Sommer auf meiner Haut - Elisa Sabatinelli - E-Book

Sommer auf meiner Haut E-Book

Elisa Sabatinelli

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Beschreibung

Eine Geschichte, so schön wie die Sonne über Italien!

Mit nur wenig Geld und dem Tagebuch ihrer verstorbenen Mutter in der Tasche, ist die 26-jährige Lavinia bereit für den Sommer ihres Lebens. Sie reist nach Italien, dorthin, wo ihre Mutter mit dem Mann glücklich war, der sie schließlich beide verlassen hat: Lavinias Vater, den sie nie kennengelernt hat. Jedes Erlebnis, jede Begegnung auf ihrer Reise hilft Lavinia dabei, sich selbst neu zu entdecken. Aber es ist Claudio, attraktiv, charmant und unwiderstehlich, der ihr Leben für immer verändern wird. Als er nach einer romantischen Nacht verschwindet, spürt Lavinia, dass sie ihn wiederfinden muss ...

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Seitenzahl: 306

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Buch

Nach dem Tod ihrer Mutter beschließt die 26-jährige Lavinia ihre Heimatstadt Barcelona für drei Monate zu verlassen und in diesem Sommer auf den Spuren ihrer Mutter durch Italien zu reisen. Dorthin, wo ihre Mutter mit dem Mann glücklich war, der sie schließlich beide verlassen hat: Lavinias Vater, den sie nie kennengelernt hat.

Mit nur wenig Geld und dem Tagebuch ihrer verstorbenen Mutter in der Tasche ist Lavinia bereit für den Sommer ihres Lebens.

Alles beginnt in Ravello, an der Amalfiküste: In einer Atmosphäre voller berauschender Düfte und Sinnlichkeit trifft Lavinia überraschend ihren ehemaligen Musikprüfer Claudio wieder. Sie ist überwältigt von seinem Charme und verbringt eine romantische Nacht mit ihm. Am nächsten Tag ist er verschwunden, hat ihr aber eine wertvolle Violine dagelassen. Eine Aufforderung an sie, endlich wieder zu spielen? Lavinia kann Claudio nicht vergessen. Sie weiß, sie muss ihn wiedersehen …

Autor

Elisa Sabatinelli, geboren 1985, ist halb Katalanin, halb Italienerin. Sie wurde in Fano geboren und wuchs in Barcelona auf. Elisa hat Dramaturgie in Spanien studiert, in London bei einer Plattenfirma gearbeitet und ein Architekturbüro geleitet (ohne Architektin zu sein). Mit 28 Jahren wurde sie Mutter und hat das Festival »Cortili Letterari« ins Leben gerufen. Heute lebt sie in Mailand, wo sie im Verlagswesen arbeitet und schreibt.

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Elisa Sabatinelli

Roman

Aus dem Italienischen von Elvira Bittner

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel

»Summer – Sulla mia pelle«

bei Rizzoli / Rizzoli Libri S.p.A., Milano.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2016

by Rizzoli / Rizzoli Libri S.p.A.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018 by Blanvalet

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Troni

Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de

Umschlagmotiv: © www.buerosued.de

JaB · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-21115-8V001

www.blanvalet.de

Für Andrea, weil er mich überrascht hat

1

Der Brief

Es gab eine Phase, in der ich fest darauf gebaut habe, dass du wieder gesund wirst. Dann habe ich darauf gewartet, dass du stirbst. Aber die ganze Zeit über habe ich gehofft, dass endlich morgen ist, dass alles vorüber ist.

Tod, Beerdigung, Händeschütteln, Tränen. Ich wollte das alles nicht. Leiden.

Und jetzt, da der Moment gekommen ist, den ich so sehr herbeigesehnt habe, jetzt, da endlich morgen ist, klingelt es an der Tür. Der Briefträger händigt mir ein Einschreiben aus, für das er meine Unterschrift braucht. Doch ich habe keinen Stift zur Hand. Hektisch wühle ich in der Handtasche herum: Taschentücher, Quittungen, Wäscheklammern, Kinokarten, ein Einkaufszettel, ein Handschuh, Kopfhörer … Ach, da sind ja sogar zwei Stifte. Einer hätte auch gereicht. Ich bestätige den Empfang und schließe die Tür.

Da stehe ich nun, mit dem Umschlag in der Hand. Der Absender ist eine Klinik. Ich stelle mir den riesigen Klotz vor, weiß, mit zwei gewaltigen Armen, die dabei sind, mir einen Brief zu schreiben.

Ich falte den Umschlag zusammen und stecke ihn in die Gesäßtasche meiner Jeans, dann nehme ich die Wohnungsschlüssel meiner Mutter und verlasse das Haus. Draußen ist es heiß.

Vor sechs Monaten war Januar, und meine Mutter ist in der kältesten Woche des Jahres von uns gegangen, in der »Woche der Bärtigen«, wie man sie hier nennt, weil jeder Tag einem Heiligen mit Bart gehört.

Mama war genauso verfroren wie ich. Jetzt würde sie sicher den Balkon bepflanzen, wie immer mit Blumen in den unterschiedlichsten Farben. Sie war eine farbenfrohe Frau.

Die Schlüssel drücken gegen den Oberschenkel, und obwohl sie leicht sind, wiegen sie schwer, so als hätte ich am Flussufer große Steine aufgesammelt. Eigentlich spüre ich sie gar nicht am Bein, sondern in mir drin. Seit der Beerdigung war ich nicht mehr in ihrer Wohnung, ich habe es einfach nicht über mich gebracht.

