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Eine fesselnde Reportage aus dem Innersten des Vatikan: Der französische Journalist Frédéric Martel beschreibt, wie katholische Priester, Kardinäle und Bischöfe die rigide, homophobe Sexualmoral verteidigen. Obwohl die meisten von ihnen selbst homosexuell sind. Warum diese Doppelmoral? Warum wird so hartnäckig geschwiegen, warum wird gegen Papst Franziskus intrigiert, den ersten Papst, der homophobe Positionen lockern will? Dahinter steckt ein weltweiter Machtzirkel homosexueller Priester und Würdenträger, die sich selbst als die »Gemeinde« bezeichnen. Sie verhindern jede Liberalisierung, um ihr Doppelleben zu schützen: Ob es um Kondome geht, um die gleichgeschlechtliche Ehe oder die wichtigste Bastion: das Zölibat. Auch das Schweigen über sexuellen Missbrauch ist Teil dieses Systems. Ein Buch, mit dem Martel die Geschichte des Vatikans seit den 1970er Jahren neu schreibt. Er zeigt die Pontifikate von Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus in gänzlich anderem Licht. Grandios geschrieben, hautnah, spannend wie ein Roman über Macht und Intrigen im Vatikan.
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Seitenzahl: 940
Frédéric Martel
Sodom
Macht, Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan
Aus dem Französischen von Katja Hald, Elsbeth Ranke, Eva Scharenberg und Anne Thomas
FISCHER E-Books
Sodom wurde in etwa 20 Sprachen und rund 40 Ländern veröffentlicht. Der französische Herausgeber ist Jean-Luc Barré.
Dieses Buch stützt sich auf eine Vielzahl von Quellen. Im Zuge der mehr als vierjährigen Recherche wurden fast 1500 Personen im Vatikan und 30 Ländern befragt – unter ihnen 41 Kardinäle, 52 Bischöfe und Monsignori, 45 Apostolische Nuntien und ausländische Botschafter und mehr als 200 Priester und Seminaristen. Alle Interviews wurden persönlich geführt (keines per Telefon oder E-Mail). Zu diesen Quellen kommt eine umfangreiche Bibliographie von mehr als tausend Verweisen, Büchern und Artikeln. Schließlich wurde ein Team von 80 »Researchern«, Korrespondenten, Beratern, Übersetzern und Dolmetschern eingesetzt, um die Recherchen in den 30 Ländern zu komplettieren.
Die Gesamtheit der Quellen, die Notizen, die Bibliographie, das Researcher-Team und drei unveröffentlichte Kapitel, die hier den Rahmen sprengen würden, wurden zu einem dreihundertseitigen Dokument zusammengefasst, das online zugänglich ist.
Dieser Codex von »Sodom« ist online verfügbar: www.sodoma.fr. Aktualisierungen werden außerdem unter dem Hashtag »sodoma« auf der Facebook-Seite des Autors: @fredericmartel, auf dem Instagram-Account: @martelfrederic und auf Twitter veröffentlicht: @martelf.
»Er gehört der Gemeinde an«, flüstert mir der Prälat verschwörerisch ins Ohr.
Der erste, der mir gegenüber diesen codierten Ausdruck benutzt hat, ist ein Erzbischof der Römischen Kurie.
»Wissen Sie, er ist sehr aktiv. Er gehört der Gemeinde an«, betont er leise, als er mir von dem Lebenswandel eines berühmten Kardinals erzählt, einem ehemaligen »Minister« unter Johannes Paul II. Wir kennen ihn beide gut.
Er fügt hinzu:
»Und wenn ich Ihnen erzählen würde, was ich weiß, würden Sie es nicht glauben!«
Und natürlich hat er es mir erzählt.
Jener Erzbischof wird uns in diesem Buch mehr als einmal begegnen – er ist der erste einer langen Prozession von Geistlichen, die mir jene Realität beschrieben haben, die ich vermutet hatte, die viele aber für Fiktion halten werden. Ein Märchen.
»Das Problem ist, man wird Ihnen nicht glauben, wenn Sie die Wahrheit über den ›Schrank‹ und die besonderen Freundschaften im Vatikan aussprechen. Man wird sagen, Sie hätten alles erfunden. Denn hier übertrifft die Realität die Fiktion«, vertraute mir ein Franziskanerpriester an, der ebenfalls seit mehr als dreißig Jahren im Vatikan lebt und arbeitet.
Dennoch haben mir viele diesen »Schrank« (vom englischen coming out of the closet für sich outen) beschrieben. Manche hatten Hemmungen, sorgten sich, was ich preisgeben würde. Andere raunten mir Geheimnisse zu und später Skandale. Wieder andere zeigten sich gesprächig, äußerst gesprächig, als hätten sie all diese Jahre darauf gewartet, das Schweigen endlich brechen zu können. Etwa vierzig Kardinäle und hundert Bischöfe, Monsignori, Priester und »Nuntien« (päpstliche Botschafter) erklärten sich zu einem Treffen bereit. Die bekennenden Homosexuellen unter ihnen – jeden Tag präsent im Vatikan – führten mich in ihre Welt der Eingeweihten ein.
Offene Geheimnisse? Gerüchte? Verleumdung? Ich bin wie der heilige Thomas: Ich muss sehen, um zu glauben. Also forschte ich eingehend und tauchte in die Kirche ein. Jeweils eine Woche pro Monat lebte ich in Rom und – dank der gastfreundlichen hohen Prälaten, die, wie sich manchmal herausstellte, selbst »der Gemeinde« angehörten – sogar regelmäßig innerhalb des Vatikans. Darüber hinaus reiste ich in mehr als dreißig Länder, traf Kleriker aus Lateinamerika, Asien, den Vereinigten Staaten und dem Mittleren Osten, um mehr als tausend Zeugenaussagen zusammenzutragen. Hundertfünfzig Nächte verbrachte ich jedes Jahr schreibend, weit weg von zu Hause, weit weg von Paris.
Nicht ein einziges Mal während dieser vierjährigen Ermittlung habe ich verschwiegen, dass ich Schriftsteller, Journalist und Wissenschaftler bin, als ich an teilweise unzugängliche Kardinäle und Priester herantrat. Alle Gespräche haben unter meinem richtigen Namen stattgefunden, und mein Gegenüber brauchte nicht mehr zu tun, als meinen Namen bei Google, Wikipedia, Facebook oder Twitter einzugeben, um meine detaillierte Biographie als Autor und Reporter einzusehen. Oft baggerten mich diese Prälaten diskret an. Berufsrisiko!
Warum willigten jene, die für gewöhnlich schweigen, ein, die Omertà zu brechen? Das ist eines der Mysterien dieses Buches und der Grund, warum ich es geschrieben habe.
Was sie mir erzählten, war lange Zeit unaussprechlich. Ein solches Buch wäre vor zwanzig, ja selbst vor zehn Jahren schwer zu veröffentlichen gewesen. Lange war, wenn ich so sagen darf, der Verkehr auf den Wegen des Herrn gesperrt. Heutzutage gibt es zumindest etwas Bewegung, da die Emeritierung Benedikts XVI. und der Reformwille dazu beitragen, die Zungen zu lösen. Dank der sozialen Netzwerke, der mutigeren Presse und der unzähligen kirchlichen »Sitten«-Skandale ist es möglich und notwendig, das Geheimnis heute preiszugeben. Dieses Buch nimmt daher nicht die Kirche in ihrer Gesamtheit ins Visier, sondern ein sehr besonderes »Genre« der Schwulengemeinde: Es erzählt die Geschichte der Mehrheit des Kardinalskollegiums und des Vatikans.
Viele Kardinäle und Prälaten, die in der Römischen Kurie ein Amt innehaben, die meisten, die im Konklave unter den von Michelangelo gemalten Fresken der Sixtinischen Kapelle zusammenkommen – eine der grandiosesten Szenen schwuler Kultur, voller viriler, von Ignudi, diesen strammen, entblößten Epheben, umringter Körper –, teilen dieselben »Neigungen«. Sie haben eine »Familienähnlichkeit«. Mit einer Anspielung, die zu einer Disco-Queen gepasst hätte, flüsterte ein Priester mir zu: »We are family!«
Die meisten Monsignori, die zwischen den Pontifikaten von Paul VI. und Franziskus auf den Balkon der Loggia des Peterdoms traten, um traurig den Tod (oder Rücktritt) des Papstes zu verkünden oder mit herzlicher Fröhlichkeit Habemus papam! zu rufen, teilen das gleiche Geheimnis. È bianca!
»Aktiv«, »homophil«, »eingeweiht«, »unstraight«, »mondän«, »kapriziös«, »questioning«, »ungeoutet« oder einfach »Schrankbruder«: Die Welt, die ich hier entdecke – mit ihren »fifty shades of gay«, übersteigt jede Vorstellungskraft. Die intimen Geschichten dieser Männer, die nach außen hin einen frommen Eindruck machen, im Privaten aber ein anderes Leben führen, also zwei völlig gegensätzliche Leben haben, bilden ein schwer aufzudröselndes Gewirr. Wohl noch nie war der Schein einer Institution so trügerisch, und ebenso trügerisch sind auch die Bekenntnisse zum Zölibat und die Keuschheitsgelübde, hinter denen sich eine ganz andere Wirklichkeit verbirgt.
Das bestgehütete Geheimnis des Vatikans ist für Papst Franziskus kein Geheimnis. Er kennt seine »andere Gemeinde«. Seit er in Rom ist, weiß er, dass er es mit einer ziemlich außergewöhnlichen Korporation zu tun hat, die sich nicht, wie lange angenommen, auf ein paar verlorene Schafe beschränkt. Es handelt sich um ein System – eine ziemlich große Schafherde. Wie viele es sind? Spielt keine Rolle. Halten wir einfach fest: Sie machen die große Mehrheit aus.
