Sommer in unseren Herzen - Elisa Sabatinelli - E-Book

Sommer in unseren Herzen E-Book

Elisa Sabatinelli

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Beschreibung

Eine Geschichte, so schön wie ein italienischer Sommertag.

Obwohl sie eine wunderschöne Zeit miteinander verbracht haben, scheint Claudio Geheimnisse vor Lavinia zu haben. Irgendetwas verbirgt er vor ihr. Also reist Lavinia alleine weiter und gelangt schließlich an den Ort, an dem die Liebe ihrer Eltern begonnen hatte. Überwältigt von den Eindrücken folgt Lavinia einer Einladung ihres Exfreundes nach Paris und die alten Gefühlen entflammen erneut. Doch sie kann Claudio einfach nicht vergessen. Lavinia wird klar, dass sie nicht mehr davonlaufen kann. Und ihr Herz hat sich auch schon längst entschieden, zu wem es wirklich gehört ...

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Seitenzahl: 302

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Buch

Lavinia ist noch immer auf der Reise, und noch immer versucht sie, den Tod ihrer Mutter zu verarbeiten und den Brief zu vergessen, der ihr sagen wird, ob auch sie eine Veranlagung für die todbringende Krankheit in sich trägt.

Nach ihrer Ankunft in Mailand sitzen Lavinia und Claudio einträchtig und ohne einen wirklichen Plan am Bahnsteig. Wie soll es jetzt weitergehen? Claudio bringt Lavinia dazu, bei ihm in Mailand zu bleiben, um einen gemeinsamen Alltag zu leben. Doch irgendwas scheint Claudio ihr zu verheimlichen, und bald schon ist die zerbrechliche Beziehung in Gefahr …

Autorin

Elisa Sabatinelli, geboren 1985, ist halb Katalanin, halb Italienerin. Sie wurde in Fano geboren und wuchs in Barcelona auf. Elisa hat Drehbuch in Spanien studiert, in London bei einer Plattenfirma gearbeitet und ein Architekturbüro geleitet (ohne Architektin zu sein). Mit 28 Jahren wurde sie Mutter und hat das Festival »Cortili Letterari« ins Leben gerufen. Heute lebt sie in Mailand, wo sie im Verlagswesen arbeitet und schreibt.

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Elisa Sabatinelli

Roman

Aus dem Italienischen von Elvira Bittner

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel

»Summer. Dritto al cuore«

bei Rizzoli Libri S. p. A., Rizzoli Milan.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2016

by Elisa Sabatinelli

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018 by Blanvalet

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Ulrike Nikel

Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de

Umschlagmotiv: © www.buerosued.de

KW · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-21109-7V001

www.blanvalet.de

1

Wettervorhersagen

Um wieder zu Claudio und Lavinia werden zu können, sprechen wir über das Wetter, denn wir sind gerade dabei, Abschied zu nehmen – allerdings mit wenig Erfolg.

Nach einer Zugfahrt, die anders war als alle anderen zuvor, weil sie uns zu Liebenden, zu Komplizen gemacht hat, unterhalten wir uns jetzt darüber, wie heiß es hier in Mailand ist, viel heißer als in Florenz, das wir vor ein paar Stunden verlassen haben. Wir reden und reden, um die Leere zu füllen – unsere heißen Küsse und wilden Umarmungen jedenfalls scheinen Jahre zurückzuliegen. Sind so weit weg wie die beiden Städte voneinander.

Wir sind wieder zwei Fremde, die den Blicken des anderen ausweichen, die jeden Körperkontakt vermeiden. Einander zu berühren wäre ebenso unpassend, als würden wir über irgendetwas anderes sprechen als über das Wetter. Das, was im Zug passiert ist, ist nie geschehen.

Ist es das, was er mir sagen will?

Unsere Körper sind sich aufs Neue fremd geworden. Zum ersten Mal auf dieser langen Reise durch Italien fühle ich mich total verloren, und schlagartig bin ich völlig davon überzeugt, dass ich nicht zu ihm passe. Dass ich diese Rolle nicht spielen kann, nicht einmal bis wir den Ausgang erreicht haben aus diesem Bahnhof, diesem Gefängnis.

Irgendwie habe ich das ungute Gefühl, dass er viel zu viel weiß, nicht nur über die Welt, sondern auch über mich. Und damit komme ich nicht klar, das gefällt mir nicht. Zumal mein Wissen über ihn sich im Grunde auf das beschränkt, was allgemein bekannt ist: Alter, Staatsangehörigkeit, Karriere. Ein Musiker von Weltrang, der darüber hinaus in dem Ruf eines großen Verführers steht.

Kein Wunder also, wenn ich mir im Vergleich zu ihm sehr klein und sehr unbedeutend vorkomme. An seine Souveränität werde ich nie heranreichen können. Die Jahre, die uns trennen, spiegeln sich in seinen lässigen, selbstsicheren Bewegungen, in seiner unerschütterlichen Haltung, in seinem schicken Markenkoffer.

Wie lange stehen wir schon auf diesem Bahnsteig?

Eine gefühlte Ewigkeit. Trotz unserer Befangenheit macht nämlich keiner von uns Anstalten zu gehen. Ich tue so, als müsste ich mein Gepäck überprüfen, taste es ab, als würde ich Kinder auf einem Schulausflug zählen, während er endlos lange und umständlich seine Jacke zuknöpft und offenbar nicht in der Lage ist, den Griff seines Rollkoffers herauszuziehen. Eine seiner Geigen hat er geschultert, die andere hingegen, die kostbare Vuillaume, halte ich in den Händen, weil ich sie ihm immer noch nicht zurückgeben konnte.