Ich gehe zu Fuß durch die Stadt. Barcelona bringt einen auf andere Gedanken, überall wimmelt es von Menschen, an jeder Ecke ist mindestens eine Bar, ein Geschäft reiht sich ans nächste, die Gehsteige sind breit. Alle sind unterwegs, nie fühlt man sich allein, jeder Tag ein Festtag.

Am Sonntagmorgen saßen wir gerne auf einer der Terrassen in Barceloneta direkt am Meer und sahen den Wochenendjoggern oder den Kids mit ihren Skateboards zu, den Pärchen mit ihren Hunden, den Surfern und den Todesmutigen, die selbst im Dezember im Meer baden. Wir setzten uns nebeneinander und genossen die Aussicht, bestellten Oliven, ein Bier mit Fanta für sie und eine Bloody Mary für mich. Seit einem halben Jahr ist nun schon nicht mehr Sonntag, und ich fühle mich schuldig, weil ich nicht mal daran denken will. Aber nur so schaffe ich es, einigermaßen zurechtzukommen.

Der Umschlag in meiner Jeans gehört auch zu den Dingen, an die ich nicht denken will. Ich weiß, wenn ich ihn öffne, dann wird der Inhalt mich beeinflussen, bei allem, was ich tue, werde ich das Ergebnis im Kopf haben, beim Zähneputzen, beim Schlafengehen, bei allem. Daher beschließe ich, erst mal nichts weiter zu öffnen als die Tür zur Wohnung meiner Mutter. Ich stehle mich förmlich hinein, ohne die Wände zu berühren, ich vermeide es, auf die Teppiche zu treten oder die Möbel anzuschauen, und fasse auch nichts an. Jede einzelne Erinnerung will ich in mir vergraben, um nicht zu ersticken. Ich gehe ganz vorsichtig, als hätte ich Scheuklappen auf. Aus der Küche ist kein Geschirrgeklapper zu hören, im Bad dudelt kein Radio. Ich lege Schlüssel und Umschlag auf den Tisch. Alles ist stumm. Ich lausche in die Stille, meine Mutter fehlt mir.

In den letzten Tagen, als sie schon im Krankenhaus lag, hat sie mir ihre Hausschlüssel gegeben und gesagt, dass die Wohnung jetzt mir gehöre. Ich antwortete, wenn sie nicht mehr da sei, dann wolle ich die Bude auch nicht haben, und kündigte an, die Schlüssel in den nächstbesten Gully zu werfen. Verständnisvoll wie immer sagte sie darauf: »Okay, dann bleib erst mal weg, aber irgendwann musst du dich darum kümmern. Wenn ich nicht mehr da bin, werden dir meine Sachen von mir erzählen.«

Wie immer habe ich nicht auf sie gehört. Ich bin kein einziges Mal hingegangen, um mich um ihre Sachen zu kümmern.

Bis heute Morgen habe ich so getan, als könnte ich den Schmerz im Zaum halten, ihn zum Schweigen bringen wie einen kläffenden Hund. Dann hat mir dieser Umschlag gleich zwei Ohrfeigen verpasst, vermutlich genau jene, die mir meine Mutter gegeben hätte. Und jetzt fehlt sie mir so sehr, genau wie die Ohrfeigen. Ausgerechnet jetzt, da ich völlig verloren in ihrer Wohnung stehe, auf der Suche nach Antworten, auf der Suche nach ihr. Die Rollläden im Wohnzimmer sind heruntergelassen, aber die Sonne dringt durch die kleinen Löcher und zeichnet eine Reihe aus Steinchen auf den Boden. Es kommt mir vor, als wollten sie mir einen Weg ohne Richtungsangabe zeigen. Genau so fühle ich mich auch: ohne Richtung, wie ein kaputter Kompass.

Da schlägt in der Nachbarwohnung jemand die Tür zu, so laut, dass ich zusammenfahre. Ich hebe den Blick und bemerke im Bücherschrank ein Bändchen, das mir noch nie aufgefallen ist. Es ist uralt und stark abgenutzt. Ich ziehe es heraus und stelle fest, dass es sich weder um ein Heft noch um ein Album oder ein Tagebuch handelt, sondern um alles zusammen. Es quillt über von Fotos, Tickets, Notizen, getrockneten Blumen und Ansichtskarten. Auf dem Einband steht »Italien«, es scheint eine Art Erinnerungscollage an die Reisen zu sein, die meine Mutter im Lauf der Jahre auf die andere Seite des Meeres gemacht hat. Ich kannte das Büchlein nicht, und jetzt, da ich es in den Händen halte, spüre ich, wie es zu mir spricht. Es ist ein wahrer Schatz, denn sicherlich steckt sie hier drin, die Antwort, nach der ich noch immer suche. Ich drücke das Büchlein fest an die Brust, ich will es mitnehmen, will mich von ihm mitnehmen lassen.

Dann greife ich nach dem Briefumschlag und betrachte ihn. Auf einmal bin ich mir sicher, dass ich ihn nicht öffnen will. Ich habe diesen Test machen lassen, weil ich wissen muss, ob ich dasselbe verdammte Gen in mir trage wie meine Mutter. Wenn mir dasselbe Schicksal blüht wie ihr, dann muss ich mich ihm stellen, jedenfalls sagen das die Ärzte. Das mag sein, aber nicht jetzt. Jetzt will ich erst mal leben, das Meer überqueren, die Sonne genießen. Es ist Sommer, und er ruft mich ganz deutlich – weg von dieser Wohnung, von dieser Stadt, von dem Loch, das meine Mutter hinterlassen hat, und von der Möglichkeit, dass vielleicht auch ich dieses Leben für immer verliere. Bevor ich mich dem stelle, will ich erst mal vergessen. Der Umschlag kann warten, genauso wie der Tod, nicht aber diese Saison. Sie ist zu schön, um nicht genutzt und bis ins letzte Detail gelebt zu werden.