Anfangs war der Papst angesichts der Dimension dieser »verleumderischen Kolonie« mit ihren »reizende[n] Qualitäten« und ihren »unerträgliche[n] Makel[n]«, wie der französische Schriftsteller Marcel Proust in seinem berühmten Sodom und Gomorrha schreibt, natürlich überrascht. Aber was Franziskus kaum erträgt, ist weniger diese so weit verbreitete Homophilie als vielmehr die schwindelerregende Scheinheiligkeit derer, die eine engstirnige Moral predigen, während sie einen Lebensgefährten haben oder Abenteuer und sich manchmal auch Escorts gönnen. Das ist also der Grund, warum er rastlos die Frömmler geißelt, die unehrlichen Eiferer, die Heuchler. Diese Doppelzüngigkeit, diese Schizophrenie hat Franziskus oft in seinen morgendlichen Homilien in Santa Marta kritisiert. Und eine seiner Formulierungen verdient es, diesem Buch als Motto vorangestellt zu werden: »Hinter der Strenge versteckt sich immer etwas; häufig ein Doppelleben.«
Doppelleben? Die Katze ist aus dem Sack und der Zeuge dieses Mal glaubwürdig. Franziskus wiederholte seine Kritik an der Römischen Kurie unermüdlich: Er zeigte mit dem Finger auf die »Heuchler«, die »versteckte und oftmals lasterhafte Leben« führen, jene, die »ihre Seele« »schminken« und unter einem »Make-up leben«, die zum System erhobene »Lüge«, die so sehr schadet, »die Heuchelei schadet so sehr: das ist eine Lebensart«. Tut, was ich euch sage, und nicht, was ich tue!
Ich muss wohl nicht sagen, dass Franziskus genau wusste, an wen er sich hier wandte, ohne sie namentlich zu nennen: Kardinäle, Päpstliche Zeremonienmeister, ehemalige Staatssekretäre, Substitute, Minutanten oder Kardinalkämmerer. In den meisten Fällen handelt es sich nicht nur um eine diffuse Veranlagung, eine Fluidität, um Homophilie oder eine »Neigung«, wie man zu der Zeit sagte, nicht einmal um unterdrückte oder sublimierte Sexualität – was alles in der Kirche Roms ebenso häufig anzutreffen ist. Viele der Kardinäle, die, »obwohl vollblütig, den Frauen nicht zugetan sind!«, wie Der Dichter (Rimbaud) sagt, sind praktizierend. Wie umständlich ich so etwas Simples ausdrücke! Etwas, das früher so anstößig war, und heutzutage so banal geworden ist!
Praktizierend, ja, aber noch »im Schrank«. Denken Sie nur an den Kardinal, der in der Öffentlichkeit auf dem Balkon der Loggia auftritt und den ein rasch vertuschter Prostitutionsskandal eingeholt hat; oder den französischen Kardinal, der lange Jahre einen anglikanischen Geliebten in Amerika hatte; oder den, der in seiner Jugend Abenteuer aneinanderreihte wie eine Nonne die Perlen ihres Rosenkranzes – und nicht zu vergessen jene, die ich im Apostolischen Palast traf und die mir ihren Lebensgefährten als Assistenten, Minutanten, Substituten, Chauffeur, Kammerdiener, Faktotum, ja sogar Leibwächter vorgestellt haben!
Der Vatikan ist eine der größten homosexuellen Communitys der Welt, und ich bezweifle, dass es selbst im Castro in San Francisco, diesem symbolträchtigen, wenn heutzutage auch eher gemischten Lesben- und Schwulenviertel, so viele Homosexuelle gibt!
Bei den sehr alten Kardinälen ist der Grund für die Geheimhaltung in der Vergangenheit zu suchen: Ihre stürmische Jugend und frivolen Jahre liegen vor der Zeit der Schwulenbewegung, was ihr Doppelleben und ihre vorsintflutliche Homophobie erklärt. Oft hatte ich bei meiner Recherche den Eindruck, eine Reise in die Vergangenheit zu machen – in die 1930er- oder 1950er-Jahre, die ich zwar nicht erlebt habe, doch muss damals die Doppelmentalität des erwählten Volks und des verfluchten Volks geherrscht haben, die einen Priester, den ich oft getroffen habe, sagen ließ: »Benvenuto a Sodoma!« (»Willkommen in Sodom!«)
Ich bin nicht der Erste, der dieses Phänomen thematisiert. Viele Journalisten haben bereits Skandale und Affären innerhalb der Römischen Kurie aufgedeckt. Aber das ist nicht mein Thema. Anders als diese Vatikanjournalisten, die einzelne »Entgleisungen« anprangern, dabei aber das »System« außer Acht lassen, sollten wir uns weniger den hässlichen Episoden als vielmehr dem sehr banalen Doppelleben der meisten kirchlichen Würdenträger widmen. Nicht den Ausnahmen, sondern dem System und Modell, dem Muster (pattern), wie die amerikanischen Soziologen sagen. Persönliche Umstände interessieren mich eher weniger, was wichtig ist, ist der Regelfall, die kollektive Psychologie, die allgemeine Homosozialität. Natürlich Details, aber auch die großen Prinzipien – und wie wir sehen werden, finden sich vierzehn allgemeine Regeln in diesem Buch. Das Thema ist: die intime Gemeinschaft von Priestern, ihre Verletzlichkeit, das mit dem erzwungenen Zölibat verbundene Leid, das zum System geworden ist. Es geht also nicht darum, diese Homosexuellen zu verurteilen – auch die Closet Cases nicht, denn ich mag sie! –, sondern darum, ihr Geheimnis und ihre gemeinsame Lebensform zu verstehen. Es ist nicht meine Absicht, diese Männer zu kritisieren oder sie zu Lebzeiten zu outen. Mein Konzept ist nicht das name and shame, jene amerikanische Praxis, bei der Namen veröffentlicht werden, um Menschen bloßzustellen. Ich möchte ganz klar sagen, dass ein Priester oder ein Kardinal sich in meinen Augen überhaupt nicht schämen sollte, homosexuell zu sein. Ich finde sogar, es sollte ein potentieller Sozialstatus sein.
Doch ist es notwendig, ein System zu entlarven, bei dem das homosexuelle Doppelleben mit einer äußerst atemberaubenden Homophobie gepaart ist, und zwar von den kleinsten Seminaren bis hin zum Allerheiligsten – dem Kardinalskollegium. Fünfzig Jahre nach Stonewall, der Homosexuellenrevolution in den Vereinigten Staaten, ist der Vatikan die letzte zu befreiende Bastion! Viele Katholiken ahnen die Lüge inzwischen, auch wenn sie nie die Möglichkeit hatten, eine Beschreibung von Sodom zu lesen.
Ohne dieses Lektüreraster bleibt die jüngste Geschichte des Vatikans und der römischen Kirche jedoch undurchsichtig. Wenn wir ihre gigantische homosexuelle Dimension verkennen, bringen wir uns um einen der Schlüssel zu einem tieferen Verständnis der meisten Komponenten, die die Geschichte des heiligen Stuhls seit Jahrzehnten prägen: die heimlichen Beweggründe, die Paul VI. dazu gebracht haben, das Verbot künstlicher Empfängnisverhütung zu bekräftigen, die Ablehnung des Kondoms und die strikte Verpflichtung zum Priesterzölibat; die Bekämpfung der »Befreiungstheologie«, die Affären der Vatikanbank zu Zeiten des berühmten, übrigens ebenfalls homosexuellen Erzbischofs Marcinkus; die Entscheidung, das Kondom als Mittel im Kampf gegen Aids zu verbieten – und das, obwohl die Pandemie 35 Millionen Tote fordern würde-; die Skandale Vatileaks 1.0 und 2.0; die häufige und oft bodenlose Frauenfeindlichkeit vieler Kardinäle und Bischöfe, die in einem Umfeld ohne Frauen leben; die Abdankung Benedikts XVI.; die aktuelle Revolte gegen Papst Franziskus … Jedes Mal spielt die Homosexualität eine zentrale Rolle, was viele zwar ahnen, was jedoch nie wirklich ausgesprochen wird.
Die schwule Dimension erklärt natürlich nicht alles, aber sie ist ein entscheidender Lektüreschlüssel für jeden, der den Vatikan und seine moralischen Grundeinstellungen verstehen will. Genauso ist anzunehmen – auch wenn das nicht Gegenstand dieses Buches ist –, dass der Lesbianismus ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis des klösterlichen Lebens von Schwestern und Nonnen ist, unerheblich ob Ordensgemeinschaft oder nicht. Schließlich ist die Homosexualität leider auch eine der Erklärungen für die institutionalisierten Vertuschungen von Sexualverbrechen und -vergehen, die inzwischen in die zehntausende gehen. Warum? Wie? Weil durch die »Kultur der Geheimhaltung«, die nötig war, um den großen Einfluss der Homosexualität in der Kirche zu verschleiern, sexuelle Missbräuche vertuscht werden und Täter von diesem Schutzsystem in der Institution profitieren konnten. Allerdings ist Pädophilie nicht Thema dieses Buches.
»Wie viel Schmutz gibt es in der Kirche«, sagte Kardinal Ratzinger, als sich ihm seinerseits die Relevanz des »Schranks« anhand eines geheimen Berichts dreier Kardinäle erschloss. Er war einer der Hauptgründe für seinen Rücktritt. Sein Inhalt wurde mir wiedergegeben: Dieser Bericht stelle weniger die Existenz einer sogenannten »Schwulenlobby« in den Fokus als die Allgegenwart von Homosexuellen im Vatikan, die zum System gewordene Erpressung und Belästigung. Es ist, wie Hamlet sagen würde, »etwas faul im Staate« Vatikan.
Die homosexuelle Soziologie des Katholizismus erklärt auch das Ende der Berufungen zum Priestertum. Wie wir sehen werden, hatten sich junge Italiener, die entdeckten, dass sie homosexuell waren, oder Zweifel an ihrer Sexualität hatten, lange ins Priestertum geflüchtet. So wurden diese Parias zu Eingeweihten. Sie machten eine Schwäche zu einer Stärke. Mit der homosexuellen Befreiung der 1970er-Jahre und der schwulen Sozialisierung der 1980er-Jahre gingen die katholischen Berufungen automatisch zurück. Heutzutage würde es einem homosexuellen Jugendlichen, selbst in Italien, nicht einfallen, einem Orden beizutreten. Das Ende der Berufungen hat vielfältige Ursachen, aber die homosexuelle Revolution ist paradoxerweise eine der zentralsten.
