betraf. Amelia hatte ihn vor Jahren einmal Ichabod genannt (nach einer Figur von Washington Irving), und der Spitzname war hängen geblieben ‒ auch wenn die meisten Schüler keine Ahnung hatten, woher er stammte. Der arme Mr Blythe. Er liebte die englischsprachige Literatur, daran konnte kein Zweifel bestehen, sah sich aber einer Horde von gelangweilten und desinteressierten Schülern gegenüber, die lieber draußen in der Sonne auf dem Rasen gesessen und sich über sonst was unterhalten hätten.

»Habt ihr das Stück überhaupt gelesen?«

Selbstverständlich hatte Susannah es gelesen, doch selbst ihr fehlte die Lust, die Hand zu heben. Bestimmt wusste Mr Blythe, dass sie den Text kannte, und natürlich wusste sie genau, was ein soziales Drama war. Und sie wusste auch um die historischen Entstehungsbedingungen dieser im Arbeitermilieu angesiedelten Theaterstücke. Aber das wiederum brauchten die anderen nicht zu wissen. Noch nicht zumindest.

Obwohl erst fünf Minuten der Stunde vergangen waren, war Mr Blythe bereits verärgert. Alle hatten das Drama während der Sommerferien lesen sollen ‒ jeder hatte ein Exemplar des Textes bekommen. Das war kein guter Auftakt dieser Doppelstunde.

Die Schüler schlugen den Blick zu Boden, blätterten in ihren Papieren oder spielten mit dem Inhalt ihrer Etuis. Einige Mädchen kramten in ihren Kosmetiktäschchen.

Mr Blythe verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Er schluckte, sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. Dann begann er mit einem Monolog über die »zornigen jungen Männer«, die britischen Dramatiker der späten Neunzehnhundertfünfziger- und frühen Neunzehnhundertsechzigerjahre, denen es um eine neue Form des Realismus ging. Susannah hörte interessiert zu, versuchte aber äußerlich den Eindruck zu vermitteln, als wäre auch sie gelangweilt. Mr Blythe schaute seine Schüler nicht direkt an, während er redete. Sein Blick wirkte wie ins Leere gerichtet. Mittlerweile war er in Fahrt gekommen, und wahrscheinlich würde er mindestens zehn bis fünfzehn Minuten monologisieren, ohne irgendwelche Fragen an seine Schüler zu richten. Die Jugendlichen kritzelten in ihren Heften, gaben sich Tagträumen hin oder flüsterten leise mit ihren Banknachbarn.

Susannah blickte sich um. Das Klassenzimmer befand sich im ersten Stock des neuen Gebäudes. Die Tische waren in Hufeisenform angeordnet, sodass sie jeden sehen konnte. Allerdings waren einige auf ihren Stühlen zusammengesunken und hinter ihren Taschen kaum auszumachen. Neben ihr malte Amelia exotische Blumen auf den Deckel ihres neuen, pinkfarbenen Schnellhefters. Die meisten der rund zwanzig Schüler waren bereits im letzten Jahr in ihrer Klasse gewesen, aber es war schon erstaunlich, wie anders sie ohne die bisher obligatorische Schuluniform aussahen. Diese Uniform machte alle gleich. Jetzt wurden durch die Klamotten, die man trug, soziale Unterschiede offenkundig, und es würde eine Hackordnung entstehen, die es früher nicht gegeben hatte.

Und es gab einen neuen Schüler.

Er war ihr sofort aufgefallen. Er war zwei Minuten zu spät gekommen ‒ wahrscheinlich wusste er nicht genau, wo das Klassenzimmer war ‒ und hatte eine Entschuldigung vor sich hin gemurmelt. Dann hatte er an einem Tisch am Fenster Platz genommen. Er saß aufrecht da, mit unter dem Tisch an den Knöcheln übereinandergeschlagenen Beinen.

Er war unglaublich groß. Das war ihr sofort aufgefallen, als er in den Raum trat. Sehr viel größer als die meisten anderen Schüler und mindestens fünfzehn Zentimeter größer als Ichabod.

Und während der weiter vor sich hin monologisierte, hatte sie Zeit, sich den Neuen genauer anzusehen.

Entgegen der Mode trug er das Haar sehr kurz, was ihr gut gefiel. Für sie waren die ausgehenden Neunzehnhundertachtzigerjahre die Epoche einer stillosen männlichen Frisurenmode. Wenn sie sich umblickte, sah sie Pferdeschwänze und ein paar blond gesträhnte, gegelte Vokuhilas. Sein Haar war dunkelbraun und über den Ohren und im Nacken sehr kurz geschnitten. Auch die Augen waren dunkelbraun. Und er rasierte sich, was an einem Schatten auf seiner Oberlippe und am Kinn deutlich zu erkennen war. Seine Haut war olivfarben. Er sah ein bisschen so aus, als käme er aus einem der Mittelmeerländer, vielleicht aus Spanien … Ihre Mutter hätte ihn für einen halben Schwarzen gehalten. (Sie vermutete, dass ihre Mum ein ganz klein bisschen rassistisch war, konnte es aber nicht mit Sicherheit sagen.) Ihr gefiel seine Hautfarbe sehr. Und er war wirklich stattlich. Viele der Jungs in der Klasse waren immer noch dünne, schlaksige Teenager. Er nicht. Er war … männlicher. Der bloße Gedanke ließ sie erröten. Männlich, das war ein Wort, das in Trivialromanen inflationär gebraucht wurde.

Sie hob den Kopf und bemerkte, dass er sie direkt anblickte. Sie wurde bestimmt noch röter, denn er lächelte sie an. Sein Lächeln war sympathisch und ein bisschen schief. Er zog eine Augenbraue hoch, und Susannah blickte auf ihren Text. Ihr Atem ging schnell, und sie wusste nicht, warum.

Nach dem Ende der endlosen Doppelstunde blieb sie sitzen, bis fast alle anderen zum Mittagessen gegangen waren. Sie starrte auf den Inhalt ihrer Tasche und sah seine Füße, als er auf sie zukam, kurz vor ihrem Tisch stehen blieb und dann das Klassenzimmer verließ.

Kapitel 2:2010

Rob stand hinter Lois und lächelte sie schüchtern an. Dasselbe etwas schiefe Lächeln wie damals, das seine Zähne nicht entblößte.

»Hallo, Susie.«