Ich spüre, dass mir der Atem stockt. Der Schmerz, der in diese Wohnung eingeschlossen war, ist kurz davor zu explodieren. Alles stürzt über mir zusammen, da sind Risse in den Mauern, die Gläser klirren im Schrank, die Kissen fallen vom Sofa, die Fenster erzittern. Was soll ich nur tun, Mama?

Ich schlage das Tagebuch nicht auf der ersten Seite, sondern mittendrin auf, will Lotto spielen, das Schicksal herausfordern, mich selbst überraschen.

Tatsächlich leuchtet mir auf der zufällig gewählten Seite ein Satz entgegen: »Die Reise ist ein Ort, an dem alles möglich ist.« Darunter, mit zwei Streifen Tesafilm aufgeklebt, befindet sich eine Ansichtskarte aus den achtziger Jahren. Sie zeigt Ravello, ein Dorf an der Amalfiküste. Auf dem Foto ist eine Bucht abgebildet, von einer Terrasse aus gesehen. Da will ich hin. Nichts soll geplant sein dieses Mal, keine vorab gekaufte Fahrkarte, kein bereits adressierter Umschlag, allein der Zufall soll entscheiden. Nur meine Mutter wird mich auf dieser Reise begleiten. Wo genau liegt dieses Ravello eigentlich? Als ich mein Handy hervorziehen und auf Google Maps nachsehen will, merke ich, dass ich es vergessen habe.

Ich schnappe mir meine Tasche, schlage die Wohnungstür hinter mir zu und renne, das Album unter dem Arm, die Treppen hinunter. Ich bin erfüllt von der Glückseligkeit, soeben eine freie Entscheidung gefällt zu haben, auf die ehrlichste Weise, ohne Filter, ohne irgendein Programm. Drei Monate, um mit mir selbst ins Reine zu kommen. Drei Monate in völliger Freiheit, ohne Fallschirm. Drei Monate und damit hundert Tage, in denen meine Wünsche vor allem anderen kommen.

Unvermittelt halte ich inne. Ein Zweifel. Ich stehe auf dem Gehsteig, unbeweglich, die Passanten streifen mich und gehen weiter ihrer Wege, ohne sich bewusst zu sein, dass ich soeben Teil des Stadtmobiliars geworden bin. Vor mir die Sagrada Família, ihre hohen Fialen, dazu Baustellen- und Verkehrslärm und die Stimmen der Straßenhändler auf der Jagd nach Touristen. Ein pakistanischer Junge fragt mich, ob ich ein Trikot vom FC Barcelona kaufen wolle, aber ich höre kaum hin. Ich fasse mir an die Hosentaschen. Sie sind leer. Mist, ich habe den Klinikbrief und die Schlüssel in der Wohnung vergessen und die Tür hinter mir zugezogen. Ein paar Sekunden lang bin ich in Panik, doch dann denke ich noch mal darüber nach. Im Grunde weiß ich, dass ich es absichtlich getan habe.

Mein Leben läuft jetzt nur noch in eine Richtung: vorwärts. Der Sommer wartet auf mich.

2

Plaça del Sol

Ich sitze zu Hause und habe keine Lust, Koffer zu packen. Ich wünschte, er wäre schon fertig, ich wäre gern schon auf Reisen, ohne mich um das Drumherum kümmern zu müssen. Normalerweise notiere ich mir vor einer Reise all die Dinge, die ich mitnehmen will, auf zahllosen Post-its oder auf der Rückseite von U-Bahn-Tickets. Die verteile ich dann überall, in der Handtasche, auf der Ablage im Bad, in den Hosentaschen. Dumm ist nur, dass ich mich am Tag der Abreise meist nicht mehr erinnern kann, wo ich sie hingesteckt habe. Dann stehe ich völlig entmutigt vor dem Koffer und werfe einfach alles hinein, was mir vor die Augen kommt. Am Ziel angekommen, glänzen Zahnbürste und Schlafanzug dann mit Abwesenheit.

Diesmal ist das Album meiner Mutter das Einzige, was zählt, wenn ich den Schlafanzug vergesse, ist das nicht weiter schlimm. Ich wähle ein paar Kleider aus, die ich immer anziehe und die mir besonders gut stehen, alles andere lasse ich im Schrank.

Dann gibt es nur noch eins zu tun: mich von meinen Freunden und Barcelona zu verabschieden.

Wir sind erst gegen neun in Gràcia verabredet, dem Viertel nördlich der Avinguda Diagonal, aber ich gehe gleich aus dem Haus, ich will mich vorher noch ein bisschen im Herzen der Stadt verlieren. Die Sonne ist noch nicht untergegangen, und ihr orangefarbenes Licht lässt alles schöner und lieblicher erscheinen. Ein leichter, fast unmerklicher Wind weht mir warm entgegen, frischt auf und bauscht mein geblümtes Baumwollkleid. Ich halte mit einer Hand den Rock fest und lege ihn eng an den Po. Dabei rutscht mir ein Träger von der Schulter, den ich nicht zurückschiebe. Die Haare habe ich zu einem hohen, festen Pferdeschwanz gebunden, mein Gesicht liegt frei, ich habe heute nichts zu verbergen vor dieser Stadt. An einer Ampel ziehe ich den dunkelrosa Lippenstift aus meiner Umhängetasche, und während ich auf Grün warte, stelle ich mich vor ein Schaufenster und ziehe mir die Lippen nach. Ich stelle mich so dicht wie möglich vor die Scheibe, damit ich mich gut sehen kann, forme mit dem Mund ein O und fahre mit dem Lippenstift darüber. Dann presse ich die Lippen aufeinander und bewege sie ein wenig hin und her, damit die Farbe sich gleichmäßig verteilt.

