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Nova ist in ihren Garten hoch oben in Turris zurückgekehrt. Und sie ist nicht mehr allein. An ihrer Seite ist nicht nur der junge Pilot Jett, sondern auch dessen Vater Harlin und die Rebellin Euly. Könnte es doch nur für immer so bleiben … Doch Nova weiß: Sie müssen zurück nach Solartopia und dessen Bewohner vor den Plänen des Gärtners warnen. Denn er ist nicht das gütige Oberhaupt, für den alle ihn halten, sondern er hat vor, sie alle zurückzulassen, wenn der giftige Nebel, der auch Novas Turm bedroht, näher kommt. Doch um die anderen zu überzeugen, brauchen sie Beweise. Eine gefährliche Mission beginnt, bei der Nova und ihre Freunde versuchen, das geheime Labor des Gärtners ausfindig zu machen. Und ihnen läuft die Zeit davon ... Das große Finale des packenden Future-Fiction-Zweiteilers!
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Seitenzahl: 320
Victoria Hume
Bis zum Ende der Zeit
Das Hörbuch, gelesen von Martha Kindermann, ist im Argon Verlag, Berlin, erschienen und im Buchhandel erhältlich.
Die Solartopia-Dilogie bei KJB:
Solartopia – Am Anfang der Welt
Solartopia – Bis zum Ende der Zeit
Text copyright © 2022 Working Partners Ltd.
Vignette: Max Meinzold
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch
Victoria Hume wurde 2022 von The Society of Children’s Book Writers and Illustrators als eine der unentdeckten Stimmen des Jahres ausgezeichnet. Sie ist Ökologin und daher oft in der Wildnis Englands zu finden. Ihre Liebe zur Natur verleiht ihren Geschichten eine besondere emotionale Tiefe. Sie lebt mit Mann und Sohn in Brighton. Der »Solartopia«-Zweiteiler ist ihr Debüt.
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Für die ersten Landpflanzen, ohne die wir vielleicht immer noch im Meer schwimmen würden
Der Blauregen über mir sprüht vor Freude. Und mir geht es genauso. Durch seine Blätter schimmern die ersten Sonnenstrahlen – ein weiterer wunderschöner Tag auf Turris. Vorsichtig steige ich aus der Hängematte. Die sanfte Bewegung weckt Jett, und er stemmt sich hoch, so dass das ganze Ding ins Wanken gerät.
Mit einem Schreckensschrei reißt er die Augen auf. »Nova!«
Er greift nach den Rändern der Hängematte und beugt sich so weit vor, dass ihm die Haare ins Gesicht fallen. Da kippt sie zur Seite, und er wirft sich wieder auf den Rücken, um nicht rauszustürzen. Seine Beine ragen in die Höhe.
»Beruhige dich!« Ich kriege kaum Luft vor Lachen. »Du machst es nur noch schlimmer.«
»Hilfe! Du weißt doch, dass ich aus dieser Todesfalle nicht allein rauskomme.«
Wie ein Schmetterling, der sich langsam aus seinem Kokon schält, setzt Jett sich auf.
»Achtung …«, stoße ich noch hervor, aber zu spät – seine Hand liegt schon dort, wo sie nicht hinsollte.
Jäh dreht sich die gesamte Hängematte um die eigene Achse und schleudert ihn zu Boden. Rums. Er blinzelt benommen den Schlaf aus den Augen und schiebt sich die verstrubbelten Haare aus der Stirn. Dann zieht er sich die Decke wieder über seine nackten Schultern.
»In dieses Ding kriegen mich keine zehn Pferde mehr«, klagt er.
Ich kichere – das sagt er jedes Mal. Gähnend strecke ich mich, um den Nebel des Schlafes zu vertreiben, und überlasse Jett seiner Morgenmuffeligkeit. Ich bin bereit für einen neuen Tag.
Die Vögel singen schon, versuchen verzweifelt, Partnerinnen anzulocken. Ein Rotkehlchen sitzt mit aufgeplusterter Brust auf einem Spaten und beobachtet mich aus glänzenden dunklen Augen. Ich pfeife eine kurze Melodie in seine Richtung, aber die Töne verklingen bald. Ich bin nicht mit dem Herzen dabei. In letzter Zeit stimme ich weniger leidenschaftlich in den Gesang der Vögel ein … seit Jetts Freunde mich dafür ausgelacht haben.
Während meines Besuchs in Solartopia ist mir klar geworden, dass meine Sicht auf die Welt eine andere ist als die der Menschen dort. In dieser riesigen, strahlenden Stadt schert sich eigentlich gar niemand darum, im Einklang mit der Natur zu leben. Nahrung und Wasser werden behandelt, als gäbe es einen unbegrenzten Vorrat. Ich verstehe das Verhalten der Städterinnen und Städter nicht, und ihnen geht es mit mir wahrscheinlich genauso. Jett würde mich natürlich nie dafür auslachen, mit den Vögeln zu singen, trotzdem breche ich mein Lied schnell wieder ab.
Goldene Pheromone stieben auf, um mich zu begrüßen. Eine Welle der Aufregung rollt durch den Garten, als die Pflanzen merken, dass ich wach bin. Noch vor ein paar Wochen konnte ich sie kaum hören, ohne mich furchtbar anzustrengen, und jetzt geht es wie von allein. Ihr Flüstern ist immer da. Tatsächlich kostet es mich inzwischen sogar mehr Mühe, sie zu ignorieren. Innerhalb von Sekunden weiß ich, dass der Garten größtenteils glücklich und gesund ist. Mas Mittel gegen den Smog wirkt: Dank der Ferula expurga, die Jett und ich gefunden haben, gedeihen die Pflanzen wieder.
Vorerst.
Denn die tödliche schwarze Nebeldecke, die unser Hochhaus einhüllt, steigt jeden Tag höher.