Die anderen Fahrgäste sind längst an uns vorbeigeströmt, haben uns umschifft wie einen Felsen, der sich mitten im Fluss erhebt. Außer uns ist niemand mehr auf dem Bahnsteig zu sehen. Ich warte darauf, dass er etwas sagt. Irgendetwas. Selbst bringe ich kein Wort heraus. Dazu bin ich zu unsicher, zu ängstlich. Bevor ich etwas falsch mache, bleibe ich lieber stumm.

»Gehen wir?«, sagt er schließlich, hebt fragend eine Augenbraue und nickt in Richtung Ausgang.

Na ja, nicht gerade das, was ich erwartet hatte. Dennoch ringe ich mir ein Ja ab und folge ihm ohne weitere Worte, betrachte stattdessen seine O-Beine, die mich an eine Höhle erinnern, in der ich mich festklammern könnte wie ein Äffchen.

Ich sollte endlich etwas sagen. Verzweifelt suche ich nach etwas Intelligentem, das ich anbringen könnte. Irgendwas, das ihn beeindruckt, das einen nachhaltigen Eindruck bei ihm hinterlässt. Wie ein Mal, das man in die Haut einritzt zur steten Erinnerung oder zur Besiegelung einer Freundschaft. Aber leider will mir nichts Brauchbares einfallen. Und das, obwohl mir tausend Gedanken im Kopf herumschwirren.

So etwas passiert mir häufig, wenn ich aufgeregt bin – wenn meine Zunge nicht mit meinen Gedanken Schritt zu halten vermag. Dann ist es, als würden die Sätze sich verwirren und in die Irre gehen, sobald sie meinen Mund verlassen. Überhaupt ist das so ein Problem mit meinem Gehirn. Irgendwie scheint es falsch programmiert zu sein. Wie eine Waschmaschine, die nie den Waschgang startet, den man will. Allein wenn ich an den Sex im Zug denke, auf den ich mich eingelassen habe …

Dabei unternehme ich diese Reise nicht allein zu meinem Vergnügen – nein, sie ist zugleich eine Art Spurensuche, denn ich folge den Routen, die meine Mutter in ihrer Jugend bereist und akribisch dokumentiert hat. Damit hoffe ich, ihre letzten Geheimnisse zu ergründen, die auch mein Leben betreffen.

Immer wieder bin ich total von der Rolle. Aus den verschiedensten Gründen, diesmal wegen einer Violine und ihres Besitzers. Dabei wollte ich in diesem Sommer eigentlich abschalten – drei Monate, um wieder zu mir zu finden nach all dem Schweren und Belastenden des vergangenen Jahres, es zumindest ein Stück weit zu vergessen. Neu anzufangen. Diese Episode hier ist da eher kontraproduktiv.

Nein, ich sollte nicht hier sein.

Doch während ich Claudio zum Ausgang folge, wird mir bewusst, dass ich im Augenblick nirgendwo sonst sein möchte in der Welt. Zu fest bin ich mit ihm und seiner Violine verbunden. Seit ich ihn kenne, habe ich mir ständig eingeredet, dass ich ihm lediglich gefolgt bin, um ihm sein Instrument zurückzugeben. Jetzt hingegen, da er vor mir hergeht über den leeren Bahnsteig und der Abschied naht, jetzt, da ich ihm die Geige zurückgeben werde, dieses wertvolle Geschenk, das ich weder behalten kann noch mag, bin ich alles andere als glücklich.

Da kann ich noch so oft den Satz herunterbeten, der zu meinem Mantra geworden ist: Ich will nicht, dass er mir gefällt. Was im Grunde stimmt, denn er ist wirklich und wahrhaftig nicht mein Typ. Ein Anzugträger mit gebügeltem Hemd, wie soll das zu mir passen?

Er bleibt vor mir stehen und legt mir eine Hand auf die Schulter, wie er es vorhin im Zug gemacht hat. Einen endlosen Moment lang sehen wir uns in die Augen, wissen offensichtlich nach wie vor nicht, was wir sagen sollen. Dann streicht er mir über die Wange, setzt zum Sprechen an, zögert aber und entscheidet sich anders, schaut auf die Uhr.

Und ich?

Wenngleich er noch vor mir steht, wenngleich sein Duft mich noch einhüllt, spüre ich, dass er bereits weit weg ist. Vielleicht würde ja eine kleine Geste genügen, ihn zu halten, vielleicht wäre es genug zu sagen: Ich kenne dich kaum, doch wenn du nichts Besseres vorhast, würde ich gerne bei dir bleiben, mindestens die nächsten zehn Jahre. Oder ich könnte mich auf die Zehenspitzen stellen und ganz sanft die Lippen auf die seinen legen zu einem federleichten Kuss, bei dem unsere Nasen sich kaum berühren.

Natürlich tue ich nichts von alldem.

»Hör mal, draußen wartet ein Taxi auf mich …«, ergreift er nach einer Weile das Wort.

Das war’s also, Botschaft angekommen. Er ist dabei zu gehen.

»Okay«, unterbreche ich ihn. »Ich muss auch zum Zug«, füge ich hastig hinzu und deute vage in irgendeine Richtung. Damit will ich ihm zu verstehen geben, dass ich gleichfalls irgendwo erwartet werde.

Ich sehe, wie er zurückzuckt, als ich ihm die Geige reiche, und nervös das Gewicht erst auf das eine Bein, dann auf das andere verlagert.

»Bist du sicher?«

Ich sehe ihn schief an.

