Überleben ist ein guter Anfang - Andrea Ulmer - E-Book

Überleben ist ein guter Anfang E-Book

Andrea Ulmer

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Beschreibung

Selbsthilfegruppen sind deprimierend, findet Anja Möller. Und die für krebskranke Frauen erst recht. Sie geht nur hin, weil ihr Mann das will. Und trifft dort auf die 83-jährige Sieglinde. Sieglinde ist trotz ihrer Diagnose voller Lebensfreude und plant eine Weltreise. Doch bevor sie die antreten kann, stirbt sie. Als die übrigen fünf absolut unterschiedlichen Frauen der Selbsthilfegruppe beschließen, an ihrer Stelle die Welt zu sehen, nimmt eine abenteuerliche Reise ihren Lauf: Sie haben nichts mehr zu verlieren, sondern alles zu gewinnen.

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Das Buch

Nach ihrer Krebsdiagnose beschließt die fast fünfzigjährige Anja Möller, eine Selbsthilfegruppe zu besuchen. Obwohl sie Selbsthilfegruppen eigentlich hasst. Doch schnell wird das regelmäßige Treffen zu ihrem Highlight der Woche: Sechs ganz unterschiedliche Frauen finden dort einen lockeren und unverkrampften Umgang mit der Krankheit. Was diese so verschiedenen Persönlichkeiten noch verbindet, ist, dass sie alle immer zu wenig auf sich selbst geachtet haben. Sie alle haben immer zugunsten der Familie auf ihre Wünsche und Träume verzichtet. Besonders Sieglinde, das älteste Mitglied der Gruppe, bereut das. Sie will nach dem nächsten Chemozyklus mal etwas für sich tun und hat eine Weltreise gebucht. Leider stirbt sie, bevor sie die Reise antreten kann. Schnell beschließen die anderen fünf Frauen, die Erkundung der fünf Kontinente an Sieglindes statt und zu ihren Ehren anzutreten. Dass dabei nicht alles glattläuft, versteht sich von selbst. Aber diese ganz besondere Reise macht aus jeder der Frauen einen neuen Menschen.

Die Autorin

Andrea Ulmer wurde 1985 geboren. Sie arbeitet als Lektorin und Autorin und lebt in Heilbronn.

Überleben ist ein guter Anfang basiert auf dem Schicksal der Mutter der Autorin. Deren sehr positiver Lebenseinstellung wird in dem Roman ein Denkmal gesetzt.

ANDREA ULMER

Überleben ist ein guter Anfang

Roman

List Taschenbuch

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ISBN 978-3-8437-1419-8

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © Arcangel/Tea Jagodic (Frau in lila Kreis); © Arcangel/Valentino Sani (Frau in gelbem Kreis); © plainpicture/Gallery Stock/Simon Stock (Hügel in gelbem Kreis)

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Für meine Mutter

Daheim

Selbsthilfe war Anja Möllers Meinung nach etwas, was man allein machte. Daher der Name.

Eine Selbsthilfegruppe war in ihren Augen genau so ein Widerspruch wie eine Eremiten-WG.

Nun stand sie trotzdem auf dem Vorplatz des Gemeindehauses von Unteröffelsheim und hielt diesen blöden Flyer in der Hand, den Robert im Krankenhaus gefunden hatte, während sie damit beschäftigt gewesen war, sich Gift durch die Adern jagen zu lassen. Tja … das hatte sie dem Blick zu verdanken. Mit dem Blick sah ihr Mann Robert sie an, seit sie die Diagnose erhalten hatte. Brustkrebs, Metastasen in den Knochen, unheilbar. Der Blick sagte: »Bist du dir sicher, dass du diese Einkaufstasche tragen solltest?« Er sagte: »Kannst du noch?«, wenn sie mehr als zehn Schritte ging. Und wenn er versuchte, ihr den Haushalt abzunehmen, und dabei den roten Pullover mit seinen Unterhosen in die Kochwäsche gab, hatte Robert etwas von einem getretenen Welpen.

Anja atmete tief durch. Es war sein Problem, dass er nun rosa Unterhosen tragen musste. Sie starrte auf den Flyer. »Gemeinsam stark gegen Krebs«, stand auf der ersten Seite. Als wäre Krebs ein schlechter Politiker, den man wegdemonstrieren konnte. Darunter war ein Kreis aus stilisierten Menschen abgebildet, die ein bisschen zu sehr wie die Piktogramme an öffentlichen Toiletten aussahen und einander an den Händen hielten. Auf der Rückseite war zu allem Überfluss auch noch eine gezeichnete Sonnenblume. Anja hielt Sonnenblumen für überbewertet. Sie sahen meistens viel zu schnell schrecklich zerrupft aus.

Aber die Adresse über der Sonnenblume schien richtig zu sein. »Raum E3« hieß es außerdem auf dem Flyer. Noch einmal atmete Anja tief durch. Dann öffnete sie die verkratzte Metalltür des Gemeindehauses und machte sich auf die Suche nach Raum E3. Natürlich waren die Räume nicht beschildert. Aber durch eine angelehnte Tür drang Gelächter. Vielleicht konnte ihr dort jemand sagen, wo Raum E3 war. Anja ging näher und klopfte an den Türrahmen.

»Immer hereinspaziert!«, hörte sie die Stimme einer älteren Frau.

Anja drückte die Tür auf. Mehrere weiße Tische waren aneinandergeschoben worden. Darum saßen Frauen unterschiedlichen Alters. Eine spindeldürre Frau mit schneeweißem Haar lächelte sie breit an, bevor sie sich einen Schokoladenkeks von einem Teller in der Mitte nahm. Eine Dame ungefähr Mitte vierzig mit einer spitzen Nase schenkte den anderen gerade Kaffee ein. Was auch immer das für eine Veranstaltung war, diese Leute hatten ganz sicher mehr Spaß, als Anja gleich haben würde.