In die goldenen Glückssignale mischen sich orangefarbene Funken. Die Pflanzen brauchen Wasser. Früher wäre ich ihnen sofort zu Hilfe geeilt und hätte meinen kostbaren Vorrat verbraucht. Jetzt erkenne ich an ihren endlosen Spiralen, dass sie den nahenden Regen spüren und voller Vorfreude sind. Alle außer der Salat, dessen Pheromone panisch hin und her flirren. Der hat immer Durst, besonders jetzt, wo die Tage länger und wärmer werden. Genau wie bei den Menschen lerne ich langsam, dass die Sprache der Pflanzen reicher und komplexer ist, als ich je gedacht hätte. Die Farbe ihrer Pheromone macht nur einen winzigen Teil ihrer Kommunikation aus. Das Glitzern folgt Bewegungsmustern, die unterschiedliche Bedeutungen haben.
Ich schnappe mir eine Gießkanne und werfe dabei versehentlich einen Eimer um, der über das Steinpflaster klappert.
Jett streckt den Kopf aus dem Blauregenvorhang und grummelt vor sich hin. Blinzelnd reibt er sich das Gesicht und schaut in den Himmel.
»Regen im Anflug«, sagt er, während er mit seinem Pilotenblick den Horizont scannt. Er deutet auf die Berge, über denen schon ein Schleier hängt. »Der Wind weht ihn direkt auf uns zu.«
»Ich weiß«, erwidere ich.
Die Vegetation am fernen Berghang summt gierig und geschäftig, während sie den Regenguss aufsaugt. Dahinter spüre ich schwach, aber deutlich, die Pflanzendichte von Solartopia.
Jett wendet sich mit hochgezogenen Brauen zu mir um. »Woher?«
Ich deute auf meinen Garten, der erwartungsvoll bebt, und Jett bricht in schallendes Gelächter aus.
»Na klar«, stößt er vergnügt hervor. »Und was hat er dir sonst noch alles verraten? Dass du das schönste Mädchen auf der ganzen Welt bist, das mit Pflanzen sprechen kann?«
Ich schaue ihn verwirrt an. Ich bin das einzige Mädchen auf der Welt, das mit Pflanzen sprechen kann. Jett schenkt mir sein typisch schiefes Lächeln – halb neckend, halb bewundernd. Er macht nur Spaß. Auch auf meinem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus, während ich in dem warmen, übermütigen Gefühl bade, das ich immer in seiner Nähe verspüre.
»Eigentlich beschwert er sich gerade, dass du ihm in der Sonne sitzt.«
Grinsend blickt Jett auf das Fleckchen Gras neben sich. »Oh! Bitte entschuldigen Sie vielmals«, sagt er zu den Halmen und zwinkert mir zu.
Anschließend fährt er sich durch die Haare, und mein Magen zieht sich zusammen. Wie kann er so früh am Morgen schon so gut aussehen, während ich mich völlig zermatscht fühle? Mein Blumenschlafanzug ist knittrig, und ich muss mir dringend die Zähne putzen.
»In diesem Folterinstrument habe ich kein Auge zugetan«, bemerkt Jett. »Guck! Die Sonne ist noch nicht mal ganz aufgegangen.« Kopfschüttelnd rappelt er sich hoch, die helle Steppdecke um sich geschlungen. Darunter blitzt seine nackte Brust hervor. »Ich springe wohl besser mal unter die Dusche.« Damit schlendert er auf die Treppe zu und tätschelt unterwegs das Flugrad, das ungenutzt auf dem Gras glänzt, gleich neben dem Flugzeug, das er vom Flughafen in Solartopia gestohlen hat.
Lächelnd schaue ich ihm nach. Jett könnte in jedem Zimmer von Turris schlafen, klettert aber Nacht für Nacht mit mir in die Hängematte, obwohl es für ihn so unbequem ist. Es fühlt sich gut an, dass er meine Nähe offenbar genauso braucht wie ich seine.
Nicht weit von mir entfernt feuert eine grummelige Ringelblume eine Salve dunkelvioletter Pheromone ab. Eine Sonnenblume raubt ihr mit einem ihrer großen, schlaffen Blätter das Licht. Ich seufze schwer. Schon wieder? Darum hatte ich mich doch gekümmert. Die Ringelblume versprüht den nächsten Schwall. Eigentlich sollte man meinen, Pflanzen hätten mehr Geduld. Aber die kurzlebigen Einjährigen tun gerne so, als wäre die kleinste Verzögerung schlimmer als Blattläuse.
»Moment«, murmle ich ihr zu. »Ich muss erst den Salat gießen.«
Ich blicke hinunter auf meine Brust, wo meine eigenen kunterbunt schillernden Pheromone wirbeln und flattern wie Schmetterlingsflügel. Eine seltsame, ganz neue Erfahrung. Als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, hätte ich beinahe einen Herzinfarkt bekommen. Ich dachte, in mir wächst eine Pflanze heran. Aber nachdem mir keine Blätter aus der Haut gebrochen sind, wurde mir irgendwann klar, dass die Pheromone wohl mit meinen gesteigerten Kräften zusammenhängen.
Meine Signale sind anders als die der Pflanzen. Pflanzenpheromone beschränken sich meistens auf das stärkste und dringendste Bedürfnis. Meine dagegen sind ein schimmerndes Durcheinander. Und die Sprache – die Muster, die Farben – ist ebenfalls anders.
Ich hole tief Luft und versuche, ganz ruhig zu werden. Langsam setzen sich die blauen Flitter durch. Während ich ausatme, lasse ich sie in Richtung Ringelblume strömen.
»Ich bin gleich bei dir«, versichere ich ihr und beobachte fasziniert, wie unsere Pheromone aufeinandertreffen.
Als sie sich berühren, verschmelzen sie miteinander. Nach und nach verblasst das wütende Violett zu einem gelasseneren Fliederton. Das hektische Zickzack wird zu geruhsamen Kreisen. Die Ringelblume macht sich noch immer Sorgen, aber ohne so dramatisch zu sein.
Bevor ich mich um sie kümmere, pumpe ich etwas Wasser für den Salat aus den Speichern und passe gut auf, dass nichts davon auf seine zarten Blätter gerät. Der Salat versprüht einen goldenen Dankesschauer – quasi ein Seufzer der Erleichterung bei Pflanzen –, während seine Wurzeln die Flüssigkeit aufnehmen.
Okay. Was mache ich jetzt mit der Ringelblume?
