Der Schmetterlingsgarten - Marie Matisek - E-Book
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Der Schmetterlingsgarten E-Book

Marie Matisek

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Beschreibung

Ein zauberhafter Sommer- und Liebesroman voller italienischem Flair von der Bestseller-Autorin Marie Matisek Sie ist ein Ausbund an Leidenschaft, ein wahrer Vulkan der Gefühle, aber auch eine Frau mit dunkler Vergangenheit. Lucia bewacht die Contessa Farnese, deren Palazzo und sagenhaften Garten wie ein Wachhund und lässt niemanden hinein – auch nicht in ihr verwundetes Herz. Er ist zurückhaltend, ein bisschen weltfremd und in Herzensangelegenheiten eher pragmatisch. Das Einzige, was das Blut des Biologen Martin in Wallung bringen kann, sind – Schmetterlinge. Als ihn ein Forschungsauftrag nach Capri führt, stößt er auf den geheimnisvollen Garten der Contessa, der von der bezaubernden, aber sehr abweisenden Italienerin gehütet wird. Doch auch Lucia hat ein Herz, und bald darauf macht Martin Bekanntschaft mit den Schmetterlingen in seinem Bauch … Ein Urlaubsroman für alle, die Italien lieben!

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Seitenzahl: 384

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Marie Matisek

Der Schmetterlingsgarten

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Über dieses Buch

Sie ist ein Ausbund an Leidenschaft, ein wahrer Vulkan der Gefühle, aber auch eine Frau mit dunkler Vergangenheit. Lucia bewacht die Contessa Farnese, deren Palazzo und sagenhaften Garten wie ein Wachhund und lässt niemanden hinein – auch nicht in ihr verwundetes Herz.

Er ist zurückhaltend, ein bisschen weltfremd und in Herzensangelegenheiten eher pragmatisch. Das Einzige, was das Blut des Biologen Martin in Wallung bringen kann, sind – Schmetterlinge.

Als ihn ein Forschungsauftrag nach Capri führt, stößt er auf den geheimnisvollen Garten der Contessa, der von der bezaubernden, aber sehr abweisenden Italienerin gehütet wird. Doch auch Lucia hat ein Herz, und bald darauf macht Martin Bekanntschaft mit den Schmetterlingen in seinem Bauch …

Inhaltsübersicht

MottoEs war einmal …Capri im MärzLuciaHeidelberg im MärzMartinCapri, einen Monat späterLuciaEine Woche später auf CapriMartinLuciaCapri, 1936MartinLuciaMartinLuciaMartin1946LuciaMartinLuciaMartinLuciaMartinLuciaMartinLuciaMartinLuciaMartinDrei Wochen späterLuciaZum guten Schluss …Leseprobe »Sommerlese«
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»Wenn ich einem Schmetterling begegne, steigt augenblicklich ein Gefühl des Triumphs und der Lebendigkeit in mir auf.

Weil er mir vor Augen führt, wie schön und vital das Dasein trotz aller Zerbrechlichkeit ist und dass das Leben immer neu beginnt.«

Peter Henning

»Mein Schmetterlingsjahr«

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Es war einmal …

… ein kleines Mädchen, das lebte glücklich und sorglos mit seiner Familie in einem wunderschönen Palazzo. Die Familie war überaus vermögend, jeder Wunsch wurde dem Mädchen von den Augen abgelesen und erfüllt. Die Sonne schien tagein, tagaus, das kleine Mädchen spielte von früh bis spät im Garten und war glücklich mit dem Leben, so wie es war. Es hatte zwei kleine Hunde, außerdem kamen wilde Katzen zu Besuch, Eidechsen und Salamander, Eichhörnchen, Igel und Siebenschläfer. Im hinteren Teil des Gartens gab es einen Hühnerstall und Bienenstöcke. Der Vater des kleinen Mädchens war gut zu allen Lebewesen, und das war es auch, was er ihm von Anfang an beibrachte: die Schöpfung zu ehren und zu bewahren. Wann immer er mit seiner Arbeit pausierte, kam er zu seiner über alles geliebten Tochter in den Garten, und gemeinsam kümmerten sie sich um die Tiere, spielten mit den Hunden oder betrachteten die unzähligen Pflanzen, die der Garten beherbergte.

Der einzige Schatten, der auf die Seele des kleinen Mädchens fiel, war, dass seine Mutter sehr krank und schwach war. Seit der Geburt der Tochter musste die schöne Mutter das Bett hüten, sie war weiß wie ein Bettlaken und von schmaler, durchscheinender Gestalt. Manchmal, wenn es besonders sonnig draußen war, die Orchideen blühten oder die Zitronen, dann trug der Vater seine Frau hinaus in den Garten, setzte sie in den Rollstuhl und schob sie gemeinsam mit seiner Tochter durch das weiträumige Anwesen. Das kleine Mädchen pflückte die schönsten Blumen für seine kranke Mamma, die sich stets darüber freute, ihrer Tochter einen Kuss gab, die Wange streichelte und ihr sagte, dass sie sie über alles liebte.

Manchmal aber erwachte das kleine Mädchen in der Nacht und hörte, wie der Vater in seinem Arbeitszimmer auf und ab ging, mit sich selbst redete, und dann und wann vernahm es unterdrücktes Weinen.

Aber alle Zuwendung half nicht, die Ärzte waren nicht imstande, die Mutter des Mädchens zu retten, und als das kleine Mädchen erst vier Jahre alt war, starb die Mutter.

Fortan kümmerte sich der Papa noch mehr um seine Tochter, und die beiden verbrachten jede mögliche Minute miteinander und mit den Lebewesen in ihrem Garten.

Doch der Vater war ein viel beschäftigter und gefragter Forscher. Er war Biologe und musste häufig in fremde und weit entfernte Länder reisen, sodass er seine geliebte Tochter in der Obhut der Haushälterin und des Gärtners zu Hause ließ, wo sie liebevoll und gut versorgt wurde und an nichts leiden musste außer an der Sehnsucht nach ihrem Papa.

Der Krieg brach über Italien herein, die Reisen des Vaters wurden länger, beschwerlicher und gefährlicher, aber das kleine Mädchen betete für ihn und stellte jeden Abend eine Kerze ins Fenster, damit ihr Papa wohlbehalten zurückkehren möge. Währenddessen kümmerte es sich schon in zartem Alter gewissenhaft um die Tiere und Pflanzen, die ihm mit den Jahren mehr und mehr zu einer Familie wurden.

Der Krieg endete, das Mädchen ging zur Schule, der Vater reiste – und brachte seiner Tochter von jeder Reise etwas Besonderes mit: eine Pflanze aus dem Land, in dem er gewesen war. Und zu jeder Pflanze eine Geschichte. Dann wählten sie gemeinsam den geeignetsten Platz im großen Garten für die fremde Pflanze aus und ließen ihr die Pflege angedeihen, die sie aus ihrem Heimatland gewohnt war.

Aus dem kleinen Mädchen wurde eine junge Frau, eine schöne Frau, die begehrt war bei den jungen Männern auf der Insel, doch sie interessierte sich nicht für die Liebe. Sie heiratete nicht und bekam keine Kinder – denn hatte sie etwa keine Kinder, um die sie sich kümmerte?! All die Wesen in ihrem Garten! Diese liebte sie aufrichtig, und sie beanspruchten ihre volle Aufmerksamkeit.