Diese Matrix erklärt letztendlich den Krieg gegen Franziskus. Um ihn nachvollziehen zu können, müssen wir hier kontraintuitiv vorgehen. Der lateinamerikanische Papst benutzte als Erster das Wort »schwul« – nicht nur das Wort »homosexuell« –, und wenn wir ihn mit seinen Vorgängern vergleichen, ist er wohl der Pontifex maximus der Moderne, der sich am meisten schwulenfreundlich zeigt. Er fand für die Homosexualität gleichermaßen magische wie taktische Worte: »Wer bin ich, dass ich urteile?« Und wir können davon ausgehen, dass der Papst wahrscheinlich weder jene Veranlagungen noch Neigungen hat, die vier seiner jüngsten Vorgänger nachgesagt werden. Dennoch steht Franziskus heute gerade wegen seiner vermeintlichen Liberalität in Fragen der Sexualmoral im Kreuzfeuer einer aggressiven Offensive der konservativen Kardinäle, die äußerst homophob – und mehrheitlich zugleich heimlich homophil sind.
Eine verkehrte Welt gewissermaßen! Man könnte sogar eine ungeschriebene Regel formulieren, die sich in Sodom fast immer bewahrheitet: Je homopohober ein Prälat ist, desto wahrscheinlicher ist er selbst homosexuell. Diese Konservativen, diese Traditionalisten, diese dubia sind oft die berühmten »Rigiden mit einem Doppelleben«, von denen Franziskus so oft spricht.
»Der Karneval ist vorbei«, soll der Papst bei seiner Wahl zu seinem Zeremonienmeister gesagt haben. Seitdem durchkreuzt der Argentinier die Spielchen des heimlichen Einverständnisses und die homosexuelle Brüderlichkeit, die sich unter Paul VI. in aller Stille eingebürgert und unter Johannes Paul II. zugenommen hatten, bevor sie unter Benedikt XVI. ausgeartet sind und ihm zum Verhängnis wurden. Mit seiner ruhigen Art und seiner entspannten Einstellung gegenüber Sexualität fällt Franziskus aus dem Rahmen. Er gehört nicht der Gemeinde an!
Haben der Papst und seine liberalen Theologen eingesehen, dass das Priesterzölibat jämmerlich gescheitert ist? Dass es eine Fiktion ist, die es in der Realität so gut wie nicht gibt? Haben sie geahnt, dass die von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. geführte vatikanische Schlacht gegen die Schwulen von vorneherein verloren war? Ein Krieg, der nach hinten losgehen würde, gegen die Kirche, nun, da sich jeder der tatsächlichen Motive bewusst wird: ein Krieg, den ungeoutete Homosexuelle den geouteten erklärt haben! Mit anderen Worten, ein Krieg zwischen Schwulen.
Der in diese Klatschgemeinschaft geratene Franziskus ist jedoch gut informiert. Seine Assistenten, seine nächsten Mitarbeiter, seine Zeremonienmeister und anderen Liturgieexperten, seine Theologen und Kardinäle – hier sind die Schwulen ebenfalls Legion – wissen, dass die Homosexualität im Vatikan viele Berufene und viele Erwählte betrifft. Als ich sie befrage, deuten sie sogar an, die Kirche sei durch das Eheverbot für die Priester soziologisch homosexuell geworden; und durch die Vorschrift einer widernatürlichen Enthaltsamkeit und einer Kultur der Geheimhaltung sei die Kirche mitverantwortlich für Zehntausende sexuelle Missbräuche, die sie von innen aushöhlen. Sie wissen auch, dass der Sexualtrieb, und vor allem der homosexuelle Trieb, einer der Hauptstimuli und Hauptbeweggründe des vatikanischen Lebens ist.
Franziskus weiß, dass er dafür sorgen muss, dass sich die Positionen der Kirche ändern, und dass dies nur möglich ist, wenn all jene gnadenlos bekämpft werden, die die Sexualmoral und Homophobie benutzen, um ihre Scheinheiligkeit und ihr Doppelleben zu vertuschen. Aber die Sache ist die: Die heimlichen Homosexuellen sind in der Mehrheit, mächtig und einflussreich, und sie tun, jedenfalls die »rigidesten«, ihre homophoben Positionen lautstark kund.
Soviel also zum Papst. Er residiert mittlerweile in Sodom. Bedroht, angegriffen von allen Seiten, kritisiert, lebt Franziskus, wie gesagt wurde, »unter Wölfen«.
Doch das trifft es nicht ganz: Eigentlich lebt er unter Tunten.
»Guten Abend«, sagte die Stimme. »Ich wollte Ihnen danken.«
Francesco Lepore mimt mit Daumen und kleinem Finger einen Telefonhörer. Er hat gerade abgenommen und wirkt auf einmal ebenso wichtig wie die Worte seines mysteriösen Gesprächspartners, der mit einem starken Akzent Italienisch spricht. Lepore erinnert sich an alle Einzelheiten des Gesprächs:
»Das war am 15. Oktober 2013 gegen 16.45 Uhr, ich kann mich noch gut daran erinnern. Ein paar Tage zuvor war mein Vater gestorben, und ich fühlte mich einsam und verlassen. Da hat mein Handy geklingelt. Mit unterdrückter Nummer. Ich gehe ran und sage automatisch:
›Pronto‹. Die Stimme fährt fort. ›Buona sera! Hier ist Papst Franziskus. Ich habe Ihr Schreiben bekommen. Kardinal Farina hat es an mich weitergeleitet, und ich wollte Ihnen sagen, wie sehr mich Ihr Mut berührt hat, und wie sehr mich die Kohärenz und die Ehrlichkeit Ihres Briefes angesprochen haben.‹
›Heiliger Vater, ich bin es, der gerührt ist; dass Sie sich die Mühe gemacht haben, mich extra anzurufen. Das war nicht nötig. Ich wollte Ihnen einfach nur schreiben.‹
›Doch, doch‹, beharrt Franziskus, ›Ihre Ehrlichkeit, Ihr Mut haben mich berührt. Ich weiß nicht, was ich jetzt für Sie tun kann, aber ich würde Ihnen gerne helfen.‹«
Francesco Lepore versagt vor Verblüffung über den unerwarteten Anruf fast die Stimme, er zögert. Nach kurzer Stille fährt der Papst fort:
»Darf ich Sie um etwas bitten?«
»Worum?«
»Würden Sie für mich beten?«
Francesco Lepore schweigt.
»Ich habe ihm schließlich gesagt, dass ich nicht mehr bete. Aber dass er für mich beten kann, wenn er will«, erzählt Lepore.
Franziskus erklärt, dass er bereits für ihn betet, und fragt:
»Darf ich Sie segnen?«
»Diese Frage des Papstes habe ich natürlich bejaht. Danach gab es eine kurze Stille, er hat mir noch einmal gedankt, und so endete das Gespräch.«
Nach einem kurzen Moment sagt Lepore:
»Wissen Sie, ich bin nicht unbedingt ein Freund dieses Papstes. Ich habe Franziskus nie groß verteidigt, aber seine Geste war wirklich rührend. Ich habe das noch nie jemandem erzählt, habe es für mich behalten, wie ein Geheimnis, etwas Schönes. Ich erzähle es zum ersten Mal.« (Kardinal Farina, den ich zweimal in seiner Wohnung im Vatikan interviewt habe, hat mir bestätigt, dass er Lepores Brief an den Papst weitergegeben und der Anruf stattgefunden hat.)
Zum Zeitpunkt des Anrufs befindet sich Francesco Lepore gerade im offenen Bruch mit der Kirche. Er hat gekündigt und wurde »laisiert«, wie es so schön heißt. Der Priester und Intellektuelle, Stolz der Kardinäle im Vatikan, hat die Soutane an den Nagel gehängt. Er hat Franziskus einen Brief geschrieben, auf gut Glück, aus seinem Schmerz heraus, hat die Geschichte eines homosexuellen Priesters erzählt, der Lateinübersetzer des Papstes wurde. Seine Geschichte. Um endlich abzuschließen. Damit sein Leben endlich wieder stimmt, um die Heuchelei zu beenden. Damit hat er alle Brücken hinter sich abgebrochen.
Dieser Anruf von höchster Stelle konfrontiert ihn allerdings unerbittlich mit seiner Vergangenheit, die er vergessen, einem Kapitel, das er abschließen wollte: Dazu gehören seine Liebe zum Latein und zum Priesteramt; seinen Eintritt ins Seminar; seine Priesterweihe; sein Leben im Gästehaus Santa Marta; seine speziellen Freundschaften mit (unzähligen) Bischöfen und Kardinälen; die endlosen Gespräche über Christus und Homosexualität unter Priestern, manchmal auf Latein.
Verlorene Illusionen? Zweifellos. Er war rasch aufgestiegen: ein junger Priester, der bei den angesehensten Kardinälen und schließlich sogar bei den letzten drei Päpsten Dienst tat. Man hatte Großes mit ihm vor; man versprach ihm eine Karriere im Apostolischen Palast, vielleicht ein Bischofsamt, oder gar die purpurne Kardinalswürde!
Das war vor seiner Entscheidung. Francesco stand vor der Wahl: Vatikan oder Homosexualität – und im Gegensatz zu vielen Priestern und Kardinälen, die ein Doppelleben führen, wollte er mit sich selbst im Reinen sein und hat sich für die Freiheit entschieden. Franziskus hat bei jenem Telefonat nicht direkt das Thema Sexualität angesprochen, aber es ist eindeutig Lepores Ehrlichkeit zu verdanken, dass ihn der Papst persönlich angerufen hat.