Ich überquere die Straße und lasse mich vom Strom der Touristen mitnehmen. Der Brunnen an der Plaça Catalunya ist voller Leute, die auf seinem Rand sitzen und nach Kühlung lechzen. Sie haben Rucksäcke und große Einkaufstüten dabei, einer hebt gerade sein Hündchen hoch, um es trinken zu lassen. Alle sind leicht bekleidet, tragen kurze Hosen, offene Schuhe und ärmellose Tops, aber es nutzt alles nichts an diesem Sommerabend. Wie eine schwere Decke legt sich die Hitze auf die nackte Haut und durchdringt die Luft mit starken Gerüchen. Autos, Busse und Taxis umkreisen den Platz. Vor dem Fnac-Laden, einem beliebten Treffpunkt direkt am U-Bahn-Ausgang, warten etliche Menschen. Ich beobachte, wie ihre Gesichter einige Sekunden lang verloren wirken, bevor sie aufleuchten, weil sie jene anderen Gesichter gefunden haben, Gesichter, die sie gesucht haben, die sie lieben. Ein Schulterklopfen, Küsschen auf die Wange, auf die Stirn oder auf den Mund, ehe sie zügig einen sicheren Weg einschlagen. Sie kommen mir vor wie Wasserläufe, die ihre Umgebung überfluten, sich in die zahllosen Bars von Raval ergießen, durch Straßen und über Terrassen schlängeln und in Hauseingängen versiegen.

Mein Weg hingegen ist schnurgerade, als ich die Ramblas entlangschlendere, jene Ader, die von der Plaça Catalunya zum Hafen führt und die Fülle der Stadt von der Leere des Meeres trennt.

Kurz entschlossen halte ich mich rechts und gehe durch die Markthallen der Boqueria, über deren Haupteingang ein großes eisernes Wappen hängt. Mir ist heiß, und ich habe Durst, und da der Markt bald schließen wird, schlüpfe ich rasch noch hinein. Drinnen bersten die Tische schier vor bunten Früchten, die nach Farben sortiert sind, von weißen Kokosnüssen bis hin zu tiefroten Erdbeeren. Die Pracht aus Düften und Farben berauscht meine Sinne.

Gleich in der ersten Reihe stehen auf einem Bett aus Eis gelbe, violette, rote und pinkfarbene Säfte, alle frisch gepresst und mit einem Strohhalm darin. Ich wähle einen mit Papaya und beflecke den Strohhalm mit Lippenstift, während der Saft durch meine Kehle rinnt und meinen erhitzten Körper erfrischt.

Auf dem Markt wimmelt es immer noch von Leuten. Ich gehe zwischen den Gemüseständen hindurch, lehne mich an eine Säule, um in kleinen Schlucken den Saft zu trinken, während ich einen Herrn mit Hut dabei beobachte, wie er gelbe, fein gemahlene Gewürze kauft. Ich bemerke eine elegante Frau, die je ein Kilo Kichererbsen und Oliven ersteht, zwei kleine Mädchen, die sich an der Theke mit Süßigkeiten einen Vorrat an Kaubonbons zulegen, und in der Ferne das Wurstwarengeschäft mit den braunen Pata-Negra-Schinken und dem aufgeschichteten Tatar aus fein gehacktem Rindfleisch.

Die Kälte der Metallsäule überträgt sich auf meinen nackten Rücken und verschafft mir Linderung, und als ich am Fischstand vorbeigehe, überläuft mich sogar ein kleiner Schauer. Die Bar in der Ecke wartet mit Grillfischplatte und Weißwein auf, und ich würde mich nur zu gerne an die Theke setzen und in eine leicht angekohlte Garnele beißen. Aber es ist schon spät, und ich will die anderen nicht warten lassen, nicht heute. Also verwerfe ich die Idee, noch bis zum Meer hinunterzugehen und schlendere stattdessen unter dem Schwatzen der Leute und den Rufen der Händler auf den Ausgang zu.

Draußen erwartet mich die Hektik der Stadt. Allerdings spüre ich eine andere Energie als am Nachmittag, jetzt, da die Schatten der Sonne den Raum stehlen, sich die Rollläden der Geschäfte schließen und jene der Bars sich öffnen. Etwas Prickelndes und Pikantes liegt in der Luft, ein Glühen, eine ungeheure Lebendigkeit und Getriebenheit. Die Krawattenknoten der Männer sind gelockert, der oberste Hemdknopf steht offen, die Dekolletés der Frauen werden gewagter. Die Stadt will mich anstecken mit ihrer Heiterkeit, von der ich weiß, dass sie auch in mir ist. Auch wenn ich sie vor einiger Zeit tief in mir vergraben habe, spüre ich, dass sie noch immer da ist. Auf den breiten Gehsteigen des Passeig de Gràcia setze ich meinen Weg fort, die Anhöhe wieder hinauf. Die modernistischen Gebäude scheinen mich anzulachen mit ihren Balkons in Mundform und den welligen Dächern, die sich in den Himmel winden.