Viele Jahre gingen ins Land, in denen der Vater und seine Tochter, eine Haushälterin und ein Gärtner hinter den hohen Mauern ihres Anwesens lebten, unbehelligt und unbeeindruckt von der Welt draußen. Der Vater wurde alt, sehr alt, und die Tochter, nun selbst keine junge Frau mehr, kümmerte sich bis zum Tode um ihn.

Danach fühlte sie umso stärker die Verantwortung für all die Lebewesen in ihrem wunderbaren Garten, der mittlerweile ein Dschungel und eine Steppe war, dessen Vegetation aus dem Regenwald stammte und aus den Weiten Afrikas, aus dem Gebirge des Kaukasus ebenso wie aus den Mangroven Indonesiens.

Wie hätte sie dieses Paradies jemals im Stich lassen können? Ohnehin fühlte die nun nicht mehr junge Frau, dass auch ihre Tage gezählt waren, und alles, was sie wollte, war, den Garten mit all seinen Lebewesen zu erhalten und jemanden zu finden, der ihn so lieben, pflegen und hegen würde wie sie und ihr Vater.

Darüber wurde sie sehr alt, und wenn sie nicht gestorben ist, dann lebt die Signora Annunziata Farnese noch heute.

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Capri im März

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Lucia

Die altersschwache Vespa stöhnte gluckernd und stieß vor Empörung schwarzblaue Wolken aus, aber Lucia war unerbittlich und drehte noch ein wenig am Gashebel.

»Komm schon, du schaffst es! Du hast es doch noch jedes Mal geschafft«, feuerte sie ihr Gefährt an. »Und gleich geht es bergab, das weißt du so gut wie ich.«

Ganz so als verstünde der kleine Motorroller ihre Worte, gab er sich tatsächlich einen Ruck und nahm die letzte Steilkurve mit Bravour. Lucia erreichte so das Plateau der Straße, die nach Capri-Stadt hineinführte, und genoss den atemberaubenden Blick von weit oben bis tief hinunter auf das Meer, die Steilküsten und die Scala Fenice, die Treppe, die zur Marina Grande hinabführte.

Lucia war auf Capri aufgewachsen, sie kannte diese Aussicht – von hier, aber auch von jedem anderen Punkt auf dieser kleinen Insel. Dennoch spürte sie jedes Mal aufs Neue, wie das Glück sie durchströmte, wenn sie auf das weite Meer hinaussah, auf die kleinen, in den Fels gehauenen Straßen, Treppen und Wanderwege, die üppigen Blütenkaskaden und die an den Berg geschmiegten hellen Häuser. Die wunderbar klare Luft umhüllte sie wie ein dünnes Seidentuch, aufregend belebend und doch Schutz bietend. Sie hörte die Schreie der Möwen unten im Hafen und roch den salzigen Duft des Meeres, der sich mit dem würzigen der Macchia, mit der die Insel bewachsen war, mischte. Und mit dem Gestank ihres Zweitakters, dachte Lucia belustigt und ließ die kleine Vespa beschwingt bergab rollen, wobei sie sich so weit in die Kurven legte, wie es mit dem hellblauen Roller möglich war.

Lucia genoss das Gefühl der Freiheit, das sie in solchen Momenten schier überwältigte – insbesondere da sie die leidvolle Erfahrung gemacht hatte, wie es war, auf all dies verzichten zu müssen. Aber basta! Daran wollte sie jetzt nicht denken. Die junge Frau schüttelte ihre langen Haare, beugte sich tief über den Lenker, damit sie dem Gegenwind weniger Widerstand bot, und nahm Kurs auf die kleine Stadt.

Doch anstatt ins Zentrum zu fahren, machte die Straße einen scharfen Knick und führte nach Nordwesten in Richtung Marina Grande, dem Hafen. Dort fand am Vormittag der Markt statt, und Lucia steuerte mit ihrer Vespa einen schattigen Platz unter den Bäumen an. Sie stellte ihren Roller ab, schnappte sich die Basttasche, die zu ihren Füßen gestanden hatte, und machte sich auf die Suche nach den besten Waren – bevor die Touristen auf das kleine Eiland strömten und alles kauften, was sie in die Hände bekamen.

Es war noch früh am Morgen, und die Einheimischen waren zusammen mit den Stammgästen, die Appartements auf Capri besaßen, unter sich. Die grauen Wolken des Winters hatten sich endlich verzogen, die ersten Sonnenstrahlen entfalteten bereits ihre Kraft, und man sah es den Händlern und Einkaufenden an, dass sie es genossen, nicht mehr dick eingemummelt mit Schals und Handschuhen unterwegs zu sein, sondern dünne Jacken und leichte Schuhe anziehen zu können. Lucia hatte es sogar gewagt und ein sommerliches Blümchenkleid mit heller Strickjacke und Ballerinas angezogen. Sie fröstelte ein wenig, war aber nur allzu gerne bereit, das zu erdulden, denn das Gefühl, der Sommer stünde vor der Tür, war durch nichts aufzuwiegen.

»Ciao, Salvatore, come stai?«

Links, rechts, links gab es flüchtige baci auf die Wange, dann hielt Salvatore Lucia auch schon ein paar gelbe Zucchini vor die Nase.

»Schau mal hier, die habe ich erst heute Morgen geerntet – frischer geht es nicht. Was willst du für die Contessa heute kochen?«

Lucia befühlte die kleinen goldenen Zucchini, die sie lieber mochte als die großen grünen. Und das wusste Salvatore natürlich ganz genau. Er sah sie verschmitzt an und zwinkerte neckisch.

»Was denn? Flirtest du etwa schon wieder mit mir?«

Der Gemüsebauer schmiss beide Arme in gespielter Verzweiflung in die Luft. »Immer! Das weißt du doch genau! So lange, bis du mich erhörst.«

Lucia wiegte bedauernd den Kopf. »Du bist und bleibst ein armer Irrer, Salvi. Du bist mir viel zu alt. Und glücklich verheiratet obendrein.«

Salvatore legte das Gesicht in Falten wie ein trauriger Dackel.

»Aber deine Zucchini nehme ich trotzdem«, beeilte sich Lucia zu versichern.

Salvatore legte das Gemüse auf seine Waage und dann in Lucias Korb. »Rezept?«, fragte er.

Erleichtert nickte Lucia. Sie war keine besonders gute Köchin. Oder nein – eigentlich wäre sie eine gute Köchin, sie hatte ein Händchen für die Zubereitung und einen exzellenten Geschmack, sodass sie nur selten Zutaten miteinander kombinierte, die nicht harmonierten. Aber Lucia fand sich fantasielos. Sie hatte den Job als Haushälterin und Köchin bei der Contessa Farnese auch deshalb bekommen, weil sie großspurig behauptet hatte, dass Kochen ihre Leidenschaft sei. Tatsächlich war sie eine einfallslose Köchin, dafür aber eine hingebungsvolle Esserin. Zum Glück hatte sie Salvatore! Der Bauer und Gemüsehändler gab ihr bei jedem Einkauf einen Tipp, was sie für die Contessa zubereiten könne. Immer fiel ihm etwas Neues ein, und Lucia vertraute seinen Rezeptideen blind. Bis jetzt hatte alles himmlisch geschmeckt, was Salvatore ihr vorgeschlagen hatte, und Lucia notierte jedes einzelne Rezept eifrig in ein kleines Notizbuch – nur für den Fall, dass Salvatore einmal die Ideen ausgingen.