»Meine Geschichte schien ihn anzusprechen, und vielleicht auch, dass ich gewisse Praktiken des Vatikans aufdeckte, wie unmenschlich meine Vorgesetzten mich behandelten; es gibt so etwas wie das Recht der ersten Nacht und viele Gönner. Und wie sie mich fallengelassen haben, sobald ich kein Priester mehr war.«
Es ist bezeichnend, dass Franziskus Francesco Lepore explizit für seine »Diskretion« dankt, was sein Schwulsein angeht, für eine Art »Demut«, »im Geheimen«, anstatt eines aufsehenerregenden öffentlichen Coming out (der gewiefte Papst bietet indirekt an, eine neue Arbeit für ihn zu finden).
Einige Zeit später macht Monsignore Krzysztof Charamsa, ein Prälat aus dem Kreis um Kardinal Ratzinger, den Mund auf, und sein äußerst mediatisiertes Coming out hat eine heftige Reaktion des Vatikans zur Folge. Auf einen Anruf des Papstes kann er lange warten!
An diesem Beispiel wird das ungeschriebene Gesetz von Sodom deutlich: Wer zum Vatikan gehören will, sollte besser die »Schrankregel« der Ungeouteten befolgen: homosexuelle Priester und Bischöfe tolerieren, die Situation gegebenenfalls genießen, aber alles im stillen Kämmerlein. Toleranz und Diskretion gehen Hand in Hand. Es erinnert an Al Pacino in Der Pate: »Don’t ever take sides against the family«.
Im Laufe meiner umfangreichen Nachforschungen sollte ich feststellen, dass Schwulsein im Klerus beinahe der Norm entspricht. Ein nicht zu überschreitendes Tabu ist die Mediatisierung oder das öffentliche Engagement. In der katholischen Kirche ist Schwulsein leicht, banal, manchmal sogar erwünscht; doch öffentliche Stellungnahmen und Sichtbarkeit sind verboten. Wer diskret schwul ist, gehört zur »Gemeinde«; wer einen Skandal provoziert, kickt sich selbst ins Abseits und wird ausgeschlossen.
Mit Blick auf diese »Regel« wird einem die volle Tragweite von Franziskus’ Anruf erst bewusst.
Ich bin Lepore ganz zu Anfang meiner Recherchen begegnet. Vor dem Brief und dem Anruf. Dieser von Berufs wegen stille Mann – er ist der diskrete Übersetzer des heiligen Vaters – hat zugestimmt, offen mit mir zu reden. Ich hatte damals nur wenige Kontakte im Vatikan. Francesco Lepore war einer meiner ersten schwulen Priester, einer von über zehn. Ich hätte nie gedacht, dass anschließend so viele Prälaten des heiligen Stuhls die Beichte ablegen würden.
Warum reden sie? Ganz Rom vertraut sich mir an, Priester, Schweizer Gardisten, Bischöfe, die unzähligen Monsignori und, mehr als alle anderen, Kardinäle. Richtige Plaudertaschen! All die Eminenzen und Exzellenzen sind äußerst gesprächig, wenn man sie zu nehmen weiß, geradezu geschwätzig, in jedem Fall aber unvorsichtig. Jeder hat seine Gründe: Manche reden aus Überzeugung, um in dem verbissenen ideologischen Kampf Stellung zu beziehen, der sich mittlerweile im Vatikan zwischen Traditionalisten und Liberalen abspielt; andere aus Machthunger und, nennen wir das Kind beim Namen, Eitelkeit. Manche reden, weil sie selbst schwul sind und alles über die anderen ausplaudern wollen, anstatt von sich zu sprechen. Und schließlich gibt es jene, die sich aus Verbitterung darüber auslassen oder weil sie gern lästern und tratschen. Alte Kardinäle, die von Gerede und Verleumdung leben. Sie erinnern an die Stammgäste verrufener homophiler Clubs der 1950er-Jahre, wie sie sich weltmännisch und mit gehässiger Grausamkeit über alle lustig machten, weil sie selbst nicht zu ihrer Sexualität stehen konnten. Im »Schrank« der Ungeouteten, hinter verschlossenen Türen, erwartet man Grausamkeit am wenigsten.
Francesco Lepore wollte da raus. Er hat mir von Anfang an seinen echten Namen genannt und war einverstanden, dass ich unsere Gespräche aufzeichne und veröffentliche.
Bei unserem ersten Treffen in Rom, das Pasquale Quaranta, ein gemeinsamer Freund und Journalist bei La Repubblica, organisiert hatte, kam Lepore aufgrund der ewigen Streiks ein wenig zu spät zum Restaurant Eataly an der Piazza della Repubblica. Ich hatte das Eataly ausgesucht, weil es ziemlich verschwiegen außerhalb des Vatikans liegt, so dass man sich ungestört unterhalten kann. Oft, beinahe monatlich, haben wir uns zu langen Gesprächen und Spaghetti all’amatriciana getroffen. Und jedes Mal wurde der ehemalige Priester plötzlich ganz lebhaft.
Auf dem alten, etwas vergilbten Foto springt einem der kreideweiße Piuskragen auf der schwarzen Soutane ins Auge: Francesco Lepore, nachdem er gerade zum Priester geweiht worden war. Er hat kurze Haare, ist ordentlich gekämmt und glatt rasiert; genau das Gegenteil von heute, jetzt trägt er einen Vollbart und Glatze. Ist es derselbe Mann? Der verkappte Priester und der bekennende Schwule – zwei Gesichter einer Realität.
»Ich wurde in Benevento geboren, in Kampanien, nördlich von Neapel«, erzählt Lepore. »Meine Eltern waren katholisch, aber praktizierten den Glauben nicht. Sehr früh spürte ich eine tiefe religiöse Anziehungskraft. Ich mochte Kirchen.«
Viele der interviewten schwulen Priester haben von dieser »Anziehungskraft« gesprochen. Eine mysteriöse Suche nach der Gnade. Faszination für die Sakramente, die Pracht des Tabernakels, den doppelten Vorhang, das Altarziborium und die Monstranz. Der Zauber der Beichtstühle, jene phantastischen Kabinen, märchenhaft, weil ihnen ein Versprechen innewohnt. Prozessionen, Andachten, Banner. Auch die bunten Habite, Talar, Soutane, Albe, Stola. Der Wunsch, das Geheimnis der Sakristeien zu durchdringen. Und dann die Musik: die gesungene Vesper, die Männerstimmen und der Klang der Orgel. Und die Betstühle nicht zu vergessen!
Viele haben außerdem in der Kirche so etwas wie eine »zweite Mutter« gefunden, und es ist ja bekannt, dass der irrationale, immer selbstgewählte Kult um die heilige Jungfrau ein Klassiker unter diesen Brüdern ist. Mama! Wie viele schwule Schriftsteller, von Marcel Proust bis Pasolini, über Julien Green, Roland Barthes und sogar Jacques Maritain, haben die innige Liebe der Mutter besungen, Ergüsse, die nicht nur wesentlich sind, sondern häufig den Schlüssel zu ihrer Selbstzensur darstellen (sowohl unter den Schriftstellern als auch unter den Priestern gibt es einige, die ihre Homosexualität erst nach dem Tod der Mutter akzeptiert haben). Mama, die ihrem kleinen Jungen stets treu geblieben ist, ihm jene große Liebe gab und über den erwachsenen Sohn wachte wie über ihren Augapfel; Mama hatte es meist längst begriffen.
Francesco Lepore wollte allerdings in die Fußstapfen von Papa treten.
»Mein Vater war Lateinlehrer, und ich wollte die Sprache lernen, um dieser Welt näherzukommen«, erzählt Lepore. »Wollte perfekt Latein beherrschen. Und seit ich zehn oder elf war, wollte ich Priester werden.«
Und das wird er auch, gegen den Willen seiner Eltern: Schon mit fünfzehn möchte er die geistliche Laufbahn einschlagen.
Der klassische Weg junger Priester: katholische Schulausbildung, danach ein fünfjähriges Hochschulstudium in Philosophie und Theologie, gefolgt von dem, was in Italien noch immer »niedere Weihen« heißt, mit Tätigkeiten als Lektor und Akolyth, noch vor dem Diakonat und der Ordination.
»Am 13. Mai 2000, mit vierundzwanzig Jahren, wurde ich Priester, im gleichen Jahr fanden der Jubilee und die World Gay Pride statt.« Lepores Zusammenfassung ist bestechend prägnant.
Der junge Mann begriff sehr schnell, dass die Verbindung zwischen Priestertum und Homosexualität kein Widerspruch war, nicht einmal ein Zufall, wie er anfangs geglaubt hatte.
»Ich habe immer gewusst, dass ich schwul bin. Gleichzeitig hatte ich so eine Art Hassliebe für diese Art von Neigungen, es zog mich an und stieß mich ab. Ich bewegte mich in einem Milieu, das Homosexualität grundsätzlich als etwas Schlechtes sah; ich las theologische Bücher, die sie als Sünde definierten. Sehr lange habe ich sie als Schuld erlebt. Mein Ausweg bestand im Leugnen meiner sexuellen Neigungen, indem ich sie auf die Religion verlagerte: Ich entschied mich für die Keuschheit und das Seminar. Priester werden war wie Buße tun für einen Fehler, den ich nicht begangen hatte. In den Jahren an der Universität Santa Croce in Rom widmete ich mich intensiv dem Gebet und der Askese, bis hin zur Selbstkasteiung, ich versuchte sogar, Franziskaner zu werden, um meine Religion noch intensiver zu leben, und es gelang mir, fünf Jahre lang keusch zu bleiben, ich habe nicht einmal masturbiert.«
Der Weg von Francesco Lepore zwischen Sünde und Kasteiung, das quälende Bedürfnis, mithilfe härtester Beschränkungen seinen Neigungen zu entkommen, ist für das Italien des 20. Jahrhunderts beinahe normal. Die geistliche Laufbahn war für viele, die sich ihre sexuelle Orientierung nicht eingestanden, die ideale Lösung. Zehntausende italienischer Priester glaubten aufrichtig, dass die religiöse Berufung die »Lösung« ihres »Problems« sei. Das ist die erste Regel von Sodom: Das Priesteramt war lange Zeit das ideale Hintertürchen für junge Schwule. Homosexualität ist einer der Gründe ihrer Berufung.