»Ich suche Raum E3.«

Die Frau stellte die Kaffeekanne ab. »Da sind Sie hier richtig.«

Anja verglich die Uhrzeit auf dem Flyer mit ihrer Armbanduhr. Sie war doch nicht etwa am falschen Tag gekommen? Oder die Treffen der Selbsthilfegruppe fanden gar nicht mehr statt. Dann hätte sie es zumindest versucht, Robert wäre glücklich, und sie musste sich nicht weiter damit herumschlagen.

Die alte Frau zeigte wieder ihr breites Lächeln. »Schau mal, Marion. Sie hat deinen Flyer gefunden!«

So viel zu der Hoffnung, dass es die Gruppe nicht mehr gab … Aber dieses Kaffeekränzchen konnte doch unmöglich die Brustkrebs-Selbsthilfegruppe sein? Wo war der Stuhlkreis? Wo waren die ernsten Mienen, während man sich gegenseitig erzählte, wie schlecht es einem ging?

»Wird jo auch mol Zeit, dass die Dinger ebbes bringe«, meldete sich eine kräftig gebaute Frau mit einer geblümten Bluse und einem ebensolchen Kopftuch zu Wort. Sie sprach den breiten Dialekt der Region.

Das genaue Gegenteil von ihr – dürr und in einem teuer aussehenden Blazer – schniefte auf der anderen Seite des Tisches über seiner Kaffeetasse. »Na ja, ein neues Mitglied bei hundert Flyern … Ich habe ja gleich gesagt, dass es rausgeworfenes Geld ist.«

»Bitte!«, rief die Frau, die offenbar Marion hieß. »Hört auf zu streiten! Was soll denn unser Neuankömmling von uns denken?«

Damit richtete sich alle Aufmerksamkeit wieder auf Anja. Offensichtlich wollten sie erfahren, was sie dachte.

Sie war sich nicht sicher.

»Äh …«, sagte sie. »Also ist das die … äh … Selbsthilfegruppe?«

»Natürlich!« Die alte Frau lächelte noch immer. »Kommen Sie rein, nehmen Sie sich einen Keks!«

Die Kekse waren gut. Der Kaffee ebenfalls. Anja nippte an ihrer Tasse und sah sich unsicher um. Und nun? Sollte sie einfach anfangen zu erzählen, oder wie lief das hier?

Die weißhaarige Alte lächelte wieder und streckte ihr eine knochige Hand entgegen. »Ich bin Sieglinde.«

Vorsichtig ergriff Anja ihre Hand. Die knotigen Knöchel unter der papierdünnen Haut fühlten sich zerbrechlich an. Sie hatte Angst, sie kaputtzumachen, wenn sie zu fest schüttelte. »Anja Möller. Ich … ähm … ich habe Brustkrebs.« Das sagte man doch so in einer Selbsthilfegruppe, oder? Hallo, ich bin Anja, und ich habe Krebs.

Gleich würde die ganze Gruppe im Chor antworten: Hallo, Anja.

Sieglinde lächelte. »Wir auch.«

Marion räusperte sich. »Ich bin Marion Bergmann. Ich habe diese Gruppe ins Leben gerufen.«

»Das reibt se jedem gleich unter die Nase.« Die Frau in der geblümten Bluse lehnte sich über den Tisch, um Anja ebenfalls die Hand zu schütteln. Ihr Händedruck war fest, die Handfläche schwielig. »Margarete Gerhardt. Saan Se einfach Gret.« Dann fügte sie mit übertriebener Betonung hinzu: »Verstehen Sie mich, wenn ich Platt schwätze?«

Als Robert nach der Uni in seinem Heimatdorf einen Job gefunden hatte und sie zusammen aufs Land gezogen waren, hatte sich Anja zuerst darüber gewundert, dass die Leute in dieser Gegend ihren Dialekt »Platt« nannten. Plattdeutsch, wie man es im Norden sprach, war das ja ganz eindeutig nicht. Aber inzwischen hatte sie sich sowohl an die Bezeichnung als auch daran gewöhnt, dass man hier »schwätzte« statt »redete« und Frauen nicht »sie«, sondern »es« waren.

»Mein Mann ist aus der Gegend«, erwiderte sie deshalb.

»Und Sie sind zu ihm gezogen, und jetzt sitzen Sie hier fest, hm?«, fragte die weißhaarige Sieglinde.

War Unteröffelsheim so schlimm, dass selbst die alten Leute überlegten, wie sie entkommen konnten? Solche Sprüche kannte Anja sonst nur von ihrer Tochter Carolin, die seit der Oberstufe schwor, nicht in so einem »Kaff« hängenzubleiben. Jetzt kam sie immer noch jedes Wochenende nach Hause, weil sie festgestellt hatte, dass man in der großen Stadt seine Wäsche selbst waschen musste.

Bevor Anja etwas erwidern konnte, nickte ihr die Dürre im Blazer zu. »Sabine Kleist.«

Den Nachnamen hatte Anja schon mal gehört. »Wie die Topffabrik in Amselbach?«

Sichtlich stolz reckte Sabine das Kinn vor. »Die gehört meinem Mann.«

Margarete grinste. »Es Sabinche is reich.«

»Na ja …« Sabine drehte ihre Kaffeetasse in den Händen, und Anja bemerkte ihre perfekt manikürten Fingernägel. »Wir können nicht klagen.«

Blümchenfrau Gret lachte. »So will ich auch mol net klage könne.«

Sabine schniefte wieder. »Ich wäre dir übrigens sehr dankbar, wenn du nicht jedem sofort meine finanzielle Situation auf die Nase binden würdest.«

Anja blickte zwischen den beiden hin und her wie bei einem Tennis-Match. Entstand hier gerade ein Streit, oder waren die immer so?