»Nino ist heute hier und verkauft wunderbare Goldbrassen. Sie sehen sehr gut aus, ich habe mir schon zwei reservieren lassen«, erzählte Salvatore ihr. »Du musst schnell sein, sie sind bestimmt bald alle verkauft.«

Lucia nickte, während sie die Zitronen prüfte, die Salvatore anbot.

»Am besten«, fuhr Salvatore fort, »grillst du die Brassen. Mit Kräutern, Meersalz, Olivenöl – na, du weißt schon. Die Zucchini hobelst du in feine Scheiben, brätst sie in der Pfanne scharf an, einen winzigen Hauch Chili dazu und viel Zitrone. Meersalz, Pfeffer, Öl. Eventuell könntest du die Zitrone sogar in Scheibchen mitbraten.« Salvatore dachte nach. »Und dann … ja, gib geröstete Pinienkerne dazu.« Noch während er redete, griff er zu einem Papiertütchen und füllte aus einem kleinen Glasbehälter einige Pinienkerne für Lucia ab. »Gut würzen, vielleicht noch mit einem Schuss Aceto abschmecken, dann servierst du die Brassen auf dem Gemüsebett.«

»Dazu Weißbrot«, ergänzte Lucia, der bereits das Wasser im Mund zusammenlief.

Der Gemüsehändler strahlte über das ganze Gesicht. »Perfetto! Du wirst sehen, Lucia, aus dir machen wir noch eine Sterneköchin.«

Lucia winkte lachend ab. »Ich danke dir, Salvi, du rettest mich jeden Tag aufs Neue!« Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Wie geht es deiner Frau?«

Nun trübte sich die Miene des Älteren ein. »Ich habe seit gestern nichts von ihr gehört.« Er seufzte tief. »Das ist normal bei dem Job, aber ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen.«

Lucia nahm seine Hand und drückte sie. »Clivia ist die stärkste und mutigste Frau, die ich kenne. Bevor ihr etwas passiert, haben wir beide in unserem ruhigen Leben einen Herzinfarkt bekommen, sicuro.«

Salvatore nickte. »Jaja, ich weiß. Aber mir war es entschieden lieber, als Clivia noch die Praxis hatte.«

Clivia Trettano war Ärztin und hatte eine kleine Hausarztpraxis geführt. Als jedoch die drei Kinder von ihr und Salvatore das Haus verlassen hatten, hatte sich Clivia Hals über Kopf entschieden, die Praxis aufzugeben und sich bei einer Seenotrettungsorganisation zu engagieren. Sie wurde zu Einsätzen auf dem Mittelmeer gerufen, verschwand dann für ein paar Tage, war für ihre Familie nicht zu erreichen und kehrte schließlich erschöpft auf die Insel zurück – nur um diese kurz darauf zu weiteren Einsätzen zu verlassen.

»Du bist ein großartiger Ehemann, Salvi«, versuchte Lucia ihn zu trösten. »Du hast Clivia immer unterstützt und hältst ihr den Rücken frei, damit sie diese Arbeit tun kann, für mich bist du auch ein Held. Ihr alle beide!«

Salavtore strahlte. »Ich danke dir. Und weißt du schon das Neueste?«

Lucia schüttelte den Kopf. Das Neueste erfuhr man immer von Salvatore zuerst, dem der Ruf anhaftete, Nachrichten schneller als das Internet auf der Insel zu verbreiten. Dieses Mal allerdings betraf die Neuigkeit ihn selbst.

»Ich bin dabei, die Praxis umzubauen. In ein Appartement.«

»Oha, du willst vermieten?«

»Aber ja.« Salvatore nickte. »Agriturismo. Warum sollen nur alle anderen von den Touristen profitieren? Marco Pantanella hat mir neulich erzählt, dass er sich nicht mehr retten kann vor Anfragen, er ist immer ausgebucht.«

»Pantanella? Das ist der mit den Zitronen aus Amalfi?«, hakte Lucia nach.

»Genau. Seit Pippo aus seinem Bungalow ausgezogen ist, vermietet Marco. Und er sagt, die Touristen sind ganz wild darauf, auf seiner Zitronenplantage zu wohnen. Außerdem kaufen sie seine Produkte und nehmen sie kiloweise nach Deutschland mit. Und bei der Ernte helfen sie außerdem!«

Jetzt musste Lucia lachen. »Du stellst dir also vor, dass die armen Touristen in deinen Gewächshäusern für dich schuften, dafür auch noch bezahlen und du dir durch Nichtstun eine goldene Nase verdienst?«

Jetzt zog Salvatore eine beleidigte Grimasse. »Nichtstun! Pah! Ich muss die Leute bewirten und ihnen auf die Finger gucken, dass sie nichts verkehrt machen, und nett sein und die Betten machen …«

»Povero! Vor allem nett sein – das wird dir schwerfallen.«

Jetzt lachten sie beide, und Salvatore bemühte sich, so lieb und treuherzig zu gucken wie ein junger Hund. Lucia betrachtete die Tomaten. »Aber sag mir lieber – schmecken die schon?«

Salvatore zuckte mit den Schultern. »Gewächshaus. Sie haben noch zu wenig echte Sonne gesehen, um wirklich gut zu schmecken. Aber akzeptabel. Das sind sie. Auf die guten San Marzano aus dem Freiland musst du noch ein wenig warten. Vor Juni geht da gar nichts.«

»Ich nehme diese hier trotzdem. Dein Gemüse schmeckt immer. Pack mir zwei Kilo ein«.

Lucia legte noch ein paar Zitronen in ihren Korb, zahlte und machte sich beschwingt auf den Weg zum Marktstand von Nino, dem Fischer aus Amalfi. Sie dachte über Salvatores Idee mit dem Agriturismo nach. Das Geschäft lief seit Jahren überall in Italien sehr gut und hatte schon manch einem armen Bauern das Leben gerettet. Ob so ein Konzept auch für die Signora Farnese denkbar war? Lucia wagte nicht, es der Contessa vorzuschlagen, sie wusste ja nur zu gut, dass die alte Dame niemanden auf ihr Grundstück ließ. Aber lange würde das nicht mehr gut gehen, die Instandhaltung des Palazzo und des gesamten Anwesens verschlangen viel zu viel Geld. Die Contessa lebte seit vielen Jahren von dem, was ihre Eltern ihr hinterlassen hatten. Aber auch dieses Erbe würde einmal erschöpft sein – und was war dann?

Als Lucia merkte, dass die Gedanken an die ungewisse Zukunft ihre Laune trübten, wischte sie sie beiseite und freute sich lieber am bunten Treiben auf dem Markt.

Es herrschte mittlerweile ziemliches Gedränge in der Gasse zwischen den Ständen, die ersten Boote mit Ausflüglern vom Festland hatten angelegt, und die Urlauber bummelten nun in aller Seelenruhe über den Markt, auf der Suche nach schicken Bikinis oder günstigen Lederwaren. Die wenigen Hausfrauen aus Capri – Lucia wusste nicht von einem einzigen Hausmann auf der Insel – drängelten sich zwischen den Flaneuren hindurch, bestrebt, ihre Einkäufe rasch hinter sich zu bringen und sich nicht die besten Angebote vor der Nase wegschnappen zu lassen.

