Solange wir uns haben - Andrea Ulmer - E-Book

Solange wir uns haben E-Book

Andrea Ulmer

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Beschreibung

Panik kann auch eine Chance sein Jessica Hanser, 42, dachte eigentlich, sie hätte ihr Leben als alleinerziehende, berufstätige Mutter im Griff. Aber als sie plötzlich Panikattacken bekommt, kann sie nicht mal mehr arbeiten. Ihre Teenietochter Miriam hat wenig Verständnis und findet, ihre Mutter solle sich zusammenreißen. Hilfe bekommt Jessica stattdessen von unerwarteter Seite: Ihre Nachbarin Hildegard, die mit 30 Katzen in einem Haus lebt, wird Jessica zur Freundin in schweren Zeiten. Sie zeigt ihr, dass scheue Katzen und kratzbürstige Teenager sich gar nicht so unähnlich sind. Und dass eigentlich jeder ein bisschen verrückt ist. Doch als Miriam plötzlich wegläuft, ist Jessica panisch wie nie zuvor. Wird sie es schaffen, ihre Krankheit zu überwinden und ihre Tochter zurückzuholen? Ein warmherziger Roman, der zeigt, dass es sich lohnt, seine eigenen Ängste zu überwinden - so schwer das manchmal auch sein mag .

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Die Autorin

Andrea Ulmer wurde 1985 geboren. Sie arbeitet als Lektorin und Autorin für verschiedene Verlage. 2015 erhielt sie den Deutschen Phantastik Preis. In Solange wir uns haben verarbeitet sie die Angsterkrankung eines nahen Familienmitgliedes.Von Andrea Ulmer ist in unserem Hause bereits erschienen:Überleben ist ein guter Anfang

Das Buch

Als Jessica Hanser beim Autofahren eine Panikattacke hat und eine Angsterkrankung bei ihr diagnostiziert wird, versteht sie die Welt nicht mehr. Sie, eine Irre, die zum Seelenklempner muss? Doch Autofahren ist nicht mehr möglich, sie funktioniert nicht mehr wie bisher. Es bleibt ihr also nichts anderes übrig, als mithilfe einer Psychotherapie zu versuchen, ihr Leben wieder ins Lot zu bringen. Jessicas Tochter Miriam reagiert trotzig auf die Krankheit ihrer Mutter. Unbewusst hat Miriam Angst davor, ihre Mutter könne sie nun genauso verlassen wie schon ihr Vater. Jessica versucht um Miriams willen, ihre Angsterkrankung zu ignorieren, aber das macht alles nur schlimmer. Miriam wiederum sieht nur, dass ihre Mutter bei immer geringfügigeren Anlässen Panikattacken bekommt, und fürchtet immer mehr, sie zu verlieren. Da lernt Jessica die verrückte Katzenfrau Hildegard Böhmer kennen, um die sie sonst immer einen großen Bogen gemacht hat. Die alte Dame kommt mit Tieren deutlich besser zurecht als mit Menschen und empfiehlt auch ihrer neuen Freundin einen Rückzug von allen Menschen, die ihr nicht guttun. Aber wird das Jessica auch in ihrem Konflikt mit ihrer Tochter helfen?

Andrea Ulmer

Solange wir uns haben

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage August 2018© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, MünchenAutorenfoto: © privatE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten. ISBN 978-3-8437-1777-9

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

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Cover

Titelseite

Inhalt

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Heute würde sie es schaffen. Jessica Hanser bedachte ihr Auto mit einem Blick, den sie sich normalerweise für Leute aufsparte, die die Schrift Comic Sans für eine gute Wahl beim Flyerdesign hielten. Heute würde dieser ganze Spuk ein Ende haben. Da konnten die Ärzte noch so viel von einer Angsterkrankung faseln, ihr Medikamente verschreiben und sie an einen Therapeuten überweisen wollen. Sie war die Chefin über ihren Körper, und es gab keinen verdammten Grund dafür, dass ihre Hände jedes Mal anfingen zu zittern, sobald sie sich hinters Steuer setzte. Sie hatte einen wichtigen Job in einer hoch angesehenen Werbefirma, und sie hatte eine Tochter, um die sie sich kümmern musste. Sie hatte keine Zeit für diesen Blödsinn.

Mit entschlossenen Schritten ging Jessica auf den Wagen zu, der in der Einfahrt ihres kleinen Häuschens stand. Die Lichter des Autos blinkten einmal, wie zur Begrüßung, als Jessica das Schloss entriegelte. Sie riss die Fahrertür etwas heftiger auf, als nötig gewesen wäre, und ließ sich in den Sitz fallen.

Nachdem sie die Tür wieder geschlossen hatte, saß sie eine Weile einfach nur da. »Siehst du«, murmelte sie. »Nichts Besonderes. Nur das Auto. Ein stinknormales Auto.«

Nach einem tiefen Atemzug steckte sie den Zündschlüssel ins Schloss und ließ den Wagen an. Ihre Hände zitterten ein wenig, aber sie gab ihr Bestes, um das zu ignorieren. Sie war einfach ein wenig aufgeregt, das war alles. Immerhin hing viel davon ab, dass sie endlich wieder lernte, wie man Auto fuhr. Dreiecker war nicht gerade ein großes Dorf. Es hatte nur einen Bäcker, einen Metzger und einen Tante-Emma-Laden. Und die Werbeagentur, für die Jessica arbeitete, hatte ihren Sitz in Frankfurt. Seit der Panikattacke, die sie vor einer Woche beim Autofahren erlitten hatte, saß sie mehr oder weniger zu Hause fest. Das konnte nicht so weitergehen. Sie würde sich nicht ihr Leben von etwas ruinieren lassen, das rein in ihrem Kopf stattfand.

Entschlossen legte sie den Rückwärtsgang ein und setzte vorsichtig aus ihrer Einfahrt zurück.

Ausparken war nicht das Problem. Mit der Sicherheit jahrelanger Übung umfuhr sie das kleine Beet mit dem Baum rechts von ihrer Einfahrt. Am Rande nahm sie wahr, dass die Nachbarn gegenüber die Weihnachtsdekoration immer noch nicht abgenommen hatten, dabei war es bereits März. Und die verrückte Katzenfrau nebenan hatte vor ihrer Haustür etwas aufgebaut, das wie eine Hundehütte aussah. Dann war Jessica auf der Straße und gab Gas.

Sie kam vielleicht zehn Meter weit, bevor ihre Hände so stark zitterten, dass sie das Lenkrad kaum mehr halten konnte. Ihr Herz raste, sie hatte das Gefühl, nicht mehr richtig Luft zu bekommen. Sie nahm den Fuß vom Gas und steuerte den Wagen schließlich an den Straßenrand.