»Na gut, ich habe verstanden«, sagt er, nimmt den Geigenkasten und hängt ihn sich um. »Überleg es dir noch einmal in aller Ruhe, sonst bereust du es eines Tages. Du bist jung, du hast alle Zeit der Welt.«

Ich bin jung, stimmt – das mit der Zeit allerdings, da bin ich mir nicht sicher, ob ich die wirklich habe. Nur was bereits hinter einem liegt, lässt sich definitiv bemessen nach Tagen und Nächten, nach der Anzahl der erlebten Jahreswechsel.

Die Vergangenheit ist mein Besitz, die Zukunft nicht.

Über sie kann ich nicht bestimmen. Für mich hat sie das Aussehen eines unförmigen Monsters angenommen, das sich von meinen Tagen ernährt. Zu Hause in Barcelona erwartet mich ein Brief, das Urteil über meine Zukunft, und vielleicht ist es ja eine, die sich zwischen Klinikaufenthalten und Krankenbesuchen bewegt. Für den Augenblick aber versuche ich ihr ein Schnippchen zu schlagen, versuche sie in die Irre zu führen, indem ich herumreise, sogar übers Meer vor ihr flüchte, in der Hoffnung, dass mein Schicksal nicht schwimmen kann.

»Wohin fährst du?«, will Claudio wissen.

»Nach Carloforte.«

Carloforte ist die einzige Ortschaft auf einer winzigen Insel, die vor der Südwestküste Sardiniens liegt – meine Mutter hat sich dort vor meiner Geburt eine Zeit lang aufgehalten.

»Von hier aus nimmst du am besten den Zug über Genua, das ist der schnellste Weg. Soll ich dir das Ticket besorgen?«

»Nein, danke, nicht schon wieder. Um dieses hier kümmere ich mich selber.«

»Es tut mir leid, dass du wegen mir diesen Umweg machen musstest …« Dann überlegt er es sich anders: »Nein, um die Wahrheit zu sagen, tut es mir überhaupt nicht leid.«

Umweg. Ist es das, was zwischen uns passiert ist? Ich beiße mir auf die Lippen, um nichts Falsches zu sagen.

»Ich lasse dir meine Nummer da«, fährt er fort. »Für den Fall, dass du sie irgendwann brauchen solltest.«

Er wartet, dass ich mein Handy herausziehe und sie speichere, doch ich tue nichts dergleichen. Gut möglich, dass er gekränkt ist, jedenfalls schlägt er die Augen nieder und ballt die Fäuste. Dann sieht er mich wieder an.

»Also dann, gute Reise.«

»Ciao.«

Ich drehe mich um und gehe in Richtung Schalter, zwinge mich, an Genua zu denken, an Carloforte, an den Schlüssel, den ich in Mamas Album gefunden habe und den ganzen Rest – es hilft alles nichts. Claudio bleibt mein Fixpunkt, ich klebe an ihm wie ein Kaugummi.

Am Fahrkartenschalter stelle ich mich ans Ende der Warteschlange, setze mich auf den Rucksack und stelle mich auf eine längere Wartezeit ein. Nach wenigen Minuten schrecke ich auf, weil mir jemand auf die Schulter klopft. Ein ungeduldiger Zeitgenosse wahrscheinlich, dem ich nicht schnell genug vorrücke. Genervt drehe ich mich um, es verschlägt mir die Sprache, und ich traue meinen Augen kaum.

Vor mir steht Claudio.

»Ich habe mir den Wetterbericht angeschaut und gesehen, dass Genua keine gute Wahl ist. Dort regnet es, für Mailand dagegen sind sonnige Tage angesagt. Bleib lieber hier, bitte bleib.«

Ganz plötzlich ist es eine wunderbare Sache, über das Wetter zu reden.

Beschwingt verlasse ich die Schlange und greife nach Claudios Hand.

2

Im Abgang schön

»Bist du aus Mailand?«

Ich fühle mich wie beim ersten Date, gefangen in dieser albernen, gespielten Fröhlichkeit, die man an den Tag legt, wenn man sich nicht kennt, und die einen dämliche Fragen stellen lässt wie etwa die, was man am liebsten isst oder welches Tier man gerne wäre.

»Sagen wir, ich fühle mich als Mailänder, auch wenn ich ursprünglich aus dem Piemont stamme. Ich bin hier aufgewachsen und habe hier studiert.«

»Am Konservatorium?«

»Ja, weil ich ein staatlich anerkanntes Diplom haben wollte. Macht sich immer besser. Richtig gelernt aber habe ich bei einem großen Meister aus Portugal – fast zehn Jahre lang war ich sein Schüler. Seine Frau war Italienerin, eine Mailänderin, und hat ihn überredet, im Alter in ihre Heimat zu übersiedeln. So kam ich zu ihm. Er hat mich unter seine Fittiche genommen und mir alles beigebracht, was ich kann. Nicht nur, was die Musik betrifft.«

Während er erzählt, betrachte ich durchs Taxifenster die Häuser, die sich entlang der breiten Straße aneinanderreihen: nackte, kahle Fassaden, keine Balkone, die sie auflockern würden. Zugegeben, sie sind durchaus eindrucksvoll, vermitteln den Eindruck von Autorität und Seriosität mit ihren quadratischen Fenstern, dem sachlichen Stil und der zurückhaltenden Farbgebung.

