Sommerlese - Marie Matisek - E-Book

Sommerlese E-Book

Marie Matisek

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Beschreibung

Ein Hund, ein Buch und ein Sommer auf Capri - Wohlfühllektüre von Bestseller-Autorin Marie Matisek Hanna könnte glücklich sein, denn sie hat das geschafft, wovon viele Autorinnen nur träumen können: Sie hat einen Bestseller gelandet. Das Problem: Keiner weiß, dass sie die Autorin ist, denn sie hat ihn unter Pseudonym geschrieben. Und das noch größere Problem: Sie soll nach dem Willen ihres Verlags so schnell wie möglich einen weiteren schreiben. Doch das ist leichter gesagt als getan, und so schickt ihr Agent Hanna auf die Insel Capri, auf der sie ihre Schreibhemmung überwinden soll. Wo sonst als auf dieser Trauminsel sollte dies möglich sein? Eine wunderbare Idee, und bereits auf dem Weg in den Süden wächst Hannas Zuversicht. Dann aber erobert ein kleiner Hund am Straßenrand ihr Herz, und der Capri-Sommer wird ganz anders, als ihn sich Hanna in ihren kühnsten Träumen vorgestellt hat und der auch in Sachen Liebe ein paar Überraschungen parat hält … Entdecken Sie auch die kostenlose und zauberhafte Vorgeschichte "Ein Hauch von Sommer" von Marie Matisek Der Capri-Roman Sommerlese: Die perfekte Urlaubslektüre für Italien-Liebhaber und Hundefans und ein Sommerroman für alle, die Italien lieben!

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Seitenzahl: 380

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Marie Matisek

Sommerlese

Ein Capri-Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Hanna könnte glücklich sein, denn sie hat das geschafft, wovon viele Autorinnen nur träumen können: Sie hat einen Bestseller gelandet. Das Problem: Keiner weiß, dass sie die Autorin ist, denn sie hat ihn unter Pseudonym geschrieben. Und das noch größere Problem: Sie soll nach dem Willen ihres Verlags so schnell wie möglich einen weiteren schreiben. Doch das ist leichter gesagt als getan, und so schickt ihr Agent Hannah auf die Insel Capri, auf der sie ihre Schreibhemmung überwinden soll. Wo sonst als auf dieser Trauminsel sollte dies möglich sein?

Eine wunderbare Idee, und bereits auf dem Weg in den Süden wächst Hannahs Zuversicht. Dann aber erobert ein kleiner Hund am Straßenrand ihr Herz, und der Capri-Sommer wird ganz anders, als ihn sich Hannah in ihren kühnsten Träumen vorgestellt hat und der auch in Sachen Liebe ein paar Überraschungen parat hält …

Inhaltsübersicht

CapriLüneburgCapriRosenheimCapriBozenLüneburg, im Jahr daraufEin paar Worte zum Schluss
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Capri

Die Sonne erhob sich träge und prall wie eine vollreife Apfelsine im Golf von Salerno; die Taubenfamilie, die es sich im Torre del Faro gemütlich gemacht hatte, begrüßte sie mit liebevollem Gurren, sobald die ersten goldenen Strahlen sie erreicht hatten. Unweit des alten Leuchtturms, in den römischen Ruinen der Villa Jovis, zog die morgendliche Dämmerung ihren fahlen Schleier von den Steinmauern, sodass diese in der Morgenröte in zartem Rosé erstrahlten.

Ganz in der Nähe des kleinsten der Faraglioni-Felsen hatte bereits ein Fischerboot festgemacht, es war das des alten Nino, der längst nicht mehr aus wirtschaftlichen Gründen aufs Meer hinausfuhr, den es aber auch auf seine alten Tage nicht in seinem Haus in Amalfi hielt. Allzu sehr vermisste er das Schwanken der Holzbohlen unter seinen Füßen, den salzigen Geruch des geliebten Meeres in der Nase, das vertraute Kitzeln der ersten Sonnenstrahlen und die sanfte Umarmung des Wellengangs.

Der alte Fischer genoss die Einsamkeit auf seinem Boot, mit dem er stets noch vor Anbruch der Dämmerung hinausfuhr; manchmal nur kreuzte einer seiner alten Kollegen, sie grüßten sich mit wissendem Nicken oder riefen sich ein »Come stai?« von Boot zu Boot zu. Später, wenn das Meer übersät war von den Yachten, Segelbooten, Ausflugsschiffen und Fähren, steuerte Nino seine Barkasse längst wieder in den vertrauten Hafen von Amalfi.

Aber heute war der Tag erst wenige Minuten alt und verheißungsvoll, es roch bereits nach Frühling, und Nino, in einer Hand eine Angel, in der anderen eine Zigarette (von der niemand, erst recht nicht seine Frau und schon gleich dreimal nicht seine Tochter Lisabetta wissen durften), überlegte, ob er die Fische, die er in der nächsten Stunde unzweifelhaft fangen würde, nach Hause mitnehmen oder Tomasio, seinem Freund auf der Insel Capri, schenken sollte. Beide hatten sie eine große Familie, Kinder und Kindeskinder, und Nino konnte stets gewiss sein, dass der kleine Fang, den er nun als Privatier nach Hause brachte, in jeder Familie sehr willkommen sein und ganz bestimmt aufs Köstlichste zubereitet werden würde. Er warf einen Blick auf die Insel und entschied sich, den Fang zu behalten und an seinen Schwiegersohn Marco weiterzugeben. Denn Tomasio lebte in Anacapri, und um die Fische zu ihm zu bringen, hätte Nino mit seinem kleinen Boot die Insel umrunden oder aber mit seinem Freund einen Treffpunkt in der Marina verabreden müssen. Dazu war er heute viel zu träge, auch wenn er wusste, dass Tomasio ihn sicherlich zu einem caffè eingeladen hätte.

 

Dieser indes, der nichts von seiner verpassten Chance, in wenigen Stunden zwei Brassen und sogar einen Schwertfisch entgegenzunehmen, wusste, schlüpfte soeben in seinem Haus in die blauen Plastiksandaletten und machte sich auf, seiner Ziege einen Besuch abzustatten. Amanda war trächtig, und Tomasio hatte in der Nacht eine Vorahnung gehabt, dass sie gebären würde, weshalb er aufgestanden war und nach dem Rechten gesehen hatte. Aber noch war es nicht so weit, Amanda hatte nur leise gemeckert, als er ihren prallen Bauch abgetastet hatte. Also war er wieder zurück ins Bett geschlüpft, neben seine Frau Renata, die gestöhnt und ihn geschimpft hatte, dass sie nun wach sei und bestimmt nicht mehr einschlafen könne. Es dauerte keine fünf Minuten, da hatte Tomasio leises Schnarchen von ihrer Seite des Bettes vernommen, was wiederum ihn daran hinderte, erneut in den Schlaf zu finden. Also hatte er neben ihr wach gelegen, die Augen an die Zimmerdecke gerichtet, und überlegt, was, um Himmels willen, er mit den kleinen Zicklein – er war überzeugt, es waren zwei – anstellen sollte. Amanda war ein Geschenk von Pippo gewesen, dem Eismann aus Positano, dem Mann von Elena, einer Freundin seiner Tochter Marcella, die gemeinsam mit Elena eine Physiotherapeutenausbildung in … aber nein, dachte Tomasio, das führte jetzt zu weit. Auf alle Fälle war Amanda wohl schon gedeckt gewesen, als er sie bekommen hatte, denn an eine unbefleckte Ziegenempfängnis glaubte nicht einmal der tief katholische gute Tomasio.