»Verdammt!«

Jessica spürte Tränen in ihren Augenwinkeln und blinzelte sie wütend fort. Das konnte doch nicht wahr sein! Es war nichts passiert, rein gar nichts, was so eine Reaktion rechtfertigte. Sie hatte keinen Unfall gehabt. Ihr war nie etwas Schlimmes beim Autofahren zugestoßen. Natürlich war es ein wenig lästig, jeden Morgen eine Dreiviertelstunde zur Arbeit zu fahren, aber Herzrasen und zitternde Hände rechtfertigte das noch lange nicht. Dennoch hatte genau das sie vor einer Woche gezwungen, auf dem Weg nach Hause rechts ranzufahren und einen Notarzt zu rufen, weil sie dachte, sie hätte vielleicht einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall oder sonst irgendetwas Gefährliches erlitten.

Aber nein, wie sich herausgestellt hatte, drehte nur ihr Gehirn ein bisschen durch. »Angsterkrankung« hatte der Arzt es genannt. Wahrscheinlich stressbedingt. Hatte ihr Antidepressiva verschreiben wollen.

»Verräter!«

Jessicas Gehirn blieb von dieser Anschuldigung im Wesentlichen unbeeindruckt und sorgte weiter dafür, dass ihre Hände zitterten, als hätte sie gerade etwas Ernsthaftes erlitten wie einen Schock oder so. Manchmal wünschte sich Jessica fast, es wäre so. Wenn sie einen schrecklichen Unfall gehabt hätte, würde sie wenigstens nicht solche seltsamen Blicke ernten, jedes Mal wenn sie erklären musste, warum sie plötzlich nicht mehr Auto fahren konnte.

Jessica atmete mehrmals tief durch und setzte dann den Wagen zurück. Doch nun war sie so fahrig, dass sie mit dem Hinterreifen in dem kleinen Beet mit dem Baum landete. So hatte das keinen Zweck. Sie stellte den Motor ab und stieg aus. Der Stoff ihrer Bluse klebte an ihrem Rücken, und sie verfluchte sich und die Welt und ihr blödes Gehirn, das einfach beschlossen hatte, zur falschen Zeit die falschen Botenstoffe auszuschütten.

Immerhin, das Auto stand jetzt wieder so, dass man noch dran vorbeikam. Vorausgesetzt, es kam kein Traktor, der auf die Felder am Ende der Straße wollte. Doch bei ihrem Glück würde genau das passieren. Sie musste dafür sorgen, dass das Auto von der Straße wegkam, und zwar schnell.

Jessica ging ins Haus zurück und die Treppe hoch. Schon auf halbem Weg hörte sie die Musik, die durch Miriams geschlossene Zimmertür dröhnte. Falls man das Musik nennen konnte. Als Jessica die Tür öffnete, schwappte die Geräuschkulisse wie eine Welle über ihr zusammen.

Miriam lag ausgestreckt auf dem Bett und spielte an ihrem Smartphone herum. Ihre Fingernägel hatten schon wieder eine neue Farbe. Nein, nicht einfach eine Farbe. Jessica konnte komplizierte Muster erkennen. Wenn Miriam die kreative Energie, die sie in ihre Fingernägel investierte, zumindest zur Hälfte auf Schulaufgaben verwenden würde, wäre sie wahrscheinlich eine Musterschülerin.

»Miriam? Miriam!«

Erst beim zweiten Mal sah ihre Tochter auf. Schlagartig wirkte sie irgendwie ertappt. »Ich hab meine Hausaufgaben schon gemacht!«

Das war eine glatte Lüge, und Jessica wusste es, aber für den Moment war es ihr egal. »Dein Benny lässt dich manchmal mit seinem Auto fahren, oder?«

Benny war achtzehn, und Miriam versuchte seit ein paar Wochen verzweifelt, ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu beeindrucken. Bisher hatte das glücklicherweise nur insofern gefruchtet, als sie hin und wieder mit ihm und einigen anderen Jugendlichen herumhängen durfte. Da sie alle halbwegs verantwortungsvoll zu sein schienen, hatte Jessica nichts dagegen.

Miriam runzelte die Stirn. »Was?« Bevor Jessica noch einmal versuchen musste, gegen die Musik anzuschreien, stand Miriam auf, ging zu ihrem Computer hinüber und schaltete den Lärm aus. Jessica seufzte erleichtert auf.

»Benny lässt dich manchmal doch mit seinem Auto fahren, nicht?«

Sofort wirkte Miriam noch ertappter als zuvor. Sie zögerte, versuchte offensichtlich zu entscheiden, ob sie lügen oder zumindest einen Teil der Wahrheit preisgeben sollte. »Ich bin doch erst sechzehn, Mama. Ich darf nicht …«

»Es ist okay«, unterbrach Jessica sie schnell. Dann schaltete sich aber doch ein wenig mütterliche Sorge ein. »Solange ihr das nur auf irgendwelchen abgelegenen Plätzen macht«, fügte sie hinzu. »Aber du kannst einparken, ja?«

Sofort wirkte Miriam besorgt. »Hast du versucht, Auto zu fahren, Mama?«

Jessica nickte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so nutzlos gefühlt. »Es steht direkt vor der Einfahrt.«

Miriam verdrehte die Augen auf eine Art, die mehr wehtat, als Jessica sich eingestehen wollte. Eine Art, die sagte: Warum kannst du dich nicht einfach zusammenreißen? Aber genau das hatte Jessica ja gerade versucht! Sonderlich viel gebracht hatte es ganz offensichtlich nicht.

»Ich kann einparken, ja.«

Etwas zögerlich ließ Jessica die Autoschlüssel in die ausgestreckte Hand ihrer Tochter fallen. Irgendwo musste sie den Zettel mit der Telefonnummer des Therapeuten noch haben. Vielleicht sollte sie doch mal dort anrufen und einen Termin ausmachen.

Der Therapeut hieß Christoph Köhler, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, und er sah nicht so aus, wie Jessica sich einen Therapeuten vorgestellt hatte. Das hieß, er war weder sonderlich alt, noch hatte er einen dichten grauen Bart. Er starrte sie auch nicht über die Gläser einer schmalen Brille hinweg an. Stattdessen hatte er eher etwas von einem Immobilienmakler. Nicht die schleimige Sorte, zum Glück. Dennoch war sich Jessica nicht sicher, ob Psychiater wirklich so aussehen sollten, als wollten sie einem etwas verkaufen.

Andererseits hätte er auch der sympathischste Mensch auf Erden sein können, und Jessica hätte ihn trotzdem auf den ersten Blick nicht leiden können. Wenn er sie noch einmal auf diese verständnisvolle, aber irgendwie auch ein wenig mitleidige Art anlächelte, mit der er sie begrüßt hatte, würde sie wahrscheinlich einfach aufstehen und gehen.