Lucia grüßte mal hier, mal dort, sie kannte Händler und einheimische Einkäufer, auch einige Gesichter von Stammgästen. Plötzlich fiel ihr in der immer dichter werdenden Menge ein dunkler Lockenschopf auf, der einige Meter vor ihr auf und ab tanzte. Obwohl der Kopf jedem x-Beliebigen gehören konnte, blieb Lucia für einen kurzen Moment die Luft weg. Das war doch nicht … Konnte das sein? Und wenn er es war – wusste er, dass sie hier war? Dass sie sich auf Capri versteckte, in der Hoffnung, dass er sich nicht hierherwagen würde? Hatte er sie etwa gesucht? Er musste doch wissen, dass sie ihn nie wiedersehen wollte, warum also sollte er ausgerechnet nach Capri kommen?

Lucia war in ihrem Schreck so abrupt stehen geblieben, dass die Frau, die hinter ihr ging, sie versehentlich von hinten anrempelte – Lucia ließ vor Schreck ihre Basttasche fallen, und die Einkäufe fielen auf den Boden, zwischen die Füße der Marktbesucher. Just in dem Moment drehte sich der bewusste Lockenschopf nach hinten zu ihr um, und noch bevor Lucia sehen konnte, ob es wirklich der war, von dem sie dachte, dass er es sein könnte, und noch bevor dieser Jemand sie entdecken konnte, tauchte sie unter. Bückte sich zwischen die Passanten und versuchte, mit schweißigen Händen und klopfendem Herzen ihre Einkäufe wieder zusammenzusammeln.

Die Frau, die sie versehentlich angerempelt hatte, eine asiatische Touristin, entschuldigte sich wortreich in einer fremden Sprache und half Lucia, die Zucchini, Zitronen und Tomaten wieder einzusammeln. Vermutlich glaubte sie, dass Lucia so aus dem Häuschen war, weil ihr die Tasche aus der Hand gefallen war, tatsächlich aber war dieser das Gemüse in dem Moment herzlich egal. Einige der Tomaten waren bereits platt getreten, andere stopfte die Touristin gerade in die Basttasche zurück. Die Zucchini und die Pistazienkerne rettete sie ebenfalls, und Lucia bedankte sich stammelnd. Dann kehrte sie schleunigst auf dem Absatz um und suchte geduckt, im Schutz der anderen Passanten, das Weite. Hoffentlich hatte er sie nicht entdeckt!

Als Lucia an Salvatores Stand vorbeihastete, rief dieser ihr etwas zu, aber die junge Frau hörte nicht, sie wollte nur noch zu ihrer himmelblauen Vespa und so schnell wie möglich zurück in den Schutz des Palazzo Farnese.

 

Zwei Mal musste Lucia ihren Motorroller starten, weil sie viel zu hastig am Gashebel gedreht hatte und der altersschwache kleine Roller mit dem Blitzstart überfordert war. Doch dann endlich spuckte die Vespa eine giftige Wolke aus dem Auspuff und knatterte mit Lucia die gewundene Straße empor, die in Richtung Anacapri führte. Lucia konnte es nicht schnell genug gehen, ihr Herz klopfte noch immer, ihr schmaler Körper war schweißüberströmt. Eine halbe Stunde später erreichte sie schließlich die von Korkeichen und wildem Lorbeer überwucherte Abzweigung zum Palazzo Farnese, die an der hohen Mauer vorbeiführte, von der das gesamte Grundstück eingefasst wurde. Lucia bog so hastig in den schmalen Weg ein, dass Sand und kleine Steinchen vom Hinterreifen ihres Rollers spritzten. Schließlich drosselte sie die Geschwindigkeit und versuchte, wieder ruhiger zu atmen.

Als sie aus dem Schatten der Zufahrt auf das sonnenbeschienene Rondell vor dem Eingangstor des kleinen Palazzo gelangte, hatte sich Lucias Herzfrequenz schon fast wieder auf das Normalmaß eingependelt. Auch der Schweißfilm, der ihren Körper überzogen hatte, trocknete durch den warmen Wind, der sie auf dem freien Platz empfing. Lucia bremste, stieg vom Roller und öffnete das schwere Holztor. Sie schob die Vespa hindurch und schloss das Tor wieder sorgfältig. Es war der Contessa wichtig, dass das Tor immer geschlossen war, damit niemand unbefugt das Grundstück betrat. Außerdem musste das Tor immer zugesperrt sein, damit keines der Tiere, die das Grundstück bevölkerten, nach draußen gelangte. Es wäre eine Katastrophe, wenn eines Tages ein Hund weglaufen oder ein vorwitziges Huhn von einem Fuchs gefressen würde.

Heute aber war es Lucia selbst wichtig, dass die Tür geschlossen war, ja sie sperrte sogar hinter sich sorgfältig ab. Die Vespa ließ sie an der Mauer stehen, nahm ihre Einkaufstasche und wollte in Richtung Haus gehen. Doch dann zögerte sie. Sie zitterte am ganzen Leib, sollte sich erst einmal beruhigen, bevor sie hinein- und ihrer Arbeit nachging. Lucia stellte die Tasche ab und lehnte sich für einen Moment mit dem Rücken an die sonnenbeschienene Mauer.

Sie schloss die Augen.

Alessandro.

War er es gewesen? War es sein dunkler Lockenkopf, den sie vor sich gesehen hatte?

Lucia hatte geglaubt, sie würde ihn immer und überall, in jeder Situation erkennen.

Aber nun war sie sich nicht sicher. Sie hatte gerade mal einen halben Kopf gesehen, dunkle Locken – es gab unzählige solcher Hinterköpfe, warum sollte es ausgerechnet der von Alessandro sein?

Oder brauchte sie ihn nicht zu erkennen, reichte schon die heftige körperliche Reaktion, damit sie sicher war, dass es sich um ihn gehandelt hatte? Ihren Leider-noch-immer-Mann?

Lucia holte einmal tief Luft. Seit vielen Monaten hatte sie ein ruhiges Leben geführt, war von Tag zu Tag ausgeglichener und glücklicher geworden. Der Abstand zu Alessandro tat ihr gut, schließlich trug er die Schuld daran, dass über ihrem noch jungen Leben ein dunkler Schatten lag. Er hatte sie belogen und im Stich gelassen, und es hatte Lucia alle Kraft gekostet, ihn sich aus dem Herzen zu reißen.

Sie hatte ihren Ehemann aufrichtig geliebt und war davon ausgegangen, dass er sie ebenso liebte. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass er einmal skrupellos ihr Leben zerstören würde. Nun aber war da einerseits der schmerzhafte Verrat, über den Lucia, wie sie glaubte, niemals hinwegkommen würde, und andererseits der tiefschwarze Fleck auf ihrer Biografie, der sich in ihrem Leben nicht mehr ausradieren ließ. Das kleine Glück, das sie hier bei der Signora Annunziata, der Contessa Farnese, gefunden hatte, war ihre Rettung, ihre Insel, ihre Chance.

Niemals durfte er das bedrohen!

»Lucia?«

Die junge Frau öffnete die Augen und sah die zarte Gestalt der alten Dame in der geöffneten Küchentür stehen. Die Contessa legte den Kopf schief und blickte ihre Haushälterin prüfend an.

»Geht es dir nicht gut?«

»No, no, Signora!«, beeilte sich Lucia zu versichern. »Alles bestens. Mir ist nur kurz schwindelig geworden. Ich bin vielleicht ein bisschen zu schnell gefahren.«

Um die Augen der Contessa bildeten sich nun Lachfältchen, und sie drohte Lucia spielerisch mit dem Zeigefinger.