Sollte er ein Zicklein behalten? Die Erlaubnis dafür hatte Tomasio bereits von Renata erhalten, wenn auch widerstrebend.

Aber zwei Zicklein und dazu die Mutterziege – das war zu viel, er hatte nicht vor, eine ganze Herde zu gründen. Er könnte es schlachten, aber das würden ihm seine Töchter Lucia und Marcella niemals verzeihen.

Und wäre es nicht für das eine Zicklein schöner, es könnte mit seinem Geschwisterchen zusammenbleiben? Wahrscheinlich wäre es besser, alle beide abzugeben.

Während Tomasio also, wie bereits erwähnt, mit diesen Gedanken beschäftigt in den Stall hinüberschlappte, sich zu Amanda in das Stroh setzte und beruhigend auf die hübsche Girgentana-Ziegendame einredete, blickte diese ihn aus halb geschlossenen Augen träge an und schien ihm mit dem stetig mahlenden Kiefer sagen zu wollen: Reg dich nicht auf, mein Bester, ich mach das nicht zum ersten Mal, ich krieg das schon hin mit der Geburt. Tomasio nickte ihr zum Zeichen, dass er verstanden hatte, zu und strich ihr liebevoll über das lange weiße Fell. Als er den Bauch in Augenschein nahm, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Lucia! Natürlich würde er ein Zicklein, sobald es groß genug war, zu Lucia bringen! Obwohl seine geliebte Ziehtochter nichts, aber auch gar nichts mit einer Ziege gemein hatte, hatte Tomasios Hirn sie mit Amanda verknüpft, denn eine Gemeinsamkeit gab es doch: Beide waren schwanger. Lucia, die im Palazzo Farnese bei Annunziata lebte und sich dort um alles kümmerte, war ebenfalls in froher Erwartung, und deshalb war sie ihm beim Betrachten des Ziegenbauches in den Sinn gekommen. Ja, dachte Tomasio zufrieden, im Palazzo Farnese war so ziemlich jedes Tier gut aufgehoben, denn weder Lucia noch die Contessa Annunziata selbst noch der deutsche Dottore Martin, werdender Vater von Tomasios sechstem Enkelkind, würden etwas dagegen haben, dass sich die große Schar Haustiere, die sie im Garten des Palazzo beherbergten, um zwei kleine Ziegen erweiterte.

 

Lucia hingegen, vollkommen ahnungslos, dass ihr lieber Papà sie in nicht allzu ferner Zukunft mit einem kleinen Zicklein beglücken würde, stand in der weitläufigen Küche des Palazzo und wusch sich den Mund mit Salbeitee aus. Sie war am Ende des dritten Monats ihrer Schwangerschaft angekommen und plagte sich entsetzlich mit morgendlicher Übelkeit. Was sie nicht davon abhielt, ihre Freundin und Arbeitgeberin Annunziata Farnese, die für ihre neunundachtzig Jahre erstaunlich fit und kein bisschen dement war, nach Strich und Faden zu verwöhnen. Im Moment bereitete sie für die alte Dame Eier im Glas zu. Frische Hühnereier, früher hätte Lucia davon Appetit bekommen, aber in letzter Zeit würgte es sie, sobald sie den Hühnerstall nur betrat. Lucia versuchte, sich zusammenzunehmen, knabberte lustlos an einem alten und trockenen Biscotto und dachte ans Essen. In Gedanken war sie seit gestern damit beschäftigt, was sie heute und in der nächsten Woche kochen könnte, denn sie erwartete den ersten Stipendiaten. Der bankrotte Palazzo, in dem sie seit über einem Jahr mit der Contessa lebte, war durch glückliche Fügung und viel Engagement vonseiten ihres deutschen Mannes Martin von einer eigens gegründeten Stiftung der biologischen Gesellschaft Italiens und Deutschlands übernommen worden, mit der Vereinbarung, dass die Stiftung Stipendien an junge Forscher vergeben sollte, die sechs Monate im Palazzo lebten und sich mit dem Nachlass des ehemaligen Besitzers, Dottore Giovanni Farnese, einstmals Italiens bedeutendster Biologe, beschäftigten. Lucia war von ganzem Herzen für diese Wendung des Schicksals dankbar und wollte aus dem Grund am heutigen Sonntag ein besonderes Festmahl zubereiten. Martin reiste von Heidelberg an, gemeinsam mit einem jungen Nachwuchswissenschaftler. Seit Tagen war sie voller Vorfreude, hatte sie ihren Martin doch seit zwei Wochen nicht gesehen – eine viel zu lange Zeit für junges Glück. Nun also stand ein mehrgängiges Menü für heute auf dem Plan, Lucia aber warf die Menüfolge ständig wieder um. Heute Nacht, als sie wegen des Vollmondes wach gelegen hatte, war ihr dann die Idee gekommen, zur Vorspeise gefüllte Zucchiniblüten zu servieren. Die waren ein Gedicht, einfach zu machen – die leuchtend orangefarbenen Blüten bekamen eine Füllung aus Ricotta und Parmesan und wurden anschließend in etwas Olivenöl knusprig ausgebacken – und dennoch eine Augen- und Gaumenweide. Der kleine Schönheitsfehler allerdings war, dass sie keine Zucchiniblüten hatte. Die Zucchini, die sie im Palazzo anbauten, waren noch weit entfernt davon, zu blühen – aber Salvatore, der Obst- und Gemüsehändler und nicht zu vergessen: enger Freund, kultivierte seine Früchte im Gewächshaus. Lucia würde ihm also nachher einen Besuch abstatten. Und zwar, trotz des Verbots von Martin, mit ihrer himmelblauen Vespa. Ihrem Ehemann war stets angst und bang, wenn er auch nur daran dachte, dass seine junge Frau und zukünftige Mutter seiner Kinder in halsbrecherischer Geschwindigkeit auf den kurvigen Gebirgsstraßen der Insel unterwegs war.

Lucia wurde es bei dem Gedanken an einen Besuch bei ihren Freunden und ein gelungenes Menü am Abend, vor allem aber bei der Vorfreude auf ihren geliebten Martin nicht nur warm ums Herz, auch ihr Magen stabilisierte sich, und sie stellte nun entschlossen die Eier im Glas, einen frischen, leicht gebutterten Toast und eine japanische Kanne mit grünem Tee auf das Tablett und schickte sich fröhlich an, zu Annunziata in den ersten Stock zu gehen und diese mit bester Sonntagslaune zu wecken.