»Hören Sie«, begann Jessica, »ich will nicht über meine Kindheit reden oder so was. Ich will einfach nur wieder Auto fahren können. Wenn’s sein muss, nehme ich dafür auch Tabletten.«

Dr. Köhler lächelte auf seine verständnisvolle, aber irgendwie auch ein wenig mitleidige Art. Der einzige Grund, warum Jessica nicht einfach aufstand und ging, war, dass sie dann einen neuen Termin bei einem anderen Psychiater hätte ausmachen müssen. Das wäre sehr ärgerlich und äußerst lästig gewesen.

»Medikamente können sicher helfen«, sagte Dr. Köhler. »Und ich hätte wahrscheinlich auch vorgeschlagen, dass wir versuchen, Sie auf ein leichtes Antidepressivum einzustellen. Aber es kann auch sehr hilfreich sein, der Ursache Ihrer Probleme auf den Grund zu gehen. Die muss ja nicht zwingend in Ihrer Kindheit liegen.«

Jessica hob die Hand, um ihn zu stoppen. »Das Gerede von der Ursache kenne ich. Das hat mein Mann auch zu hören bekommen nach seinem Burn-out vor drei Jahren. Mein Ex-Mann. Da hieß es nämlich, er müsse die Stressfaktoren in seinem Leben identifizieren und reduzieren.«

Der Psychiater nickte. »Ja, das ist auch ein sehr wichtiger Schritt.«

Jessica schnaubte. »Tja, dumm nur, dass seine Stressfaktoren offensichtlich meine Tochter und ich waren. Also hat er sich scheiden lassen.«

Dr. Köhler blinzelte. »Das …« Man musste ihm wohl zugutehalten, dass er sich schnell wieder fing. »Er hat sich scheiden lassen mit der Begründung, dass Sie und Ihre Tochter einen Stressfaktor in seinem Leben darstellen?«, hakte er nach.

Jessica hob die Schultern. »So direkt hat er das natürlich nicht gesagt. Aber nennen Sie mir mal jemanden, für den ein dreizehnjähriges Mädchen mitten in der Pubertät keinen Stressfaktor darstellt.« Die Tatsache, dass Thomas direkt danach für ein Jahr im Amazonasgebiet verschwunden war, um dort im Auftrag irgendeiner Naturschutzorganisation auf einem Baum zu leben, hatte schließlich recht deutlich impliziert, dass er möglichst viel Abstand zu seiner Familie gewinnen wollte. Auch wenn er das natürlich immer bestritten hatte.

»Nun«, sagte Dr. Köhler. »Aber Kinder bringen doch auch viel Freude.«

»Sehen Sie. Deshalb habe ich nicht vor, Stressfaktoren zu reduzieren.«

»Frau Hanser, Ihre Tochter ist sicher nicht die Ursache für Ihre Angsterkrankung, und ich würde meinen Patienten niemals empfehlen, ihre Familie zu verlassen. Es gibt sicher weit wichtigere Faktoren für den Ausbruch Ihrer Krankheit.«

Jessica nickte. »Wahrscheinlich. Ich habe einen Job. Aber ich kann schlecht einfach aufhören zu arbeiten.« Okay, vielleicht verhielt sie sich ein wenig trotzig. Vielleicht auch mehr als nur ein wenig. Aber dieses Gerede über das Finden der Ursachen machte sie kirre. Natürlich hatte sie Stress. Jeder hatte Stress. Die meisten Leute knickten darunter trotzdem nicht ein wie ein feuchtes Papiertaschentuch.

»Nun, erst mal sind Sie ja krankgeschrieben. Und später könnten Sie mit reduzierter Arbeitszeit wieder einsteigen.«

Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass derzeit ihre Kollegen all die wichtigen Kunden unter sich aufteilten, die Jessica in mühevoller Arbeit an Land gezogen und gepflegt hatte. Wenn sie dann auch noch anfinge, Teilzeit zu arbeiten, wäre sie ziemlich schnell nicht mehr als eine bessere Sekretärin.

Außerdem wäre da noch ein weiterer wichtiger Faktor zu berücksichtigen. »Das könnte ich vielleicht, wenn mein Ex mich nicht mit einem halb abbezahlten Hauskredit hätte sitzen lassen.«

»Nun, dann gäbe es immer noch die Möglichkeit, sich eine Stelle mit einem besseren Arbeitsumfeld zu suchen.«

Jessica schnaubte. »Ich arbeite in der Werbebranche. Ich kenne niemanden, der keine Überstunden macht und nicht über seine Kollegen oder seinen Chef schimpft. Es ist überall dasselbe.«

Außerdem hatte sie jahrelang daran gearbeitet, sich den Kundenstamm aufzubauen, den sie jetzt hatte. Irgendwo anders noch einmal von vorn anzufangen – Kunden an Land ziehen, von ihren Vorgängern übernommene Kunden kennenlernen, herausfinden, was man ihnen anbieten konnte und was nicht –, allein bei dem Gedanken daran wurde ihr ganz anders.

Diesmal rieb der Psychiater sich die Schläfen. Er tat es nicht sonderlich auffällig, es war nur eine kurze Berührung mit Zeige- und Mittelfinger, bevor er sich etwas in der Kladde auf seinem Schoß notierte. Aber Jessica war gut darin zu erkennen, wenn jemand mit seiner Geduld am Ende war. Das war immer der Punkt in Diskussionen, an dem man noch mal auf seinen Forderungen beharren sollte.

»Also, verschreiben Sie mir einfach die Tabletten?«, fragte sie. Vielleicht würde das schon reichen. Vielleicht würde sie damit schon wieder alles in den Griff bekommen.

Dr. Köhler nickte. »Das ist sicher der nächste Schritt. Ich gebe Ihnen ein Rezept mit, und dann sehen wir uns nächste Woche wieder.«

Natürlich. Konnte wohl nicht angehen, dass sie aus dieser Sache herauskam, ohne früher oder später über ihre Kindheit reden zu müssen.

2

Man brauchte fast zwei Stunden mit dem Bus von Frankfurt nach Dreiecker. Jessica hatte bisher nicht gewusst, über wie viele kleine Dörfer man auf dem Weg einen Schlenker machen konnte, wenn man es darauf anlegte. Aber wenigstens waren es dann nur noch zehn Minuten zu Fuß von der Haltestelle bis zu ihrem Haus. Auf dem Weg die Einfahrt hinauf entdeckte sie eine kleine schwarz-weiße Katze, die unter dem Rhododendron scharrte. Nicht schon wieder.