Gràcia ist eine glückliche Insel aus niedrigen Häusern und kleinen Plätzen, dessen Bewohner eine große Familie sind. Fast das ganze Viertel ist Fußgängerzone, und es wimmelt zu jeder Tages- und Nachtzeit von Menschen. Die Bars sind immer voll, und auf den Plätzen tummeln sich fröhlich Kinder und Hunde. Wir treffen uns hier seit der Schulzeit, unsere Lieblingsbank steht an der Plaça del Sol. Die Fassaden haben die unterschiedlichsten Farben, und jedes Fenster hat einen kleinen, mit Blumen bewachsenen Balkon. In den Erdgeschossen befinden sich Bars und Restaurants, alle haben sie Tische draußen, und über dem ganzen Platz liegt ein Geräusch, das sich aus vielen unterschiedlichen Geräuschen zusammensetzt: klingende Gläser, Musik, die aus den Wohnungen dringt, Rollläden, die hochgezogen werden. Wenn man die Ohren spitzt, kann man noch viel leisere und geheimere Geräusche hören: eine Zigarette, die in einem Aschenbecher ausgedrückt wird, die gedrückten Tasten eines Handys, ein gerauntes Wort, eine Hand, die ein Kleid streift, die schmalen Absätze einer Frau, die die Stufen erklimmt.

Ich setze mich auf unsere Bank und warte. Ich bin die Erste, heute sind alle zu spät. Auf diesem kalten, unbequemen Metall habe ich ganze Nachmittage und endlose Nächte verbracht und mit meinen Freunden geplaudert. Hier habe ich ihnen wahre und erfundene Abenteuer erzählt, ihnen meine Träume anvertraut, meine Wut und meine Ansichten entgegengeschleudert, mit ihnen gelacht und geweint. Von Liebeskummer geplagt, habe ich mir ihre Ratschläge angehört, die mir guttaten, auch wenn ich sie nicht befolgte.

Keine fünf Minuten vergehen, da packt Manel mich schon an der Schulter und nimmt mich in den Schwitzkasten, doch ich kann mich befreien und wuschele ihm durch den kohlschwarzen Haarschopf. Völlig außer Atem, mit tausend Tüten in den Händen, kommt einen Moment später Sara angehetzt. Sie arbeitet in einem großen Einkaufszentrum und nimmt sich oft Klamotten mit nach Hause. Hinter ihr entdecke ich Jana, die ihr Fahrrad an einen Pfosten schließt und mir aus der Ferne ein paar Luftküsse zuhaucht. Das sind meine ältesten Freunde, mit denen ich Erfolge und Niederlagen geteilt, mit denen ich nicht nur feuchtfröhliche Abende verbracht, sondern auch den Kater am nächsten Morgen durchgestanden habe.

»Wer fehlt denn noch? Ich verdurste gleich und brauche sofort ein Bier!« Jana schwitzt und rollt die Ärmel ihres roten T-Shirts auf die Schultern.

»Ich habe auch Laia und Xavi angerufen, sie müssten gleich da sein.« Während ich das sage, sehe ich meine beiden Studienfreunde auch schon Arm in Arm daherkommen. An der Uni habe ich nur mit den beiden wirklich Freundschaft geschlossen. Laia habe ich im Französischkurs kennengelernt und Xavi bei der Erstsemesterparty, die unter dem Motto Zickengezwitscher stand. Das gehört eben dazu, wenn man Moderne Sprachen in Barcelona studiert.

Laia fällt mir um den Hals, während Xavi sie dabei beobachtet. Sie hat ihm immer schon gefallen, weniger wegen ihrer fast zu offensichtlichen Schönheit als wegen ihrer extrovertierten Art, die sie noch sinnlicher macht. Aber er hat sich nie getraut, denn sie ist seit Jahren verlobt.

»Okay, wir sind vollzählig, sucht euch eine Bar aus«, sage ich.

Dann bleibt mein Blick an einem Punkt im Hintergrund hängen. Mit seinem ruhigen Schritt kommt er näher, die Zigarette zwischen den Lippen, die Hände lässig in den Taschen. Er hat mich entdeckt, mustert mich aufmerksam, deutet zart ein Lächeln an, während ich ihn reglos betrachte, überrascht, einen Sprung im Herzen. Ich hatte nicht erwartet, ihn hier zu sehen.

Pau, meine erste große Liebe, das erste Mal. Wir haben uns vor langer Zeit verliebt, am Ende der Schulzeit, aber es hat ein bisschen gedauert, bis wir es uns gesagt haben. Darauf folgten zwei Jahre absoluter Symbiose, pures Glück und wilde Abenteuer, wunderbare Nachmittage im Park, herrliche Meeresbuchten und eng umschlungene Nächte. Wir dachten, es sei für immer, stattdessen ging es zu Ende. Das Leben hat uns auf die Probe gestellt, und wir waren noch nicht bereit. Meine Mutter wurde krank; und ich hatte ihm plötzlich nichts mehr zu sagen, da waren nur Ängste und Ödnis und das Gefühl, in Traurigkeit zu versinken. Ich wollte ihn nicht mit mir in die Tiefe ziehen, genauso wenig wollte ich, dass er mich rettet. Die Trennung war scharf, wie eine Amputation. Seine Abwesenheit fühlte sich an, als würde mir eine Gliedmaße fehlen. Als er dann ein paar Monate später nach Paris ging, war es schließlich das Aus. Ein echter Abschied, keine Gute-Nacht-Nachrichten mehr, kein: »Ich komme dich mal besuchen.« Es war die Sonnenfinsternis einer Liebe und der Beginn einer neuen Ära: der ohne ihn.

»Ciao, Lavinia.«

Er bleibt vor mir stehen, mit diesem Gesichtsausdruck, den ich nur zu gut kenne, erwartungsvoll, ohne sich aufzudrängen, stets einen Schritt auf Abstand. Ich umarme ihn fest.

»Was für eine schöne Überraschung, ich wusste gar nicht, dass du hier bist.«

»Ich bin nur übers Wochenende da. Am Montag fahre ich wieder … Deine Haare sind länger geworden.« Die typischen kurzen Sätze, die versteckten Komplimente, immer diskret.

»He, ihr zwei, genug Hallo und lange Haare. Hier muss endlich ein Bier her!« Jana scharrt mit den Hufen.