Bleiben wir einmal bei dieser Formel. Um den Werdegang der meisten Kardinäle, Bischöfe und unzähliger Priester zu verstehen, die uns im Folgenden begegnen werden, muss man von ebenjener fast Darwinistischen Selektion ausgehen, für die es eine soziologische Erklärung gibt. In Italien war dies sogar lange Zeit die Norm. Für die oft femininen jungen Männer, denen ihre Sehnsüchte Sorgen machten, die sich zu ihrem besten Freund hingezogen fühlten und die man wegen ihrer affektierten Sprechweise verspottete, gab es im Italien der 1930er-, 1940er- und 1950er-Jahre nicht viele Möglichkeiten. Manche begriffen früh, beinahe instinktiv, wie sie aus dem auferlegten Schwulsein eine Stärke, aus der Not eine Tugend machen konnten: Indem sie Priester wurden. So konnten sie die Kontrolle über ihr eigenes Leben zurückgewinnen, immer im Glauben, dem Ruf Christi und dem ihrer eigenen Sehnsüchte zu folgen.
Hatten sie eine andere Wahl? In einer lombardischen Kleinstadt oder einem piemontesischen Dorf galt Schwulsein damals als das Böse schlechthin. Man kann das »pechschwarze Scheitern« kaum begreifen; man fürchtet jene »Verheißung einer Liebe von verwirrender Vielfalt«, es graut einem vor dem »unsäglichen, geradezu unerträglichen Glück«, um mit Rimbaud zu sprechen.
Sich dem hinzugeben, und sei es noch so diskret, hieße, sich für ein Leben in Lüge oder als Geächteter zu entscheiden; dagegen erschien ein Leben als Priester wie ein Ausweg. Alles ist leichter, wenn ein ungeouteter Schwuler dem Klerus beitritt: Er lebt unter Männern und trägt prächtige Gewänder; man fragt nicht mehr, ob er eine Freundin hat; seine Schulkameraden, die schlechte Witze auf seine Kosten rissen, sind beeindruckt; er, der Verspottete, kommt zu höchsten Ehren; er, der einer »Rasse« angehörte, »auf der ein Fluch lastet«, steigt zum auserwählten Volk auf; und Mama, die wie gesagt längst alles begriffen hat, ohne ein Wort darüber zu verlieren, bestärkt ihn in dieser wunderbaren Berufung. Vor allem aber können das Gebot der Keuschheit und das Zölibat den zukünftigen Priester nicht schrecken, im Gegenteil: Freudig nimmt er diese Beschränkung an! Dass ein junger schwuler Italiener zwischen den 1930er- und 1960er-Jahren sich für die Ordination und das Gebot des Zölibats unter Männern entschied, war also gang und gäbe, wenn nicht ein Sachzwang.
Ein italienischer Benediktinermönch, der am Päpstlichen Athenaeum Sant’Anselmo arbeitet, erklärt mir den Gedankengang:
»Die Entscheidung für das Priesteramt war für mich zunächst das Ergebnis eines tiefen, gelebten Glaubens. Aber im Nachhinein interpretiere ich es auch als einen Versuch, meine Sexualität zu bändigen. Ich habe immer gewusst, dass ich schwul war, aber erst viel später, mit über vierzig, habe ich diesen wesentlichen Teil meiner Persönlichkeit angenommen.«
Natürlich ist jeder Lebensweg einzigartig. Viele italienische Priester haben mir erzählt, dass sie ihr Schwulsein erst nach der Ordination entdeckt haben, oder erst, als sie anfingen, im Vatikan zu arbeiten. Viele sind den Schritt sogar noch viel später gegangen, mit weit über vierzig.
Zur soziologischen Selektion kommt noch die episkopale, was das Phänomen zusätzlich verstärkt. Homophile Kardinäle fördern Prälaten dieser Neigung, und diese entscheiden sich für schwule Priester. Die Nuntien wiederum, Botschafter des Papstes mit der Aufgabe, geeignete Kandidaten für ein Bischofsamt zu bestimmen, nehmen ebenfalls eine »natürliche« Selektion vor, weshalb der Schwulenanteil rekordverdächtig hoch ist. Laut meiner Quellen werden Priester bevorzugt, bei denen bemerkt wird, dass sie jene Neigung teilen. Profaner ausgedrückt: Nicht selten befördern Nuntien oder Bischöfe einen Priester aus der »Gemeinde«, weil sie sich davon einen bestimmten Gefallen versprechen.
Das ist die zweite Regel von Sodom: Je näher man dem Allerheiligsten kommt, desto mehr Schwule werden es; je höher man in der katholischen Hierarchie nach oben klettert, desto höher der Anteil an Schwulen. Im Kardinalskollegium und im Vatikan ist das bevorzugte Verfahren etabliert: Homosexualität wird zur Norm, Heterosexualität zur Ausnahme.
Eigentlich habe ich dieses Buch im April 2015 begonnen. Eines Abends lud mich mein italienischer Verleger Carlo Feltrinelli in Mailand zum Abendessen ins Rovello, Via Tivoli, ein. Wir kannten uns schon, weil er drei meiner Bücher verlegt hat, und ich wollte mit ihm über Sodom sprechen. Seit über einem Jahr recherchierte ich zur Schwulenfrage in der katholischen Kirche, führte Interviews in Rom und mehreren Ländern, las zahlreiche Texte, aber mein Projekt war noch rein hypothetisch. Ich hatte mein Thema, wusste aber noch nicht, in welcher Form ich es aufbereiten würde.
Vor jenem Abendessen dachte ich, dass Carlo Feltrinelli ein solches Vorhaben ablehnen würde; dann hätte ich es aufgegeben, und Sodom wäre nie erschienen. Doch das Gegenteil war der Fall. Der Verleger von Boris Pasternak, Günther Grass und, seit kurzem, Roberto Saviano, bombardierte mich mit Fragen und ermutigte mich, sprach gleichzeitig aber auch eine Warnung aus:
»Das Buch müsste zeitgleich in Italien, Frankreich und den USA erscheinen, damit es mehr Gewicht bekommt. Haben Sie auch Fotos? Sie müssen mir schon beweisen, dass Sie mehr wissen, als Sie mir erzählen.«
Er schenkte sich Wein nach, dachte weiter laut nach. Und zischte plötzlich:
»Die werden Sie lynchen!«
So bekam ich grünes Licht. Ich stürzte mich ins Abenteuer und verbrachte jeden Monat eine gewisse Zeit in Rom. Aber damals wusste ich noch nicht, wie umfangreich meine Recherchen sein würden. Sodom hatte begonnen. Komme, was wolle.
In der Via Ostiense 178 im Süden Roms befindet sich die volkstümliche Trattoria Al Biondo Tevere. Die Terrasse liegt direkt am Tiber – daher der Name. Banal, entlegen, schwach besucht, und im Januar schrecklich kalt. Warum zum Teufel wollte Francesco Gnerre sich bloß in dieser abgelegenen Kaschemme mit mir treffen?
Der pensionierte Literaturprofessor hat sich in seiner Forschung zu einem nicht unwesentlichen Teil mit der italienischen Schwulenliteratur befasst. Außerdem hat er über vierzig Jahre lang Hunderte von Buchrezensionen in diversen Zeitschriften für Homosexuelle veröffentlicht.
»Tausende Schwule haben ihr Bücherregal nach Francesco Gnerres Artikeln in Babilonia und Pride zusammengestellt, ich auch«, erklärt mir der Journalist Pascale Quarante, der das Treffen organisiert hat.
Gnerre hat diesen Ort ganz bewusst ausgesucht. Der italienische Filmemacher Pier Paolo Pasolini war in der Nacht des 1. November 1975 im Al Biondo Tevere, zusammen mit dem jungen Prostituierten Pelosi, der ihn wenige Stunden später an einem Strand von Ostia ermorden sollte. Dieses »letzte Abendmahl«, kurz vor einem der schrecklichsten und berühmtesten Verbrechen in der Geschichte Italiens, ist Gegenstand einer seltsamen Gedenkkultur an den mit Lackfarbe gestrichenen Wänden des Restaurants. Zeitungsausschnitte, Fotos von Drehs, Bilder aus Filmen; das ganze Pasolini-Universum lebt hier fort.
»Der Vatikan ist der größte Schwulenverband Italiens«, bemerkt Gnerre.
Das ist sozusagen das Antipasto zu einem langen Bericht über die Geschichte der verschlungenen Beziehungen italienischer Priester zur Homosexualität. Die erwähnten katholischen Romanciers sind dabei der Bindestrich. Der Literaturkritiker spricht auch von Dante:
»Dante war nicht homophob«, erklärt Gnerre. »In der Göttlichen Komödie gibt es vier Anspielungen auf Homosexualität, in Hölle und Fegefeuer, wenn auch nicht in Paradies. Dante hat Sympathien für seine schwule Figur Brunetto Latini, der außerdem sein Rhetoriklehrer war. Auch wenn er ihn in den dritten Ring vom siebten Kreis der Hölle platziert hat, respektiert er aber das Schwulsein.«
Auch Francesco Lepore hat in dem Versuch, sein eigenes Dilemma zu lösen, den Weg der Geisteswissenschaften mit Latein und Bildung eingeschlagen, wollte das Unausgesprochene in Literatur und Film entschlüsseln – die Gedichte von Pasolini, Leopardi, Carlo Coccioli, Ich zähmte die Wölfin: Erinnerungen des Kaisers Hadrian von Marguerite Yourcenar, Viscontis Filme und nicht zuletzt die schwulen Figuren aus Dantes Göttlicher Komödie. Für viele italienische Priester und Schwule, die sich in ihrer Haut nicht wohl fühlten, spielte die Literatur eine entscheidende Rolle: »die sicherste aller Zufluchten«, wie es so schön heißt.