»Hey!«

Die Katze sah ertappt auf, dann flitzte sie davon. Jessica seufzte. Immerhin hatte die kleine Streunerin diesmal keine Blumen ausgegraben, sondern wahrscheinlich nur ihr Geschäft unter dem Busch verrichtet. Jessica würde später mal mit der verrückten Katzenfrau reden müssen, aber nicht jetzt. Für den Moment fühlte sie sich einfach nur zerschlagen.

Ein kurzer, düsterer Blick zum Auto, das Miriam ein bisschen schief eingeparkt hatte, dann schloss sie die Haustür auf.

Das Telefon klingelte, noch bevor sie ganz durch die Tür war. Auf dem Weg ins Wohnzimmer hinterließ Jessica eine Spur aus abgelegter Handtasche und Schuhen, um noch rechtzeitig abzuheben. »Hanser?«

»Jessica!«

Kaum dass sie Thomas’ Stimme hörte, bereute Jessica, die Nummer auf dem Display nicht überprüft zu haben. Ein Gespräch mit ihrem Ex-Mann war gerade das Letzte, was sie gebrauchen konnte.

»Ich hab doch schon gesagt, dass Miriam in den Sommerferien zu dir kommen kann, Thomas.«

Seit er vom Bäumeknuddeln aus dem Amazonas zurückgekehrt war, hatte Thomas nicht nur eine hübsche, jüngere Freundin – die nach allem, was Jessica wusste, hin und wieder gerne mit nacktem Oberkörper gegen Umweltzerstörung demonstrierte –, sondern auch einen schicken neuen Wohnsitz in Alto Paraíso de Goiás in Brasilien. Von dort aus exportierte er nun Açai und von ihm selbst erfundene Superfood Fries – im Prinzip waren das Pommes, nur eben aus Maniokwurzeln anstelle von Kartoffeln, weshalb man sie als total gesund verkaufen konnte – nach Deutschland, und er verdiente sich damit eine goldene Nase. Kurz gesagt, er hatte sein Leben wieder im Griff, während Jessicas immer weiter auseinanderfiel. Und er hatte beschlossen, dass er nun tatsächlich die Zeit und die Muße hatte, hin und wieder ein Vater zu sein.

»Ich weiß, Jessica. Tut mir leid. Ich habe nur gerade gehört, was passiert ist.«

Oh nein. »Es ist alles in Ordnung.«

»Miriam sagt, du kannst nicht mehr Auto fahren.«

Miriam? Jessica fühlte sich verraten. Natürlich hätte sie damit rechnen müssen, dass ihre Tochter mit ihrem Vater darüber sprach, was in ihrem Leben vorging. Trotzdem, ein bisschen mehr Rückhalt wäre nett gewesen. »Das wird wieder.«

»Jessica …« Thomas klang genauso verständnisvoll und mitleidig wie Dr. Köhler. Jessica fragte sich, womit sie es verdient hatte, dass sie solche Männer offensichtlich anzog. »So was wird nicht einfach so wieder. Ich weiß, wovon ich rede.«

»Ach, bist du jetzt ein Experte für psychische Erkrankungen, weil du einmal einen Burn-out hattest und in den Amazonas abgehauen bist?«

»Jessica«, sagte er wiederum verständnisvoll und noch etwas mitleidiger. »Ich verstehe, dass du im Moment aufgebracht bist, aber die Zeit auf dem Baum hat mir wirklich gutgetan. Ich hatte das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein, verstehst du? Dieses Schuften tagein, tagaus für irgendeine herzlose Firma, das macht einen fertig. Das merkst du ja jetzt auch. Vielleicht solltest du dir auch so eine Auszeit nehmen.«

»Ich habe eine Tochter, um die ich mich kümmern muss.« Jessica klang weder verständnisvoll noch mitleidig, sondern mit voller Absicht so giftig, wie sie nur konnte.

»Aber das ist ja gerade der Grund, weswegen ich anrufe. Weißt du, du hast im Moment so viel mit dir selbst zu tun, dass ich dachte, vielleicht könnte Miriam zu mir ziehen. Luana und ich haben schon geschaut, es gibt die Möglichkeit, einen deutschen Privatlehrer zu organisieren, und wenn sie Portugiesisch lernt …«

Doch Jessica hörte ihn nicht mehr über das Rauschen des Blutes in ihren Ohren hinweg. Er wollte ihr ihre Tochter wegnehmen. Da hatte sie gedacht, es könnte nicht mehr schlimmer kommen, und dann kam ihr Ex-Mann und nutzte es auf die hinterhältigste Art aus, dass sie gerade am Boden lag. Und zu allem Überfluss verhielt er sich dabei auch noch so, als würde er ihr einen Gefallen tun.

»Nein«, sagte Jessica mit so viel Ruhe, wie sie aufbringen konnte. Dann legte sie einfach auf.

Sie brauchte zwei Anläufe, um das Telefon auf die Ladestation zurückzustellen, weil ihre Hände so sehr zitterten.

Das Fahrrad schwankte gefährlich, als Jessica es die Straße hinuntersteuerte. Sie hatte extra die Plastikflaschen mit Wasser gekauft und keine Kiste voller Glasflaschen, doch auch die Plastikflaschen hatten nur gerade so in den Fahrradkorb gepasst. In dem bisschen Platz, das sie freiließen, klemmte eine Stofftasche voll mit der geringen Auswahl, die der örtliche Tante-Emma-Laden hergab.

Das war für sich schon eine ärgerliche Situation. Jessica würde herausfinden müssen, ob man Duschgel eigentlich online bestellen konnte. Zum Supermarkt drei Dörfer weiter zu fahren, um mal eben schnell eins zu besorgen, war auf jeden Fall nicht mehr drin. Ohne Internet wäre sie jetzt komplett aufgeschmissen.

Auch so schon wackelte das Fahrrad bedenklich unter der Last der Lebensmittel, die sie bestimmt nicht online bestellen wollte – auch wenn man das sicher konnte, was ging denn heutzutage schon nicht? Jessica verkrampfte die Finger um den Lenker und trat kräftig in die Pedale. Wenn sie genug Schwung hatte, bekam die Schwerkraft vielleicht einfach nicht die Gelegenheit, ihren eigentlichen Job zu erledigen. Die rettende Einfahrt war auch bereits in Sicht. Es wäre allerdings noch besser gewesen, hätte die Straße vor ihrem Haus nicht so viele Schlaglöcher gehabt.

Wahrscheinlich war es ein Fehler, an die Schlaglöcher überhaupt zu denken. Im nächsten Moment brach der Lenker ein Stück zu weit nach rechts aus, und das Vorderrad blieb genau in einem solchen Krater hängen.