»Ich kenne Mailand nicht, bei mir zu Hause in Barcelona ist das keine Stadt, die als Reiseziel besonders beliebt wäre.«

»Genau deshalb mag ich sie«, erwidert er und sieht mich prüfend an. »Diese Straße hier gefällt mir ganz besonders, sie führt vom Bahnhof ins Zentrum. Sie hat etwas Heiteres, finde ich.«

Ungläubig drehe ich mich zu ihm um, bin mir nicht sicher, ob er es ernst meint. »Du hast einen recht seltsamen Geschmack, wie mir scheint.«

»Dann passe ich ja zu Mailand, denn die ganze Stadt ist irgendwie seltsam. Mir kommt es vor, als würde sie erst im Nachhinein ihre Wirkung entfalten. Wie eine raffinierte Speise, die einen besonderen, schwer zu definierenden Nachgeschmack hat, verstehst du? Oder wie ein edler Wein. Ich glaube, Mailand ist erst im Abgang schön.«

Schweigend sehe ich ihn an und hoffe auf weitere Erklärungen.

»Im Abgang schön heißt, dass es im ersten Moment hässlich erscheint und auf den zweiten Blick dann seine Schönheiten offenbart. Sobald man Mailand für sich entdeckt hat, ist es wirklich eine großartige Stadt. Das werde ich dir noch beweisen.«

Die Idee stimmt mich euphorisch, denn mir dämmert, dass Claudio ein Reisebegleiter der besonderen Art sein könnte. In jeder Hinsicht. Und auf jeden Fall inspirierender als die anderen, mit denen ich im Verlauf des Sommers herumgezogen bin. Alle Wut, die sich in mir aufgestaut hat, ist wie weggeblasen, alles Negative, das ich ihm unterstellt habe, vergessen. Als hätte ich beides einfach zurückgelassen wie ein überflüssiges Gepäckstück.

Eines allerdings will ich noch klarstellen.

»Übrigens: Das Stück, das du am Schluss des Konzerts in Florenz gespielt hast, war wirklich sehr schön«, sage ich betont nonchalant und warte gespannt, was er erwidern wird.

Er sieht mich überrascht an, lacht dann laut auf. »Du bist mir also wirklich gefolgt?«

»Unsinn, ich bin dir überhaupt nicht gefolgt«, gebe ich schnell zurück und werde rot, als wäre ich beim Klauen erwischt worden. »Ich war da, weil ich dir die Geige zurückgeben wollte, so ein kostbares Geschenk kann ich nicht einfach behalten. Und deshalb habe ich am Ausgang auf dich gewartet, aber du bist nicht gekommen. Außerdem hat das rein gar nichts mit dem zu tun, was ich gesagt habe.«

»Was hast du denn gesagt?«

»Dass es mein Stück ist«, antworte ich halb im Scherz, halb im Ernst.

»Komisch, ich war der Überzeugung, dass es von Manuel de Falla ist.«

»Na klar, tu bloß nicht so, als ob du nicht verstanden hättest, was ich damit meine: Dass ich es war, die dich auf die Idee gebracht hat.«

»Du hast mich schon auf viele Ideen gebracht …«

Von einem Moment auf den anderen hat er den Spieß umgedreht, und ich fühle mich wie auf frischer Tat ertappt. Zumal er mich anschaut, als würde er mich gleich mit Haut und Haaren verschlingen wollen. Und ich muss zugeben, dass ich nicht die geringste Lust verspüre, mich dem zu entziehen. Im Gegenteil. Mein ganzer Körper steht unter Strom, ich merke, wie mir ein Kribbeln langsam vom Nacken bis zu den Zehenspitzen rieselt.

Claudio mustert mich weiterhin unverblümt. Erst als das Taxi vor einem großen Portal mit geschnitzten rautenförmigen Reliefs hält, wendet er den Blick von mir ab.

»So, da wären wir. Es ist eine ganze Weile her, seit ich das letzte Mal zu Hause war.«

Seine Wohnung befindet sich im Dachgeschoss, und sobald man die Tür öffnet, steht man im Wohnzimmer. Keine Diele, genau wie bei mir, aber damit hat es sich auch schon mit den Gemeinsamkeiten. Neugierig sehe ich mich um. Der riesige Raum wird von einem langen Sofa dominiert, durch die hohen Fenster flutet viel Licht herein. Auf dem schönen alten Parkettboden liegt ein schwerer Wollteppich, und an der stuckverzierten Decke hängen Lampen, die sichtlich aus einer anderen Epoche stammen und einen interessanten Kontrast zu der ansonsten eher modernen und unkonventionellen Einrichtung bilden, was für eine sehr persönliche Note sorgt. Was mag die Einrichtung wohl über den Menschen Claudio aussagen, frage ich mich.

»Tolle Wohnung. Wie oft bist du hier?«

»Nie mehr als ein paar Wochen am Stück«, räumt er ein und fügt nachdenklich hinzu: »Vielleicht betrachte ich sie ja deswegen als riesiges Geschenk. Diesmal bleibe ich gerade mal zehn Tage. Dann muss ich wieder weg.« Er dreht sich um und geht Richtung Küche. »Möchtest du etwas trinken?«, ruft er mir von dort aus zu.

»Danke ja, einfach das, was du trinkst«, gebe ich zerstreut zurück und betrachte das Bücherregal, das eine ganze Wand einnimmt.

Es ist eine gut bestückte kleine Bibliothek: Enzyklopädien mit Ledereinband, Romane, jede Menge Reiseführer und Kunstbände, und natürlich eine Vielzahl an Büchern, die direkt oder indirekt mit Musik zu tun haben. Und dazwischen allerlei Krimskrams wie ein Miniaturklavier aus Marmor, ein Aschenbecher in der Form einer Hand, ein Opernglas und Fotos in Silberrahmen. Eines erregt meine besondere Aufmerksamkeit. Es zeigt eine Familie am Strand, Claudio erkenne ich auf den ersten Blick. Ein pubertärer Jugendlicher, sehr mager und mit einem Busch widerspenstiger Locken auf dem Kopf.