»Dank der Literatur habe ich so einiges begriffen«, fügt Lepore hinzu. »Ich war auf der Jagd nach Codes und Passwörtern.«
Wer diese Codes entschlüsseln will, dürfte sich für eine weitere Schlüsselfigur interessieren, die auch im Gespräch mit Gnerre auftaucht: Marco Bisceglia. Er hatte drei Leben. Er war Mitbegründer von Arcigay, des wichtigsten italienischen LGBT-Verbands der letzten vierzig Jahre. Noch heute hat Arcigay mehr als hunderttausend Mitglieder, die sich auf lokale Komitees in mehr als fünfzig italienischen Städten verteilen. Vorher war Bisceglia Priester.
»Marco ging ins Priesterseminar, weil er überzeugt war, Gottes Ruf gehört zu haben. Er hat mir erzählt, dass er wirklich an eine religiöse Berufung glaubte, dabei lag seine wahre Berufung, wie er nach seinem fünfzigsten Geburtstag feststellte, in der Homosexualität. Er hat seine sexuelle Orientierung lange verdrängt. Das ist ziemlich typisch für Italien, glaube ich. Ein Junge, der lieber liest als Fußball zu spielen; der sich nicht zu Mädchen hingezogen fühlt und die Natur seiner Sehnsüchte nicht einordnen kann; der diese Wünsche seiner Mutter und seiner Familie gegenüber nicht eingestehen will; das alles führte junge schwule Italiener fast zwangsläufig ins Priesterseminar. Aber das Wesentliche bei Marco Bisceglia ist, dass er kein Heuchler war. Jahrzehntelang, in seiner ganzen Zeit bei der Kirche, hat er nie mit dem Leben als Schwuler experimentiert; erst danach hat er es mit dem Eifer des Neubekehrten ausgelebt.«
Dieses warmherzige Porträt, das Gnerre da zeichnet (er kannte Bisceglia gut), täuscht wahrscheinlich über die Qualen und psychologischen Krisen des Jesuitenpaters hinweg. Er wandte sich der Befreiungstheologie zu, zudem gab es wohl Auseinandersetzungen mit der katholischen Hierarchie, was vermutlich zu seiner Verwandlung in einen militanten Schwulen beigetragen hat. Nach seinen Jahren als Aktivist im Schwulenmilieu wurde er am Ende seines Lebens erneut Priester und starb 2001 an Aids.
Drei Leben also: als Priester, als militanter Schwulenaktivist, der dem Priester trotzte; und schließlich als Aids-Kranker, der sich mit der Kirche aussöhnte. Sein Biograph Rocco Pezzano, den ich interviewt habe, ist noch immer verblüfft über »dieses Loser-Leben«, in dem Marco Bisceglia von Misserfolg zu Misserfolg stolperte, ohne jemals seinen Weg zu finden. Francesco Gnerre ist da nachsichtiger: Er betont die »Stimmigkeit«, ebenso wie das Auf und Ab eines »schweren, aber wunderbaren Lebens«.
Seine ersten sexuellen Erfahrungen macht Francesco Lepore in Rom. Wie bei vielen italienischen Priestern befördert die Hauptstadt, die Stadt Hadrians und Michelangelos, seine speziellen Neigungen. Hier entdeckt Lepore, dass das Gebot der Keuschheit munter gebrochen wird und dass die Mehrheit der Priester schwul ist.
»Ich war ganz allein in Rom, und dort habe ich das Geheimnis entdeckt: Die Priester führten oft ein Doppelleben. Für mich war das eine ganz neue Welt. Ich fing etwas mit einem Priester an, das ging fünf Monate. Als wir uns getrennt haben, stürzte ich in eine tiefe Krise. Meine erste spirituelle Krise. Wie konnte ich Priester sein und gleichzeitig mein Schwulsein leben?«
Lepore spricht sowohl mit seinen Beichtvätern als auch mit einem Jesuitenpater darüber (Letzterem berichtet er ausführlich), dann mit einem Bischof (dem er die Einzelheiten erspart). Alle ermutigen ihn, das Priesteramt weiterzuverfolgen, nicht mehr über sein Schwulsein zu reden und sich nicht schuldig zu fühlen. Man gibt ihm ohne Umschweife zu verstehen, dass er seine Sexualität ausleben kann, vorausgesetzt, er bleibt diskret und macht keine militante Identität daraus.
Zu dieser Zeit wird er für eine Stelle beim renommierten Staatssekretariat im Apostolischen Palast in Vatikanstadt vorgeschlagen, was einem Dienst beim Premierminister des Papstes entspricht.
»Sie brauchten einen Priester, der das Lateinische perfekt beherrscht, und weil es Gerüchte gab, dass ich gerade in einer Krise steckte, hatte jemand meinen Namen fallenlassen. Monsignore Leonardo Sandri, inzwischen ist er Kardinal, setzte sich mit meinem Bischof in Verbindung und lud mich in die Lateinsektion ein. Ich musste einen Lateintest machen und wurde genommen. Ich erinnere mich, dass ich trotz allem gewarnt wurde, was beweist, dass sie Bescheid wussten: In einer bedeutungsschwangeren Formulierung sagte man mir, ›falls ich das entsprechende Niveau hätte, um mich für den Posten zu qualifizieren‹, müsste ich ›mein Leben dem Papst widmen und alles andere vergessen‹.«
Am 30. November 2003 zieht Lepore ins Gästehaus Santa Marta, Kardinalsresidenz des Vatikans – und aktuelles Domizil von Papst Franziskus.
Man kann Santa Marta nur mit einer Sondergenehmigung und ausschließlich mittwoch- und donnerstagvormittags zwischen zehn und zwölf besichtigen, wenn der Papst auf dem Petersplatz in Rom ist. Monsignore Battista Ricca, der berühmte Direktor des Hauses, hat vor Ort ein Büro und versorgt mich mit der notwendigen Erlaubnis. Er erklärt mir ganz genau, wie ich an den Gendarmen und anschließend der Schweizergarde vorbeikomme. Ich sollte dem Prälaten mit den wässrigen Augen noch öfter begegnen; ein Einzelkämpfer, der Franziskus nahesteht und sowohl den Ruhm als auch den Fall kennengelernt hat. Wie sich zeigen wird, ist es ihm zu verdanken, dass ich in einem der Vatikanischen Gästehäuser übernachten darf.
Würde der Papst nicht dort wohnen, könnte das fünfstöckige Gästehaus mit seinen hundertzwanzig Zimmern genauso gut irgendein Motel am Stadtrand von Atlanta oder Houston sein. Das moderne, unpersönliche, glanzlose Gebäude bildet einen krassen Gegensatz zur Pracht des Apostolischen Palastes.
Als ich mit dem vatikanischen Diplomaten Fabrice Rivet die dritte Loggia des imposanten Palastes besichtige, stehe ich staunend vor den gemalten Weltkarten an den Wänden, den raffaelitischen Bestien und den kunstvollen Decken, die sich in der Uniform der Schweizer Garde widerspiegeln. In Santa Marta sucht man so etwas vergeblich.
»Ja, stimmt schon, es ist ein bisschen kühl«, räumt Harmony ein, eine junge Sizilianerin, die mich herumführt.
Auf einem Schild am Eingang lese ich: »Angemessene Kleidung erbeten«. Und ein Stück weiter: »Keine Shorts oder Röcke«. An der Rezeption bemerke ich außerdem mehrere Tüten von Gammarelli, dem päpstlichen Schneider, der Luxusmarke für klerikale Kleidung. Audienz- und Pressesaal, die hintereinander liegen, sind ebenfalls recht glanzlos, und dementsprechend ist auch der Rest: Ein Triumph des schlechten Geschmacks.
Im Sitzungssaal des Papstes springt mir ein enormes Gemälde von Unserer Lieben Frau von Guadalupe ins Auge, die für die große Frömmigkeit Lateinamerikas steht: ein Geschenk des Kardinals und Erzbischofs von Mexiko, Norberto Rivera Carrera, womöglich wollte er den Papst so für seinen Umgang um Vergebung bitten. (Der Kardinal stand in der Kritik, weil er den berüchtigten pädophilen Priester Marcial Maciel gedeckt hatte; letztendlich schickte Franziskus ihn in Rente.)
Ein paar Meter weiter hat der Papst seine Privatkapelle, wo er jeden Morgen um sieben im kleinen Kreis die Messe feiert. Sie ist genauso grässlich wie der wesentlich größere Speisesaal, der an ein Sodexo-Restaurant erinnert. Harmony zeigt mir den etwas abseits stehenden Tisch, an dem der Papst mit höchstens sechs Personen seine Mahlzeiten einnimmt.
Im zweiten Stock befindet sich die Privatwohnung des heiligen Vaters, die nicht für die Öffentlichkeit zugänglich ist; mir wird eine exakte Nachbildung im gegenüberliegenden Flügel gezeigt: Ein bescheidenes Apartment mit einem kleinen Wohnzimmer und einem Schlafzimmer mit Einzelbett. Ein Schweizergardist, der den Papst bewacht und häufig die Nacht vor der päpstlichen Schlafzimmertür verbringt, bestätigt mir das. Ich würde ihn noch oft in Rom sehen, im Café Makasar im Borgo, einer Weinbar weit weg vom Vatikan, wo ich all jene traf, die unsere Gespräche lieber geheimhalten wollten.
Nun stehen wir in der Wäscherei. Harmony stellt mir Anna, eine kleine, sanfte, dienstbare Frau, als »Päpstliche Wäscherin« vor. In zwei Räumen links der Kapelle kümmert sich die Ordensschwester mit tadelloser Hingabe um Franziskus’ Kleidung. Sorgsam, als handele es sich um das Turiner Grabtuch, faltet sie Kaseln und Alben für mich auseinander (im Gegensatz zu seinen Vorgängern weigert sich Franziskus, das Rochett und die rote Mozetta zu tragen).
»Das sind die verschiedenen Habite Seiner Heiligkeit. Meistens weiß; für eine normale Messe grün; rot und violett für besondere Feste; hier ist noch silber, aber die Farbe nutzt der Heilige Vater nicht«, erzählt Anna.