Nun allerdings erwies es sich als sehr glücklicher Umstand, dass sie wegen der schweren Last ohnehin nur gerade mal Schrittgeschwindigkeit gefahren war. So passierte nicht viel mehr, als dass sie etwas unsanft vom Sattel rutschte, einen Moment lang um ihr Gleichgewicht kämpfte und hilflos dabei zusehen musste, wie das Fahrrad unter ihr umkippte.

Mit einem protestierenden Quietschen seiner Plastik­umhüllung kippte das Paket mit Wasserflaschen aus dem Korb. Die Stofftasche folgte diesem Beispiel. Der provisorische Knoten, den Jessica in die Henkel gebunden hatte, damit nichts herausfiel, ging auf, und Äpfel, Tetra Paks und die Tüte mit den Brötchen ergossen sich auf die Straße.

Einen Moment lang stand Jessica einfach nur da und starrte auf die Misere. Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln, und sie blinzelte, um sie zu vertreiben. Sie hatte seit Jahren nicht mehr geweint, sie würde jetzt ganz sicher nicht wegen eines umgekippten Fahrrads damit anfangen.

»Ach du meine Güte!« Die Stimme erklang aus der Einfahrt der Katzenfrau, und Jessica blickte gerade rechtzeitig auf, um ihre Nachbarin – Böhmer war der Name, soweit sie wusste – auf sich zukommen zu sehen. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Jemand, der Kommentare abgab und Fragen stellte. Immerhin, vor der Katzenfrau musste sie wohl keine Angst haben, verrückt zu wirken. Die erkannte wahrscheinlich nicht mal, wenn es sie in die Nase zwickte.

Die Böhmer trug ihr fast weißes Haar zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden, und auf ihren Jeans und ihren Schuhen prangten Matschflecken. Hinter ihr in der Einfahrt stand ein ganzer Packen Katzenfutterdosen, die sie wahrscheinlich gerade zu ihrem Auto hatte tragen wollen. Nun bückte sie sich nach den Äpfeln und sammelte sie auf.

»Einkaufen mit dem Fahrrad?«, fragte sie. »Hätte Sie ja gar nicht für den Typ gehalten, der sich Sorgen um die Umwelt macht.«

Jessica konnte nicht sagen, ob das eher positiv oder eher negativ zu verstehen war. Im Zweifelsfall wohl eher negativ. Sie beschloss, darauf einfach nicht zu antworten. Stattdessen griff sie nach der Stofftasche und schob die entkommenen Tetra Paks Milch wieder hinein. Was für ein Glück, dass der Tante-Emma-Laden keine Eier gehabt hatte. Das wäre nicht gut ausgegangen. »Danke.«

Gemeinsam sammelten sie auch den Rest von Jessicas Einkäufen von der Straße.

»Sie waren bei Brigitte einkaufen, nicht wahr?« Ihrem Ton nach zu urteilen gab es nicht viel Sympathie zwischen Frau Böhmer und der Besitzerin des Tante-Emma-Ladens. Höchstwahrscheinlich gab es nicht sonderlich viel Sympathie zwischen Frau Böhmer und irgendwem im Dorf. Zumindest hatte Jessica noch niemanden positiv über sie reden hören.

Jessica nickte.

»Würde ich ja nicht machen. Die nimmt für alles doppelt so viel wie im Netto drüben in Eschersheim.«

Ach, echt? Jessica musste sich auf die Zunge beißen, um das nicht laut auszusprechen. Ihr war durchaus aufgefallen, dass der Einkauf trotz der mageren Ausbeute deutlich teurer gewesen war als normal.

»Danke für den Hinweis«, brachte sie hervor. Sie setzte dazu an, die Henkel der Stofftasche wieder zu verknoten, aber die Böhmer streckte die Hand danach aus.

»Geben Sie her, ich trag’s Ihnen schnell rüber.«

»Das ist wirklich nicht …«

»Ist kein Ding«, unterbrach die Böhmer sie.

»Danke«, sagte Jessica wieder, obwohl sie sich scheußlich fühlte. Sie brauchte niemanden, der ihre Einkäufe für sie trug. Vor allem nicht, wenn es ihre verrückte und deutlich ältere Nachbarin war. Es sorgte nur dafür, dass sie sich noch hilfloser fühlte als ohnehin schon.

Doch die Böhmer half Jessica zuerst, ihr Fahrrad wieder aufzurichten, dann schnappte sie sich die Tasche.

»Wenn Sie frisches Obst oder Gemüse oder auch Eier brauchen, würd ich lieber zum Rüdiger gehen«, sagte sie, während sie in Richtung von Jessicas Einfahrt gingen.

»Rüdiger?« Jessica hatte sich nie große Mühe gegeben, die Leute im Dorf kennenzulernen. Sie hatte immer genug andere Dinge zu tun gehabt.

»Am Dorfrand in Richtung Buchschlag. Der mit den Gewächshäusern.«

Die Gewächshäuser hatte Jessica natürlich schon gesehen.

»Der hat einen Hofladen«, erklärte die Böhmer weiter. »Da gibt’s alles Mögliche.«

Das klang zugegebenermaßen nicht ganz schlecht. Sie bogen in Jessicas Einfahrt ein.

»Ist Ihr Auto kaputt?« Die Böhmer beäugte den Wagen, der nicht wieder bewegt worden war, seit Miriam ihn schief eingeparkt hatte. Offensichtlich war ihre Nachbarin zu dem Schluss gekommen, dass Jessica definitiv nicht zu den Leuten gehörte, die Fahrrad fuhren, um die Umwelt zu schonen.

Einen Moment lang dachte Jessica darüber nach, einfach zu lügen und zu bejahen, aber dann müsste sie womöglich erklären, warum sie das Auto nicht zur Reparatur brachte.

»Ich kann im Moment nicht fahren«, sagte sie stattdessen.

»Das ist aber echt unpraktisch hier.«

Diesmal war es wirklich sehr knapp, fast wäre Jessica das Nein,echt? herausgerutscht.

»Sagen Sie Bescheid, falls Sie irgendwas brauchen«, fuhr die Böhmer fort. »Ich bring Ihnen gern was mit. Ist kein Ding.«

»Danke«, sagte Jessica wieder und nahm sich gleichzeitig vor, das Angebot niemals anzunehmen.

Die Böhmer stellte die Stofftasche vor Jessicas Haustür ab. »Gut, ich muss dann wieder weiter. Vielleicht erwisch ich die Crisette heute. Die humpelt seit Tagen, ist aber viel zu schlau, um in die Falle zu gehen. Armes Tier.«

Jessica nickte höflich. Vielleicht war das ein gutes Stichwort, um die Sache mit den vollgepinkelten Blumenbeeten anzusprechen? Natürlich nicht im Sinne eines Vorwurfs, immerhin hatte die Böhmer ihr gerade geholfen, aber irgendwas musste sich doch dagegen unternehmen lassen. »Ah ja, was Ihre Katzen angeht …«, begann Jessica.