»Ich hätte auch Hunger, wollen wir zum Libanesen gehen?«, frage ich an alle gewandt.

»Auf zum Libanesen, wenn es der Lady behagt«, sagt Manel, ohne zu widersprechen. Dabei ist er sonst immer anderer Meinung.

Wir bestellen nur Tapas, der Tisch quillt über von Schälchen und Tellerchen mit Hummus, Pita, Tabouleh, gefüllten Weinblättern und geräucherten Auberginen. Wir probieren alle von allem, tunken das Pitabrot in den Teller des Nachbarn und schwingen die Schälchen durch die Luft wie auf einer Achterbahnfahrt. Unter schallendem Gelächter trinken wir unser Bier, und Laia treibt den Kellner in den Wahnsinn, indem sie etwas bestellt und es sofort wieder storniert.

Inmitten dieser heiteren Ausgelassenheit durchzuckt mich Melancholie wie ein Stich, als mein Blick Pau streift, der mir gegenübersitzt. Er hat die Ellbogen auf den Tisch gestützt, und mir fällt ein, wie ich ihn immer ermahnte, dass man das nicht macht, woraufhin er sich blitzschnell aufrichtete und einen britischen Lord nachmachte. Damit brachte er mich zwar zum Lachen, machte mich aber auch wütend, bis ich ihn schließlich um Gnade bat. Diesmal sage ich nichts zu ihm. Wir sind nichts weiter als gute Bekannte, und es ist sinnlos, sich zu necken, zu lachen und zu streiten.

Nach dem Abendessen stürzen wir uns in die Bar, die wir »den Strand« nennen, weil es dort einen Raum mit Sand und großen Kissen auf dem Boden gibt, wo man Shisha rauchen kann. An den Wänden hängen Fotos von Dünen und Palmen und auch ein großes Wüstenbild mit Kamelen. Angeblich haben sie den Sand aus Marokko herbeigeschafft, und wir bestätigen dem Wirt jedes Mal, dass man es sieht. Die Farbe ist tatsächlich anders.

»Das hier ist für dich, von uns allen.« Sara reicht mir einen Zettel mit einer Reservierung für ein Hotel im Zentrum von Ravello.

»Wir wissen, dass du nicht mal für die erste Nacht was gebucht hast.«

Manel hat recht. Dass ich den Koffer bereits gepackt habe, ist schon ein Fortschritt, noch mehr Perfektion hätte ich nicht geschafft.

»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Danke, das ist wunderbar!« Ich betrachte erst den Zettel und dann wieder meine Freunde. Kurz durchfährt mich der Gedanke, dass ich sie am liebsten alle in den Koffer packen und mitnehmen möchte. Seit der Schulzeit reden wir davon, mal gemeinsam zu verreisen. Aber im Grunde meines Herzens weiß ich, dass ich alleine fahren muss.

»Hey, wir haben was Anständiges gebucht, klar? Das ist ein Viersternehotel«, ermahnt mich Xavi. »Mit Frühstück und WLAN, damit du uns gleich nach der Ankunft eine WhatsApp schicken kannst. Dann sind wir wenigstens beruhigt, weil wir dich zwischen weißen Bettlaken in Sicherheit wissen.«

Die Musik dröhnt aus den Lautsprechern, und die Gruppe zerstreut sich, alle tanzen durch den Raum.

»Es ist schön, dich wieder lächeln zu sehen.« Pau hat sich neben mich gesetzt. Er sieht mich ohne Bedauern an, freut sich ehrlich für mich.

»Und du, wie geht’s dir in Paris?«

»Ich habe inzwischen eine Werkstatt, es hat sich herumgesprochen, und ich bekomme viele Aufträge. Es geht mir gut.«

Pau ist Goldschmied, er entwirft ganz wunderbare Schmuckstücke. Wie ich ihn kenne, läuft es sogar ausgezeichnet, er ist nur zu bescheiden, es zuzugeben. Ich betrachte seine Hände. Sie haben mir immer gefallen, groß und stark, wahre Zauberwerkzeuge, die Metall in wertvolle Objekte verwandeln.

»Ich beneide dich«, sage ich, plötzlich ernst. »Du hast deinen Traum verwirklicht und dafür gesorgt, dass dein Talent Früchte trägt.«

Forschend sieht er mich an, ahnt intuitiv, was hinter meinen Worten steckt. »Was gibt’s von deiner Geige zu berichten? Auch du hast Talent.«

»Entschwunden, verloren, dahin, wie alle wichtigen Dinge in meinem Leben.«

Wie meine Mutter, wie du. Nicht nötig, es auszusprechen, er weiß es sowieso, ebenso wie er weiß, dass es zwecklos wäre, darüber zu reden. Jetzt, da ich kurz vor der Abreise stehe und der Sommer beginnt. Jetzt, da eine makellos weiße Klinik ein Urteil gefällt hat, und ich lächele, auch wenn ich genauso gut losheulen könnte.

Es ist spät geworden, fast drei Uhr nachts, und das Lokal schließt. Ich nehme alle in den Arm, drücke einen jeden fester als den anderen. Dann versuche ich den Abschied weniger dramatisch zu gestalten.

»Ich ziehe ja nicht in den Krieg. Wir sehen uns nach dem Sommer wieder.« Allerdings sage ich es mehr zu mir selbst als zu den anderen.

Im Lokal lassen sie bereits den Rollladen herunter, als wir auseinandergehen. Zeit zum Aufbruch. Ich sehe Pau ein letztes Mal an, er lächelt mir zu, als wolle er sagen: »Alles wird gut.«

Ich hoffe es.

Die Nacht ist dunkelblau, und auf einmal ist alles still.