»Ist das deine Familie?«

»Ja, vor einer Ewigkeit, wie du unschwer sehen kannst. Damals habe ich übrigens zum letzten Mal Ferien am Meer verbracht.«

»Magst du das Meer etwa nicht?«

»Nicht mit dem üblichen Programm, Sonnenschirme am Strand und so weiter.«

»Wie hübsch deine Schwester ist.« Ich ergreife das Foto, um es besser betrachten zu können.

Neben Claudio steht ein kleines Mädchen, vielleicht sechs Jahre alt, und schaut missmutig auf das Eis, das ihm gerade in der Hand zerschmilzt.

»Wohnen sie alle in Mailand?«, hake ich nach, als er keinen Kommentar abgibt.

»Wie man’s nimmt. Meine Schwester ist eine Weltenbummlerin, lebt überall und nirgendwo. Meine Eltern haben hier gewohnt, diese Wohnung gehörte ihnen. Sie sind bei einem Unfall ums Leben gekommen, als ich vierzehn war.«

Verlegen stelle ich das Bild wieder an seinen Platz und trete ein paar Schritte zurück, als wäre ich auf verbotenes Terrain vorgedrungen.

»Kein Grund zu erschrecken«, beruhigt Claudio mich. »Das alles ist lange her, der Schmerz hat den schönen Erinnerungen Platz gemacht. Und die birgt insbesondere diese Wohnung, in der ich im Kreis meiner Familie aufgewachsen bin.«

Das also ist der Grund, wieso sie den Eindruck erweckt, ein Ort voller Geschichten und Erinnerungen zu sein, die sich um Menschen aus verschiedenen Generationen drehen: Indem er das Andenken der Toten bewahrt, hat Claudio der Wohnung neues Leben eingehaucht. Ich muss plötzlich an die Wohnung meiner Mutter denken, die ich fluchtartig verlassen habe, weil ich sie allein unerträglich fand.

»Bloß schöne Erinnerungen, das würde ich mir ebenfalls wünschen«, erkläre ich seufzend.

»Am Anfang erscheint einem das unmöglich. Doch irgendwann ergibt es sich einfach, du wirst es erleben – da bin ich mir ganz sicher.«

Claudio, der zu mir herübergekommen ist, streicht mir sanft über den Arm. Als wollte er mir helfen, die offene Wunde zu schließen, die nach wie vor so schmerzt, dass es mich lähmt. Aber ich muss aus eigener Kraft darüber hinwegkommen, auch wenn mir das jetzt noch unmöglich erscheint.

»Wie auch immer«, setzt er neu an. »Wir sollten ausgehen und irgendwo draußen was trinken. Hast du Lust, ein bisschen durchs Viertel zu spazieren?«

Ich schaue zweifelnd an mir herab, da ich seit heute Morgen in denselben Klamotten stecke. Claudio scheint Gedanken zu lesen. »Alles in Ordnung«, versichert er mir. »Du brauchst dich nicht umzuziehen. Ich gehe auch im T-Shirt. Zum Abendessen können wir uns immer noch in Schale werfen.«

Wir treten in den hellen Nachmittag hinaus und schlendern durch Claudios Viertel. Mir fällt auf, wie schmal hier die Gehsteige sind. Ab und zu springt er übermütig auf die Straße und läuft seelenruhig dort herum.

Dann fasse ich ihn am Arm, spiele die Korrekte und sage: »Komm lieber wieder her!« Ich tue so, als würde ich mich um ihn sorgen, dabei suche ich in Wirklichkeit nur einen Vorwand, um mich weiterhin bei ihm unterhaken zu können.

Allerdings ist der Autoverkehr in dieser Gegend wirklich recht überschaubar, sodass man ziemlich gefahrlos die Fahrbahn als Fußgänger benutzen kann. Während mir Claudio dies und das zeigt, mir kleine Geschichten erzählt, merke ich, wie glücklich er ist, mal wieder zu Hause zu sein. Mir kommt es sogar vor, als würde er am liebsten alles anfassen, um es neu in Besitz zu nehmen, selbst das Straßenpflaster.

Jetzt deutet er nach oben, wo hinter den Dächern Baumwipfel aufragen.

»Das sind die Parkanlagen bei der Porta Venezia, die Giardini Pubblici. Morgen zeige ich sie dir – heute habe ich mehr Lust, durch die Straßen zu schlendern. Was meinst du?«

»Ja, ich bin dabei.« So würde ich wohl auf jede Frage geantwortet haben, die er mir gestellt hätte.

Plötzlich nimmt Claudio meine Hand, und so gehen wir weiter, ohne jede Verlegenheit, als wären wir ein ganz normales Pärchen, das ziellos durch die Stadt streift und einen schönen Sommernachmittag genießt.

Als wir eine belebtere Straße erreichen, auf der Trambahnen kreischen und ungeduldige Autofahrer Hupkonzerte veranstalten, fällt mir erneut der Ausdruck schön im Abgang ein, mit dem Claudio Mailand charakterisiert hat.

Mein Eindruck hingegen ist ein ganz anderer.

Wie ich das sehe, ist die Stadt alles andere als homogen, sondern in Schichten gewachsen und hat viele verschiedene Einflüsse in sich aufgesogen: Palazzi aus allen möglichen Epochen und den unterschiedlichsten Stilrichtungen zugehörig mischen sich mit Gebäuden aus der Zeit des Faschismus sowie mit zahlreichen modernen Entwürfen, die seit den Siebzigerjahren das Stadtbild nachhaltig prägen. Wobei die Kombination ganz natürlich wirkt und Nostalgisches mit Hypermodernem eine gelungene Symbiose eingegangen ist.