»Wenn Sie mir sagen wollen, dass die immer in Ihre Beete machen«, unterbrach die Köhler sie, »das sagen mir alle hier in der Straße. Kann ich aber nichts dagegen machen.« Sie hob die Schultern. »Die machen halt überall hin, wo es sich leicht verscharren lässt. Sind eigentlich sehr reinlich, wissen Sie. Wenn’s Sie stört, machen Sie ‘ne Schicht Kiesel über die Erde. Das mögen sie nicht.«

Damit hob sie noch mal die Hand zum Gruß und kehrte in ihre eigene Einfahrt zurück.

Als ein paar Tage später das Telefon wieder klingelte, überprüfte Jessica zuerst die Nummer auf dem Display, bevor sie abhob. Keine brasilianische Vorwahl diesmal. Gut. Stattdessen war es eine Frankfurter Nummer, die sie gut kannte. Die ihres Arbeitsplatzes.

Jessica hob ab. »Ja?«

»Ah, Frau Hanser, gut, dass ich Sie erwische«, erklang die Stimme von Leonard Badner. Wenn ihr Chef persönlich anrief, konnte das nichts Gutes bedeuten. »Haben Sie gerade Zeit?«

Was für eine Frage. Er wusste genau, dass sie tagein, tagaus zu Hause festsaß. Jessica hatte sich inzwischen recht weit durch den Stapel an Büchern gelesen, die sie schon immer mal hatte lesen wollen, der Garten sah endlich mal wirklich ordentlich aus, der Berg an Wäsche war bewältigt und das Haus gründlich geputzt worden. Sie hatte außerdem festgestellt, dass das Nachmittagsfernsehprogramm wahrhaftig grauenhaft war, und dachte über ein Netflix-Abo nach. Alles, was sie davon ablenkte, tatsächlich über ihre Situation nachzudenken, war willkommen. »Ja, natürlich.«

»Großartig! Großartig! Wir haben da nämlich ein Problem.«

Natürlich hatten sie ein Problem, sonst würde er nicht anrufen.

»Was gibt es denn?«

»Es ist wegen der Telenex-Sache. Sie wissen schon. Die sind nicht ganz zufrieden mit den Plakaten, und der Safranski will unbedingt nur mit Ihnen sprechen. Ich muss Ihnen ja nicht sagen, wie wichtig Telenex als Kunde für uns ist. Vielleicht könnten Sie …«

»Ja«, hörte Jessica sich ganz automatisch sagen, bevor sie auch nur darüber nachdenken konnte, dass sie doch eigentlich krankgeschrieben war. »Natürlich. Senden Sie mir noch mal alle wichtigen Daten zu, dann rufe ich ihn an.«

»Ganz großartig! Wunderbar! Ich hab ihm gesagt, Sie melden sich innerhalb der nächsten Stunde. Und ich hoffe, wir können Sie bald wieder im Büro begrüßen.«

Widerwillen regte sich in Jessica, schon allein aus Prinzip, weil ihr Chef offensichtlich einfach davon ausgegangen war, dass sie den Anruf erledigen würde. Sie schluckte den Ärger herunter und nickte, obwohl Badner sie durch das Telefon natürlich nicht sehen konnte. »Ein bisschen dauert es sicher noch, aber es wird«, behauptete sie. Was sollte sie denn auch sonst sagen? Dass sie zwei Wochen zu Hause herumgesessen hatte und seit einer Woche Antidepressiva nahm und sich überhaupt nichts tat? Am Ende kam ihr Chef noch auf die Idee, eine Vertretung für sie zu suchen, und dann würde sie sicher nicht mehr in dieselbe Position zurückkehren können, die sie vor dem blöden Zwischenfall gehabt hatte.

»Sehr gut, sehr gut. Dann hoffe ich, Sie können das mit Telenex klären. Wie gesagt, es wäre fatal, wenn wir die als Kunden verlieren würden.«

Aber nur kein Druck. Jessica nickte wieder. »Natürlich. Kein Problem.«

Als Miriam von der Schule zurückkam, war Jessica immer noch am Telefon. Sie winkte ihrer Tochter zur Begrüßung kurz zu und versuchte, ihr mit Gesten klarzumachen, dass das Gespräch wichtig war.

»Ich kann es Ihnen auch nicht so genau sagen«, sagte Herr Safranski von Telenex gerade, »aber wir sind hier der Ansicht, dass noch die Big Emotions fehlen, wissen Sie? Der Kunde muss das Plakat sehen und direkt davon umgehauen werden. Kawumm! Es muss einen direkten Impulse to buy geben. Wir haben das Gefühl, das ist beim derzeitigen Entwurf noch nicht so ganz der Fall. Ich bin sicher, das können Sie besser. Wir brauchen mehr Event, mehr …« Er suchte nach Worten.

»Kawumm?«, schlug Jessica vor und versuchte, Miriams missbilligende Blicke zu ignorieren, die offensichtlich gemerkt hatte, dass es in dem Telefonat um die Arbeit ging. Jessicas Widerwillen hatte sich inzwischen zu Ärger gesteigert, der ohne Ventil tief in ihrem Inneren brodelte. Telenex hatte ihnen den Auftrag gegeben, Plakatwerbung für einen Telefontarif zu entwerfen. Es gab deutliche Grenzen, wie viele Emotionen man damit beim durchschnittlichen potenziellen Kunden hervorrufen konnte. Und »Kawumm« ließ sich bestimmt nur erreichen, indem man das Plakat in die Luft sprengte. Am liebsten hätte sie Herrn Safranski gefragt, was für Wunder er eigentlich erwartete, stattdessen setzte sie das Lächeln auf, von dem sie wusste, dass man es durchs Telefon hören konnte. Ganz, wie sie es gelernt hatte.

»Exakt!«, rief Herr Safranski. »Ich bin froh, dass wir uns verstehen.«

»Hatten wir uns nicht auf einen minimalistischen Ansatz geeinigt?«, fragte Jessica.

»Ja, ja, natürlich, und wir sind auch immer noch der Ansicht, dass das die richtige Richtung ist, aber die Emotionen dürfen natürlich trotzdem nicht fehlen, verstehen Sie? Sie müssen sie einfach auf den Punkt bringen. Straight to the point!«

Jessica gab sich große Mühe, nicht zu seufzen. »Okay, minimalistischer Ansatz, aber mehr Emotionen.« Wie immer, die Eier legende Wollmilchsau. Natürlich konnte niemand in ihrer Firma solche Wunder bewirken, aber der Trick bestand darin, den Kunden davon zu überzeugen, dass er genau das bekommen hatte, was er wollte. Irgendjemand in der Firma hatte in dieser Hinsicht während ihrer Abwesenheit gewaltig versagt, sonst würde sie dieses Gespräch nun nicht führen müssen. Kam davon, wenn man nicht alles selbst machte.