 

Salvatore Trettani, der Herr nicht nur über Zucchiniblüten, sondern auch über mehrere Reihen verschiedenster Tomatensorten, Gurken, Kohlarten wie Cima di rape und Romanesco, Rucola, Radicchio, Orangen und Zitronen, Auberginen, Bohnen, Zwiebeln und einige andere Gemüse- und Obstsorten war, ahnte nicht, dass er später noch Besuch von Lucia bekommen würde, sondern kippte soeben seinen Wollschweinen, die sich mit Vorliebe unter den Obstbäumen aufhielten, einen Eimer mit Gemüseschalen und einigen Essensresten hin, worauf diese sich schnaubend, schubsend und mit zitternden Ringelschwänzchen über die Leckereien hermachten. Salvi, wie er von allen, die ihn kannten, auch genannt wurde, sah ihnen einige Zeit zu, dann wusch er sich an der Pumpe vor dem Gewächshaus die Hände und warf einen Blick in Richtung der aufgehenden Sonne. Diese hatte sich nun vollends aus dem Golf von Neapel erhoben, ihre Farbe war nicht mehr die einer vollreifen Orange, vielmehr glich sie einer roséfarbenen Grapefruit, wie Salvatore dachte. Auf der noch immer glatten Wasseroberfläche, die man vom Grundstück der Trettanis hinter den kleinen Feldern und dem Obstgarten wunderbar sehen konnte, kreuzten nun die ersten Boote. Es hätte für Salvatore nur einiger weniger Schritte bedurft, um hinunter ans Meer zu gelangen, denn hinter dem Feld führte eine steile Treppe hinab zu einer winzigen Privatbucht, die den Trettanis im Grunde gar nicht gehörte, aber da sie die Einzigen waren, die sie nutzten, fühlte es sich so an, als ob. Genau genommen war Clivia diejenige, die die Vorteile des kleinen Strands am meisten schätzte – sie ging regelmäßig schwimmen oder paddelte mit ihrem SUP Board aufs Meer hinaus. Salvatore tat nichts dergleichen. Manchmal kam auch Lucia hierher, um zu schwimmen, aber zu dieser Jahreszeit war das Meer zum Baden noch zu kalt. Die Badebucht war eines der Highlights, mit denen Salvatore sein Ferienapartment im Internet anpries – denn welcher andere Agriturismo-Vermieter konnte mit einem privaten Strand auf Capri punkten? Eben.

Mit einem heiser geflüsterten »Buongiorno, Amore« legten sich plötzlich zwei Arme um seinen Bauch, und Salvi drehte sich leicht, damit er Clivia, seine wunderbare Frau, mit der er bereits über dreißig glückliche Jahre verheiratet war, in den Arm nehmen konnte. Ihre kurzen grauen Haare vergruben sich sogleich in seine Halsbeuge, und Salvi, der gut einen Meter neunzig maß, drückte ihr liebevoll einen Kuss darauf.

»Ich glaube«, sagte er, während er einen Blick auf ihr Häuschen und den daneben liegenden Ferien-Bungalow warf, »ich glaube, die Saison beginnt. Es wird Zeit für die ersten Gäste.«

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Lüneburg

Liebe Aly, du hast mich mit deiner Geschichte tief berührt, am liebsten würde ich dich jetzt in den Arm nehmen.«

»… ich fühle mich dir so verbunden, liebe Aly, du hast alle Gefühle, die ich verborgen habe, in deinem Buch ausgesprochen …«

»Liebe Aly, als ich dein Buch beendet habe, konnte ich erst mal nur heulen, das war der totale Wahnsinn, was du da erlebt und aufgeschrieben hast.«

»Kommst du mal nach Osnabrück? Ich muss dich unbedingt einmal sehen und anfassen, als ich dein Buch gelesen habe, dachte ich, du könntest meine Schwester sein …«

Hanna scrollte sich durch die neuesten Kommentare zu ihrem aktuellen Facebook-Post, und anstatt sich darüber zu freuen, schnürte sich ihr die Kehle zu, und der Druck auf ihrer Brust, der sie seit Wochen begleitete, nahm zu.

Seit Wochen, das hieß genauer, seit Anfang Dezember, seit ihr Buch auf die Bestsellerliste gekommen und dort Woche für Woche stetig nach oben geklettert war. Acht Wochen stand es nun auf Platz eins – unangefochten, wie ihr die Verlegerin stolz am Telefon verkündet hatte. Per Post war damals eine Kiste Champagner ins Haus gekommen, dazu ein üppiges Blumenbouquet und eben der Anruf. Es gäbe Anlass zu großer Freude, hatte die Verlegerin verkündet, und tatsächlich hatte Hanna sich gefreut. Was für ein Erfolg! Eine Sensation, ein großer Durchbruch, der Beginn einer glänzenden Autorenkarriere für Aly Walker.

Tja, hatte Hanna aber im gleichen Atemzug gedacht, bloß dumm, dass ich nicht Aly bin. Oder eben doch, aber …

»Mama, kommst du?«

Ben stand in der Tür ihres Schlaf- und Arbeitszimmers und trat ungeduldig von einem ausgelatschten Sneaker auf den anderen. Ausgerechnet ihr Sohn mahnte zur Eile. Der Siebzehnjährige, den sie morgens mindestens dreimal daran erinnern musste, dass man, um zur Schule zu kommen, auch aus dem Bett aufzustehen und sich anzuziehen hatte. Fliegende Betten hatte es zuletzt bei Pippi Langstrumpf gegeben. Heute allerdings konnte es ihm nicht schnell genug gehen. Es ging ja auch um was – nämlich um ihn.

Hanna nickte, schaltete den PC aus, gab ihrem Sohn einen Kuss auf die Backe und schnappte sich die Autoschlüssel.

»Also dann!«, sagte sie betont fröhlich. »Auf nach Fuhlsbüttel.« Instinktiv fasste sie nach dem Rollkoffer von Ben, aber in der letzten Sekunde zuckte ihre Hand zurück. Ihr Sohn war kein Kleinkind mehr, er konnte sein Gepäck selber schleppen.

»Lass mich«, sagte er im selben Moment, als hätte er – wie so oft – ihre Gedanken gelesen. Mühelos trug er den Koffer die steile Treppe des alten Patrizierhauses hinunter, und Hanna sah ihm wehmütig nach, während sie die Wohnungstür sorgfältig zusperrte. Ihr Kleiner war einfach nicht mehr ihr Kleiner, sondern überragte sie um einen halben Kopf. Gerade noch waren sie Hand in Hand zum Kindergarten gelaufen, oder etwa nicht? Wo war denn die Zeit geblieben, fragte sich Hanna nicht zum ersten Mal, während sie dem fast erwachsenen jungen Mann nachsah, der sie beide gleich zum Flughafen kutschieren würde. Seit zehn Jahren waren sie ein unschlagbares Team, sie und Ben. Lebten zu zweit in der hübschen Wohnung in Lüneburgs Zentrum und waren nur sehr selten, maximal eine oder zwei Wochen, voneinander getrennt gewesen. Nun aber brach Ben zu einem Austausch nach London auf – einen ganzen Monat würde er weg sein. Hanna zwang sich zur Freude über ein paar Wochen ohne ungewaschene Socken, wummernden Deutschrap und all die vielen Kumpels, die in ihrer Wohnung ein und aus gingen, von den Mädchen ganz zu schweigen. Und sie wusste auch, dass sie es würde genießen können – sie hatte vorhin bereits einen Großeinkauf mit Lebensmitteln gemacht, die nur sie mochte, aber nicht Ben. Unendlich viel Gemüse, Quinoa und Bulgur, vegetarische Pasten, Hülsenfrüchte … Hanna wollte schon so lange einmal probieren, ob sie es schaffen würde, sich vegan zu ernähren, aber mit ihrem Sohn, der Gemüse strikt ablehnte – Ausnahmen waren Tomatensoße auf der Pizza und ein Hauch Salat auf dem Burger –, war ihr die Umstellung zu kompliziert.