Marion räusperte sich. »Vielleicht könnt ihr das ja später unter euch klären?«

Sie klang wie eine Mutter, die mit ihren Kindern sprach. Es hätte Anja nicht überrascht, wenn sie die beiden als Nächstes aufgefordert hätte, einander die Hände zu reichen und sich zu vertragen.

Schnelle Schritte ertönten auf dem Flur, dann stürzte eine kleine Frau herein, etwas älter als Marion. Sie trug eine Brille mit dicken, runden Gläsern. »Tut mir leid«, sprudelte sie hervor. »Der Heinz ist mal wieder mit ’ner Flasche Bier in der Hand auf dem Sofa eingeschlafen, und der Teppich …« Dann entdeckte sie Anja und stockte.

Marion lächelte. »Schön, dass du es geschafft hast, Hertha. Das hier ist Anja Möller, unser neuestes Mitglied.«

Hertha schenkte Anja ein schüchternes Lächeln. Während sie sich setzte, klatschte Marion in die Hände. »Da wir nun vollzählig sind, können wir ja anfangen.« Vielleicht war sie nicht nur Mutter, sondern auch Lehrerin.

Und wie es aussah, war der Spaß für heute vorbei. Anja nahm sich schnell noch einen Schokoladenkeks, um etwas Positives zu haben, an dem sie sich festhalten konnte.

»Wie geht es euch?«

Da war sie, die große gefürchtete Frage.

»Kann net klage«, meldete sich Gret als Erste zu Wort. »Krieg grad endlich mol wieder ebbes aufm Hof geschafft. War jo echt schlimm den letzten Monat mit der Kotzerei.«

Marion nickte. »Wenn eine Heilungschance besteht, geben sie eine sehr hohe Dosis bei der Chemotherapie. Weißt du schon, ob nun alles weg ist?«

»Werde wir noch sehen.« Gret wirkte nervös. Mehrere der Frauen am Tisch lächelten ihr aufmunternd zu und drückten demonstrativ die Daumen.

Anja konnte nicht anders, als neidisch zu sein. Sie bekam die deutlich niedrigere »Mal schauen, wie viele Jahre wir noch rausschlagen können«-Dosis. Aber immerhin hatte sie deswegen noch keine Erfahrungen mit der Kotzerei gemacht. Wenn man eh starb, sollte man sich in der Zeit vorher zumindest nicht ständig dreckig fühlen. So hatte Dr. Steiner ihr das erklärt. Er hatte dabei allerdings Formulierungen wie »Lebensqualität« verwendet, die »im Mittelpunkt der Behandlung stehen« solle.

»Mir geht’s ganz gut«, murmelte Hertha als Nächste. Sie lächelte Sieglinde kurz zu. »Deine Salbe hilft sehr gut gegen das Hand-Fuß-Syndrom.« Was auch immer das war.

»Ich habe eine neue Perücke«, warf Sabine ein. Sie schniefte. »Aber das hat natürlich niemand hier bemerkt.«

Anja schielte auf Sabines blonde, perfekt gestylte Kurzhaarfrisur. Das war eine Perücke?

»Sehr hübsch«, bemerkte Marion. »Wo ist die her?«

Verwirrt schaute Anja von einer zur anderen. Anderswo hätte man sich so über eine neue Handtasche unterhalten. Wo blieb das Hadern mit dem Schicksal? Die tiefen Abgründe, von denen man einander berichten sollte? Salben und Perücken waren so … alltäglich.

Sieglinde neben Anja grinste sie an. »Nicht das, was Sie erwartet haben, hm?«

Anja nickte. »Ich dachte, es wäre irgendwie … deprimierender.«

Die alte Frau winkte ab. »Wissen Sie, die rechnen Überlebensraten bei Brustkrebs inzwischen in Jahrzehnten.«

»Wege der moderne Medizin und so«, warf Gret ein. »Macht viel möglich.«

Sieglinde nickte. »Keine von uns wird morgen tot umfallen. Einige hier werden sogar ähnlich alt werden wie Leute ohne Krebs. Ich bin zum Beispiel über achtzig. Andere Leute in meinem Alter sitzen sabbernd in irgendeinem Rollstuhl.«

Nachdenklich zerwuschelte sich Anja die Frisur. Da war wohl etwas dran.

»Wir haben also«, fuhr Sieglinde fort, »wie jeder andere auch, eine unbestimmte Zeit zu leben, bevor wir das Zeitliche segnen. Und wir können entweder in Selbstmitleid zerfließen, weil wir nicht unsterblich sind. Oder wir verbringen die Zeit, die wir haben, mit was Erfreulichem.«

»Wie hübsche Perücken kaufen?«, fragte Anja zweifelnd.

Sabine nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. »Jeder Trend kommt wieder. Bei Perücken ist es nur eine Frage der Zeit. Und dann bin ich vorbereitet.«

War das ein Scherz? Anja war sich nicht sicher.

»Und wir versuchen, einander konstruktiv zu helfen«, mischte sich Marion ein. »Manchmal veranstalten wir kleine Infoabende, aber wir können auch nicht ständig über medizinische Dinge sprechen.«

»Außerdem weiß hier jeder genau, wie man sich fühlt«, sagte Hertha leise. »Nur Sieglinde hat keine Angst, die ist was Besonderes.«

Marion tätschelte Hertha vorsichtig die Hand, während Sieglinde schnaubte. In den Augen der alten Frau lag allerdings immer noch ein leichtes Lächeln. Sie sah wirklich nicht aus wie jemand, der Angst hatte. Hing das mit dem Alter zusammen? Wenn man über achtzig war, erreichte man dann irgendwann den Punkt, an dem man sich dachte: »War schön, das Leben. Alles, was jetzt noch kommt, ist Bonus.«?