3

Das Schwimmbad

Am nächsten Morgen stehe ich früh auf, die Lieder aus der Bar vom vergangenen Abend klingen mir noch in den Ohren. Ein Gefühl von Verlorenheit und Traurigkeit schlummert in mir, eine Melancholie, die von weither kommt und die ich mir nicht erklären kann. Der wunderschöne Abend kommt mir vor, wie in weite Ferne gerückt. Ich betrachte den geschlossenen Koffer und versuche mich gedanklich in die Zukunft zu beamen, hinein in die Reise, die mich erwartet. Der Flieger geht erst am Nachmittag, ich habe noch den ganzen Vormittag für mich, und spontan beschließe ich, auf den Montjuïc schwimmen zu gehen. Ich will mich aus der Höhe von Barcelona verabschieden.

Das Schwimmbad liegt auf dem Gipfel des Vorgebirges, das den Hafen beherrscht, hoch über den Häusern der Stadt. Es wurde für die Olympischen Spiele von 1992 komplett umgestaltet und hat zwei Becken, eins zum Springen und eins zum Schwimmen. Ich komme oft hier herauf. Zwar muss ich dann die ganze Stadt durchqueren, aber es ist einer meiner liebsten Orte in Barcelona. Von der Tribüne aus kann man die Stadt bis zum Meer überblicken. Es ist ein unendlich schönes Gefühl, so hoch über den Dächern und Straßen seine Bahnen zu ziehen.

Die Umkleiden sind riesig, und ich wähle immer den Spind gleich neben den Duschen. Heute schließe ich darin den Rollkoffer ein, den ich für wenig Geld beim Chinesen gekauft habe.

Neben mir steht eine dauergewellte Dame, die mich misstrauisch mustert, während sie ihren BH zumacht. Ohne sie zu beachten, gehe ich in meinem lila Badeanzug durch die Umkleide bis zur Dusche. Als mein Blick auf mein Spiegelbild fällt, schiebt sich wie durch Zauberei der Körper meiner Mutter über den meinen. Die Dampfschwaden aus den Duschen helfen auch nicht weiter, ich kann nicht verhindern, dass die Umrisse verschwimmen. Nicht ich stehe da vor dem Spiegel, sondern sie, in den letzten Tagen ihres Lebens, als ich mich schon weigerte, sie anzusehen, weil ich sie nicht mehr wiedererkannt habe. Nun bin ich doch gezwungen, sie anzustarren. Ihre Haut ist matt, eine trübe Patina hat den Körper überzogen wie ein Overall.

Instinktiv schlinge ich die Arme um mich und streichle mich, die Ellbogen, die Handgelenke, die Muttermale, den Flaum auf meiner Haut. Es ist alles an seinem Platz, das da bin eindeutig ich, die glatte, feste Haut, stark und weiß, mit den feinen Adern, die darunter zu sehen sind. Ich schnuppere wie ein Tier an mir, streiche mir mit den Händen über den Hals, der lang und warm ist, bis zum Haaransatz. Dann sehe ich wieder meine Mutter, ihre Brust wie auf einem Bild von Picasso, aus der Form geraten wegen der Operationen. Ich ziehe den Badeanzug herunter und zeichne mit dem Finger eine Linie unter meinen eigenen Busen, eine schnurgerade, präzise Linie. Ich lege die rechte Hand auf die rechte Brust und die linke Hand auf die linke, die Brustwarzen drücken wie Kirschkerne gegen die Handflächen. Als ich an mir heruntersehe, nehme ich meinen flachen Bauch und den perfekten Nabel wahr, der Leben bedeutet und mir von ihr erzählt. Ein kleiner konzentrischer Kreis, der aussieht wie ein Loch in einem Baum. Ich stelle mir mich selbst als Baum vor, meine Beine zwei lange Wurzeln, zart, aber tapfer, mit den kantigen Knien und den schmalen Knöcheln.

Geh nicht weg, Mama. Verlass mich nicht. Schenk mir noch einmal deinen munteren, intelligenten Mutterblick. Wir starren uns noch einmal in die Augen. Augen, die länglich sind wie Mandeln, so viel Süßes liegt in diesem Blick! All die Schlaflieder liegen darin, all die Küsse auf Wunden, all die Male, die du mir über den Kopf gestreichelt hast, die gemeinsam verbrachten Sonntage, zahllose Umarmungen, unendlich viele Tage, die du mit mir verbracht hast. Sag mir, wohin gehst du? Wo finde ich dich? Lass mir wenigstens eine Telefonnummer da. Deine Stimme ist vielleicht schon genug. Du fehlst mir so sehr.

»Entschuldige, bist du so weit?«

Jemand hinter mir katapultiert mich in die Realität zurück. Ich trete zur Seite und überlasse den Spiegel einem anderen Mädchen.

Auf dem Weg zum Schwimmbecken merke ich, dass ich vergessen habe, die Badekappe aufzusetzen. Es ist ein schwieriges Unterfangen, bis ich meine braune Mähne unter das Gummiteil gezwängt habe. Ich wickle die Haare zu einem Dutt, setze die Kappe auf und schiebe ein paar lose Strähnen sorgfältig darunter. Dabei kommt die Erinnerung an jenen Tag zurück. Vor zwei Jahren war das.

Meine Mutter und ich stehen in ihrem Badezimmer. Durch das Fenster scheint die Sonne herein, taucht den Raum in helles Licht und füllt ihn mit einer Wärme, von der in unseren wütenden Herzen im Moment nichts zu finden ist.