Ja, Hanna würde es genießen, dass sie einmal ohne ihren Ben freie Fahrt zu Hause hatte. Sie würde sich, kaum wäre sie vom Flughafen zurückgekehrt, in die Badewanne legen, den Verlags-Champagner öffnen und danach eine Schüssel Quinoa-Salat vertilgen. Bis heute Abend würde ihre Freude anhalten und dann? Dann kam mit Sicherheit das heulende Elend! Die Sehnsucht. Sie würde Bens Zimmer aufräumen und bittere Tränen darüber vergießen, dass ihr süßer Sohn sie schon bald verlassen würde. Hanna kannte sich, und sie wünschte, sie würde mit ihrer Negativprognose komplett danebenliegen, aber leider war die Person, die sie seit zweiundvierzig Jahren am besten kannte, sie selbst. Hanna seufzte tief.

Sanft wand ihr jemand den Autoschlüssel aus der Hand und riss sie aus ihren Gedanken.

»Mama, das sind vier Wochen! Mach nicht so ein Gesicht.«

Ben nahm sie kurz in den Arm, dann warf er sich auf den Fahrersitz und startete den Twingo. Hanna musste sich an diese Rollenverteilung, die das betreute Fahren mit sich brachte, erst noch gewöhnen – siebzehn Jahre lang war sie es gewesen, die ihn herumkutschiert hatte, anfangs noch in der Babyschale, und nun hatten sie seit vier Wochen, die ihr Sohn im Besitz des Führerscheins war, die Plätze getauscht.

»Du, übrigens«, begann dieser gerade etwas zögerlich, und Hanna wusste, was diese Gesprächseröffnung nach sich zog: Probleme.

»Jaaa?!«, fragte sie gedehnt nach, weil Ben nicht weitersprach, sondern sich auffällig konzentriert mit dem Verkehr beschäftigte.

»Also, ich habe vorhin noch mein Longboard bei Ebay reingestellt. Auf deinem Account.«

Hanna stöhnte. »Warum machst du das denn direkt vor der Abfahrt? Das hätte ja wohl Zeit gehabt, bis du zurückkommst.«

»Ich brauch die Kohle in London. Ich will mir da ja vielleicht auch was kaufen.« Bens Stimme nahm einen gereizten Ton an. »Wär cool, wenn du das machst und mir dann das Geld überweist.«

»Sonst noch was? Also echt … Begeistert bin ich nicht.« Zu mehr Widerrede war Hanna nicht imstande. Zwar ärgerte sie sich über ihren Sohn, aber andererseits saß sie ja sowieso im Homeoffice, also dürfte es nicht allzu schwer sein, das Board zu verkaufen.

Ben grinste. »Danke, Mama, hab dich lieb.«

Mama schüttelte einfach nur den Kopf. Sie war irgendwie zu gut für die Welt.

Während Ben den kleinen Wagen – Frosch hatten sie ihn getauft, weil er außer klein auch noch grün war – durch die Lüneburger Straßen in Richtung Autobahn manövrierte, öffnete Hanna das Handschuhfach, arrangierte das darin befindliche Chaos so, dass es einerseits chaotisch aussah, aber irgendwie auch cool und vor allem: quadratisch.

Ihr Sohn schüttelte den Kopf und zog die Augenbrauen missbilligend nach oben.

»Wann wirst du endlich erwachsen, Mama, und hörst mit diesem Quatsch auf?«, fragte er.

Hanna schüttelte nur den Kopf, suchte einen passenden Filter auf Instagram und zermarterte sich das Gehirn, um sich den richtigen Text für ihren Post auszudenken. Jeden Tag ein Post! Erzähl eine Geschichte! Viele Hashtags! Drei bis vier Hauptmotive, und die wechseln sich ab! Verwende immer den gleichen Filter! Das war in Kürze der Einführungskurs zum Thema Instagram gewesen, den ihr ihre Freundin Nathalie gegeben hatte, und Hanna versuchte, sich strikt daran zu halten. Insofern war das Bild vom Handschuhfach in einem Filter ihrer Wahl schon mal falsch, dachte sie jetzt. Ganz falsch. Andererseits war es Aly, die hier postete, und nicht sie. Und Aly konnte im Moment nichts falsch machen bei ihren Fans und Followern. Immerhin über dreißigtausend, und täglich kamen mehr dazu. Also schrieb Hanna: »Blick ins Chaos meines Handschuhfachs – in meinem Herzen sieht es nicht anders aus. #wannwerdeichendlicherwachsen«, fügte noch einige ihrer Standard-Hashtags hinzu und schloss die Insta-App.

»Hast du nicht Angst, dass du auffliegst?«, fragte Ben jetzt.

Hanna stöhnte. »Solange du mich nicht verrätst …«

Sie streichelte ihm über die Wange, aber er zuckte leicht zur Seite. Ben mochte es nicht, wenn sie ihm ins Gesicht fasste, die Zeiten waren vorbei. Und in den Haaren wuscheln stand unter Todesstrafe.

»Was bekomme ich für mein Schweigen?«, fragte er stattdessen und grinste frech.

»Keinen Ärger«, gab Hanna zurück und grinste ebenfalls.

Den Weg zum Hamburger Flughafen meisterte ihr Sohn mit Bravour, und Hanna freute sich, dass er bezüglich seiner Fahrkünste nach ihr und nicht nach Olaf, seinem Vater, kam. Ben fuhr fast schon ein bisschen zu lässig, dafür, dass er den Führerschein erst seit Kurzem hatte.

»Versprichst du mir, dass du nachher nicht heulst?«, fragte er sie jetzt, lachte verschmitzt und setzte den Blinker, um auf den Besucherparkplatz des Flughafens zu fahren.

Hanna war empört. »So ein Quatsch. Ich freu mich drauf! Du chillst einen ganzen Monat in London, und ich kann mich mal so richtig entspannen.«

Lässig lenkte Ben den Frosch in eine Parklücke, schaltete den Motor aus und drehte sich mit ernsthaftem Gesicht zu seiner Mutter. »Erstens dachte ich, du musst endlich mal das Buch schreiben und nicht entspannen. Und zweitens heulst du wegen jedem kleinen Pups. Du heulst sogar bei ›Modern family‹, und das ist eine Comedy.«

»Dein Ton gefällt mir nicht, junger Mann«, gab Hanna ironisch zurück. »Wer ist hier die Erziehungsberechtigte, du oder ich?« Vorsichtshalber setzte sie gleich nach, um sich eine Antwort Bens zu ersparen. »Und ja, ich heule wegen jedem Quatsch, aber bestimmt nicht, weil ich mir in den nächsten vier Wochen Zeit für mich gönnen darf.«

Ben hatte den Frosch neben einem Porsche SUV geparkt, und als Hanna ihre Beifahrertür öffnete, um auszusteigen, wäre sie um ein Haar mit dem Fahrer desselben kollidiert, der seine Fahrertür geöffnet hatte, um einzusteigen. Der durchtrainierte Kerl musterte Hanna von Kopf bis Fuß und verzog daraufhin süffisant das Gesicht.

»Dass Sie in die kleine Schachtel überhaupt reinpassen …«

»Besser kleines Auto als kleines Hirn«, gab Hanna scheinbar unbeeindruckt zurück, knallte die Autotür zu und ließ den Kerl links liegen. Ben grinste und reckte den Daumen hoch.

»Was für ein A…«

»Sag es nicht, obwohl du recht hast.«

Hanna ging schnellen Schrittes zum Eingang des Terminals. Sie hatte keinen Bedarf, sich umzudrehen und zu sehen, wie der arrogante Schnösel ihr beleidigt hinterherstarrte. Sie hatte es ihm gegeben, und damit war es gut.