Alles ist gleichzeitig da, alt und neu, ohne dass es große Widersprüche aufzuwerfen scheint.

Noch etwas fällt mir auf. Mailand wirkt wie eine Metropole, die Eitelkeit nicht nötig hat – lässt mich an eine abgeklärte, reifere Dame denken, die ihre besten Zeiten hinter sich hat und keine Veranlassung mehr sieht, sich besonders zur Schau zu stellen.

Unseren Drink nehmen wir in einer hübschen kleinen Bar, deren Zwanzigerjahre-Atmosphäre mich an französische Bistros erinnert. Die Kellner tragen Fliege, die Theke ist aus dunklem Massivholz, die Leuchtreklame wird von den Flaschen gespiegelt und taucht den ganzen Raum in einen rötlichen Schimmer. Am Nebentisch sitzt ein eleganter Herr, der Zeitung liest und in ironischem Ton für die Barkeeper die Nachrichten kommentiert.

Ich nippe an meiner Bloody Mary, einer der besten, die ich je getrunken habe, während vor Claudio ein Negroni steht, angeblich die Topspezialität des Hauses. Unaufgefordert werden Schälchen mit Knabberzeug vor uns auf den Tisch gestellt sowie auf Zahnstocher gespießte Oliven. Riesenexemplare, wie sie heutzutage kaum mehr zu haben sind und die ich deshalb scherzhaft »Vintage-Oliven« nenne. Wir trinken, knabbern und betrachten dabei die Leute, die nach und nach die Bar füllen. Wie es aussieht, überwiegend Stammgäste, die sich hier nach der Arbeit einen kleinen Aperitif gönnen.

Trotz der Hitze tragen die Männer dunkle Anzüge, und die Frauen sind, jede auf ihre eigene Art, auf originelle Weise elegant gekleidet, als wären sie allesamt auf dem Weg zu einer Vernissage. Wir plaudern angeregt über Gott und die Welt, wir lachen viel. Und so vergeht die Zeit im Nu.

Als wir wieder nach Hause kommen, ist die Sonne schon untergegangen. Ich gehe schnell unter die Dusche, bevor ich mich fürs Abendessen style. Schließlich will ich nicht ganz gegen die schicken Mailänderinnen abfallen. Zum Glück habe ich ein schwarzes, knöchellanges Seidenkleid mit spektakulärem Rückenausschnitt eingepackt, das ich nun anziehe. Es erinnert von hinten an einen Badeanzug, und ich weiß noch, dass ich es genau deswegen gekauft habe. Dann schminke ich mir die Augen mit schwarzem Kajal und verlängernder Wimperntusche, male mir dann die Lippen knallrot an, um einen dramatischen Kontrast zu erzielen. Meine braunen Haare lasse ich offen über die Schultern fallen. Irgendwie komme ich mir fast ein bisschen verrucht vor, Typ Femme fatale.

Claudio erwartet mich bereits. Auch er hat sich umgezogen, trägt nun Jeans und Leinenhemd und steht im Wohnzimmer am Fenster, schaut auf die Straße hinaus. Das Klappern meiner Absätze veranlasst ihn, sich umzudrehen.

»Wow. Ich habe dich bislang nie in Abendversion gesehen«, erklärt er sichtlich beeindruckt und mustert mich eingehend, um sodann nach meiner Hand zu greifen, mich an sich zu ziehen und ausgiebig zu küssen. »Über wie viele Variationen verfügst du für solche Gelegenheiten?«, murmelt er dann.

Ich lächle verlegen und weiß nicht, was ich erwidern soll. Er erwidert mein Lächeln und fragt dann in scherzhaftem Ton: »Und, was wünscht die Dame heute Abend zu speisen?«

»Was wäre denn ein typisches Mailänder Gericht?«

»Na ja, Ossobuco und Risotto zum Beispiel. Ist allerdings eher ein Winteressen – probier es, wenn du in ein paar Monaten wieder herkommst«, sagt er, und ich weiß nicht, was ich davon halten soll.

Trotz meiner Zweifel begebe ich mich im Geist sogleich auf eine Zeitreise. Vom Hochsommer mache ich einen Sprung in den Herbst, versetze mich mitten hinein in den November und male mir aus, wie ich am Mailänder Hauptbahnhof aus dem Zug steige, in einem grünen, knielangen Mantel und einen bunten Schal um den Hals. Stelle mir vor, wie er wartend auf dem Bahnsteig steht, die dunklen Locken quellen unter seiner Mütze hervor. Das Wetter ist unwirtlich. Der norditalienische Herbstnebel, der wie ein dickes Tuch über der Stadt liegt, hüllt uns ein. Hand in Hand, ohne die wärmenden Handschuhe auszuziehen, verlassen wir gemeinsam den Bahnhof, und wenig später sehe ich uns in einer altmodischen Trattoria bei Kerzenlicht unser Abendessen genießen: Ossobuco mit Risotto.

Alles bloß ein Traum?

Entschlossen schalte ich wieder auf normal, verbanne meine Fantasien in die Tiefen meines Gedächtnisses oder versuche es zumindest. Bei Licht betrachtet habe ich ja keine Ahnung, was mit uns wird – weiß nicht einmal, ob ich in zwei Tagen noch hier bin.

»Lass uns irgendwo hingehen, wo es dir gefällt«, erwidere ich rasch, und als wir wenig später hinaus auf die Straße treten, fühle ich mich irgendwie bedeutend. Es kommt mir vor, als stünden wir beide, Claudio und ich, im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit. Als hielten uns alle für ein glamouröses Paar. Dabei sind wir bloß ein Mann und eine Frau mit einer diffusen Beziehung, die auf einen netten Abend hoffen.