Bei meinem ersten Versuch habe ich die Sonnenblume einfach hochgebunden. Aber die Stäbe, die ich benutzt habe, sind schon wieder zu kurz, und die Sonnenblume lehnt sich über ihre kleine Nachbarin. Ich versuche, die Stützen zurechtzurücken, doch das bringt nichts. Letztlich befestige ich die Sonnenblume an einem längeren Stab, so dass sie endgültig aufrecht steht. Gerade als ich fertig werde, bricht die Sonne durch die Wolken, dunkelorange wie die Spitzen der Ringelblumenknospen. Die Pflanze verströmt goldenen Glücksglitzer, der sich auf meine Haut legt, ehe er verblasst.
Ich lächle. »Gern geschehen.«
Trotz meiner Gefühle für Jett genieße ich diese Zeit allein in meinem Garten. Nur ich und die Pflanzen und der endlos weite Himmel. Von Mas alter Freundin Euly und Jetts Vater Harlin ist nichts zu sehen. Wahrscheinlich schlafen sie noch. Ich laufe über die Wege und sauge die Ruhe in mich auf, bis ich schließlich vor der Pflanze stehe, die Ma nach mir benannt hat. Inzwischen hängt die Nova voller schwerer pinker Früchte, die dringend geerntet werden müssen. Noch vor ein paar Wochen war sie fast tot. Aber seit sie mit der Ferula behandelt wurde, geht es ihr deutlich besser.
Die Ferula gedeiht direkt daneben. Der Ableger, den ich aus dem Hochhaus des Gärtners mitgebracht habe, ist schnell in die Höhe geschossen. Unten im Gewächshaus habe ich jede Menge Keimlinge, aber diese Pflanze ist als Einzige schon groß genug, um draußen zu überleben. Ich nenne den Wust gefiederter grüner Wedel liebevoll mein Ungetüm. Aber es ist gut, dass sie so zügig wächst – das muss sie, wenn wir auch nur die geringste Chance gegen den Smog haben wollen. Jeden Tag schneide ich mehrere Blätter ab, die ich zerstoße und mit Wasser verdünne, um die Mischung zum Schutz vor den giftigen Schwaden auf die anderen Pflanzen zu sprühen. Ich lasse die Finger über die Wedel wandern und atme ihren Duft nach Minze und Lakritz ein.
Dann schicke ich der Ferula einen Strahl pfirsichfarbener Funken. »Bitte wachse, so viel du kannst.«
Fröhlich folgt die Pflanze meinem Wunsch und entrollt ein neues Blatt. Hinter mir ertönt ein leises Keuchen – Jett, barfuß und mit feuchten Haaren, in einem blauen T-Shirt und einer dunklen Hose.
»Du wirst immer besser.« Er schüttelt den Kopf. »Unglaublich.«
Doch sein Lob kommt mir unverdient vor. »Eigentlich ist vor allem die Ferula unglaublich. Sie macht die ganze Arbeit. Ich gebe ihr nur einen Stups in die richtige Richtung.« Wieder streichle ich ihre Wedel.
Ihr Anblick erinnert mich daran, dass es Zeit wird, die Smogwerte zu überprüfen. Und sofort sinkt meine Laune. Diese Aufgabe hasse ich nämlich. Und zwar nicht, weil ich dafür unzählige Stufen runter und anschließend wieder rauf muss. Nein, ich denke einfach grundsätzlich nicht gern an die tödliche Verschmutzung, die unter uns wabert und immer höher steigt.
Zuerst spähen wir über das Glasgeländer am Dachrand. In der Tiefe wirbelt der schwarze Smog, windet sich wie Würmer im Kompost und spiegelt das Gefühl in meinem Bauch wider. Vor meiner Brust breitet sich eine rote Angstwolke aus. Der Smog ist noch immer weit entfernt, klettert aber jeden Tag näher, manchmal um ganze Stockwerke. Bald wird er das Dach erreichen, und dann kann uns nicht einmal mehr die Ferula retten. Schaudernd weiche ich zurück.
Ich kann mein Zuhause nicht aufgeben. Bilder von schwarzen, verdorrten Pflanzen schießen mir durch den Kopf. Ich schüttle mich, um die Schreckensvisionen zu verscheuchen. Ich lasse meinen Garten nicht sterben. Zusammen mit meinen Freunden werde ich einen Weg finden, Turris zu beschützen.
»Keine Sorge«, murmelt Jett sanft, und seine Hände gleiten über meine Arme. Mein Rücken kribbelt.
Die erstickende Angst lässt langsam nach. Nachdem ich fast mein gesamtes Leben allein war, kann ich immer noch nicht ganz fassen, dass Jett wirklich hier ist. Lächelnd schlinge ich die Arme um ihn, vergrabe das Gesicht an seiner Brust und spüre die Wärme seiner Haut. Als wir uns wieder voneinander lösen, flirren rosafarbene Pheromone zwischen uns, die in Jetts Nähe immer dichter werden. Solche Pheromone habe ich bei Pflanzen noch nie gesehen – vielleicht liegt das daran, dass wir Menschen die Welt anders wahrnehmen. Pflanzen verlieben sich nicht. Wenn Jett doch nur meine Signale lesen könnte … Dann wüsste er, wie stark meine Gefühle für ihn sind.
Die hohen Gräser, die das Dach säumen, verströmen schimmerndes Gold. Mir fällt auf, dass es in Jetts Richtung schwebt und ihn einhüllt. Dabei summt und bebt das Gras leise und volltönend. Das ist neu … Spüren die Pflanzen, was für ein guter Mensch er ist, oder reagieren sie nur darauf, wie glücklich er mich macht? Ich streiche mit dem Daumen über seine Wange, wo sich ein einzelnes goldenes Staubkorn niedergelassen hat. Er nimmt meine Hand, zieht mich an sich und küsst mich.
Pflanzen haben eine gute Menschenkenntnis.
»Die Gräser mögen dich«, verrate ich ihm.
»Äh, danke?« Unbeholfen tätschelt er das Büschel, das ihm am nächsten ist.