Leider hatte sie der Kommentar trotzdem getroffen, ob sie es wollte oder nicht. Diese Art Bemerkungen musste sie sich seit ihrer frühen Jugend anhören – seit sie die Ein-Meter-achtzig-Marke geknackt hatte. Und das war mit vierzehn gewesen. Schon damals hatte Hanna alle überragt, auf Klassenfotos hielt man sie für die Lehrerin, weil sie nicht nur groß, sondern schon sehr früh sehr gut entwickelt war. Alles an ihr war groß. Ihre Hände, ihre Füße, ihre Brüste, ihr Hintern. Aber auch Mund und Augen, ja, sogar ihre Haare waren groß: eine lange dicke Mähne mit Naturwelle. Eigentlich wunderschön, jeder Friseur war entzückt, aber Hanna wünschte sich so oft, von allem nur halb so viel zu haben. Männer hatten ihr schon auf die Brüste gestarrt, als ihr die pubertären Klassenkameraden noch »Nagelmanati« hinterhergebrüllt hatten. Alles an ihr schien Männer geradezu dazu aufzufordern, Kommentare zu ihrem Äußeren abzugeben. Im Positiven wie im Negativen. Zwar hatte sie sich über die Jahre ein relativ dickes Fell angelegt und schoss zurück – denn auf den Mund war sie keinesfalls gefallen –, aber jede Bemerkung, jeder Satz hinterließ eine winzige Narbe auf ihrer Seele.

 

Keine zwei Stunden später hatte Hanna bereits drei oder vier Taschentücher nass geheult, da war Ben gerade erst durch den Security-Bereich verschwunden. Olaf, der es sich als Vater nicht hatte nehmen lassen, seinen Sohn ebenfalls am Flughafen zu verabschieden, legte Hanna den Arm um die Schulter und zog sie an sich.

»Ist ja gut«, ließ er seinen einschmeichelnden Papa-Bär-Bass brummen, »er ist ja nicht aus der Welt.« Dann machte ihr Ex-Mann auch noch Anstalten, Hanna in eine Umarmung zu ziehen, aber sie entwand sich ihm.

»Lass gut sein, Olaf«, sagte Hanna und ging ein paar Schritte auf Abstand. »Heb dir dein Geschwurbel für deine Freundin auf.«

Olaf ging ihr auch zehn Jahre nach der Trennung noch dermaßen auf den Keks, dass Hanna sich von ihren Freundinnen damit aufziehen lassen musste, ob sie wohl doch noch Gefühle für ihren untreuen Ex hegte, so wie sie sich über ihn aufregte. Die Wahrheit war, wie Hanna genau wusste, eine andere. Je länger sie Olaf kannte, desto mehr fiel Hanna auf, was für ein Vollidiot er eigentlich war – und zwar immer schon. Sie fand es unfassbar, wie sie auf ihn hatte reinfallen können, seine Masche als softer Frauenversteher, obwohl er doch im tiefsten Herzen einfach nur ein Schwachmat war, der die Frauen dazu brachte, ihn zu bemuttern. Hanna ärgerte sich über sich selbst, dass sie so naiv gewesen war, und das ließ sie ihn immer noch spüren. Im Grunde genommen war sie über Olaf hinweggekommen – nicht aber über ihre eigene Blödheit.

»Nimmst du mich mit in die Stadt?«, fragte Olaf jetzt und guckte treuherzig. »Ihr seid doch bestimmt mit dem Frosch gekommen, oder?!«

»Sorry, aber ich muss gleich zurück nach Lüneburg«, schwindelte Hanna. »Ich habe keine Zeit für einen Umweg über Hamburg.«

Olafs Mundwinkel zeigten prompt nach unten, und er setzte seinen »Jetzt ist Papa Bär aber ganz traurig«-Blick auf.

»Sorry«, rutschte es Hanna heraus, und im gleichen Atemzug ärgerte sie sich. Die alten Muster, verdammt.

»Wie läuft’s eigentlich so bei dir?«, erkundigte sich Olaf, der keine Anstalten machte, zur S-Bahn zu gehen, sondern Hanna stattdessen zum Parkplatz begleitete.

»Ach ja, schon okay«, gab diese zurück. Sie betrat jetzt vermintes Gebiet, denn Olaf sollte – wie auch alle anderen außer Ben, ihrer Freundin Suse und ihrem Agenten Korbinian – um keinen Preis erfahren, dass sie Bestsellerautorin war. Gleichzeitig wusste er jedoch, dass sie vor anderthalb Jahren ihren Job als Buchhändlerin verloren hatte.

»Ich schlag mich so durch. Helfe mal im Samstagsgeschäft und mache Lektorate, so was halt.« Puh, das war sogar die Wahrheit, dachte Hanna erleichtert, wenn auch nur die halbe.

»Ich dachte nur«, Olaf musterte Hanna intensiv, und sie betete, dass ihre Ohren jetzt nicht rot wurden, »weil ihr in letzter Zeit ganz schön Kohle ausgebt. Bens neue Klamotten, jetzt der London-Austausch – das kostet doch alles ’ne Stange Geld?«

»Papa hat uns eine kleine Finanzspritze gegeben«, antwortete Hanna – Mist, das war eine Lüge – und verabschiedete sich hastig. »Tschüs, Olaf, mach’s gut, wir sehen uns.«

Sie beeilte sich, zu ihrem Auto zu kommen und keinen Blick zurückzuwerfen. Was ihr nicht gelang, denn sie musste noch das Parkticket bezahlen, und der Automat stand genau so, dass sie Olaf, der sich nicht vom Fleck rührte, hinter der Scheibe sehen konnte.

Irgendwie tat er ihr leid, obwohl es dazu keinen Grund gab. Es war schließlich Olaf gewesen, der sie einige Jahre hinter ihrem Rücken betrogen hatte, obwohl sie ein gemeinsames Kind hatten. Ein kleines noch dazu. Er war ein Schuft, aber leider ein gut aussehender Schuft, auch noch mit Mitte vierzig, und außerdem liebte Ben ihn. Tatsächlich bemühte sich Olaf sehr um den Jungen, und Hanna musste zähneknirschend zugeben, dass er kein so schlechter Vater war, trotz der Trennung.

Jetzt hob ihr Ex, der sehr genau sah, dass Hanna ihn musterte, weil er sie seinerseits beobachtete, eine Hand und winkte. Hanna nickte knapp und flüchtete rasch zum Frosch.

 

Eine Stunde später, der grüne Wagen parkte wieder in der Anwohnerzone vor ihrem Mietshaus, schlenderte Hanna zu der kleinen Buchhandlung in der Altstadt. Schon durch das Schaufenster sah sie einen großen Stapel mit dem wunderschönen hellgrünen Cover und goldfarbenen Sternen mitten auf dem Bestsellertisch liegen. Das Buch von Aly Walker: You got me. Kaum hatte sie den Laden betreten, schoss eine der Buchhändlerinnen auf sie zu, nahm ein Exemplar und streckte es Hanna hin.

»Gute Lektüre gefällig? Kann ich Ihnen wärmstens empfehlen, achtzigtausend Käufer können nicht irren.«

»Suse, lass das!«, zischte Hanna und sah sich panisch um.

Ihre Freundin lachte, legte das Buch zurück auf den Stapel, wo es sich sofort eine junge Kundin schnappte.

Gemeinsam verzogen sich Suse und Hanna auf eines der gemütlichen Sofas, mit welchen die Buchhändler ihre Leseecke – vor allem aber Vorleseecke für Kinder – eingerichtet hatten.

»Na, schon eine Runde geheult?«, erkundigte sich Suse gewohnt einfühlsam.