»Sei bloß vorsichtig. Ich habe schon gehört, dass du wie der Teufel über die Insel fegst!«

»Oh! Wer hat mich verpetzt?« Lucia folgte ihrer Chefin ins Haus. »Das kann doch nur Umberto gewesen sein.«

Die alte Dame ging vor Lucia her durch die herrschaftliche Küche, der Kopf mit den silbrig weißen hochgesteckten Haaren wackelte leicht.

»Ich werde niemanden ans Messer liefern, meine Liebe, aber sei gewiss: Auf Capri haben die Bäume Ohren und die Steine Augen. Nichts bleibt auf dieser Insel verborgen.«

Dann bin ich hier leider grundverkehrt, dachte Lucia grimmig. Meine Geheimnisse sollten nicht ans Licht kommen. Nicht hier bei dieser wunderbaren alten Dame, die nicht ahnt, wen sie sich ins Haus geholt hat.

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Heidelberg im März

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Martin

Hubscheid!«

Martin hob den Kopf und blickte zur Eingangstür des Labors. Verschwommen sah er durch seine Laborbrille Professor Doktor Wegmann in seine Richtung wackeln, dessen rundliche kleine Gestalt er immer und überall erkannt hätte. Martin zog sich die Brille vom Gesicht. Sein Chef strahlte übers ganze Gesicht und hielt einen Ausdruck in der Hand, mit dem er nun wedelte.

»Sie haben die Genehmigung! Die Gelder sind durch!«

Martin fiel beinahe die winzige Pinzette aus der Hand. Es dauerte einen Moment, bis die Nachricht in sein Hirn sickerte. So lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet, und als er nun endlich gekommen war, begriff er nicht sofort, was das für ihn bedeutete.

Prof. Dr. Wegmann stand jetzt direkt vor ihm, schnappte sich seine Hand und schüttelte sie enthusiastisch.

»Glückwunsch, Hubscheid, Glückwunsch.«

»Danke, Professor, ich …«

Martin wusste nicht, was er sagen sollte. Die Forschungsgelder für seine Habilitationsarbeit waren genehmigt! Er konnte endlich loslegen, der Schwarmbläuling würde nicht länger ein Buch mit sieben Siegeln in der Welt der Lepidopterologie sein. Eigentlich sollte er sich darüber unbändig freuen – so wie sein Chef –, aber stattdessen wusste Martin nicht so recht, wohin mit sich.

»Das ist ja schön«, war alles, was ihm dazu einfiel.

»Ach, nu kommense mal her«, sagte Wegmann lachend, schlang seine kurzen Arme um Martin und drückte ihn fest. Der Professor stammte aus dem Rheinland und war eine warmherzige Frohnatur.

Martin wagte nicht, die Umarmung seines Chefs zu erwidern, sondern stand stocksteif da und blickte stattdessen auf die Glatze des kleinen Professors hinab, den er um mehr als einen Kopf überragte.

Prof. Dr. Wegmann drückte noch ein wenig fester. »Nu hammse sich doch nicht so, Hubscheid. Freunse sich doch mal ’n bissken!«

Jetzt legte Martin beide Arme um den kleinen runden Mann und klopfte diesem auf den Rücken. Er kam sich ziemlich seltsam vor, Arm in Arm mit seinem Chef, und natürlich kam just in diesem Moment Anja ins Labor und machte große Augen.

»Hab ich was verpasst?« Sie lachte.

Der Professor löste sich von Martin und drehte sich mit freudestrahlender Miene zu seiner Mitarbeiterin um.

»Die Gelder für Hubscheids Forschungsarbeit sind genehmigt. Ist das nicht doll?«

Er hatte den Satz noch kaum zu Ende gesprochen, da lag Anja bereits in Martins Armen. »Ich gratuliere, Schatz – wie großartig! Endlich!«

Jetzt sickerte die Nachricht auch in Martins Hirn, und er schaffte es, erleichtert zu lächeln. Im Überschwang der Gefühle küsste er sogar seine Verlobte – vor den Augen des Chefs.

Professor Wegmann klatschte in die Hände. »Na also, Sie können sich ja doch freuen, Hubscheid. Dann lassense mal allet stehen und liegen, ich geb ’ne Runde aus.«

Anja fasste Martins Hand, strahlte ihn an, und gemeinsam folgten sie ihrem Chef aus dem Labor.

In der Kantine des Universitätsinstituts für Biologie orderte der Leiter der Abteilung Schmetterlingskunde drei Gläser Sekt für sich und seine beiden engsten Mitarbeiter. Grinsend brachte der Professor sie an den Tisch, wo Anja und Martin bereits auf ihn warteten.

»Prosit, Hubscheid! Auf den Schwarmbläuling!«

Die Gläser klirrten aneinander, und Martin nahm einen vorsichtigen Schluck. Alkohol am Tag bekam ihm nicht. Sein Professor war weniger zurückhaltend – in einem Zug hatte er die Hälfte des Sektglases geleert, leckte sich die Lippen und wirkte ganz so, als wolle er auf der Stelle Nachschub.

»Wann soll’s denn losgehen?«, erkundigte er sich bei Martin.

»Am besten sofort«, gab Martin zurück und wechselte einen Blick mit Anja. »Die ersten Larven schlüpfen bereits in ein paar Wochen – wenn ich nicht bald fahre, muss ich bis zum nächsten Jahr warten.«

»Dann packense Ihre Koffer, Hubscheid. Wir kommen auch ohne Sie klar.« Professor Doktor Wegmann sah zu Anja. »Oder, Frau Doktor Lang?«

Martin sah, dass es Anja nicht leichtfiel, dem Institutsleiter zuzustimmen. Anja und er hatten über Ostern eine gemeinsame Reise nach Zypern geplant, um dort auf Schmetterlingssuche zu gehen. Wenn Martin jedoch seine Forschungsreise nach Capri antrat, würde Anja allein reisen müssen. Oder gar nicht. Martin bekam bei diesem Gedanken sofort ein schlechtes Gewissen und beeilte sich, seine Pläne zu relativieren.

»Andererseits bin ich gar nicht richtig vorbereitet. Und wir müssten ja auch einen Ersatz für mich finden – irgendjemand muss doch meine Projekte leiten. Und meine Seminare, die kann ich auch nicht so ohne Weiteres ausfallen lassen. Meine Studenten …«

Anja legte ihm die Hand auf den Unterarm und sah ihn liebevoll an. »Martin. Dafür findet sich eine Lösung. Du musst fahren! Und wegen Zypern – das läuft uns nicht weg. Du machst dir viel zu viele Gedanken.«

»Recht hammse.« Wegmann nickte bestätigend. »Auf meinem Tisch stapeln sich die Bewerbungen. Ich finde sicherlich niemanden, der so gut ist wie Sie, Hubscheid, aber für Vorlesungen und Bachelorarbeiten reicht’s dicke.«

Natürlich wusste Martin, dass dem ganz und gar nicht so war. Lepidopterologe, also Schmetterlingsforscher, zählte nicht gerade zu den Top Ten der beliebtesten Berufe. Trotzdem nickte er.

»Also gut.« Er hob sein Glas. »Auf Capri!«

»Auf Capri!«, stimmten Anja und Professor Wegmann ein.

Als Martin später ins Labor an die Arbeit zurückkehrte, hatte er ein halbes Glas Sekt intus und einen kleinen Schwips. Professor Wegmann dagegen hatte sich noch ein zweites Glas gegönnt, und nun drang aus seinem Arbeitszimmer ein beschwingtes »O sole mio«.