Sein Kommunikationsversuch bringt mich zum Prusten. »Na los. Wir müssen runter, die Smogkonzentration messen.«
Mein Zuhause erstreckt sich über die obersten beiden Stockwerke des Hochhauses. Ganz oben liegen die Schlafzimmer, das Badezimmer und Mas Büro. Während wir die Treppe vom Dach hinabsteigen, wächst die Angst in mir erneut. Wir müssen ins Herz von Turris, um genau zu messen, wie hoch der Smog geklettert ist. Ich will die Auswirkungen auf meine Pflanzen überwachen. Auf weitere Überraschungen kann ich gut verzichten. Aber ich werde mich wohl nie daran gewöhnen, den schwarzen Schwaden so nah zu kommen. Obwohl die Wände von Turris dick genug sind, um sie auszusperren, versetzt es mich jedes Mal in Panik, wenn sie direkt hinter den Fensterscheiben wabern.
Durch die Wohnungstür, die von einem Keil offen gehalten wird, entdecken wir Jetts Vater. Er sieht genauso aus wie Jett, nur älter, mit den gleichen dunklen Haaren und Augen und dem markanten Kinn, allerdings ist seins von dichten Stoppeln bedeckt, und seine Schläfen sind grau durchzogen.
Es fühlt sich immer noch komisch an, dass andere Leute hier leben – aber auf eine gute Art. Harlin schläft in meinem Zimmer, während er den Giftpflanzenangriff des Gärtners auskuriert. Es ist gemütlicher als der Rest von Turris und liegt näher am Badezimmer. Mich stört das nicht, nur hat es ewig gedauert, meine Kleider vom Boden zu klauben, damit er nicht darüber stolpert. Im Moment ist alles in den Flurschrank gequetscht. Harlin reibt sich das Kinn und brummt eine schläfrige Begrüßung.
»Guten Morgen!«, rufe ich munter. »Wie fühlst du dich?«
Er antwortet mit einer vagen Geste. »Durcheinander … Ich bin so hundemüde.«
»Warum legst du dich nicht wieder hin?«, schlägt Jett sanft vor. »Wir bringen dir alles, was du brauchst. Euly meint, du schonst dich nicht genug. Dein Körper muss sich von dem Gift erholen.«
»Ich kann doch nicht den ganzen Tag faul rumliegen!« Murrend schlurft Harlin in Richtung Bad davon. Jett und ich steigen ins nächste Stockwerk hinunter.
In der Küche leert Jett ein Glas Wasser in einem Zug, während ich die Smogmaschine ausstecke, die über Nacht zum Aufladen am Solarakku hing. Draußen entflammt die Sonne die fernen Berggipfel.
Ich stelle die Maschine auf die angeschlagene Arbeitsfläche, um sie in Augenschein zu nehmen. Voll geladen. Bereit. Ich lasse die Schultern hängen, die roten Angstpheromone wirbeln. Keine Ausrede mehr. Doch dann höre ich ein schrilles Summen durch die Wand.
»Oh!«, rufe ich mit kaum verhohlener Freude. »Die Keimlinge brauchen mich.«
Ein schlechter Vorwand, aber vielleicht komme ich damit durch – mir ist alles recht, um den langen Abstieg des Grauens hinauszuzögern. Ohne Jetts Reaktion abzuwarten, steuere ich auf das Gewächshaus zu und hüpfe die Stufen hinunter, die in das Zimmer führen.
Eigentlich ist es gar kein richtiges Gewächshaus, sondern nur ein sonniger Raum mit bodentiefen Fenstern. Wo einst Sofas, Couchtische und Vasen standen, sind jetzt Schalen voller Keimlinge und erdverkrustete Teppiche. Die Ferulas machen sich großartig. Wir haben über hundert in unterschiedlichen Wachstumsstadien. Manche sind so gut wie bereit für den Umzug aufs Dach.
Jett steht in der Tür. »Ich weiß, was du da tust, Nova.« Er hebt tadelnd den Zeigefinger. »Du schindest Zeit.«
»Zeit schinden? Ich? Niemals!«, erwidere ich empört. Dann lasse ich die Schultern sinken. »Na ja, okay, vielleicht.«
Womöglich kann Jett meine Pheromone doch sehen. Jedenfalls fällt es ihm kinderleicht, meine Gedanken zu lesen.
Ein paar Schritte, und er zieht mich an sich, so dass ich die Pflanzen Pflanzen sein lassen muss. Mit dem Daumen fährt er über mein Kinn. Ich schmiege mich an ihn, und in seinen Augen funkelt Belustigung, als er sich vorbeugt und mir mit einem Kuss den Atem raubt.
»Wer schindet jetzt Zeit?«, hauche ich und winde mich aus seinen Armen.
Ein Stockwerk tiefer pfeift eine Böe aus dem Segelfliegerraum. Ich musste die Scheiben einschlagen, als ich Turris damals verlassen habe, deshalb ist er den Elementen schutzlos ausgeliefert. Der Wind frischt auf, bald wird der Regen kommen.
»Ich mache besser die Tür unten zu. Sie ist schon wieder aufgegangen.«
»Nova!«, ruft Jett. »Das kann warten.«
»Dauert nur eine Minute.«
Ich stapfe den Gang entlang. Der Segelfliegerraum befindet sich direkt unter meinem Gewächshaus und hat die gleiche hohe Fensterfront. Beziehungsweise hatte. Jetzt ist da nur noch ein leerer Rahmen.
Ich werfe einen raschen Blick hinein. Der Boden ist noch immer von Glasscherben übersät, und der Teppich trieft von vergangenen Gewitterschauern. Plötzlich schießt ein Vogel herein, landet in einer der Zimmerecken. Ein Mauersegler, glaube ich. An der Wand klebt ein tassenförmiges Gebilde. Anscheinend baut er hier oben sein Nest. Ich lächle, glücklich, weil die Natur sich diesen Ort zurückholt. Leise schließe ich die Tür hinter mir, um den Vogel nicht zu stören. Jett lehnt mit verschränkten Armen im Wohnungseingang.
»Warum dauert es so lange, eine Tür zuzumachen?«, grummelt er. Aber sein Mund ist zu einem schiefen Lächeln verzogen, und er beugt sich vor, um mich noch einmal zu küssen.