»Ich weiß gar nicht, was ihr alle von mir denkt«, gab Hanna zurück, »aber leider: ja. Mittlerweile geht’s aber. Ich weiß bloß nicht so richtig, was ich mit dem Tag noch anfangen soll.«

»Tja, das sind die Sorgen derer, die ihr Geld nicht mit harter Arbeit verdienen müssen.«

»Ach, Suse, echt, sei nicht so doof.« Hanna beobachtete, wie die junge Frau, die ihr Buch vom Stapel genommen und aufmerksam den Klappentext gelesen hatte, damit zur Kasse ging. »Ich wünschte, ich könnte mit dir tauschen.«

Suse senkte die Stimme. »Immer noch Schreibblockade?«

Hanna nickte. »Ich habe noch keine einzige Seite. Noch keine!« Dass sie gefühlt schon hundert geschrieben und wieder verworfen hatte, wollte sie lieber nicht erwähnen. »Diese Aly ist mein Fluch.«

Suse nahm ihre Hand. »Schätzchen, du hast noch genug Zeit. Wenn du jetzt reinhaust, wo Ben weg ist, schaffst du mindestens die ersten hundert Seiten. Mindestens. Und du wirst sehen: wenn du erst mal drin bist …«

Das war das Mantra, mit dem sich Hanna seit Wochen, ach was, seit Monaten tröstete: Wenn ich erst einmal drin bin. Wenn ich erst einmal die ersten hundert Seiten geschafft habe. Wenn ich das erste Kapitel geschrieben habe. Den ersten Satz. Wenn ich, wenn ich, wenn ich. Geholfen hatte all das nicht. Seit ihr Buch ein Erfolg geworden war, war Hanna vollkommen blockiert, der Erfolg lähmte sie. Es lähmte sie, wenn sie die Zuschriften ihrer Fans sah, es lähmte sie, den Hype um das Buch im Internet zu verfolgen, und ganz besonders lähmte es sie, dass alle drängelten: die Leserinnen, der Verlag, ihr Agent. Wann kommt das zweite Buch? Die Frage hallte in ihrem Kopf, nein, hämmerte und dröhnte, und wann immer Hanna sich zum Schreiben an ihren Computer setzte, erschien sie ihr in großen Lettern vor dem geistigen Auge: WANN KOMMT DAS NÄCHSTE BUCH?

So konnte das nie etwas werden.

Sie musste entspannen.

Vielleicht meditieren?

»Ich muss entspannen«, sagte Hanna und scannte die Regale der Buchhandlung. »Mich von der Erwartungshaltung befreien, den Kopf leer kriegen. Vielleicht …«

»… meditieren?«, vollendete Suse ihre Gedanken. »Kein Problem, ich hab da was.«

Kurz darauf verließ Hanna den Laden mit drei Büchern, die inneres Gleichgewicht, den Weg zu sich selbst und einen Ausweg aus der Gedankenspirale durch Meditation versprachen. Guter Dinge lief Hanna nach Hause, bereit für ihr persönliches Wellness-Programm.

Als sie im ersten Stock gerade die Tür aufsperren wollte, klingelte ihr Handy. Korbinian. Hanna drückte ihren Agenten gestresst weg, denn sie ahnte, was er auf dem Herzen hatte. Er wollte sich nach dem Stand des Manuskriptes erkundigen, von dem bisher null Seiten existierten. Aber Hanna wollte ihrem Vorsatz, sich durch Entspannung in Schreibstimmung zu bringen, treu bleiben, schaltete ihr Handy auf Flugmodus und ließ sich sofort eine Badewanne ein. Während das Wasser einlief, arrangierte sie einen Bund Tulpen, den sie sich auf dem Weg noch gekauft hatte, zündete im Bad ihre Kollektion kleiner und großer Kerzen an und legte sich ihren Yogaanzug, dicke Kuschelsocken und eine mollige Fleecejacke zurecht, um sich nach der Wanne durch und durch im Entspannungsmodus zu fühlen. Sie war bereits mit einem Fuß in der Wanne, da fiel Hanna ein, dass Ben wahrscheinlich gerade in London landete, und sie wollte doch wissen, ob er gut angekommen sei, und nein, sie würde leider nicht die Geduld haben, das erst nach der Badewanne zu erfahren, also stieg sie noch einmal aus dem Wasser, huschte nackt ins Wohnzimmer, um das Handy zu holen, zuckte zusammen, als ihr Frau Herbert von ihrem Balkon, der dem Wohnzimmer gegenüberlag, fröhlich zuwinkte. Sie wäre um ein Haar ausgerutscht, so schnell hatte sie sich panisch umgedreht, sodass die alte Dame nur die nackte Rückseite von ihr sah, konnte sich aber noch einmal fangen und lief wieder ins Bad zurück. Stöhnend ließ sich Hanna ins warme Wasser gleiten. Hoffentlich war Frau Herbert so kurzsichtig, dass sie sie nicht in ihrer ganzen Pracht hatte erkennen können! Und wie gut, dass es nicht Herr Herbert auf dem Balkon gewesen war …

Hanna stellte ihr Handy online, legte es aber weit genug von der Wanne weg, dass es ihr nicht ins Wasser fallen konnte. Pling, pling, pling, einige rasche Mitteilungstöne hintereinander zeigten ihr den Eingang diverser Meldungen an. Sie warf einen Blick auf das Display – den Arm weit von der Wanne weggestreckt. Ben! Wie gewohnt knapp: »Gelandet.« Dazu immerhin ein Kuss-Emoji. Hanna unterdrückte den Wunsch, ihm eine Sprachnachricht zu schicken, stattdessen sandte sie ihm ein Herz. Bloß keine Sentimentalitäten bei einem Siebzehnjährigen!

Die anderen Nachrichten waren – selbstverständlich – von Korbinian. Eine dreiminütige Sprachnachricht. Danach eine eindeutige Textnachricht: »Ruf.mich.an!« Und eine E-Mail.

Trotz ihres unbedingten Vorsatzes, sich auf keinen Fall zu stressen – immerhin unterdrückte Hanna den Impuls, Instagram zu öffnen und nachzusehen, wie viele Likes ihr Post bekommen hatte –, öffnete sie die Mail. Es war eine Nachricht vom Verlag, genauer: von ihrer Programmleiterin, die Korbinian ihr weitergeleitet hatte. Ein PDF der Verlagsvorschau. Die Vorschau, in der der Verlag den Buchhändlern, aber auch den Lesern die Neuheiten des kommenden Herbstprogramms vorstellte. Die Vorschau, die nach Ansicht von Autoren und Autorinnen über Leben und Tod entschied. Eine halbe Seite für dein Buch auf der linken Seite: Du bist für den Verlag gestorben. Halbe rechte Seite: Füllprogramm, aber man weiß immerhin, wer du bist. Eine Doppelseite: Dein Buch ist gut, muss aber selber schwimmen. Allerdings mit dem Versprechen auf mehr, wenn es gut schwimmt. Zwei Doppelseiten: Spitzentitel! Herzlichen Glückwunsch, du hast es geschafft!

Hannas Roman sollte drei Doppelseiten bekommen. Er war der Aufmacher der Verlagsvorschau – sie würde die Queen des Herbstprogramms sein, und die große Marketingkampagne würde auch dieses Buch wieder an die Spitze der Bestsellerlisten katapultieren. Dafür würde jede Autorin, jeder Autor alles geben.

Hanna ging erst einmal unter.