»Ganz genau. Machen Sie einfach noch einen weiteren Entwurf, dann reden wir noch mal, ja?«

»Einfach noch ein weiterer Entwurf« würde irgendeinen armen Grafiker in der Firma ein paar Tage Arbeit kosten, aber Jessicas Gedanken kreisten bereits darum, wie man mit möglichst wenigen Änderungen etwas erzielen konnte, das sich dann gut als genau das verkaufen ließ, was der Kunde gewünscht hatte. Und das bedeutete, dass sie auch das nächste Gespräch führen musste, ansonsten verpatzte das wieder einer ihrer Kollegen.

Sie verbrachte noch ein paar Minuten damit, Herrn Safranski auf das vorzubereiten, was ihr vorschwebte, sodass er später hoffentlich glauben würde, dass das, was sie ihm vorsetzte, exakt das war, was er sich vorgestellt hatte. Als sie schließlich auflegte, fühlte sie sich so erschöpft, als wäre sie gerade einen Marathon gerannt. Widerwillen und Ärger bildeten einen festen Knoten in ihrem Bauch, und das Telefon heftiger als nötig zurück auf die Ladestation zu stellen brachte auch nicht sonderlich viel Erleichterung.

Miriam spähte aus der Küche ins Wohnzimmer. Offensichtlich hatte sie mit dem Mittagessen nicht gewartet. Warmes Essen würde es ohnehin erst abends geben. »Kannst du also wieder arbeiten?«

»Ich kann generell arbeiten«, gab Jessica gereizt zurück. »Ich kann nur nicht Auto fahren.«

Miriam nahm einen Bissen von dem Käsebrot, das sie sich geschmiert hatte. Sie musterte Jessica auf eine Art, die irgendwie besorgt wirkte. »Und was ist mit Stress vermeiden und so?«

»Es war nur ein Telefongespräch!« Aus irgendeinem Grund hatte Jessica das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, und das sorgte dafür, dass ihre Stimme umso schärfer wurde. »Es war wichtig.«

»Dass du endlich den blöden Impfpass wegen der Reise findest, ist auch wichtig.« Nun klang Miriam patzig.

»Ich hab doch gesagt, ich mache das so bald wie möglich.« Ehrlich gesagt krampfte sich ein weiterer Knoten aus Widerwillen in Jessicas Bauch zusammen, jedes Mal wenn sie auch nur an den Impfpass dachte. Die Impfungen brauchte Miriam für ihre Reise nach Brasilien zu ihrem Vater. Einen Pass hatte sie bereits, und die Flugtickets hatte Thomas schon besorgt. Die Impfungen waren das Einzige, was noch anstand. Danach war Miriam frei, zu ihrem Vater zu verschwinden und Jessicas endgültiges Versagen zu bestätigen. Nicht nur ihren Job konnte sie nicht ordentlich machen, auch um ihre Tochter konnte sie sich nicht gut genug kümmern, sodass die lieber ins Ausland verschwand.

Okay, das war jetzt wahrscheinlich übertrieben, zumindest zum Teil. Aber was, wenn es Miriam in Brasilien so gut gefiel, dass sie sich von Thomas überzeugen ließ, bei ihm zu bleiben? Besser als ein Kaff in der Nähe von Frankfurt mit einer Mutter, die einen nirgendwo mal eben schnell hinbringen konnte, war Alto Paraíso de Goiás wohl allemal. Und wenn ihre Tochter es sich erst mal am anderen Ende der Welt gemütlich eingerichtet hatte, dann blieben Jessica von ihrem Traum von einer glücklichen Familie, einer guten Karriere und einem kleinen Häuschen im Grünen nur noch ein Berg Schulden. Und das Häuschen natürlich, das allerdings ohne Auto immer mehr zum Gefängnis wurde.

»Das hast du schon vor ein paar Tagen gesagt«, grummelte Miriam. »Was hast du denn so Wichtiges zu tun, dass das bis jetzt nicht möglich war?«

Autsch. Ja, es stimmte, Jessica saß die meiste Zeit über zu Hause herum, aber musste Miriam ihr das so schonungslos unter die Nase reiben?

»Wenn du ihn nicht suchen willst, kann ich das auch selbst machen«, fuhr Miriam fort. »Sag mir nur, wo ungefähr.«

»Ich muss nicht mehr suchen, ich habe eine gute Vorstellung, wo er ist«, widersprach Jessica. Das stimmte so halb. »Ich gebe ihn dir morgen.« Ihn nicht rauszurücken würde schließlich auch nicht helfen.

»Okay.« Miriam klang nicht so, als würde sie ihr wirklich glauben. »Ich fahr mit dem Bus zum Arzt.«

Sieh an, wer hätte gedacht, dass ihre Tochter tatsächlich selbstständig einen Arztbesuch organisieren konnte. Dazu noch für eine Impfung, was sonst immer ein unglaubliches Drama gewesen war. Es wäre fast erfreulich gewesen, hätte es nicht unterstrichen, wie eilig Miriam es hatte, von hier wegzukommen.

Jessica nickte. »Ich geb dir Geld für die Fahrkarte.« Es sollte ihr schließlich niemand nachsagen, dass sie Miriam die Umsetzung einer Schnapsidee ihres Vaters von ihrem eigenen Taschengeld bezahlen ließ.

»Danke«, sagte Miriam schon wieder etwas versöhnlicher. Das war ungewöhnlich. Normalerweise musste Jessica immer darum kämpfen, mal ein Dankeschön zu bekommen. »Kann ich am Wochenende übrigens mit Benny und den anderen auf die Kirmes in Eschersheim?«, fügte sie dann hinzu. Ah, das erklärte die Freundlichkeit.

»Bringt er dich auch wieder zurück?«

Miriam nickte eilig. »Alles kein Problem.«

»Wenn’s sein muss. Aber ruf mich an, falls was ist.«

Miriam zog die Augenbrauen in die Höhe, als wollte sie fragen: Und was machst du dann? Es war eine berechtigte Frage, aber sie sorgte dafür, dass Jessica sich umso mehr wie eine Versagerin fühlte. »Ruf einfach an«, fügte sie deshalb nur noch einmal zur Bekräftigung hinzu. Irgendetwas würde ihr dann schon einfallen.