Plötzlich hält er inne, weil Euly den Kopf aus einem Zimmer in der Nähe streckt, das sie zu ihrem Schlafplatz auserkoren hat. Die dicke knallgrüne Perlenkette, die sie niemals abnimmt, hat sie heute mit einem fließenden orangefarbenen Kaftan und einem grellgelben Kopftuch kombiniert. Sie liebt es, meinen Flurkleiderschrank auf der Suche nach »verborgenen Schätzen« zu plündern. Und ich habe nichts dagegen. Als sie uns entdeckt, bilden sich Lachfältchen um ihre Augen.
»Dachte ich’s mir doch, dass ich Stimmen gehört habe!« Sie klatscht in die Hände. »Guten Morgen, ihr zwei. Bereit für einen weiteren arbeitsamen Tag?«
»Morgen, Boss! Melden uns zum Dienst!« Jett salutiert zum Scherz, wie so oft. »Die Smogmessung ist überfällig.« Er gestikuliert in meine Richtung. »Aber Nova spielt auf Zeit.«
»Ach, wie gut, dass ich euch noch erwische. Ist es in Ordnung, wenn ich euch begleite? Ich möchte noch einmal meine alte Wohnung im dreiundvierzigsten Stock besuchen. Sofern meine Knie mitmachen.« Ihre Augen funkeln, als sie Jett zuzwinkert. Sie tut immer, als sei sie alt und müde, aber eigentlich hat sie mehr Energie als wir beide zusammen. Gestern war sie stundenlang mit uns im Garten und hat beim Jäten und Zurückschneiden geholfen.
»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist«, erwidere ich. »Das ist nur zwei Stockwerke über dem Smog.«
»Dann wird es ja höchste Zeit, bevor das Gift noch weiter steigt.« Sie lächelt ruhig. »Ich bleibe auch nicht lange.«
Widerstrebend gebe ich nach. Wenn Euly sich etwas in den Kopf gesetzt hat, kann man es ihr ohnehin nicht ausreden. Außerdem habe ich so noch eine Gefährtin mehr für diese grässliche Aufgabe. Euly marschiert mit schwingenden Armen voran, als würde sie zu einem großen Abenteuer aufbrechen. Jett joggt hinterher, um mit ihr Schritt zu halten, während ich den beiden nachschlurfe, einen schweren Angstklumpen im Bauch.
Gestern hat der Smog den einundvierzigsten Stock erreicht. Im vierundvierzigsten binde ich mir ein Tuch um Mund und Nase. Keine Ahnung, ob das wirklich etwas bringen würde, sollte der Smog je durch die Wände dringen, aber es gibt mir ein Gefühl von Sicherheit. Euly hält an und tätschelt mir beruhigend den Arm, ehe sie mich mit der Smogmaschine vorgehen lässt. Ich schalte sie ein und schiele auf das orangefarbene Display, bis die Anzeige bereit ist. Im einundvierzigsten Stock gibt es kein Treppenhausfenster, deshalb muss ich in eine der Wohnungen, um die Werte zu messen.
»Bleibt hier«, sage ich zu den anderen und schlucke meine Furcht hinunter. »Es reicht, wenn sich eine von uns in Gefahr begibt. Bin gleich zurück.«
Ich atme ein paarmal ein und aus, dann hole ich so tief Luft, wie ich nur kann, öffne die Wohnungstür und suche mir schnell das nächste Schlafzimmer. Schimmel überzieht die cremefarbenen Wände, und der Teppichboden ist von einer dicken Staubschicht bedeckt. Wie immer macht es mich leicht beklommen, eine der alten Wohnungen zu betreten. Die Decke auf dem Bett ist zurückgeschlagen, als würde die Bewohnerin sich nur kurz eine morgendliche Tasse Tee kochen. Die Smogmaschine pfeift ein paarmal wütend und holt mich zurück in die Wirklichkeit. Zum Glück hat Jett rausgefunden, wie man den ohrenbetäubenden Sicherheitsalarm abstellt, sonst würde der jetzt losheulen.
Meine Lunge verlangt brennend nach Sauerstoff. Draußen schwappen die schwarzen Wogen auf halber Höhe gegen die bodentiefen Fenster. Mein Herz hämmert, und mein Nacken ist klamm vor Schweiß. Dunkelrote Pheromone fluten mir aus der Brust. Ich zwinge mich, den Smog direkt anzuschauen. Um die aktuelle Höhe an der Wand genau bestimmen zu können, hole ich das Maßband heraus und vergleiche sie mit der gestrigen Markierung. Neunundachtzig Zentimeter mehr.
Fast ein ganzer Meter in nur einem Tag. Wie kann das sein?
Meine Lunge krampft, und mir verschwimmt die Sicht, was das Schreiben erschwert. Hastig kritzle ich die Werte in Mas türkises Notizbuch. Jetzt nichts wie weg hier. Ich stürme aus der Wohnung, als wäre der Smog hinter mir her, zurück zu Euly und Jett, wo ich erleichtert nach Luft schnappe.
Dankbar lehne ich mich an Jett, während ich meine Notizen beende.
»Hast du alles?«, fragt er, als ich das Büchlein zuklappe und aufschaue. Seine sanften Augen blicken forschend in meine.
Ich nicke. »Der Smog ist fast einen Meter gestiegen. Ich glaube, er wird schneller.«
Rasch überschlage ich: Bei diesem Tempo dürfte er noch vor Ende des Jahres die Spitze von Turris erreichen. Mein Herz hämmert wild in meiner Brust, und ich schlucke die Panik hinunter. Wenn wir nicht bald etwas unternehmen, werden wir sterben.
Euly verdaut die Information kurz, dann lächelt sie strahlend. »Trotzdem können wir uns glücklich schätzen. Wir sind gesund, und wir haben einander.«
Damit tänzelt sie los, zurück nach oben in den dreiundvierzigsten Stock. Sie wirkt so eifrig wie ein junger Vogel, der gerade fliegen gelernt hat. Natürlich hat sie recht: Es ist tröstlich, Freunde an meiner Seite zu haben. Sie stützen mich wie tiefe, kräftige Wurzeln, und es ist, als könnte mich nichts mehr erschüttern. Wenn ich mein Leben von heute mit früher vergleiche, als ich den Smog noch ganz allein überprüft habe, nur mit meinem Plüschhasen Finn als Unterstützung … Nach dem Tod meiner Ma war er alles, was mir noch blieb. Ich habe mit ihm geredet und mir vorgestellt, er würde antworten.