Sie blieb unter der Wasseroberfläche und hörte ihr Herz schlagen. Panisch.

Am liebsten wäre sie einfach untergetaucht. Nicht in der Wanne, sondern tatsächlich. Hätte sich tot gestellt.

Denn das Buch, das dort so fantastisch angekündigt wurde, der neue Roman von Aly Walker, der Bestsellerautorin, auf den Tausende Fans warteten, das würde es nicht geben, wenn Hanna so weitermachte. Und prokrastinierte. Sich drückte. Panikattacken vor dem weißen Blatt bekam. Sich nicht endlich am Riemen riss. Und in Alys Haut schlüpfte, um sich eine neue Geschichte auszudenken. War denn das zu viel verlangt, Herrgott noch mal?

Ja. War es, dachte Hanna und blubberte ein bisschen unter Wasser.

Denn Aly gab es nicht. Sie war zu einem Teil Hannas Fantasie entsprungen, sie hatte sich in ihrer Biografie als zweiundzwanzigjährige Vollwaise ausgegeben, die trotz allerlei Hindernisse, die ihr das Leben in den Weg gestellt hatte, durch Liebe zum Lebensglück gefunden hatte. Und hatte darüber ein Buch geschrieben, das so viele Leser und Leserinnen liebten und in dem sie sich wiederfanden. Diese erfundene Autoren-Figur war Teil des großen Romanerfolgs. Alle liebten Aly – die Tapfere, die sich nicht unterkriegen ließ.

Und das Furchtbarste an der Sache: Hanna hatte sich noch nicht einmal die Geschichte zur Gänze ausgedacht. Sie hatte vor über zwanzig Jahren einmal beim Reisen mit Interrail eine junge Frau kennengelernt, die ihr nachts, während sie in einem leeren Güterzug in Bilbao gemeinsam auf den Tag warteten, ihre Lebensgeschichte erzählte. Die so unglaublich war, dass Hanna sie nie wieder vergessen hatte. Und in einer Zeit der puren Verzweiflung – sie hatte ihre Stelle als Buchhändlerin verloren und war arbeitslos und alleinerziehend – aufgeschrieben und einem Verlag angeboten hatte. Niemand hatte die Geschichte gewollt, bis ihre Freundin Suse ihr geraten hatte, es doch bei einem Agenten zu versuchen. In einer Sektlaune waren sie gemeinsam auf die Idee gekommen, dass es vielleicht hilfreich war, wenn die Autorin nicht um die vierzig und frisch gekündigte Buchhändlerin wäre, das hatte so einen Hauch von Verzweiflung, sondern wenn Hanna sich als die junge Frau selbst ausgab und so tat, als hätte sie ihre Lebensgeschichte in Romanform aufgeschrieben.

Gleich der erste Agent – eben Korbinian – hatte angebissen. Wenige Wochen später lagen mehrere Angebote von Verlagen vor und hatten sich gegenseitig in der Vorschusssumme für Aly Walker überboten. Korbinian hatte – mit Hannas Einverständnis – einem großen Konzernverlag mit Marktmacht den Zuschlag gegeben und seine neue Autorin, ohne Zweifel eine wichtige Cashcow, nach Hamburg eingeladen, wo er mit ihr auf den Vertragsabschluss anstoßen wollte.

Hanna hatte sich nichts dabei gedacht, denn natürlich wollte sie ihrem Agenten und auch dem Verlag reinen Wein über die tatsächliche Identität Alys einschenken. Aber als sie das schicke Loft, in dem Korbinian residierte, betrat und sich ihm vorstellte, war dieser blass geworden. Er hatte sie angestarrt und, ohne sie zu begrüßen, gesagt: »Das darf der Verlag niemals erfahren.«

Und dabei war es geblieben.

Hanna war eine supererfolgreiche Bestsellerautorin – und niemand durfte es wissen.

»Liebe Aly, deine Worte haben mir unwahrscheinlich viel Mut gemacht, meinen Körper auch endlich anzunehmen, wie er ist …«

»… ich bin zwar keine Vollwaise so wie du, aber meine Mama ist gestorben, als ich zwölf war …«

Seit einer Stunde lag Hanna in ihrem Bett und antwortete geduldig und ausführlich auf die Nachrichten ihrer zumeist weiblichen Fans. Sie hatte sich selbst auferlegt, jeweils morgens und abends eine Stunde Social Media zu machen, das gehörte schließlich zu ihrer Arbeit. Zwischendurch aber wollte sie offline gehen, um Ruhe und Konzentration zu finden. Allerdings war ihr vollkommen klar, dass es mit diesen zwei Stunden am Tag nicht getan war, wollte sie ihrer Pflicht – je ein Post auf Instagram und Facebook – ernsthaft nachkommen. Sie bekam unglaublich viele Zuschriften, und dafür wollte sie sich Zeit nehmen. Niemals hätte Hanna geglaubt, dass sie mit Alys Geschichte die Nerven, vor allem aber Herzen so vieler junger Frauen getroffen hatte. Das, was ihre Leserinnen ihr offenbarten, ging Hanna wirklich nahe. Als Frau, aber auch als Mutter. Sie wollte jeder und jedem antworten, und wenn sie sich dafür Zeit nahm, würde sie sich die woanders freischaufeln müssen.

Als ihr Wecker heute um sechs Uhr geklingelt hatte, war Hanna alles andere als ausgeschlafen gewesen. Obwohl sie am vorigen Tag nach dem Wannenbad versucht hatte, den Gedanken an das Schreiben auszuschalten, war es ihr nicht vollständig gelungen. Sie hatte sich durch das Angebot der Streamingdienste gezappt und nach Filmen gesucht, die sich mit jungen, vom Schicksal gebeutelten Frauen, die dann doch noch das Glück fanden, so wie ihre Aly, beschäftigten. Davon gab es leider Gottes nicht so wenige, und weil Hanna das Ansehen derselben unter »Recherche« und »Inspiration« verbuchte, hatte sie bis weit nach Mitternacht mit einer Großpackung Taschentücher auf dem Sofa gelegen und sich einen Film nach dem anderen reingezogen – sich allerdings immerhin dabei sehr viele Notizen gemacht und Ideen gesammelt. Die gesunden Gemüsesticks wichen am späteren Abend einer Packung Chips, dafür wurde die mehr als halb leere Flasche Champagner durch Früchtetee ersetzt. Ein für Hanna typischer Teufelsdeal mit sich selbst: Wenn ich jetzt schon aufhöre mit dem Alkohol, darf ich mir dafür locker die fetten Snacks auf die Hüfte schmieren … Funktionierte übrigens umgekehrt genauso.

Die Meditationsbücher hatte sie am Abend im Bett lesen wollen, aber dann war es viel zu spät geworden, und sie war erschöpft sofort eingeschlafen. Zwei Stunden später war Hanna von ihren wilden Träumen wieder erwacht und hatte eine gute Stunde wach gelegen. Als ihr Wecker sie aus dem Schlaf zerrte, hatte sie also gerade einmal etwas mehr als vier Stunden geschlafen und überlegte kurz, ob sie versuchen sollte, wieder weiterzuschlafen, entschied sich dann aber dagegen. Wenn sie die vier freien Wochen damit begann, bis in den Vormittag hinein im Bett liegen zu bleiben, würde sie niemals etwas schaffen. Davon, dass sie sich wie ein Drückeberger fühlen würde, einmal abgesehen.