»Aber es nützt ja nichts«, fuhr Hertha fort. »Man macht halt irgendwie weiter. Die Familie versorgt sich nicht von selbst.«

»Und die Männer sind auch keine große Hilfe«, warf Sabine ein.

Anja dachte an rosafarbene Unterhosen.

»Also, mein Peter …«, begann Marion.

Gret winkte ab. »Jetzt mach uns net wieder alle neidisch. Mein Harald hat zwar auch gut gekocht, während der Sach mit der Kotzerei. Aber der is zu faul sonst.«

Anja lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, während das Gespräch um sie herum weiterplätscherte. Wie kam es, dass der Knoten in ihrem Magen sich plötzlich löste? Sie hatte doch auch vorher alles im Griff gehabt in Bezug auf den Krebs. Sie kam damit klar, oder nicht? Aber vielleicht war es ganz nett, wenn man mit anderen gemeinsam klarkam. Wenn man hin und wieder jemanden sah, der schon länger klarkam als man selbst und der immer noch atmete und lachte.

Es dauerte einen Moment, bis Anja merkte, dass alle sie ansahen. Oh nein, jetzt war sie dran. »Ich … ähm …« Sie stotterte schon wieder. So oft hatte sie nicht mehr gestottert, seit sie das erste Mal verliebt gewesen war. »Ich mache gerade meine erste Chemotherapie. Sie haben Metastasen gefunden … in den Knochen. Das ist schlecht, habe ich gehört. Aber es geht.« Das sagte sie all den Verwandten und Freunden immer wieder, die seit der Diagnose und der OP viel öfter anriefen. Es geht. Dann waren sie beruhigt, und langsam wurden die Anrufe weniger. »Ich vertrag die Chemo bisher ganz gut. Ich fühl mich immer nur kurz danach ein bisschen schlapp.«

Rings um den Tisch nickte man ihr aufmunternd zu. »Das ist doch schon mal etwas Positives«, sagte Marion. Anja war sich nun sicher, dass sie Pädagogin sein musste.

»Ich möchte auch bald wieder arbeiten«, fuhr Anja fort. Nun, da sie sich ein bisschen warmgeredet hatte, kamen die Worte langsam flüssiger. »Ich bin Schneiderin. Ich arbeite von zu Hause, ändere Kleidung und mache Bezüge für Sofakissen und solche Dinge. Ich habe für die Zeit während der Chemo keine Aufträge angenommen, aber ich kann doch nicht immer nur rumsitzen und versuchen … gesund zu werden.« Obwohl sie natürlich nie wieder gesund werden würde. Metastasen in den Knochen wurde man nicht mehr los. Anja schluckte.

»Vom Herumsitzen wird man ja auch nicht gesund«, sagte Sieglinde. »Höchstens verrückt.«

»Verriggt sin wir schon genug«, meldete sich Gret zu Wort.

Marion nickte. »Ich bin auch schnell wieder arbeiten gegangen. Es tut gut, wenn man was Sinnvolles zu tun hat.«

Das Argument musste Anja sich für Robert merken. Das musste er einsehen. Auch die anderen Frauen beschrieben, wie sie sich nach ihrer Diagnose schnell wieder eine Beschäftigung gesucht hatten. Gret betonte noch mehrmals, dass sie sonst »verriggt« geworden wäre.

Schließlich brachte Anja den Mut auf, eine weitere Frage zu stellen. »Also, läuft das hier immer so? Man isst Kekse, trinkt Kaffee und unterhält sich? Außer wenn es eine Informationsveranstaltung gibt?«

»Gut, dass Sie es sagen.« Marion kramte in einer großen Handtasche. »Wir unterhalten uns natürlich nicht nur. Ich habe heute zwei Filme zur Auswahl dabei, und Herr Jürgens hat uns hinten wieder den Beamer aufgebaut.«

Die Frauen jubelten.

Anja nahm sich noch einen Schokokeks. Der Knoten in ihrem Magen war restlos verschwunden.

Und wie war’s gestern?«, fragte Carolin beim Mittagessen am nächsten Tag mit vollem Mund. Sie war übers Wochenende vorbeigekommen, um zu helfen, wie sie behauptete. Das bedeutete immerhin, dass sie auf Anjas Bitte hin ohne Murren den Tisch gedeckt hatte. Wie lange das wohl anhalten würde?

Beim Tischdecken hatte sie außerdem ein paar von Roberts Büchern über das Marathonlaufen beiseitegeräumt, und auf eine Art, die Anja zum Schmunzeln gebracht hatte, hatte sie darüber geschimpft, warum ihr Vater sein Zeug nicht aufräumte. Vielleicht würde das ja einen Lerneffekt in Bezug auf die ganzen Klamotten bewirken, die in ihrem Zimmer auf dem Boden lagen. Aber wahrscheinlich nicht.

Anja lächelte, bevor sie die Frage beantwortete. »Wir haben einen Film geschaut.«

Robert runzelte die Stirn. »Einen Film über … die Krankheit?«

Jedes Mal, wenn ihr Mann das Wort »Krebs« vermied, fühlte sich Anja ein wenig in einen Harry-Potter-Roman versetzt. Sie wartete darauf, dass er irgendwann die Stimme senkte und »Du weißt schon was« flüsterte.

»Nein, ich glaube, er hieß ›Wirklich beste Freunde‹, oder so. Er war ziemlich lustig.«

Carolin schaufelte sich eine weitere Gabel Nudeln in den Mund, bevor sie wieder etwas sagte. Manchmal fragte sich Anja, warum sie eigentlich zwanzig Jahre lang erklärt hatte, dass man nicht mit vollem Mund sprach.

»Schön, dass du Spaß hattest.«

Nun wiederum war sie sich recht sicher, dass sie immerhin nicht alles falsch gemacht haben konnten bei Carolins Erziehung. Anja strahlte ihre Tochter an.