Heute habe ich so viel Gesellschaft, wie ich möchte. Ich könnte tatsächlich glücklich sein – wäre da nicht der Gärtner. Solartopia braucht unsere Hilfe. Eines seiner Oberhäupter will die Stadt dem Smog überlassen und sich selbst in ein fernes, geschütztes Hochhaus flüchten. Die Zurückbleibenden werden verhungern oder dem Gift erliegen.
Solange der Smog steigt, ist niemand sicher.
Eulys alte Wohnung ist, wie alle Wohnungen in Turris, nicht abgeschlossen. Ma hat über die Jahre hinweg nach und nach jede Tür aufgebrochen, die Küchen nach Essen durchsucht, die Bäder nach Pflegeprodukten. Alles Nützliche wurde schon vor langer Zeit nach oben gebracht. Nervös beiße ich mir auf die Lippen, als Euly die Tür zur 43 b aufschiebt. Was wir da drinnen wohl vorfinden werden – oder eben nicht? Vermutlich haben Ma und ich die Wohnung geplündert. Das würde Euly sicher nicht gefallen. In Solartopia hat mich einmal eine Frau angeschrien, nur weil ich ungefragt ihr Haus betreten habe. Vielleicht ist Euly sauer, wenn wir etwas genommen haben, das sie als ihr Eigentum betrachtet. Leuten aus der Stadt ist so was wichtig.
Euly keucht auf, als sie hineinspäht. Ich warte angespannt und ängstlich, nicht wissend, in welchem Zustand wir ihr altes Zuhause hinterlassen haben.
»Die Wände habe ich selbst gestrichen«, erzählt sie stolz. »Das hatte ich ganz vergessen.«
Über das Grün kringeln sich goldene Ranken. Durch eine weitere Tür fällt Licht. Die Sonnenstrahlen bringen die Farben zum Schimmern. Es sieht wunderschön aus. Euly fährt mit den Fingern darüber, und ein Stück Putz rieselt zu Boden. Der Ort fühlt sich irgendwie vertraut an. Ich glaube, mich an die vielen gerahmten Bilder zu erinnern, die an den Wänden hängen, aber es ist bestimmt schon Jahre her, dass ich zuletzt hier war.
»Meine Eltern mochten die Wände lieber weiß«, erklärt Euly glucksend. »Aber sie haben mich immer darin bestärkt, mich selbst zu verwirklichen. Einen Monat, bevor wir weggezogen sind, bin ich fertig geworden, kurz nach meinem zehnten Geburtstag.«
Die Wohnung ist klein. Zwei Schlafzimmer. Bad, Küche, Wohnzimmer. Euly wandert von Raum zu Raum, hält Zierrat ins Licht, berührt jeden Gegenstand, als wollte sie sich seine Beschaffenheit in Erinnerung rufen. Zum Glück haben Ma und ich kein allzu großes Chaos hinterlassen. Die Verbrauchsgüter sind weg, aber sonst wirkt alles unberührt.
»Das habe ich für meine Mutter gemalt.« Euly betrachtet eine silbern gerahmte Zeichnung, dreht sie zu uns, um sie uns zu zeigen.
Die Linien sind ein bisschen wacklig, aber man erkennt sofort Turris aus der Ferne. Das Hochhaus ist von gepflegten Gärten und Baumreihen umgeben, von denen inzwischen kaum mehr übrig sein dürfte als ein paar tote Stümpfe. Jett steht hinter mir, seine warme Hand auf meiner Schulter. Ich mag es, ihn so dicht bei mir zu spüren.
Mit einem leisen Seufzer stellt Euly das Bild zurück auf den Tisch.
»Wie war es damals in Turris?«, frage ich.
Ihre sehnige Hand wandert an die grüne Kette und betastet die marmorierten Perlen. »Ach, hier war immer viel los. Jede Menge Familien. Draußen war ein Spielplatz, und im Sommer sind meine Freunde und ich mit dem Aufzug nach unten gefahren und haben den ganzen Tag nur Unsinn gemacht. Meine Familie war die letzte, die evakuiert wurde. Es hat mir das Herz gebrochen, Turris zu verlassen.«
Als ich mir Euly als ungezogenes Kind vorstelle, muss ich grinsen – obwohl ich das dumpfe Gefühl habe, dass sie sich über die Jahre nicht allzu sehr verändert hat.
Ihr Zimmer erinnert mich ein bisschen an mein eigenes. Überall hängen Zeichnungen und Fotos, und aus den Schubladen quellen Kleider. Auf den meisten Bildern sind Pflanzen oder Gebäude zu sehen. Kein Wunder, dass sie später die Architektin Solartopias geworden ist, verantwortlich für alle Bauwerke der Stadt.
»Damals war ich noch nicht besonders ordentlich.« Sie lacht leise.
An der Wand hängt auch ein Bild von einem haarigen orangefarbenen Tier mit einem seltsam menschlichen Gesicht, das zwischen ein paar Bäumen hervorlugt. »Was ist das?« Das Bild kommt mir merkwürdig bekannt vor. Ich war auf jeden Fall schon einmal hier.
»Die Erde, vor langer, langer Zeit«, antwortet Euly. »Vor dem sechsten Massenaussterben war alles voller Wälder und Dschungel. Tiere wie der Orang-Utan streiften frei umher.«
Der Gedanke an eine Welt, die vor Leben nur so strotzt, zaubert mir ein Lächeln aufs Gesicht, das jedoch schnell verblasst, als mir wieder einfällt, was die Menschheit dieser Welt angetan hat. Warum sind wir zu solcher Zerstörung fähig? Warum konnten wir uns nicht zurückhalten und ein Gleichgewicht finden?
»Wie es wohl wäre, mit den Pflanzen im Einklang zu leben?«, murmle ich und merke kaum, dass ich es laut ausgesprochen habe.