Claudio hat sich für eine traditionelle Trattoria entschieden, die seit Generationen im Besitz ein und derselben Familie ist. Zum ersten Mal sei er mit seinem portugiesischen Lehrer dort gewesen, erzählt er, weil er diesem nach einer verlorenen Wette ein Abendessen schuldete.

Als wir die Tür aufdrücken, kündet eine Klingel an der Decke unsere Ankunft an. Der Speiseraum ist nicht übermäßig groß, warme Orangetöne dominieren, die Lichter sind gedämpft, und an den Wänden hängen Karikaturen, Comiczeichnungen und alte Zeitungsausschnitte, alles gerahmt. Auf den Tischen stehen lange Kerzen in Flaschen, an denen das Wachs hinunterläuft, ein eher schlichtes Ambiente mit einer gemütlich-zwanglosen Atmosphäre.

Als wir ankommen, sind erst wenige Tische besetzt. An einem sitzt ein Paar mit einem Hündchen, das Aufmerksamkeit und Streicheleinheiten verlangt, an einem anderen eine alte Dame, die gerade ihr Dessert löffelt, und an einem dritten beenden ein paar Nadelstreifentypen soeben ihr Geschäftsessen. Uns wird ein Platz in einer Ecke zugewiesen, und als sich beim Hinsetzen unabsichtlich unsere Knie berühren, zucken wir sofort zurück. Damit uns nicht das Gleiche wie gestern im Zug passiert und wir hemmungslos übereinander herfallen. Diesmal sogar vor Publikum.

Kurz darauf erscheint der Chef höchstpersönlich, um unsere Bestellung aufzunehmen. Freundlich und zuvorkommend, dabei jedoch auf eine unaufdringliche Art, signalisiert er uns, dass er unsere Privatsphäre respektiert. Zweifellos spürt er, dass wir einen Schutzschild um uns herum aufgebaut haben, als würden wir zwischen uns und den anderen Speisenden imaginäre Grenzen ziehen.

Wir bestellen verschiedene Vorspeisen und als Hauptgang Fisch. Ich lasse Claudio die Auswahl treffen, weil er genau weiß, was hier empfehlenswert ist. Die Wartezeit verkürzen wir uns mit einer Flasche Falanghina, einem trockenen Weißwein aus einer Rebe, die angeblich mit den alten Griechen nach Italien gelangte.

»Was war das denn für eine Wette?«, komme ich auf das kurz zuvor unterbrochene Gespräch zurück.

Er grinst, meine Neugier scheint ihn zu amüsieren. »Na ja. Da war dieses Mädchen, das neben meinem Lehrer wohnte, ich traf sie oft, wenn ich zum Unterricht ging … Sie gefiel mir, aber ich traute mich nicht, sie anzusprechen. Ich war gerade mal sechzehn, sie bereits neunzehn. Das ist ein großer Unterschied in dem Alter.«

Erwartungsvoll sehe ich ihn an, warte darauf, dass er weiterredet, denn die Geschichte gefällt mir.

»Leandro, mein Lehrer, bekam irgendwann Wind von der Sache, und da er meine Schüchternheit und mein mangelndes Selbstbewusstsein bemerkte, lockte er mich mit einer Wette aus der Reserve: Ich sollte sie auffordern, mit mir auszugehen. Wenn sie ablehne, versprach er, werde er mich im besten Restaurant Mailands zum Essen einladen. Willige sie ein, sei hingegen ich dran. So lernte ich diese kleine Trattoria kennen.«

»Egal, wie es gelaufen wäre, du hättest so oder so etwas gewonnen. Entweder ein Date oder ein Essen.«

Claudio lächelt. »Ja, Melissa war meine erste Liebe. Sie nahm meine Einladung an, und wir blieben ein paar Jahre zusammen.«

»Wie ging es zu Ende?«

»Ich entdeckte ziemlich schnell, dass lange Beziehungen nichts für mich sind.«

Er sagt es leichthin, als würde er sich mit einem Freund unterhalten und das Thema uns nicht im Mindesten betreffen. Tatsächlich essen wir ja auch einfach nur gerade miteinander zu Abend und sind nicht etwa dabei, eine Beziehung aufzubauen. Und doch frage ich mich, ob Claudios Äußerung womöglich ein Warnschuss war, mit dem er mir genau das zu verstehen geben wollte. Besser also, sich keine Illusionen zu machen.

Gott sei Dank werden in diesem Moment unsere verheißungsvoll duftenden Vorspeisen serviert und lenken von dem verfänglichen Thema ab.

Wir sprechen über tausend Dinge, erstaunlicherweise nicht über Musik, wenngleich die uns eigentlich verbindet, dafür umso mehr über uns selbst. Ich erfahre, dass er wie ich im September geboren wurde, nur zehn Jahre früher, dass seine Urgroßmutter Lavinia hieß und eine kleine, energische und sehr sympathische Frau war, dass er sich leidenschaftlich für Radsport interessiert und ein Rennrad im Keller stehen hat. Ferner dass er Hitze nicht mag und am liebsten Pistazieneis isst.

Das Essen ist köstlich, wir tauschen die Teller, damit ich alles probieren kann, leeren die Flasche Wein und lassen das Wasser fast unberührt. Wir teilen uns ein hausgemachtes Tiramisu, obwohl ich normalerweise keinen Wert auf Nachtisch lege, aber jetzt erscheint es mir als der perfekte Abschluss. Als ich mir anschließend mit der makellos weißen Serviette den Mund abtupfe und dabei die letzten Lippenstiftreste entferne, kommt es mir vor, als würde ich mir damit zugleich die Zurückhaltung aus dem Gesicht wischen und mich ganz auf die Verlockungen der Nacht einlassen, die draußen auf uns wartet.