Anja hatte sich bereits verabschiedet, sie musste noch etwas erledigen, verabredete sich aber gerne mit Martin für den Abend, um in einem schönen Restaurant seinen Erfolg zu feiern. Martin beendete seine Arbeit im Labor noch, merkte aber, dass er nicht richtig bei der Sache war. Er würde endlich seine Habilitationsschrift, an der er seit Längerem schon arbeitete, fertigstellen können. Dass die Gelder für seine Forschungen bereitgestellt worden waren, war eigentlich nicht überraschend, dass sie so schnell kamen, aber durchaus. Er hatte eigentlich nicht vor Ende des Jahres damit gerechnet, aber vermutlich hatte die veränderte politische Situation ihm in die Hände gespielt. Das Thema Artensterben war seit einiger Zeit hochaktuell, und was früher als sogenanntes Orchideenfach gegolten hatte – die Schmetterlingskunde –, hatte nun an Brisanz gewonnen. Das Insektensterben musste erforscht werden, und seine Studie zum Schwarmbläuling war nicht länger nur das Steckenpferd eines einzelnen Wissenschaftlers, sondern gewissermaßen im allgemeinen Interesse.

Je länger Martin allein im Labor seiner Arbeit nachging, desto mehr begann er, sich darüber und auf seine Zeit auf Capri zu freuen. Als er schließlich seine Arbeit beendete und die Institutstür hinter sich schloss – er war wie so oft der Letzte, der die Labore verließ –, schlug er federnden Schrittes den Weg zum Fahrradständer ein.

 

Es war ein außergewöhnlich milder Märzabend, und als Martin sein Fahrrad bestieg, wagte er es, seine Regenjacke geöffnet zu lassen, und genoss den Fahrtwind, der durch den dicken Pulli drang. Er atmete tief ein, während er am Neckar entlangradelte, und freute sich an dem vereinzelten Gesang der Vögel.

Doktor Martin Hubscheid, vierunddreißigjähriger Schmetterlingsforscher, sehnte sich wie alle anderen nach dem Frühling. Dann müsste er auf seinem täglichen Weg ins Institut nicht mehr dick eingepackt mit Schal und Handschuhen, Regenhose und Mütze unterwegs sein. Er freute sich darauf, im T-Shirt und leichter Hose am Wochenende aufs Land zu fahren und nach Schmetterlingen zu suchen. Ihren Flug zu beobachten, sie zu kartieren und zu zählen. Schmetterlinge und alles, was damit zusammenhing, waren seine Leidenschaft. Er hatte sich nach dem Abitur entschieden, Biologie zu studieren, weil er seinen Zivildienst auf Pellworm bei der Vogelwarte absolviert hatte. Er konnte immer schon besser mit Tieren als mit Menschen umgehen, aber daran, sich mit Insekten zu beschäftigen, hatte er zu Beginn des Studiums nicht gedacht. Ihm schwebte damals etwas Größeres, Monumentales vor – Meeressäuger zu erforschen beispielsweise. Doch irgendwie hatte er es nie geschafft, sich wie seine Kommilitonen für abenteuerliche Exkursionen oder Auslandssemester zu bewerben. Er blieb lieber im Labor, und so war es nur konsequent, dass die Tiere, die er untersuchte, immer kleiner und kleiner wurden. Allerdings auch vielfältiger, und nachdem er seine Diplomarbeit geschrieben hatte, war Martin Hubscheid dem schillernden Forschungszweig der Lepidopterologie regelrecht verfallen. Er reiste ausschließlich an Orte, wo er besondere Schmetterlingsarten entdecken und fotografieren konnte, er urteilte über Pflanzen nicht im Sinne von schön oder nicht schön, sondern ob sie nützlich waren für Schmetterlinge oder nicht. So liebte er die Brennnessel, weil die Schmetterlinge auf ihr ihre Larven ablegten. Zum Leidwesen seiner Eltern, die er überredet hatte, in ihrem ordentlich gestalteten Garten eine ganze Ecke an die wild wuchernde Pflanze abzugeben. Er selbst besaß nur eine Mietwohnung mit Balkon, aber dieser war voll von Kästen und Töpfen, in denen insektenfreundliche Pflanzen wucherten. Anja hatte einen grünen Daumen, und seit vier Jahren, seit sie ein Paar geworden waren, kümmerte sie sich um diese Schmetterlingswiese auf dem Balkon.

Martin dachte an Capri. Er dachte dabei keineswegs an Pasta und Dolce Vita, an Blumenkaskaden über den hellen Mauern der Häuser oder an das azurblaue Meer. Nicht an den weiten Himmel oder an die würzigen Gerüche der italienischen Kräuter am Wegesrand. Er dachte daran, wie und wo er die Larven des Schwarmbläulings suchen würde, des Schmetterlings, dessen Zug- und Paarungsverhalten er seine Habilitation gewidmet hatte. Dass die Universität sein Forschungsvorhaben endlich gebilligt hatte, grenzte an ein Wunder, denn er war noch ziemlich jung für eine Habilitation. Normalerweise musste man sich in der Forschung noch mehr Sporen verdienen, als er das getan hatte. Aber er war sehr emsig gewesen, hatte Fachartikel um Fachartikel verfasst und sein Ziel, erst zu promovieren und schließlich zu habilitieren, niemals aus den Augen verloren. Das lag nicht zuletzt an seinem Chef Professor Wegmann. Dieser hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass er nicht daran dachte, länger als bis zum gesetzlichen Rentenalter die Institutsleitung zu behalten – und dass er sich Martin als würdigen Nachfolger wünschte. »Die Schmetterlingslehre muss sich verjüngen!«, war einer von Wegmanns Lieblingssprüchen, und nachdem das Insektensterben – so bedauerlich es war – glücklicherweise in den Fokus von Gesellschaft und Politik geraten war, standen die Chancen für eine Aufwertung der Lepidopterologie sehr gut. Martin jedenfalls hatte nichts dagegen, in Wegmanns Fußstapfen zu treten. Schließlich war Heidelberg nicht nur die Stadt, in der er studiert hatte, er war auch hier aufgewachsen und sah eigentlich wenig Grund, von hier wegzugehen. Er hatte im Lauf seines Studiums ein Auslandssemester in Großbritannien absolviert und war später, als er seine Masterarbeit verfasst hatte, ein paar Monate in Polen, an der Masurischen Seenplatte gewesen, aber dennoch hatte er immer gewusst, dass er Heidelberg wohl nie verlassen würde. Und dann war er mit Anja zusammengekommen, die am selben Institut beschäftigt war, sich hervorragend mit seinen Eltern verstand und alle seine Interessen teilte. Warum also sollte er die Nachfolge von Dr. Wegmann nicht anstreben?

 

Vor seinem Elternhaus bremste Martin sein Fahrrad ab, nahm die Klammern von der Hose und setzte seinen Radhelm ab, sperrte das Fahrrad ab und ging zur Haustür. Er hatte sich vorgenommen, seinen Eltern die frohe Botschaft sofort zu verkünden.

Kaum hatte er den Finger vom Klingelknopf genommen, da wurde auch schon von innen die Tür aufgerissen, und sein Vater stand in der Tür.

»Herzlichen Glückwunsch, Junge!«

»Aber Papa, woher …«, konnte Martin noch stammeln, da hatte sein Vater ihn bereits bei den Jackenaufschlägen gepackt und ins Innere des Hauses gezogen.