Robert nickte. »Ich schätze, Spaß ist wichtig.«

Anja seufzte. War jetzt wirklich alles, was sie tat, ein wichtiger Baustein im Kampf gegen den Krebs? Konnte sie nichts mehr einfach tun, weil sie es gerne tat? Sie stellte sich vor, wie dann wohl ihr nächster Termin bei Dr. Steiner aussehen würde.

»Ich habe diese Woche vier Teller Rohkost gegessen (Rohkost war auch wichtig, das hatte Robert im Internet gelesen. Deshalb stand ein Teller mit frischen Möhren neben dem Nudeltopf.), zwei lustige Filme gesehen und regelmäßig die Witze in der Zeitung gelesen.«

Dr. Steiner würde zufrieden nicken und sagen: »Ich denke, wir können die Dosis noch erhöhen. Versuchen Sie nächste Woche mal drei lustige Filme.«

Andererseits wäre das sicher besser als die Beutel voller Gift, das man Anja regelmäßig in die Adern pumpte.

Nach dem Essen bestanden Robert und Carolin darauf, den Tisch abzuräumen. Anja musste erst am Ende aufstehen und ihnen zeigen, wie man den Topf so in der Spülmaschine positionierte, dass der große Rohkostteller auch noch Platz fand. Immerhin etwas.

In der Nacht, als Carolin fort war, um alte Schulfreunde zu treffen, und Robert schon schnarchte, wälzte Anja sich unruhig im Bett. Ihre Nase war trocken, seit der Chemotherapie war sie ständig trocken und blutete oft. Aber das war es nicht, was sie wach hielt. Sie fragte sich, wie ihre Familie eigentlich ohne sie klarkommen würde.

Beim nächsten Treffen der Selbsthilfegruppe saß sie schweigsam und nachdenklich am Tisch. Hertha fehlte.

»Die Plätzchen sind heute besonders gut«, sagte Sieglinde mit vollem Mund. Immerhin hatte in Sachen Reden mit vollem Mund offensichtlich nicht nur Anja als Mutter versagt.

»Die sind von mir«, erklärte Marion stolz.

»Geht doch nix über selbstgebackene Plätzja«, stimmte Gret zu.

»Habt ihr eigentlich auch das Gefühl, dass ihr eure Familien zu zu viel Unselbständigkeit erzogen habt?« Anja war sich bewusst, dass die Frage nicht unbedingt zum Thema passte, aber sie musste einfach heraus.

»Also, mein Peter …«, begann Marion.

»Jaja«, unterbrach Gret sie. »Mach uns net schon wieder neidisch, Marion. Also, mein Harald, der könnt den ganze Haushalt mache, aber der is zu faul. Vor allem beim Koche. Der tät nur noch das gefrorene Zeug esse, wenn ich nimmer wär. Um den Hof, da mach ich mir keine Sorge. Aber der arme Harald. Die Küh täte besser esse wie der.«

Sabine drehte ihre Kaffeetasse in den perfekt manikürten Fingern. »Also, wir haben ja eine Putzfrau. Da bin ich sehr froh drüber. Der Jens merkt nicht mal, wenn’s irgendwo dreckig ist.« Sie machte eine kurze Pause. »Oder er stellt sich absichtlich dumm an, damit er nichts machen muss.«

Wie viel so eine Putzfrau wohl kostete? Carolin hatte am vergangenen Tag eine Bluse verbrannt bei dem Versuch, sie zu bügeln, und Anja fühlte sich in letzter Zeit doch etwas angeschlagen.

Sieglinde nahm sich gleich zwei Kekse. »Meine Familie geiert eh nur aufs Erbe.«

Marion gab einen missbilligenden Laut von sich.

Die weißhaarige alte Frau grinste breit. »Aber die werden sich umgucken. Wisst ihr, was ich mach?«

Nun sahen alle gespannt in ihre Richtung. Als wollte sie noch etwas mehr Spannung aufbauen, biss Sieglinde zuerst von einem der Kekse ab. Dann grinste sie wieder. »Sobald ich mit dieser Chemo fertig bin, mach ich erst mal Pause. Und dann gehe ich von meinen ganzen Ersparnissen auf Weltreise. So richtig. Wollte schon immer die Welt sehen, und langsam wird’s Zeit, wenn ich noch dazu kommen will, ne?«

»Warum hast du das vorher nie gemacht?« Anja wollte nicht mehr die Einzige in der Gruppe sein, die gesiezt wurde, deshalb hatte sie beschlossen, die anderen auch einfach zu duzen.

Sieglinde hob die knochigen Schultern. »Hatte nie Zeit. Hab geheiratet und Kinder bekommen und so. Und dann war mein armer Jürgen so krank. Und nach seinem Tod hat’s sich irgendwie nie ergeben.«

Margarete schüttelte den Kopf. »Ich weiß net … mit dem ganze fremde Esse und den ganze Leut, wo nur Ausländisch schwätze. Da haste nix verpasst, tät ich sagen.«

Sabine rümpfte die Nase. »Das kann auch nur jemand behaupten, der Unteröffelsheim noch nie verlassen hat.«

»Ich war schon mol in Trier.« Margarete winkte mit beiden Händen ab. »Viel zu laut. Und die ganze Leut!«

Trier war die nächste größere Stadt, eine Stunde Fahrt von Unteröffelsheim. Anja musste grinsen.

In diesem Moment wurde die Tür vorsichtig aufgeschoben. Hertha huschte mit einer gemurmelten Begrüßung herein. Sie hielt den Kopf gesenkt und suchte sich etwas weiter weg von allen anderen einen Platz am Tisch. Was war denn mit der los?