Also kommunizierte Hanna, so gut sie es vermochte, mit ihren Fans, postete das Foto der Champagnerflasche, das sie am Vortag noch mit klarem Kopf insta-tauglich inszeniert hatte, und machte sich dann ein großes gesundes Frühstück – in der Hoffnung, dass dieses ihre Kreativität anregen würde.

Dabei lag ihre Schreibblockade keineswegs daran, dass ihr keine Geschichte einfiel. Und auch nicht am Druck, den sie verspürte. Oder zumindest nicht nur. Hanna war blockiert, weil sie sich fühlte, als belüge sie ihre Leserinnen. Sie hatte sich in den vergangenen Wochen und Monaten als jemand ausgegeben, die sie nicht war, und sich damit das Vertrauen ihrer Leser und Leserinnen erschlichen – so empfand sie es. Korbinian hatte ihren Einwand mit einem lapidaren »Die Leute wollen belogen werden! Du verkaufst ihnen die perfekte Illusion!« weggewischt, aber damit konnte er Hannas Zweifel nicht eindämmen. Ganz im Gegenteil. So eine Autorin wollte sie nicht sein! Ihre Leser belügen? Eine Illusion verkaufen? Nein, das war alles andere als das, was Hanna vorgehabt hatte. Die Erlebnisse der jungen Frau damals aus dem Zug hatten sie zwanzig Jahre lang begleitet. Und als sie sich endlich hingesetzt und angefangen hatte, diese Geschichte in Romanform zu gießen, war sie immer wieder tief berührt davon gewesen. Sie hatte sogar beim Schreiben Tränen vergossen – nicht etwa, weil sie so genial schreiben konnte, sondern weil die Geschichte ihr so naheging.

Vielmehr war es so, dass Hanna es verfluchte, dass sie sich von Korbinian zu dem Betrug an ihrem Verlag und den Lesern hatte hinreißen lassen. Und jetzt stand sie da, musste sich eine Story aus den Fingern saugen und zu allem Überfluss so tun, als sei sie eine andere.

Ihre Antworten auf das, was ihr die Leser schrieben, aber – das waren ihre Antworten, die von Hanna! Dieser Zwiespalt, das Doppelleben, das war es, was Hanna schier zerriss und sie in diese Schreibblockade schlittern ließ.

Wie gerne hätte sie sich jetzt einfach hingestellt und gesagt, dass sie Hanna Werner und nicht Aly Walker war, hätte ein zweites Buch geschrieben, und alles wäre gut. Aber Korbinian hatte ihr anschaulich zu verstehen gegeben, dass der Verlag nicht verpflichtet wäre, an dem bereits geschlossenen Vertrag festzuhalten. Im schlimmsten Fall hätte Hanna das Geld, das dafür bereits geflossen war, zurückzahlen müssen, und genau das hätte sie niemals gekonnt.

Hanna war Buchhändlerin mit Herz und Seele. Seit sie ihre Ausbildung gemacht hatte, hatte sie ihren Beruf über alles geliebt, zwanzig Jahre lang. Sie hatte in mehreren Buchhandlungen gearbeitet, zuletzt zehn Jahre lang für die Bücherjolle, ein winziges Lädchen in Lüneburg. Aber die Jolle hatte schließen müssen, wie so viele kleine unabhängige Buchhandlungen. Der Branche ging es nicht gut, und gerade die kleinen Geschäfte kämpften ums Überleben. In der Bücherjolle hatte es nur Hanna als Angestellte und Wilhelm, den Besitzer, gegeben. Wilhelm war Mitte siebzig, als er sich schweren Herzens entschloss, die Buchhandlung für immer zuzusperren. Hanna hatte gemutmaßt, dass er schon viel früher aufgegeben hätte, es aber in Sorge um sie nicht übers Herz brachte. Er wusste schließlich, dass Hanna alleinerziehende Mutter war und ihr Gehalt gerade so reichte, um zu überleben. Deshalb war es für Hanna auch nicht möglich gewesen, die Jolle zu übernehmen – obwohl sie nächtelang davon geträumt hatte. Es war ein wunderbares kleines Geschäft, drei kleine Räume in einem der hübschen roten Backsteinhäuser aus dem Mittelalter, wie sie für Lüneburg so typisch waren. Die knarzigen Holzbalken durchzogen unverkleidet die niedrige Decke der Räume, und an ihnen hatte Wilhelm kleine Figürchen, Traumfänger oder Mobiles befestigt. Ein Raum war ganz und gar für die Kinderbücher reserviert, hier stand mittendrin ein hölzernes Schiff – so groß, dass sich darauf drei oder vier Kinder tummeln konnten. Wilhelm hatte die Jolle selbst geschreinert, und sie war es auch, die dem Lädchen seinen Namen gegeben hatte.

Wie gerne erinnerte sich Hanna an die Nachmittage dort, vor allem wenn das Wetter nicht so gut war und sich die Mütter mit kleinen Kindern in der Jolle förmlich stapelten. Die Kinder spielten, die Mütter schauten Bilderbücher mit den Kleinsten an oder lasen den Größeren etwas vor. Auch konnte Ben seine Mama bei der Arbeit begleiten, wenn er schulfrei hatte oder an den Nachmittagen. Wie oft hatte er in Wilhelms Büro am Schreibtisch gesessen und dort seine Hausarbeiten erledigt! Wilhelm war ein wunderbarer Ersatzgroßvater für den Jungen gewesen und seine Buchhandlung das Paradies auf Erden. Doch leider lasen die Menschen immer weniger, und noch weniger Menschen kauften Bücher. Aus dem Grund war es für Hanna auch unmöglich gewesen, einen neuen Job zu finden. Die Buchhändler stellten jedenfalls nur noch selten Vollzeitkräfte ein.

 

Endlich schälte Hanna sich aus dem Bett, stellte ihr Handy auf Flugmodus und kochte sich eine Tasse Tee. Durch das schräge Dachfenster in der Küche sah sie dunkle Wolken über den Himmel ziehen, und als sie das Fenster leicht ankippte, wehte ein scharfer Wind herein. Hanna fröstelte, zog die Strickjacke enger um den Körper. Es war April, das Wetter änderte sich von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde. Eigentlich war der graue Himmel dazu angetan, sich auf einen langen Schreibtag einzurichten, dachte Hanna, denn sobald die Sonne schien, zog es sie nach draußen, und ihre Motivation, sich hinter den Schreibtisch zu klemmen, war eher gering.

Jetzt hörte sie Flügelschlagen, und wie auf ein geheimes Stichwort flatterte das Taubenpärchen, das Ben Hubert und Gerdi getauft hatte, auf den gegenüberliegenden Sims. Hanna griff in die Dose mit den Sonnenblumenkernen und schleuderte welche auf das Dach, von wo aus die Kernchen in die Dachrinne rutschten. Flügelschlagend und gurrend machten sich die hübschen Vögel über das Futter her, und Hanna sah ihnen zu. »Ratten der Lüfte« hatte ihr Vater die Tauben stets genannt, aber sie fand immer schon, dass es wunderschöne Geschöpfe waren, die die Missachtung nicht verdient hatten.

Schließlich riss sie sich vom Anblick der beiden los und richtete sich an ihrem Schreibtisch ein. Holte ein paar Mails ab, warf einen Blick über Facebook, beantwortete Kommentare und Nachrichten, zwang sich dann aber, nicht weiter herumzuscrollen, sondern alle Programme zu schließen, damit sie sich auf das Wesentliche konzentrieren konnte. Ihren Roman.