Als ich das Gästehaus gerade verlassen will, treffe ich Gilberto Bianchi, den päpstlichen Gärtner, ein leutseliger Italiener und treuer Diener des heiligen Vaters, der sich augenscheinlich um die Zitrusgewächse seiner Heiligkeit sorgt; sie stehen direkt vor der päpstlichen Kapelle.
»Rom ist nicht Buenos Aires!«, sagt Gilberto besorgt und mit vielsagendem Blick.
»Die Mauer dort neben der Kapelle, wo die Orangenbäume stehen, das ist die Grenze«, meint Harmony plötzlich.
»Was für eine Grenze?«
»Vom Vatikan! Auf der anderen Seite liegt Italien.«
Beim Rausgehen stehe ich plötzlich vor einem Schirmständer, der einen weithin sichtbaren großen Schirm in Regenbogenfarben beherbergt: eine Rainbowflag!
»Der gehört nicht dem Papst«, versichert Harmony eilig, als sei ihr ein Fauxpas unterlaufen. Und während die Schweizergarde mich grüßt und die Gendarmen den Blick wieder senken, sobald ich ein Stück weg bin, fange ich an zu träumen. Wem gehört wohl der schöne Regenschirm in diesen Farben wider die Natur? Monsignore Battista Ricca, der mich freundlicherweise zu einem Rundgang durch das Haus eingeladen hat, dem er vorsteht? Hat einer der Assistenten des Papstes ihn vergessen? Oder ein Kardinal, dessen Capa magna so wunderbar zu den Regenbogenfarben passen würde?
Jedenfalls sehe ich es vor mir: Der glückliche Besitzer, vielleicht ein Kardinal oder ein Monsignore, spaziert mit seiner Regenbogenfahne durch die Gärten des Vatikans! Wer ist er? Wie kann er es wagen? Oder ist ihm die Bedeutung gar nicht bewusst? Ich stelle mir vor, wie er mit seinem Schirm die Via delle Fondamenta und die Rampa dell’Archeologia nimmt, um Benedikt XVI. einen Besuch im Kloster Mater Ecclesiæ abzustatten, wo er zurückgezogen lebt. Oder er geht mit seinem hübschen bunten Schirm auf einen Sprung in den Palast des Heiligen Offiziums, dem Sitz der Glaubenskongregation und ehemaligen Inquisition. Vielleicht gehört der Regenbogenschirm auch niemand bestimmtem und ist selbst ungeoutet. Er steht herum. Wird benutzt, wieder hingestellt, erneut genommen. Ich stelle mir vor, dass die Prälaten ihn abwechselnd nutzen, je nach Bedarf und Wetter. Einer spricht sein Gebet unter dem Regenbogen; einer flaniert damit am Muschelbrunnen oder dem Johannesturm vorbei; einer huldigt der meistverehrten Statue des Vatikans: Bernhard von Clairvaux, dem großen Reformator, der für seine homophilen Texte und seine zärtliche Liebe zum irischen Erzbischof Malachius von Armagh bekannt ist. Ist die gestrenge Statue mit dem Doppelleben inmitten des römischen Katholizismus ein Symbol?
Zu gern hätte ich Mäuschen gespielt, als Schweizergardist im Wachdienst oder Rezeptionist im Gästehaus, um dem Treiben des bunten Schirms zuzusehen, dem »trunkenen Schiff«, leichter als ein Korken, der in den Gärten des Vatikans tanzt. Ist die »vom Regenbogen verdammte« Rainbowflag ein Geheimcode für die »wilde Parade«, von der Rimbaud sprach? Es sei denn, er dient wirklich und ausschließlich als Regenschirm.
»Ich kam Ende 2003 nach Santa Marta«, fährt Lepore bei einem weiteren Mittagessen fort.
Obwohl er der jüngste beim heiligen Stuhl beschäftigte Priester ist, lebt er nun im Kreis von Kardinälen, Bischöfen und ehemaligen Nuntien des Vatikans. Er kennt sie alle, bei mehreren war er Assistent; er kann ihre Begabungen ebenso ermessen wie ihre kleinen Macken, und er hat ihre Geheimnisse erraten.
»Die Leute, mit denen ich zusammengearbeitet habe, lebten auch dort, sogar Monsignore Georg Gänswein, der spätere Privatsekretär von Papst Benedikt XVI.«
Lepore lebt ein Jahr in dem berühmten Gästehaus, das sich zu seiner Verblüffung als Hochburg der Homoerotik entpuppt.
»Santa Marta ist ein Ort der Macht«, führt er aus. »Das ist ein riesiger Knotenpunkt von ehrgeizigen Plänen und Intrigen, voller Neid und Konkurrenz. Ein großer Teil der Priester dort ist schwul, und ich weiß noch, dass beim Essen ständig Witze über das Thema gemacht wurden. Man gab schwulen Kardinälen weibliche Spitznamen, das brachte den ganzen Tisch zum Lachen. Man wusste namentlich, wer einen Freund hatte und wer sich für die Nacht junge Männer nach Santa Marta holte. Viele führten ein Doppelleben: Priester im Vatikan bei Tag, Tunte in Clubs und Bars bei Nacht. Es kam öfter vor, dass die Prälaten jüngeren Priestern, zu denen ich ebenfalls gehörte, Avancen machten, aber auch Seminaristen, Schweizer Gardisten oder Laien, die im Vatikan arbeiteten.«
Lepore erzählt weiter.
»Einer der Prälaten von Santa Marta arbeitete im Staatssekretariat. Er stand Kardinal Giovanni Battista Re nahe. Und er hatte damals einen slawischen Freund, den er abends oft ins Gästehaus schleuste. Uns wurde er dann als sein Neffe vorgestellt. Natürlich wussten alle Bescheid! Eines Tages wurde er befördert, da hat die Gerüchteküche noch mehr gebrodelt. Also gab es eine öffentliche Klarstellung durch Kardinal Giovanni Battista Re und Bischof Fernando Feloni, dass es sich bei dem jungen Slawen tatsächlich um ein Familienmitglied handelte und dass das Thema damit beendet sei!«
Die Omnipräsenz von Schwulen fällt also keineswegs unter die Rubrik Einzelfälle, »schwarze Schafe« oder »faule Fische im Netz«, wie Kardinal Joseph Ratzinger behauptete. Es handelt sich weder um eine »Lobby« noch um Dissidententum, weder um eine Sekte noch um eine Freimaurerloge innerhalb des Vatikans – das Ganze hat System. Es ist eine große Mehrheit, keine Minderheit.
Ich frage Francesco Lepore, wie groß die »Gemeinde« am heiligen Stuhl seiner Meinung nach insgesamt ist.
»Ich glaube, der Prozentsatz ist sehr hoch. Etwa 80 Prozent, würde ich sagen«, meint er.
Ein nichtitalienischer Erzbischof, den ich mehrmals interviewt habe, erzählt mir bei einem Gespräch:
»Es wird gemunkelt, dass drei der letzten fünf Päpste homophil waren, genauso wie manche ihrer Assistenten und Staatssekretäre. Die meisten Kardinäle und Bischöfe der Kurie ebenso. Aber die Frage ist nicht, ob die Priester im Vatikan derartige Neigungen haben: Die haben sie. Die Frage ist, und das ist die eigentliche Debatte: Leben sie ihre Homosexualität aus oder nicht? Da wird es schon schwieriger. Manche Prälaten haben die Neigung, aber leben enthaltsam. Kulturell gesehen, leben sie zwar homophil, aber nicht homosexuell.«
In etwa zehn Interviews hat Francesco Lepore mir von der ausgelassenen Schwüle im Vatikan berichtet. Sein Erfahrungsbericht ist wasserdicht. Er war mit mehreren Erzbischöfen und Prälaten zusammen, Kardinäle, von denen noch die Rede sein wird, haben ihn angemacht. Ich habe alle Geschichten sorgfältig nachgeprüft, indem ich die Verehrer selbst kontaktierte: Kardinäle, Erzbischöfe, Monsignori, Nuntien, Abbreviatoren, Assistenten, einfache Priester und Beichtväter aus dem Petersdom – in der Tat samt und sonders aus der »Gemeinde«.
Lepore steckte lange Zeit selbst mittendrin. Es ist relativ einfach, die »Schrankbrüder« von den Aktiven zu unterscheiden, wenn zum Beispiel ein Kardinal diskret flirtet oder ein Monsignore einem schamlos Avancen macht. Ich spreche aus Erfahrung. Es ist fast zu einfach. Denn selbst ein eingefleischter Junggeselle, der hinter einem Vorhängeschloss in einem wahren Panzerschrank steckt und ein Keuschheitsgelübde abgelegt hat, verrät sich irgendwann ganz sicher.
Dank Lepore – und bald, aufgrund der Kapillarwirkung, auch dank achtundzwanzig anderen Quellen, die ich über vier Jahre lang aufgebaut habe, Geistliche und Laien, die alle im Vatikan arbeiten und zumindest in meiner Gegenwart offensichtlich schwul sind – wusste ich von Anfang an, an wen ich mich wenden musste. Ich hatte die betreffenden Kardinäle identifiziert, noch ehe ich ihnen überhaupt begegnet war; ich kannte die Namen der Assistenten und der Monsignori, mit denen ich mich anfreunden musste. So viele von ihnen gehören zur »Gemeinde«.
Ich werde mich noch lange an die abendlichen Gespräche mit Lepore in Rom erinnern, wie immer wieder plötzlich bei dem Namen dieses oder jenes Kardinals, dieses oder jenes Erzbischofs, Leben in ihn kam, er vor Vergnügen wild gestikulierte und schließlich ausrief: »Gayissimo!«
Lepore gehörte lange Zeit zu den Favoriten im Vatikan. Er war jung und gutaussehend – geradezu sexy, außerdem ein belesener Intelektueller. Er war sowohl körperlich als auch geistig anziehend. Bei Tag übersetzte er offizielle Schreiben des Papstes ins Lateinische und kümmerte sich um die Korrespondenz. Zudem schrieb er für das Feuilleton des Osservatore Romano, der offiziellen Vatikanzeitung.