»Der Goldjunge ist da!«

Als Antwort drang ausgelassener Jubel aus dem Wohnzimmer. Martin war völlig verblüfft – wie konnte es sein, dass seine Eltern bereits Bescheid wussten? Vermutlich war Anja ihm zuvorgekommen und hatte geplaudert, gab er sich selbst die Antwort und verspürte augenblicklich ein wenig Missmut über seine Freundin. Aber um ernsthaft ärgerlich zu werden, hatte er keine Gelegenheit – er stand bereits mitten im Wohnzimmer, umgeben von fröhlichen Gesichtern. Seine Verwandtschaft – Tante Doris und Onkel Bertram, seine schwangere Cousine Claudia und ihr Mann Leo, Familie Werkmeister, die langjährigen Nachbarn seiner Eltern, sein Badmintonkumpel Hubbi sowie natürlich Anja und seine Mama. Alle hielten sie ein Glas Sekt in der Hand, und der Farbe ihrer Gesichter nach zu urteilen war es nicht das erste, das sie sich genehmigt hatten.

Onkel Bertram, pathetisch wie immer, stimmte mit tiefem Bass »Hoch soll er leben« an, und Martin schwankte zwischen tiefer Rührung und dem Verlangen, vor Peinlichkeit im Boden zu versinken. Anja zwinkerte ihm zu – er hatte also recht gehabt mit seiner Vermutung –, und seine Mutter reichte ihm ein Glas Sekt. Natürlich mit Orangensaft. Sie wusste nur zu gut, dass ihr geliebter Sohn kein großer Fan alkoholischer Getränke war.

Als die allgemeine Lobhudelei zu Ende war, sein Vater eine kurze und wirre Rede gehalten hatte, wie stolz er auf den Sohn sei, Martin sich mit einer Gegenrede bedankt hatte, bei der er wieder einmal zu viele Fachbegriffe verwendete und Anja ihm kopfschüttelnd das »Time-out«-Zeichen machte, damit er endlich zum Ende kam, quasselten alle wie aufs Stichwort durcheinander. Wann Martin denn losfahre? Wohin überhaupt? Ab wann dürfe man ihn Professor nennen? Würde er seine Stelle im Institut behalten? War Anja denn immer noch nicht schwanger? Und derlei mehr. Um zu verhindern, dass Gerüchte gestreut wurden – insbesondere über den letzten Punkt –, ergriff Martin erneut das Wort.

»Liebe Familie, liebe Freunde!«, hob er an, und sein Vater verschaffte ihm resolut Gehör, indem er die Messingschiffsglocke, die sonst nur geläutet wurde, um zu den Mahlzeiten zu rufen, erklingen ließ.

Martin war kurz irritiert, fuhr dann aber fort. »Um es kurz zu machen. Das Habilitationsverfahren läuft wie folgt ab …« Irritiert nahm Martin wahr, wie sich die Gäste genervte Blicke zuwarfen, und stockte.

»Junge, das interessiert doch keinen«, hörte er seine Mutter flüstern.

»Also, ich fahre erst mal nach Capri …«, fuhr Martin fort, wurde aber sofort von Tante Doris unterbrochen.

»Capri«, seufzte sie und verdrehte die Augen. »Die Blaue Grotte … da hab ich meine Unschuld verloren.« Sie kicherte angeschickert. Onkel Bertram guckte säuerlich, Martins Mama schlug die Hände vors Gesicht, alle anderen lachten.

»Also, Mama, ich bitte dich«, warf Martins Cousine Claudia kichernd ein, und ihr Mann Leo beeilte sich, seiner Schwiegermutter noch mal Sekt nachzuschenken. »Das ist ja spannend, Doris, erzähl doch mal.«

Martin wusste, dass er jetzt nicht mehr zu den Gästen, die ja eigentlich zusammengekommen waren, um ihn zu feiern, durchdringen würde. Tante Doris hatte ganz klar die spannendere Geschichte – seine Schmetterlingsforschung konnte dagegen natürlich nicht ankommen. Er trat den Gang in die Küche an, wo seine Mutter auf die Schnelle ein leckeres Buffet hingezaubert hatte. Im Rücken hörte er noch »Campingurlaub mit der katholischen Jugend«, »ein richtig gut aussehender, mit feurigen Augen« und »Doris, also wirklich!« sowie viel Gekicher.

Während Martin sich den Teller mit allerlei Köstlichkeiten vollpackte (Antipasti, die seine liebe Mama mit kleinen italienischen Papierfähnchen gespickt hatte – wie in aller Welt hatte sie das in der Kürze der Zeit schon wieder fertiggebracht?), legte sich eine Hand auf seinen Hintern. Er drehte sich herum und blickte in Anjas blaue Augen.

»Ich hatte noch keine Gelegenheit, dir alleine zu gratulieren«, flüsterte sie und schob sich dicht an ihn.

Martin warf einen raschen Blick ins Wohnzimmer, ihm war es unangenehm, mit seiner Freundin vor den Augen der Familie herumzuknutschen, Anja dagegen hatte da wenig Scheu.

Das war immer schon so zwischen ihnen gewesen – sie war die Tatkräftige, Zupackende und Emotionale, er der Zurückhaltende, Nachdenkliche, Rationale. »Nur so kann das funktionieren!«, hatte Anja ihm einmal in einer Auseinandersetzung an den Kopf geworfen, als er ihr vorgeworfen hatte, ihn zu überfordern. Und vermutlich hat sie recht, dachte Martin, als er ihre Lippen auf seinen spürte, ihre Hände auf seinem Po. Locker machte ihn das deshalb trotzdem nicht. Sanft schob er sie ein wenig von sich und erkannte sogleich die milde Enttäuschung in ihren Augen.

»Später«, sagte er und versuchte, aufmunternd zu lächeln. »Wenn wir alleine sind.«

»Ist es dir schon wieder peinlich?« Zwischen Anjas Augenbrauen hatte sich eine steile Falte gebildet, unmissverständliches Zeichen dafür, dass sie verärgert war. »Deiner Tante ist nichts peinlich, sie erzählt gerade, wie sie in einem Zelt ihre Jungfräulichkeit verloren hat.« Anja machte eine vage Geste Richtung Nebenzimmer.

»Na ja, das ist Doris. Die erzählt alle naselang solche Geschichten«, rechtfertigte sich Martin lahm.

»Ein bisschen mehr Doris-Gene würden dir guttun«, gab Anja schnippisch zurück. »Ehrlich, Martin, manchmal frage ich mich, ob du Leidenschaft nur für Schmetterlinge entwickeln kannst – oder eventuell auch für menschliche Wesen?«

Anja trat einen Schritt von ihm zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Es muss langsam ein bisschen was passieren in unserer Beziehung!«

Anja flüsterte jetzt nicht mehr, und Martin sah, dass seine Mama bereits nervös aus dem Wohnzimmer zu ihnen herüber schaute.

»Wir leben seit vier Jahren zusammen, und ich liebe dich, das weißt du.«

Anjas Stimme hob sich, und nun verstummte auch das Gespräch im Nachbarzimmer. Alle starrten zu ihnen in die Küche. Martin wäre am liebsten im Boden versunken.

»Aber manchmal frage ich mich ernsthaft, was du für mich empfindest. Ist es, weil ich auch Biologin bin? Weil wir Kollegen sind? Schmetterlingskollegen? Oder siehst du auch die Frau in mir? Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht.«

»Bravo, Schätzchen«, rief Tante Doris zu ihnen herüber.