»Hertha«, sagte Marion. »Ist alles in Ordnung?«

Die kleine Frau winkte ab. »Tut mir leid, dass ich schon wieder so spät bin.«

»Das ist doch kein Problem. Ist irgendwas passiert?«

Hertha hob die Schultern. »Nee, ich ärger mich nur. Hab dem Heinz gesagt, ich brauch das Auto. Aber er ist immer noch irgendwo, keine Ahnung. Wahrscheinlich einen trinken. Der Herr Platte von der Post hat mich dann mitgenommen, sonst wär ich gar nicht hier.«

»Du solltest den Kerl rausschmeißen.« Sieglinde schob Hertha den Teller mit den Keksen hin. Schokolade half ja bekanntlich gegen alles.

Marion schnappte nach Luft. »Sieglinde!«

»Wo se doch recht hat!«, tönte Margarete. »Lässt seine kranke Frau einfach daheim sitze.«

»Ach«, sagte Hertha, »es ist einfacher, wenn er nicht da ist. Da hab ich weniger Arbeit.«

»Ich sage das ungern«, ließ sich Sabine vernehmen, »aber das macht es nicht besser.«

Anja war mit einem Mal froh über rosa Unterhosen, verbrannte Blusen und »Du weißt schon, was«.

Sie bemühte sich, weiterhin froh zu sein, als Robert sie während der nächsten Chemotherapie-Sitzung fragte, ob er ihr noch etwas aus der Cafeteria des Krankenhauses holen könne – zum siebten Mal.

Sie saß auf einem gemütlichen Stuhl, neben ihr ein Infusionsständer, an dem ein Beutel mit hellroter Flüssigkeit hing. Ein Schlauch führte aus dem Beutel in den Port unterhalb ihres rechten Schlüsselbeins. Bis die gesamte hellrote Flüssigkeit in ihre Adern gelaufen war, dauerte es sechs Stunden. Sechs Stunden, in denen Robert nichts zu tun hatte, außer neben ihr zu sitzen und sich Sorgen zu machen.

Anja hatte ihn schon Kaffee und Kuchen holen geschickt, damit er sich nützlich fühlte.

»Du hättest wirklich zwischendurch heimfahren können«, sagte sie jetzt.

Und schon schaute er wieder betreten. »Ich dachte, du würdest dich über die Gesellschaft freuen.«

»Ich habe doch Gesellschaft.« Anja deutete in den Raum. Mehrere andere Patienten saßen auf Stühlen oder lagen auf Liegen im Zimmer verteilt, alle mit einem Schlauch verbunden. Von einer Krankenhausliege lächelte ihr Sieglinde zu. Sie war vor einer Stunde angekommen und hatte Anja zur Begrüßung umarmt, obwohl sich dabei ihre Schläuche fast ineinander verheddert hätten. Dann hatte sie Anja die Route ihrer geplanten Weltreise auf einer Weltkarte gezeigt, die sie aus irgendeinem Grund zusammengefaltet in der Tasche trug. Seitdem lächelte sie versonnen vor sich hin.

Niemand sollte während einer Chemotherapie so glücklich aussehen. Aber wahrscheinlich lag die alte Frau in Gedanken bereits auf Hawaii in der Sonne.

Robert sah inzwischen noch geknickter aus. »Ich dachte, du würdest dich über meine Gesellschaft freuen.«

Anja seufzte. Er wollte doch nur helfen. Sie drückte seine Hand. »Ich freue mich, dass du da bist, aber ich glaube, dir täte es gut, wenn du zu Hause wärst. Wolltest du nicht noch laufen heute? Der Marathon ist doch in zwei Monaten, und es dauert schon eine Weile, die Kondition aufzubauen.«

Vor einiger Zeit hatte Robert verkündet, er werde beim nächsten Dorfmarathon mitmachen. Dann hatte er sich einen ganzen Stapel Bücher gekauft, um die richtige Trainingsmethode zu finden. Dann hatte er mehr Zeit damit verbracht, diese Bücher zu lesen, als damit, tatsächlich zu laufen. Anja hatte den leisen Verdacht, dass das die falsche Herangehensweise war.

»Es geht aber doch nicht darum, was mir guttäte«, protestierte er.

Hinter Robert verdrehte Sieglinde die Augen. Anja schüttelte den Kopf. »Doch. Du hilfst mir am meisten, wenn du dafür sorgst, dass es dir gutgeht.«

Sieglinde zeigte ihr den erhobenen Daumen.

Robert starrte betreten zu Boden, dann nickte er. »Das nächste Mal fahre ich dich einfach hin und hole dich später wieder ab.«

Anja lächelte. »Danke. Wenn du jedes Mal laufen gehst, während ich Chemo habe, wirst du vielleicht zumindest nicht Letzter.«

Das brachte Robert sogar kurz zum Lachen. »Das wird mein neues erklärtes Ziel. Zumindest nicht Letzter werden.« Er schielte zu ihrem Beutel, in dem nur noch ein kleiner Rest Flüssigkeit war. »Ich glaube, du bist fast fertig. Soll ich schon mal deine Jacke holen?«

»Das wäre sehr hilfreich.«

Glücklich eilte er aus dem Raum.

Sieglinde erhob sich ächzend von ihrer Liege und schob ihren Infusionsständer zu Anja herüber. »Er ist ein Schatz, dein Mann.«

Da war sich Anja derzeit nicht ganz sicher. »Er macht sich so viele Sorgen.«

»Sei froh, dass es jemanden gibt, der sich Sorgen um dich macht.«

»Aber er verhält sich, als wäre ich schon fast tot.« Anja gestikulierte etwas zu heftig und verhedderte sich in ihrem Schlauch. Vorsichtig entwirrte sie das Plastikteil wieder. »Wie soll ich mit dieser ganzen Sache klarkommen, wenn er mich ständig so anschaut, als müsste er nächste Woche meine Beerdigung organisieren?«

»Frag mal Marion. Ihr Peter hat das am Anfang auch gemacht.«

Sofort hatte Anja Grets Stimme im Ohr. Trotz allem musste sie grinsen. »Jetzt mach mich net wieder neidisch«, ahmte sie mehr schlecht als recht den Dialekt nach. »Der perfekte Peter?«

»Ich verrat dir ein Geheimnis.« Sieglindes Augen funkelten, als sie sich vorbeugte und die Stimme senkte. »Der perfekte Peter war am Anfang gar nicht so perfekt. Aber er hat fünf Jahre Vorsprung, weißt du?«

Fünf Jahre lebte Marion schon mit dem Krebs? Anja kam das wie eine Ewigkeit vor.