»Na, du tust das doch quasi.« Jett lacht auf. »Du bist den Pflanzen näher als jeder andere Mensch.«
»Das stimmt nicht«, erwidere ich. »Ma hatte die gleiche Fähigkeit.«
»Ja, über deine Gabe habe ich ein wenig nachgedacht«, meint Euly, während sie ein Buch durchblättert, das sie in einem Regal gefunden hat. »Clare hat mir mal erzählt, sie würde am liebsten ihre Gene verändern, um mit Pflanzen kommunizieren zu können.« Sie stellt das Buch zurück und wendet sich mir zu. »Ich war natürlich entsetzt. An ihrer DNA herumzudoktern! Was für ein Leichtsinn! Sie musste mir versprechen, den Plan aufzugeben. Aber seit ich gesehen habe, wozu du fähig bist, frage ich mich, ob sie nicht heimlich weiterexperimentiert hat. Vielleicht ist es ihr gelungen, diese wundersamen Kräfte an dich zu vererben …«
Ihre Worte hallen lange nach. Ich bin sprachlos. Bin ich deshalb anders als alle anderen? Weil Ma mir diese Gabe verliehen hat?
Ich spüre Jetts Blick auf mir. »Hmpf«, macht er. »Mir haben meine Eltern nur tolle Haare und Zungenrollen vererbt.« Er demonstriert es uns und schielt dabei auf seine Nasenspitze.
Ich drücke seine Hand.
Euly stöbert in einer Schublade. Sie findet einen Stapel Fotos, den sie sichtet. Ein paar lässt sie in ihre Tasche gleiten.
Neben ihrem Bett entdecke ich ein Bild von einem kleinen Mädchen vor einem riesigen Kuchen mit grüner Glasur, in dem zehn Kerzen stecken. Sie hat die Wangen aufgeblasen. Hinter ihr steht ein lächelnder Mann und klatscht in die Hände.
»Bist du das?« Ich halte das Bild hoch.
Euly nickt. »Das war an meinem zehnten Geburtstag. Es gibt einen Brauch, dass man die Kerzen auf seinem Geburtstagskuchen auspustet und sich etwas wünscht. Zehn Jahre, zehn Kerzen.«
Na klar. Darauf hätte ich auch selbst kommen können. Von Geburtstagskuchen und -feiern habe ich schon gelesen.
»Sieht lustig aus.« Meine Pheromone schillern gelb und wirbeln schneller. »Wollen wir das später ausprobieren? Ich habe eine Kerze und Streichhölzer in meinem Nachttisch, für den Notfall. Die könnten wir nehmen.«
Euly schüttelt den Kopf. »Lieber nicht, Nova. Feuer in Turris schreit geradezu nach einer Katastrophe. Selbst bei einer harmlosen Kerze. Die Löschanlage ist sicher schon vor Jahrzehnten durchgerostet. Es ist ein Wunder, dass das Haus überhaupt noch steht.«
Enttäuscht lasse ich die Schultern hängen. »Ma war da auch immer ganz streng. Und wenn wir trotzdem mal eine Flamme gebraucht haben, mussten wir hoch aufs Dach und einen Eimer Wasser danebenstellen.«
»Deine Mutter war ein vernünftiger Mensch. Lass deine Kerze in der Schublade, wo sie keinen Ärger anrichten kann.«
Als wir wieder oben ankommen, mit etlichen Stockwerken zwischen uns und dem Smog, seufze ich erleichtert auf. Die gefürchtete Aufgabe ist erledigt.
Ich mache mich fertig für den Tag. Ausnahmsweise genehmige ich mir heute eine Dusche. Jetzt wo vier Leute hier wohnen, ist Wasser noch kostbarer geworden, und Trinken, Kochen und Pflanzengießen geht natürlich vor.
Ich stelle den Küchenwecker auf eine Minute und trete unter das Wasser. Als der eiskalte Strahl mich trifft, japse ich auf. So schnell wie möglich schrubbe ich mich ab und drehe die Dusche zwölf Sekunden vor Ablauf der Zeit wieder aus. Ich muss grinsen – das ist ein neuer Rekord! Um nicht zu viel Schmutzwäsche zu produzieren, schlüpfe ich in die Kleider von gestern: eine graugrüne Latzhose und ein himbeerrotes Stretchtop. Anschließend putze ich mir mit einem kleinen Schluck Wasser die Zähne und binde mir die viel zu langen Haare zu einem Knoten zusammen, bevor ich prüfend in den Spiegel schaue.
Als ich aus dem Bad komme, ruft Euly mich zum Frühstück. Harlin und Jett sitzen schon an dem abgestoßenen runden Tisch in der Küche. Eine dampfende Kanne Pfefferminztee und eine Schüssel Beeren erwarten mich: Erdbeeren, Johannisbeeren und ein paar frische Novafrüchte, die Euly gepflückt haben muss. Ich schenke ihr ein dankbares Lächeln. Es fühlt sich seltsam an, dass jemand mir Frühstück macht – aber gleichzeitig auch schön.
Jett lässt sich die Novafrüchte schon schmecken. Bis vor kurzem hätte er sich noch geweigert, sie zu essen, wenn er gewusst hätte, woher sie stammen. Meine Mutter hat die Pflanze gezüchtet – meine Mutter, die ganz Solartopia für das Scharlachmassaker verantwortlich macht. Alles, woran sie beteiligt war, gilt als vergiftet. Ich kippe ein paar meiner Beeren in seine Schüssel.
»Sicher?«
Ich lächle.
Auch mit dem Essen müssen wir sparsam sein. Zwar wächst jetzt, wo der Sommer naht, immer mehr in meinem Garten, aber ich konnte natürlich nicht damit rechnen, dass er einmal vier Leute versorgen muss. Euly, Jett und ich setzen täglich neue Pflanzen, aber es wird noch dauern, bis sie Früchte tragen. Bis dahin sind wir auf Winterrationen. Ich bin es gewohnt, mit einer Handvoll Beeren auszukommen, und Euly behauptet, sie brauche nicht so viel, weil sie alt sei. Aber Harlin muss wieder gesund werden, und Jetts Appetit ist unstillbar – typisch für jemanden, der noch nie Hunger gelitten hat.