Jessica starrte auf die lange Liste ihrer unbeantworteten E-Mails. Das Wissen, dass sie existierten, war einigermaßen erträglich gewesen, solange sie die Nachrichten nicht hatte sehen müssen. Aber zur Vorbereitung auf das Telefonat mit Herrn Safranski hatte sie sich von zu Hause aus in ihr Arbeits-Mailkonto einloggen müssen. Und da waren sie, starrten ihr vorwurfsvoll vom Bildschirm entgegen. Jessica klickte eine davon an und las sie. Vielleicht könnte sie ja einfach von zu Hause aus arbeiten, bis sie wieder in der Lage war, Auto zu fahren? Stressfaktoren hin oder her, irgendwo musste ja schließlich das Geld herkommen. Auf dem Schreibtisch neben dem Computer lag die neueste Kreditabrechnung. Nicht mal die Hälfte der Summe hatte sie inzwischen abbezahlt. Wie lange sollte sie denn noch untätig herumsitzen, während ihr Job ihr langsam entglitt, die Rechnungen sich stapelten und ihre Zukunftsperspektive immer düsterer wurde?

Sie las die E-Mail noch mal, nachdem ihre Gedanken beim ersten Versuch abgeschweift waren. Jemand wollte irgendwelche Informationen, die sie erst mühsam würde zusammensuchen müssen. Jessica klickte die Mail wieder weg. Irgendwo gab es für den Anfang doch sicher eine einfachere.

Einige waren Anfragen von potenziellen Kunden. Die waren an ihre Kollegen weitergeleitet worden. Einige waren Spams. Jessica löschte Letztere und fühlte sich damit zumindest ein bisschen produktiv. Als Nächstes stieß sie auf eine Mail, in der sich ein Kollege über einen anderen beschwerte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und sie musste zweimal klicken, bevor sie das Kreuzchen im rechten oberen Bildrand traf.

Danach lehnte sie sich erst einmal in ihrem Stuhl zurück und atmete tief durch. Warum fühlte sie sich, als wäre sie gerade um Haaresbreite einem scheußlichen Schicksal entronnen? Ja, die Streitereien innerhalb der Firma waren ziemlich anstrengend, aber sie hatte sie doch immer ganz gut gehandhabt, oder? Kein Grund, dass ihre Hände schon wieder zitterten. Diese Verräter.

Mit einem Seufzer schloss Jessica das Mailprogramm.

3

»Natürlich«, sagte Dr. Köhler am nächsten Tag, »reagieren Sie derzeit verstärkt auf alles, was Ihnen Stress bereitet.«

»Aber ich nehme doch die Tabletten!«, protestierte Jessica. »Sollten die das nicht irgendwie auffangen?«

»Bis die Tabletten wirken, dauert es normalerweise ein paar Wochen. Sie können außerdem immer nur zur Unterstützung dienen, nie eine vollständige Lösung sein. Solange Sie die Verhaltensweisen nicht aufgeben, die zu Ihren Problemen geführt haben, wird es Ihnen auch nicht besser­gehen.«

Das konnte doch nicht wahr sein! Die Verhaltensweisen, die zu Ihren Problemen geführt haben … »Ich versuche doch nur, ein bisschen zu arbeiten!«

Der Psychiater gab ein Geräusch von sich, das verdächtig nach einem schlecht unterdrückten Seufzer klang. »Denken Sie doch bitte noch einmal darüber nach, wie Sie sich fühlen, wenn Sie versuchen zu arbeiten.«

Das tat er gerne. Zu fragen, wie sie sich mit etwas fühlte, anstatt einfach direkt zu sagen, was er dachte. Als könnte er ihr seine Meinung irgendwie eingeben, wenn er dieselbe Frage nur oft genug stellte.

»Es ist Arbeit«, gab Jessica gereizt zurück. »Niemand ist glücklich über Arbeit.«

Einen Moment lang sah Dr. Köhler so aus, als würde er ihr da aus ganzem Herzen zustimmen. Dann legte er das Klemmbrett mit seinen Notizen beiseite. »Frau Hanser, Sie sind nicht ohne Grund krankgeschrieben. Ich denke, es täte Ihnen gut, Ihren Chef daran zu erinnern.«

»Natürlich«, versprach sie, ohne es wirklich zu meinen. Sicher, sie konnte nicht gefeuert werden wegen einer Krankheit. Aber das hieß noch lange nicht, dass man sie nach langer Krankheit in dieselbe Position zurückkehren lassen musste, die sie zuvor innegehabt hatte. Wenn sie dann einen von den Jobs bekäme, in denen sie die ganze schwierige Arbeit für ihre Kollegen erledigen müsste, während die anderen die Lorbeeren einstrichen, dann könnte sie sich wahrscheinlich nach einem halben Jahr gleich wieder krankschreiben lassen.

»Sie haben mich einfach vergessen, Mama.« Miriams Worte waren unter den ganzen Schluchzern kaum zu verstehen. Das Telefon hatte vor einer halben Minute geklingelt, und ein Blick auf die Uhr verriet Jessica, dass es nach Mitternacht war. Sie hatte schon geschlafen, schließlich hatte Miriam einen Schlüssel, und Jessica hatte sich wirklich vorgenommen, sich einmal keine Sorgen zu machen, nur weil ihr kleines Mädchen mit ein paar älteren Jugendlichen drei Dörfer weiter unterwegs war. Aber natürlich, wenn man sich einmal keine Sorgen machte, dann passierte sofort etwas. Sich Sorgen zu machen hielt Probleme fern. In Jessicas halb wachem Hirn ergab der Gedanke vollkommen Sinn.

»Beruhig dich«, murmelte sie. »Du bist sicher, dass sie ohne dich weggefahren sind? Vielleicht hast du sie nur kurz aus den Augen verloren.«

Miriam schniefte. »Anja hat irgendwen getroffen, den sie kennt, und ist mit dem weggegangen. Und ich weiß nicht, wo Jonas ist. Und Benny hat dieses Mädchen kennengelernt, und dann war er plötzlich weg, und sein Auto ist auch nicht mehr da.«

Das Ende des Satzes ging beinahe wieder in Tränen unter. In Jessica kämpfte Wut auf das Arschloch Benny mit einer gewissen Resignation, weil sie es doch fast geahnt hatte. Niemals interessierte sich ein Achtzehnjähriger für eine Sechzehnjährige. Miriam hatte einfach mit der Gruppe mitlaufen dürfen, aber die Hoffnungen, die sie sich offensichtlich gemacht hatte, hatten zwangsläufig irgendwann platzen müssen. Wenn Kinder nur auf ihre Eltern hören würden, wenn sie ihnen so etwas sagten.

Mittlerweile lief Jessicas innerer Motor auf voller Drehzahl. Sie schlüpfte in ihre Hausschuhe und tastete nach dem Morgenmantel, der an einem Haken hinter der Tür hängen musste. »Es ist okay«, versuchte sie, ihre Tochter zu trösten. »Ich ruf dir ein Taxi. Bleib einfach, wo du bist, und es kommt jemand, um dich abzuholen. In Ordnung?«

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