Plötzlich wurden Sieglindes Augen groß.

»Was?«

Die alte Frau antwortete nicht. Vorsichtig griff sie über Anjas Schulter. Als sie die Hand zurückzog, hielt sie zwischen ihren Fingern ein Büschel von Anjas Haaren.

Für einen Moment starrte Anja ihre eigenen Haare in Sieglindes Hand an. Sie wusste natürlich, dass das passieren konnte. Jeder wusste, dass das passieren konnte. Es war fast schon ein Klischee, wie etwas, was nur im Film geschah.

Aber nun passierte es ihr, und einen Augenblick lang fragte sich Anja, ob eigentlich nur die Haare auf dem Kopf ausfallen würden oder ob sie sich nun erst mal das Epilieren ihrer Beine sparen konnte. Dann wurde ihr ein wenig schlecht. Und dann musste sie Tränen wegblinzeln.

»Ach, Liebes.« Wieder nahm Sieglinde sie in den Arm, und Anja hielt automatisch ihren Schlauch ein Stück hinter sich, damit es nicht zu erneuten Verhedderungen kam.

»Die wachsen nach. Meine sind auch nachgewachsen. Schau.« Sieglinde zog an ihrem Haar, um zu beweisen, dass es echt war. »Manche sagen, sie werden danach sogar dichter und weicher.«

Anja schniefte und wischte sich die Tränen mit dem Ärmel ab. Im Prinzip war es dumm, wegen ein paar Haaren in Tränen auszubrechen. Die Haare waren der Teil ihres Körpers, auf den sie am leichtesten verzichten konnte, ganz im Gegensatz zu ihren Knochen, in denen die Metastasen saßen und um die sie sich eigentlich viel mehr Sorgen hätte machen sollen. Trotzdem fühlte Anja sich irgendwie verraten. Kaum wurde es brenzlig, machten sich ihre Haare einfach aus dem Staub. Von nun an würde sie jedes Mal, wenn sie in den Spiegel sah, daran erinnert werden, dass etwas nicht in Ordnung war.

Sieglinde zog ein Taschentuch hervor und reichte es Anja.

»Weißt du, was wir jetzt machen?«, fragte sie, nachdem Anja sich geschnäuzt hatte.

»Hm?«

»Wir verraten deinem Mann nichts davon, bis er dich sicher nach Hause gebracht hat. Die Haare wachsen nämlich wieder nach, aber wenn er dich vor lauter Sorgen in den Graben fährt, das wird schon schwieriger.«

Anja nickte und schnäuzte sich. »Sag mal …«

»Ja, Liebes?«

»Fallen auch die Haare aus, die man eh nicht gebrauchen kann?«

Sieglinde nickte mit einem Grinsen. »Und manchmal kommen sie danach nicht wieder.«

Noch einmal schniefte Anja, dann schob sie das Taschentuch in ihre Hosentasche. »Na, das ist immerhin etwas, worüber ich mich freuen kann.«

Robert fuhr sie nicht in den Straßengraben, und zu Hause versammelte Anja ihre Familie um den Küchentisch und führte vor, wie sie sich büschelweise die Haare vom Kopf zog wie ein Zauberkünstler die Tauben aus seinem Hut. Nur dass man mit dem Haarausfall-Trick die Stimmung auf Partys eher nicht auflockern konnte.

Carolin machte große Augen, Robert setzte wieder den Getretener-Welpe-Blick auf. Dann jedoch räusperte er sich, beugte sich zu Anja herüber und nahm ihre Hand. »Immerhin bedeutet das, dass die Chemotherapie richtig wirkt.«

Anja war sich nicht so sicher, ob da ein Zusammenhang bestand, aber wenn es ihm Mut machte, das zu glauben, würde sie es dabei belassen. Sie lächelte ihren Mann an. Er hatte versucht, sie aufzumuntern. Das war ein Fortschritt.

Auch Carolin fing sich langsam. »Die wachsen doch bestimmt wieder nach.« Sie dachte einen Moment nach. »Sonst würde man ja Krebspatienten für den Rest ihres Lebens an der Glatze erkennen …« Sie versuchte sich an einem Grinsen. »Oder sie mit Skinheads verwechseln.«

Anja erwiderte das Grinsen. »Dann könnte ich mit der Selbsthilfegruppe eine Skinhead-Gang gründen.«

Carolins Augen leuchteten auf. »Ihr würdet Unteröffelsheim in Angst und Schrecken versetzen!«

Auch wenn sie ihre Wäsche immer noch nicht selbst waschen konnte, Carolin hatte das Talent, in allem etwas Positives zu sehen. Anja lachte.

Robert räusperte sich, wie er es immer tat, wenn Mutter und Tochter für seinen Geschmack zu albern wurden. »Vielleicht solltest du über eine Perücke nachdenken, Schatz.«

Anja nickte. Mit Glatze draußen herumzulaufen käme ihr doch etwas seltsam vor. Außerdem würde sie dann überall mitleidige Blicke ernten. Sie hatte im Krankenhaus schon ein paar Informationen zu Perücken bekommen, aber noch nicht so richtig gewusst, was sie davon halten sollte.