Claudio schlägt vor, den Abend in einem Szenelokal ausklingen zu lassen, wo elektronische Musik gespielt wird.

»Hauptsache keine Klassik heute Abend, das wäre zu anstrengend«, scherzt er, als es ans Zahlen geht. Meinen Versuch, mich zu beteiligen, blockt er sofort ab. »Und du solltest übrigens ebenfalls nicht anstrengend sein. Solange du dich in Mailand aufhältst, bist du ohne Wenn und Aber mein Gast.«

Mit diesen Worten erhebt er sich, geht zur Kasse und wechselt ein paar Worte mit dem Wirt, sein Smartphone hat er auf dem Tisch liegen lassen. Plötzlich leuchtet es auf, klingelt leise, und auf dem Display erscheint das Bild einer hübschen jungen Frau, die leicht herausfordernd in die Kamera lächelt. Ste, lese ich. Ob das seine Freundin ist, seine Geliebte? Vielleicht die Frau, mit der er in Ravello Sex hatte? Ich weiß nicht mehr, wie sie aussah – jedenfalls hatte sie längere Haare als die Frau im Handy. Eifersucht steigt in mir auf, da kann ich mir hundertmal sagen, dass ich keinerlei Recht habe, irgendwelche Ansprüche an Claudio zu stellen. Und so deute ich bloß, als er zum Tisch zurückkehrt, mit einem kleinen Kopfnicken auf das Handy und sage lapidar: »Hat geklingelt.«

Er greift danach, checkt den verpassten Anruf mit gleichgültiger Miene, ohne irgendwelche Emotionen erkennen zu lassen, weder Freude noch Unwillen oder Enttäuschung, und steckt das Telefon kommentarlos in die Tasche.

»Gehen wir?«

Die Abendluft ist nach wie vor angenehm warm, und auf der Straße in diesem ruhigen Wohngebiet herrscht wohltuende Stille. Während wir uns auf den Weg zum Taxistand machen, gehen mir erneut Claudios Frauen durch den Kopf – seine erste Liebe, die Affäre in Ravello, diese Ste, die ihn vorhin angerufen hat –, und ich frage mich, wie viele es da draußen außerdem noch geben mag. Und welchen Platz ich in dem ganzen Sammelsurium einnehme. Schlimmer noch, ertappe ich mich zu meinem eigenen Ärger bei dem Wunsch, mehr für ihn sein zu wollen als die anderen, einen festen Platz in seinem Leben zu bekommen.

Wir gehen Seite an Seite, so nah, dass unsere Körper sich immer wieder streifen, doch zu meinem Leidweisen greift er nicht mehr nach meiner Hand. Vielleicht hat es mit dem Anruf zu tun, überlege ich. Gleichzeitig schießt mir der Gedanke durch den Kopf, dass dieses Bild genau zu uns passt: Zwei Menschen, die nebeneinander hergehen und sich trotzdem nicht zu berühren wagen.

In gewisser Weise balancieren wir auf einem schmalen Grat, immer bedacht, uns nicht zu verletzen, bleiben lieber an der Oberfläche, als tiefer in den anderen einzudringen. Es könnte ja schmerzhaft sein, sich anfühlen, als würde man sich gegenseitig einen Messerstich versetzen.

Claudio will mir seine Welt zeigen, hat er gesagt. Dennoch werde ich den Verdacht nicht los, dass er etwas vor mir verbirgt, dass er bewusst eine Menge Dinge zurückhält, an denen er mich nicht teilhaben lassen möchte. Allein seine Körpersprache deutet darauf hin. Sie hat etwas permanent Gespanntes, als läge er ständig auf der Lauer. Ein Eindruck, den selbst sein energischer Gang nicht zu verwischen vermag.

Wie viele Geschichten mögen sich wohl in dieser Körperfestung hinter einem Panzer aus harten Muskeln verbergen?

Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr regt sich in mir der Wunsch, ihn ganz zu kennen. Am liebsten würde ich ihn an den Schultern packen und durchschütteln, um zu sehen, ob die Geschichten aus ihm herausfallen wie tote Blätter von den Bäumen. Ich würde so gerne mehr erfahren!

Dann, völlig unvermittelt, nimmt Claudio wortlos meine Hand, und meine Gedanken stehen still.

Als wir uns kurz darauf auf dem Rücksitz eines Taxis wiederfinden, das in hohem Tempo durch die Stadt rast, steigt die Hitze in unseren Körpern schlagartig an. Der enge Raum ruft Erinnerungen an unser Erlebnis im geschlossenen Zugabteil wach, und wir geraten, diesmal in einem fremden Auto unterwegs durch die Dunkelheit, erneut außer Rand und Band. Wie zwei Magneten schießen wir aufeinander zu und umklammern uns, küssen uns wild, ohne den Fahrer und die Welt um uns herum zu beachten. Wie das enden wird und was das alles soll, geschenkt – es zählt einzig und allein dieser Moment. Claudio schiebt mir wie im Fieber das Kleid hoch, fummelt so lange herum, bis er mir den Slip ausgezogen hat, steckt ihn in die Hosentasche und fährt fort, mich gierig zu küssen.

Wir halten uns noch eng umschlungen, als das Taxi vor der Bar hält, aus der uns bereits laute Musik entgegendröhnt. Der Raum ist feucht vom Schweiß und vom Atem der vielen Menschen. Um uns herum blitzt nackte Haut auf, Hände berühren sich im Dunkel, Körper bewegen sich zum Rhythmus der Musik.