Ich betrachte den Kopf meiner Mutter, sie trägt die Haare immer noch schulterlang. Ich habe keine Angst vor dem, was ich gleich tun werde, sehr wohl jedoch vor dem, was es bedeutet: die Macht der Krankheit anzuerkennen. Ich bin im Begriff, meine Mutter dem Krebs zum Fraß vorzuwerfen, obwohl ich ihr nichts lieber sagen möchte als: »Morgen bist du gesund«, um gleich darauf eine sehr seltene wilde Blume mit magischen Kräften zu pflücken, ihr damit über den Leib zu streifen und sie so zu heilen.

Aber ihr Entschluss steht fest. Nicht die Krankheit soll ihr einen kahlen Kopf bescheren, sie will schneller sein.

Vor ein paar Tagen hat sie mir einen Rasierapparat hingehalten und gesagt: »Leg los, nur keine Angst.«

Ich verstand erst nicht, war fast beleidigt. »Gibst du etwa auf?«

Auf dem Nachhauseweg habe ich dann im Supermarkt zwei nagelneue Elektrorasierer und einen Schokoriegel gekauft. Ich werde sie nicht alleine lassen, sie muss das nicht ohne mich erdulden.

So nehmen wir jetzt jede einen Rasierer in die Hand und drücken auf »On«. Das Summen der Geräte untermalt unser brutales Vorhaben. Wir beginnen mit der Rasur von der Stirn aus und scheren eine Bahn, wie zwei Traktoren, die über ein Kornfeld fahren und alles niedermähen, was sie vorfinden. Mama lächelt mir zu. Ich lächele zurück. Die Büschel fallen auf die blauen Kacheln, ohne jedes Geräusch. Auch meine Tränen sind stumm. Sie hingegen weint nicht, sie ist stark wie ein Fels. Auf dem Boden bildet sich eine weiche Decke aus braunen Haaren, die ich in Brand stecken möchte, als wäre sie Brennholz. Wir sehen beide in den Spiegel, unsere exponierten Schädel hell und urtümlich, die Gesichter zwei einsame Ovale.

Der Ritus ist vollzogen. Ich breche den Schokoladenriegel entzwei, gebe ihr die Hälfte davon, und wir beißen gierig hinein. Zwei Kriegerinnen, bereit zur Schlacht.

An jenem Tag habe ich wirklich gedacht, dass sie es schaffen könnte, dass sie nicht sterben würde, weil sie stärker war als alle anderen, weil wir zusammen unbesiegbar waren. Aber es hat nicht gereicht, und nun stehe ich hier im Schwimmbad, fasse mir an die Badekappe und denke an sie, denke, dass ich gerne wenigstens ein Viertel von ihrer Kraft hätte.

Ich springe ins Becken. Das Wasser spült alle Gedanken von mir ab, und ich bin eins mit ihm, ich hülle mich in das Nass, fühle mich fließend, leicht, unsichtbar, verborgen. Heute verlasse ich Barcelona, die geliebte Stadt, ich grüße sie ein letztes Mal von hier oben und umarme sie, Meer und Berge, Sonne und Lärm, Bars und Touristen. Ich verlasse die Stadt und meine Wohnung, den ewig leeren Kühlschrank, ein paar überfällige Rechnungen, die ehrlichen Bemühungen meiner Freunde, die schlaflosen Nächte, ein Buch über Trauerbewältigung, das ich nie zu Ende gelesen habe.

Ich gehe weit fort und lasse all das zurück und ein Geheimnis in meinem Schlafzimmerschrank noch dazu. Darin habe ich meine Geige deponiert, und um sie zum Schweigen zu bringen, habe ich sie sogar in ihren Kasten gesteckt. Dann habe ich alles verschlossen, den Kasten und den Schrank. Ich habe viele Jahre, möglicherweise zu viele, damit zugebracht, diesen Gegenstand mit mir herumzutragen, den ich nie bis in die Tiefe verstanden habe und den ich völlig unerwartet zu meinem fünften Geburtstag bekommen habe.

Ich strecke mich auf dem warmen Boden am Beckenrand aus und sauge die Sonne in mich auf. Noch in den kleinsten Einzelheiten kann ich mich an alles erinnern. Ich war zwar noch jung, aber die Überraschung hat bei mir einen tiefen Eindruck hinterlassen.

Nach dem Fest, die Gäste waren schon gegangen, war mitten unter dem Geschenkpapier ein weiteres Paket aufgetaucht. Es hatte keinen Absender, keine Karte lag bei. Es war Liebe auf den ersten Blick, als ich die wunderschöne Geige in Händen hielt. Ich war mir sicher, dass Zauberei dahintersteckte, dass eine Fee oder ein Kobold die Hand im Spiel hatte. Da ich unbedingt darauf spielen lernen wollte, meldete mich meine Mutter an einer der wichtigsten Privatschulen in Katalonien an. Bald stellte sich heraus, dass ich Talent hatte. Geige zu spielen war, wie ganz tief Luft zu holen, es war wie Schwimmen. Auf unbekannten Wegen war das Instrument zu mir gelangt, dennoch kam es mir vor, als habe es schon immer zu mir gehört. Die Lehrer ermutigten mich, und nach und nach entstand in mir der Wunsch, mich ganz der Musik zu widmen, sie zu meinem Beruf zu machen. Alles lief wunderbar, bis vor einem Jahr.

Ich stand damals kurz vor der Prüfung für das Masterprogramm der katalonischen Musikhochschule ESMUC. Mit viel Fleiß und Disziplin hatte ich mich darauf vorbereitet, auf Ausgehen und Abendessen mit Freunden hatte ich eine Weile ganz verzichtet. Scheitern kam nicht in Frage, denn diese Prüfung würde meine Zukunft festigen, auch wenn ich mich schon vor langer Zeit dafür entschieden hatte. Ich wollte eine berühmte Geigerin werden und fühlte mich bereit für den großen Sprung.