Nach dem Frühstück machen Jett und ich uns auf den Weg zum Gewächshaus, um die Keimlinge mit Wasser und frischem Kompost zu versorgen. Durch die offene Tür hören wir Euly in der Küche beim Aufräumen vor sich hin pfeifen, gefolgt von Harlins Fluchen und Schimpfen, als sie seine Wunden mit Salbe behandelt.
Jetts Kiefer spannt sich an. Er erträgt es nur schwer, dass sein Vater so leidet.
Zwei Wochen sind vergangen, seit wir Harlin aus Ortus gerettet haben – dem smoggeschützten Hochhaus, wo der Gärtner ihn angegriffen hat. Die violetten Schnitte zeugen noch immer von der giftigen Pflanze, die ihn im Gesicht erwischt hat. Dank Eulys Pflege verheilen sie gut, auch wenn er wahrscheinlich sein Leben lang Narben zurückbehalten wird. Er hatte Glück, dass er kein Auge verloren hat. Ich schaue zu Jett hinüber, der krampfhaft versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Aber wenn es meine Mutter wäre, würde ich mir auch Sorgen machen.
»Keine Angst, Euly weiß, was sie tut«, sage ich so beruhigend wie möglich.
Jett brummt und widmet sich wieder den Radieschenkeimlingen, die er gerade vereinzelt. »Ich sollte da drüben liegen.«
Jedes Mal, wenn ich daran denke, flammt Wut in mir auf. Der Gärtner wollte eigentlich Jett treffen. Hätte Harlin nicht so schnell reagiert, würde Jett sich jetzt quälen.
Zum Mittagessen kocht Euly Kartoffel-Spinat-Suppe, heiß und köstlich. Sie kümmert sich meistens um Harlin und ums Essen, während Jett und ich den Garten versorgen. Es erscheint mir immer noch merkwürdig, nicht alles selbst erledigen zu müssen, aber Euly meint, so funktionieren Gemeinschaften nun einmal. Kaum habe ich meine Schüssel bis auf den letzten Tropfen ausgekratzt, kommt das Gespräch wie üblich darauf, wie wir den Gärtner besiegen können.
»Wir brauchen Hilfe«, sagt Euly. »Allein haben wir keine Chance.«
»Aber dafür brauchen wir Beweise«, erwidert Harlin mit leiser, krächzender Stimme. »Wenn wir doch nur meinen Kommunikator noch hätten. Da war alles drauf, was ich gegen ihn gesammelt hatte.« Er vergräbt den Kopf in den Händen.
»Ich hätte eine Sicherheitskopie machen sollen.« Jett knibbelt an einem Loch in der Tischplatte herum.
»Das lässt sich jetzt nicht mehr ändern«, meint Euly. »Da müssen wir uns eben etwas anderes einfallen lassen.«
»Wir bräuchten Zugriff auf den Zentralrechner des Rats.« Konzentriert furcht Harlin die Stirn. »Aber mein Zugang ist garantiert gesperrt.«
Eulys Blick schweift in die Ferne, während sie nachdenkt. »Wenn wir irgendwie in die Solaris-Akademie gelangen können, finden wir vielleicht, was wir suchen.«
An diese Schule erinnere ich mich. Da geht Kay hin. Kay habe ich im Garten des Lebens kennengelernt, als sie gerade Unterricht in Pflanzenpflege hatte. Sie hat mir bei der Suche nach der Ferula geholfen.
»Der Gärtner hat ein Geheimbüro in der Akademie. Wo, weiß nicht einmal ich genau. Und ich habe das Gebäude entworfen! Dort könnte man womöglich Beweise gegen ihn finden, um seine Pläne zu enthüllen. Aber die Schule wird streng bewacht. Sie liegt mitten im Garten des Lebens, und nur Ratsmitglieder, Lehrpersonal und Schülerinnen und Schüler dürfen hinein.« Sie wirft Jett und mir einen Blick zu. »Ihr beide schafft es vielleicht. Ihr könntet euch einschreiben, unter falscher Identität. Und dann sehen wir weiter.«
Das könnte klappen, da bin ich mir sicher. Ich schaue zu Jett hinüber. Seine Augen glänzen aufgeregt.
»Auf keinen Fall!« Harlin starrt Euly an, die Hände flach auf den Tisch gepresst. »Das ist viel zu gefährlich. Der Gärtner weiß, wie Jett aussieht.«
»Uns läuft die Zeit davon«, wende ich ein. »Der Smog steigt schnell. Und wir drehen uns schon seit Tagen im Kreis. Das ist die erste Idee, die tatsächlich funktionieren könnte. Ich finde, wir sollten es riskieren. Ich habe die Schule schon einmal gesehen und kenne sogar eine Schülerin dort. Wenn es sein muss, mache ich es auch allein.«
Jett greift nach meiner Hand. »Das lasse ich nicht zu.«
»Nova«, erwidert Euly sanft, »du weißt viel zu wenig über Solartopia und wie man sich dort verhält. Wenn, dann geht es nur mit euch beiden.«
»Nein! Jett ist mein Sohn, verdammt nochmal!« Harlins Stuhl quietscht, als er aufspringt. Seine Narben pulsieren.
Bei seinem unerwarteten Ausbruch zucke ich vor Schreck zusammen. Die Pheromone vor meiner Brust färben sich rot.
»Paps, ich bin alt genug, um für mich selbst zu entscheiden.« Jett streckt die Hand nach ihm aus, aber Harlin wendet sich mit hochgezogenen Schultern zum Fenster.
»Ich kann dich nicht verlieren.« Er wird immer lauter.
Mein Herz wummert.
»Glaub mir, ich möchte die zwei auch nicht unnötig in Gefahr bringen.« Eulys Stimme klingt zugleich freundlich und hart. »Nova ist wie eine Enkelin für mich. Aber die Gefahr ist längst da. Entweder sitzen wir untätig herum und warten, oder wir stellen uns ihr.«
»Ich tarne mich«, sagt Jett. »Wir lassen uns was einfallen.«
Mein ganzer Körper ist steif vor Angst. Können sie sich nicht einfach vertragen?
»Das ist kein Spiel!«, faucht Harlin.