Kardinal Ratzinger, späterer Papst Benedikt XVI., damals Präfekt der Glaubenskongregation, schrieb sogar das Vorwort zu einem Sammelband gelehrter Aufsätze des jungen Priesters und war voll des Lobes.
»Ich denke gern an diese Zeit zurück«, sagt Lepore, »aber das Problem mit dem Schwulsein war da und wurde immer drängender. Es kam mir so vor, als könnte ich nicht mehr selbst über mein Leben bestimmen. Und die römische Schwulenszene zog mich magisch an: Ich fing an, ins Fitnessstudio zu gehen, anfangs auch in Heteroclubs, aber das kam schnell raus. Ich feierte immer seltener die Messe und ging in Zivil aus, ohne Soutane und Piuskragen; bald übernachtete ich nicht mehr in Santa Marta. Meine Vorgesetzten wurden informiert. Ich sollte versetzt werden, wahrscheinlich wollte man mich vom Vatikan fernhalten, und dann haben sich Mgr. Stanisław Dziwisz, der Privatsekretär von Papst Johannes Paul II., und der Redakteur vom Osservatore Romano für mich eingesetzt. Sie haben erreicht, dass ich bleiben durfte.«
Stanisław Dziwisz wird uns in diesem Buch noch öfter begegnen: Heute lebt der emeritierte Kardinal in Krakau, wo ich ihn im Zuge meiner Recherchen zweimal getroffen habe. Lange Zeit war er einer der mächtigsten Männer im Vatikan, den er zusammen mit dem Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano praktisch regierte, und zwar umso mehr, je schlechter der Gesundheitszustand von Johannes Paul II. wurde. Die Behauptung, dass der umtriebige Pole einen schlechten Ruf hat, ist eine Untertreibung. Aber ich will nicht vorgreifen, der Leser wird noch genug Zeit haben, das System zu durchschauen.
Dank Dziwisz wird Lepore Privatsekretär des einflussreichen französischen Kardinals Jean-Louis Tauran, ein erfahrener Diplomat und »Außenminister« von Johannes Paul II. Ich treffe Tauran viermal, er wird einer meiner Informanten und ist ein regelmäßiger Kontakt im Vatikan. Ich empfand sogar eine ungeheure Zuneigung für diesen außergewöhnlichen, unergründlich gespaltenen Kardinal, der lange Zeit unter einer schweren Form von Parkinson litt, ehe er im Sommer 2018, genau in dem Moment, als ich die endgültige Fassung meines Buches fertigstellte, verstarb.
Dank Tauran, der über die nächtlichen Ausflüge im Bilde ist, kann Lepore sein Intellektuellenleben im Vatikan fortsetzen. Anschließend arbeitet er für den italienischen Kardinal Raffaele Farina, Archivar und Bibliothekar der Heiligen Römischen Kirche, sowie für dessen Nachfolger, Erzbischof Jean-Louis Bruguès; beide wissen ebenfalls von seinen Neigungen. Man betraut ihn mit der Herausgabe seltener Manuskripte; er veröffentlicht Sammelbände von Theologie-Kolloquien im vatikaneigenen Verlag.
»Mein Doppelleben, diese quälende Heuchelei, belastete mich weiterhin«, sagt Lepore. »Aber ich hatte nicht den Mut, alles aufzugeben und das Priesteramt niederzulegen.«
Deshalb plant er seine Abberufung sorgfältig, einen Skandal will er vermeiden.
»Zum Kündigen war ich zu feige. Ich habe dafür gesorgt, dass mir die Entscheidung abgenommen wurde.«
Anscheinend ist er (die Kardinäle Tauran und Farina haben diese Version bestätigt) vom Vatikan aus mit seinem Computer »absichtlich« auf Schwulenwebseiten gegangen und hat die Sitzung mit dem kompromittierenden Material offengelassen.
»Ich wusste ganz genau, dass die Computer streng kontrolliert wurden, dass man mich schnell erwischen würde. So war es auch. Ich wurde vorgeladen, und dann ging alles sehr schnell. Kein Prozess, keine Sanktionen. Man hat mir einen wichtigen Posten in meiner alten Diözese angeboten. Ich habe abgelehnt.«
Der Vorfall wurde ernstgenommen; zu Recht, wie man im Vatikan fand. Kardinal Tauran empfängt Lepore und erklärt, er sei »sehr traurig über das, was geschehen ist«.
»Tauran hat mir sehr wohlwollend meine Naivität vorgeworfen, ob ich nicht wüsste, dass ›der Vatikan seine Augen überall hat‹, und dass ich vorsichtiger sein müsste. Er hat mich nicht gerügt, weil ich schwul war, sondern weil es rausgekommen ist! Und so ging das zu Ende. Ein paar Tage später habe ich den Vatikan verlassen und mein Priesteramt endgültig aufgegeben.«
Ein Vorzimmer? Ein Arbeitszimmer? Ein Privatraum? Ich bin im Salon der Privatwohnung des amerikanischen Kardinals Raymond Leo Burke, einer Dienstwohnung des Vatikans in der Via Rusticucci in Rom. Es ist ein seltsames, rätselhaftes Zimmer, und ich schaue mich genau um. Ich bin allein. Der Kardinal lässt auf sich warten.
»Ihre Eminenz wurde aufgehalten. Sie muss jeden Augenblick hier sein«, lässt Don Adriano mich wissen, ein eleganter und etwas steifer kanadischer Geistlicher, Burkes Assistent. »Sind Sie im Bilde über die jüngsten Entwicklungen?«
Am Tag meines Besuchs hatte Papst Franziskus den amerikanischen Kardinal einbestellt, um ihn zu ermahnen. Zur Erklärung: Burkes Provokationen und Ukasse gegen den heiligen Vater hatten inzwischen ein solches Maß erreicht, dass er als dessen ärgster Widersacher galt – und gilt. Für Franziskus ist Burke ein Pharisäer – nicht gerade ein Kompliment, wenn man bedenkt, dass es von einem Jesuiten kommt.
Die von mir befragten Kardinäle und Monsignori der Päpstlichen Familie spotten:
»Ihre Eminenz Burke ist eine Tunte!«, ruft einer von ihnen, ein Franzose, der grammatikalisch folgerichtig das französische Adjektiv fou ins Femininum folle angleicht.
Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich an diese befremdliche Feminisierung der männlichen Titel von Kardinälen und Bischöfen des Vatikans gewöhnt hatte. (Zwar heißt es »die Eminenz«, doch die übliche Anrede ist »Seine Eminenz«.) Während Paul VI. gern in der ersten Person Plural von sich gesprochen hat (»Wir sagen …«), schätzt Burke, wie ich herausfinde, das Femininum: »Ihre Eminenz kann stolz sein«; »Ihre Eminenz ist groß«; »Ihre Eminenz ist zu gütig«.
Kardinal Walter Kasper, ein Vertrauter von Franziskus, schüttelt bei der Erwähnung von Burke, etwas besonnener, nur fassungslos und ungläubig den Kopf.
Mit Pater Antonio Spadaro, einem Jesuiten, der als eine der grauen Eminenzen des Papstes gilt und Chefredakteur der Zeitschrift La Civiltà Cattolica ist, habe ich mich regelmäßig in seiner Redaktion ausgetauscht. Er ist in seiner Kritik pragmatischer und erklärt:
»Kardinal Burke hat die Führung der Opposition gegen den Papst übernommen. Diese Oppositionellen sind erbittert und mitunter ziemlich wohlhabend, aber sie sind nicht sehr zahlreich.«
Ein Vatikanjournalist hat mir verraten, wie der amerikanische Kardinal, ein kleiner, stämmiger Mann, innerhalb der Kurie scherzhaft genannt wird: »The Wicked Witch of the Midwest«. Gegenüber dieser rebellischen Eminenz, die die Tradition verteidigen will, ist Papst Franziskus selbst jedoch nicht zu Wortspielen aufgelegt. Hinter der Fassade seiner Freundlichkeit und seines Lächelns ist er hart. »Ein Sektierer«, wie ihn seine inzwischen zahlreichen Kritiker im Vatikan getauft haben.
Der heilige Vater hat Kardinal Burke sanktioniert, indem er ihn fristlos von seinem Posten als Präfekt des Obersten Gerichtshofs der Apostolischen Signatur, des höchsten Gerichts des Vatikanstaates, abberufen hat. Der Trostpreis: Er ist zum Vertreter des Papstes beim Malteserorden ernannt worden, promoveatur ut amoveatur (er möge befördert werden, damit man ihn loswird). Nach wie vor hat Burke, nun mit dem hochtrabenden Titel »Cardinalis Patronus« – Kardinalpatron des Ordens –, den Nachfolger Petri herausgefordert, was ihm, ausgerechnet am Tag meines Besuchs, eine erneute Ermahnung des Pontifex maximus einbringt.
Der Grund für diese erneute Unstimmigkeit – und das ist kein Scherz – ist das Verteilen von Kondomen! Der Malteserorden organisiert als souveräner religiöser Orden gemeinnützige Projekte in vielen Ländern. In Birma hatten einige Mitglieder Kondome an HIV-Positive verteilt, um weitere Ansteckungen zu vermeiden. Nach einer schmierenkomödiantischen internen Ermittlung beschuldigte der »Großmeister« seinen zweiten Mann, den »Großkanzler«, besagte Gummi-Kampagne genehmigt zu haben. (Demütigung à la Pasolini liegt dem Katholizismus nicht fern, auch wenn sie nur selten an Die 120 Tage von Sodom heranreicht.) Ersterer enthob Letzteren in Gegenwart des Vertreters des Papstes, Kardinal Burke, seines Amtes.
Und damit ist Schluss? Wohl kaum. Es wird sogar noch eins draufgesetzt, als der Papst erfährt, dass Reibereien zwischen Homosexuellen in dieser Angelegenheit eine Rolle gespielt haben, und dem finanziellen Hintergrund der Kontroverse auf die Spur kommt (ein Fonds von 110 Millionen Euro auf einem Konto in Genf).