Martin fühlte sich, als stünde er mit dem Rücken zur Wand. Alle warteten auf eine Reaktion von ihm, am allermeisten Anja. Und sie hatte ein Recht darauf, dass wusste er nur zu gut.

»Wenn ich aus Capri zurückkomme, dann heiraten wir«, platzte es aus ihm heraus. In dem Moment, als er die Worte ausgesprochen hatte, wollte er sie am liebsten wieder zurücknehmen.

Während im Wohnzimmer bei den Verwandten Jubel und Applaus losbrachen, funkelte Anja ihn wütend an.

»Ach, und wenn wir verheiratet sind, darf ich dich auch in der Öffentlichkeit küssen, oder was? Wie spießig ist das denn, Martin?!« Anja war auf hundertachtzig – nicht gerade die Reaktion, die er sich erhofft hatte.

»Und überhaupt«, fuhr sie fort »soll das da eben ein Heiratsantrag gewesen sein?« Das Gejohle im Nachbarzimmer verstummte. »Das musst du aber noch mal üben, mein Lieber.«

Anja drehte sich um und ging mit großen Schritten zur Wohnungstür, die sie mit Aplomb ins Schloss fallen ließ, nachdem sie hinausgerauscht war.

Martin sah auf die Tür, dann in die betretenen Gesichter seiner Freunde und Verwandten. Schließlich auf den Antipastiteller in seiner Hand. Weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte, nahm er eine Olive und steckte sie in den Mund.

Das hier war gerade gar nicht gut gelaufen, das war sogar ihm klar.

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Capri, einen Monat später

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Lucia

An Umbertos sorgenvoller Miene konnte Lucia unschwer ablesen, dass es schlecht um die kleinen Patienten stand. Richtig schlecht. Der Gärtner hatte seine dunklen Brauen zusammengezogen und die Stirn in tiefe Falten gelegt.

»Gibt es denn gar keine Hoffnung?«, erkundigte sich nun auch Signora Farnese. Trauer stand ihr ins Gesicht geschrieben, dunkle Schatten umrahmten ihre sonst so wach und freundlich dreinblickenden Augen.

Umberto seufzte. »Ich verstehe einfach nicht, woran es liegt.« Er beugte sich nach unten, nahm vorsichtig einen der zarten grünen Stängel zwischen Daumen und Zeigefinger und tätschelte die kleine Knospe, die sich daran befand.

»Die, die da sind, blühen ja auch. Aber sie werden weniger. Immer weniger. Und mickriger.«

Er blickte die Signora entschuldigend an und zuckte ratlos mit den Schultern. »Dabei mache ich, was ich seit Jahren mache. Die Erde, das Wasser, der Dünger – alles ist gleich geblieben, ich verstehe es nicht.«

»Irgendwelche Anzeichen für Pilzbefall?«

Die Signora streichelte nun ihrerseits besorgt über die zarten Orchideen. Ihre von Arthrose gekrümmten Finger zitterten leicht. Achtundachtzig Jahre zählte die Signora, die sogar eine Contessa war, aber partout nicht wollte, dass man sie mit diesem Titel ansprach.

Umberto schien aufrichtig beleidigt. »Signora! Wenn ich das nicht zuallererst untersucht hätte, hätte ich meinen Beruf verfehlt!«

»Entschuldige, Umberto«, die kleine alte Dame fasste den Gärtner am Arm. »Das weiß ich natürlich. Ich wollte einfach nur … Ach, ich weiß auch nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist so traurig, ich liebe die Ragwurz, ich mag mich einfach nicht damit abfinden.«

Sie warf Umberto und Lucia ein zerbrechliches Lächeln zu und wandte sich zum Gehen.

Die beiden Angestellten sahen ihr nach. Schließlich senkte Umberto den Blick und betrachtete traurig die Orchideen, von denen die Rede war. Weiße, grün geäderte Blütenblätter beschirmten den plüschigen violetten Pollenstempel, der in seiner Mitte eine blaue Zeichnung aufwies. Die Balearen-Ragwurz war keine Prachtorchidee, sondern eine kleine, eher unscheinbare Art, die erst bei näherer Betrachtung ihre ganze Schönheit entfaltete. Und sie war der Liebling der Signora Annunziata. Ihr Vater, der berühmte italienische Biologe Giovanni Farnese, hatte sie vor vielen Jahrzehnten aus Mallorca mitgebracht, ein Geschenk an seine Tochter. Wie im Übrigen viele der Pflanzen im Garten des Palazzo Farnese, so den Affenbrotbaum, die Kartoffelrose oder den Bambus.

All diese exotischen Pflanzen aus entlegenen Teilen der Welt – dem Amazonasgebiet Brasiliens, den bergigen Höhen des Aral, den sandigen Steppen Afrikas oder den sumpfigen Mangrovenwäldern Sumatras – machten den Garten der Signora Annunziata Farnese zu einem besonderen Paradies. Sorgfältig hatten sie und ihr Vater zu seinen Lebzeiten für jede Pflanze den Platz ausgewählt, an welchem sich diese am ehesten wohlfühlte. So gab es felsige Steingärten, in denen Enziane blühten, genauso wie ein schattiges Wäldchen, dessen Boden überzogen war mit Moosen und Flechten, die Totholz überwucherten und den idealen Lebensraum für Schatten und Feuchtigkeit liebende Pflanzen bildeten.

Giovanni Farnese, der berühmte Biologe, hatte weder Kosten noch Mühen gescheut, unterschiedliche Areale mit verschiedensten Böden zu gestalten, er hatte Erdproben bei seinen Exkursionen genommen und sie analysiert, um die für bestimmte Pflanzen notwendige Grundlage in seinem Garten herzustellen. Und natürlich bildete der Garten auch die typische Landschaft Süditaliens ab: mit Palmen, Agaven, Zitronen- und Orangenbäumen, Oliven, Feigen, Lorbeer, Ginster oder buschigem Rosmarin. Schmale Sandwege, verschlungen und ornamental, führten durch das weiträumige Gelände, und Lucia liebte nichts mehr, als ihnen zu folgen und stets etwas Neues zu entdecken. Leuchtend blaue Libellen, deren Flügel wie winzige Helikopter surrten, kreisten über einem Teich, hoch oben in einer der Pinien sang eine Drossel in höchsten Tönen, und sogar erste Schmetterlinge zeigten sich: Erdbeerbaumfalter, Monarch und Schwalbenschwanz.

Der Garten der Familie Farnese war ein Fest für die Sinne: Düfte, Farben, Formen und Geräusche wirkten stimulierend und beruhigend gleichzeitig.

Am liebsten mochte Lucia die verwitterte Holzbank in einem der schattigen Abschnitte des Gartens, an der Ostseite des Palazzo, dort, wo nur morgens die Sonne hinfiel. Die Bank war so morsch, dass es lediglich eine Frage der Zeit schien, bis sie unter Lucias – geringem – Gewicht zusammenbrechen würde. Man konnte sie kaum sehen, dunkelgrüner Farn, riesige Funkien, Hortensien und hochgewachsener Fingerhut verdeckten sie fast zur Gänze. Auf dieser Bank verbrachte sie sehr viel Zeit, las in einem der unzähligen alten Bücher der Farnese-Bibliothek oder träumte einfach vor sich hin. Natürlich nur, wenn sie nicht für die Signora kochte, den Haushalt machte oder der alten Dame Gesellschaft leistete.