»Das wäre deine Chance, etwas ganz Neues auszuprobieren«, sagte Carolin. »Gibt es eine Frisur, die du schon immer mal haben wolltest, bei der du dich aber nie getraut hast, sie dir schneiden zu lassen?«

Nachdenklich rieb sich Anja das Kinn. Sie musste wirklich keine Perücke nehmen, die genauso leblos und uninteressant aussah wie ihr echtes Haar, oder? Natürlich sollte es nicht zu verrückt sein, immerhin war sie nicht mehr siebzehn. Aber es würde nicht schaden, ein paar unterschiedliche Perücken auszuprobieren. Sabine hatte ja auch mehrere.

»Soll ich vielleicht mal nach Perückengeschäften in der Nähe suchen?« Robert zog bereits sein Smartphone hervor, ohne eine Antwort abzuwarten. Wie immer wirkte er glücklich, etwas Nützliches tun zu können.

Anja nickte eifrig.

Das nächste Gruppentreffen fand nicht im Gemeindehaus statt. Anja stand zusammen mit Sabine auf dem Parkplatz und wartete auf die anderen. Darum hatte Marion in einem kurzen Anruf gebeten. Viel mehr hatte sie nicht gesagt, nur dass Sieglinde eine Überraschung für sie habe.

Anjas Kopf fühlte sich ungewohnt kühl an. Sie hatte sich vorerst ein Kopftuch umgebunden, aber selbst darunter schien es zu ziehen, obwohl es ein warmer Frühlingstag war. Haare waren wirklich praktisch, um bestimmte Körperteile warm zu halten. Aber wie so viele Dinge wusste man sie erst richtig zu schätzen, wenn sie nicht mehr da waren.

Sabine lief in ihren hochhackigen Schuhen vor ihrem Cabrio auf und ab und sprach in ein Smartphone. »Ich habe alle Daten rausgeschickt, bevor ich gegangen bin … Ja, der Vertrag wird nächste Woche unterzeichnet. Aber es dauert eine Weile, bis er bei uns eintrifft. Die Firma sitzt in Indien, Liebling … Mach dir keine Sorgen. Ich habe mich um alles gekümmert … Ich bin zum Abendessen zu Hause … Ich liebe dich auch.«

Sie legte auf und verdrehte die Augen. Anja warf ihr einen fragenden Blick zu.

»Er ist ein wenig nervös«, erklärte Sabine. »Wir haben einen neuen Hersteller für die Topfhenkel.«

Anja runzelte die Stirn. »Ich dachte, die Töpfe werden in der Fabrik in Amselbach hergestellt.«

Sabine nickte und schob dann ihre Perücke zurecht. »Die Töpfe.«

»Aber die Henkel kommen aus Indien?« Anja war sich nicht sicher, was sie davon halten sollte, dass Teile ihrer Kochutensilien offensichtlich weiter herumgekommen waren als sie selbst. Aber wahrscheinlich traf das auch auf den Großteil ihrer Kleidung zu. Und auf die Tomaten, die sie fürs Mittagessen in den Salat geschnitten hatte. Sie rieb sich die Schläfen.

Sabine hob die Schultern. »Das kostet weniger.«

»Die Henkel von Indien hierherzutransportieren ist billiger, als sie hier herzustellen?«

»So ist das nun mal in der internationalen Wirtschaft. Wir müssen global konkurrenzfähig bleiben.« Sabine schob das Smartphone in ihre Handtasche. »Weißt du, warum wir hier draußen herumstehen?«

Nun hob Anja die Schultern. »Ich weiß nur, dass Sieglinde eine Überraschung für uns hat.«

Sabine zog die Nase kraus, als gehörten Überraschungen zu den weniger erfreulichen Dingen, die einem zustoßen konnten.

Anja räusperte sich. Eine Frage beschäftigte sie schon seit einer Weile. »Wie kommt man als global konkurrenzfähige Topfwerk-Besitzerin eigentlich zu so einer Selbsthilfegruppe? Könntest du nicht irgendwo teuer in Kur gehen?«

Sabine schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Und wer schließt dann die Verträge mit den Topfhenkel-Herstellern aus Indien ab? Mein Mann ist wirklich gut, wenn es um die ganzen technischen Dinge geht, aber verhandeln könnte er nicht mal, wenn sein Leben auf dem Spiel stünde.«

Anja musste wieder an die rosafarbenen Unterhosen denken.

»Außerdem«, fuhr Sabine fort, »sind die Leute, die man in teuren Kurorten trifft, für meinen Geschmack oft viel zu arrogant.«

Eilig tarnte Anja ein Lachen als Husten.

Ein Auto fuhr auf den Parkplatz, Marion und Gret stiegen aus. Während Marion sorgfältig den Wagen abschloss, winkte Gret bereits fröhlich und rief: »Ich bin so nasweisisch, sag ich euch!«

Anja brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass Gret damit ausdrücken wollte, dass sie genauso neugierig war wie alle anderen. Doch es dauerte noch eine Weile, bis schließlich ein Kombi vorfuhr, dessen rote Farbe bereits an einigen Stellen abblätterte. Auf der Fahrerseite glaubte Anja, Hertha zu erkennen, die sich tief über das Lenkrad beugte, als würde sie ein Rennen fahren. Aus dem Beifahrerfenster winkte Sieglinde.

»In die Autos!«, rief sie. »Und immer uns nach! Wir pflanzen einen Baum!«

Anja blinzelte. »Wir pflanzen einen Baum?«

Gret hob die Schultern. »Ei, warum net?«

Anja stellte sich vor, wie sie alle zu ihren Autos sprinteten und hineinsprangen. Wie eine Gruppe Helden aus einem Hollywoodfilm, die dann mit quietschenden Reifen davonfuhr.

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