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Ein großer Liebesroman vor dem Hintergrund der traumhaften Amalfi-Küste und die Fortsetzung des Erfolgs-Romans "Ein Sommer wie Limoneneis" von der Bestseller-Autorin Marie Matisek Marco und Lisabetta sind überglücklich, denn endlich sind sie ein Paar - und im siebten Himmel. Ein gemeinsames Leben an der traumhaften Amalfi-Küste – was kann schöner sein? Doch bald ziehen in der Idylle die ersten dunklen Wolken herauf: ein alter Schuldschein taucht auf, mit welchem Marcos Großvater wegen Spielschulden ein Drittel der Limonen-Plantage an jemand anderen überschrieben hat. Ist dies das Ende der Familie Pantanella? Marcos Zukunftspläne fallen wie ein Kartenhaus zusammen - zumal auch sein Vater Raffaele das Interesse an der Plantage zu verlieren scheint. Auch Pippo, Marcos bester Freund, ist mit den Gedanken woanders, seit Nathalie aus München aufgetaucht ist und ihm den Kopf verdreht hat. Pippo scheint nicht mehr er selber zu sein … Ein Roman mit Urlaubs-Feeling für alle, die Italien lieben!
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Seitenzahl: 352
Marie Matisek
Unter dem Limonenhimmel
Knaur e-books
Ein großer Liebesroman vor dem Hintergrund der traumhaften Amalfi-Küste und die Fortsetzung des Erfolgs-Romans »Ein Sommer wie Limoneneis« von der Bestseller-Autorin Marie Matisek
Marco und Lisabetta sind überglücklich, denn endlich sind sie ein Paar - und im siebten Himmel. Ein gemeinsames Leben an der traumhaften Amalfi-Küste – was kann schöner sein?
Doch bald ziehen in der Idylle die ersten dunklen Wolken herauf: ein alter Schuldschein taucht auf, mit welchem Marcos Großvater wegen Spielschulden ein Drittel der Limonen-Plantage an jemand anderen überschrieben hat. Ist dies das Ende der Familie Pantanella? Marcos Zukunftspläne fallen wie ein Kartenhaus zusammen - zumal auch sein Vater Raffaele das Interesse an der Plantage zu verlieren scheint. Auch Pippo, Marcos bester Freund, ist mit den Gedanken woanders, seit Nathalie aus München aufgetaucht ist und ihm den Kopf verdreht hat. Pippo scheint nicht mehr er selber zu sein …
Ein Roman mit Urlaubs-Feeling für alle, die Italien lieben!
»Alles, was Sie sehen, verdanke ich Spaghetti.«
Sophia Loren
Zuerst dachte Marco, ein Vogel habe ihm auf den Kopf gekackt. Dann glaubte er, ein Hagelkorn habe ihn getroffen. Aber Hagel in Amalfi? Mitten im Juni?
Irritiert sah er sich um. Die Erwachsenen kümmerten sich nicht um ihn, sie saßen auf ihren Stühlen um den Tisch herum und plauderten. Niemand schenkte ihm Beachtung. Die Söhne der Familie Amato, die mit ihm am Kindertisch saßen, waren damit beschäftigt, den Kuchen in sich hineinzuschaufeln. Sollte einer der drei ihn angespuckt oder gar mit etwas beworfen haben, hätte er es wohl gemerkt, dachte Marco bei sich.
Oder?
Er ließ den Blick durch den Garten und über das Haus schweifen. Es war nicht das erste Mal, dass er hier war, das Grundstück hatte lange Jahre den Pietrinos gehört. Aber die hatten Amalfi verlassen, das Haus hatte lange leer gestanden, der Garten, die Gemüsebeete und die Obstbäume, die in Terrassen angeordnet ein Stück den Berg hinauf standen, waren verwildert.
Sie hatten hier fast jeden Tag gespielt, Marco und sein bester Freund Pippo, außerdem Mimmo und Salvatore. Es war ihr Kinderparadies gewesen.
Wenn sie Cowboy und Indianer spielten oder Soldaten, die ein feindliches Dorf überfielen, waren sie auf dem Grundstück vollkommen unbeobachtet, kein Erwachsener kam und zog sie an den Ohren, weil sie Äste von den Bäumen schnitten, um Waffen daraus zu schnitzen. Kein Papà spannte sie zum Arbeiten ein, so wie es auf der Zitronenplantage von Marcos Vater Raffaele Pantanella der Fall war. Und keine Nonna verjagte sie, weil sie sich in die Bäume setzten und sich den Magen mit Aprikosen und Pflaumen vollstopften.
Nein, dieses verlassene Grundstück war das Refugium der vier Freunde.
Und nun war es damit vorbei. Arrivederci, Freiheit, ciao, Räuberspiele. Es war zum Heulen.
Marco hasste die neuen Bewohner. Ohne sie zu kennen, nein, er wollte sie niemals kennenlernen, es reichte ihm, dass sie ihm und Pippo, Mimmo und Salvatore den Spielplatz weggenommen hatten. Er hatte sich und seinen Freunden geschworen, dies der Familie Amato niemals zu verzeihen, niemals.
Und so, wie es aussah, würde es ihm nicht schwerfallen, an seinem Vorsatz festzuhalten. Die drei Jungs, die mit ihm am Kindertisch saßen, waren blöd. Das erkannte er auf den ersten Blick. Sie waren ein paar Jahre älter als er, würdigten ihn keines Blickes, und ihre Witze verstand Marco nicht. Er würde sie mit Nichtachtung strafen, so wie sie ihn ebenfalls ignorierten.
Für ihre Eltern interessierte sich Marco erst recht nicht, allerdings würde es ihm weitaus schwerer fallen, sie abgrundtief zu hassen. Das lag vor allem an den Mandelkeksen, die vor seiner Nase in einer flachen Schale lagen und köstlich dufteten. Die Mutter der drei Jungs, Annunziata, hatte sie direkt vor ihn hingestellt und ihn lächelnd aufgefordert, doch mal davon zu probieren. Es forderte Marco sehr viel Disziplin ab, grimmig zu gucken, den Kopf zu schütteln und die Arme bockig vor der Brust zu verschränken. Sein Vater bedachte ihn mit einem strafenden Blick, aber Marco klammerte sich an dem Gedanken »ich hasse sie, ich hasse sie …« fest.
Dessen ungeachtet hatte er in einem günstigen Augenblick, als alle anderen mit der Begrüßung beschäftigt waren, eines der hellen runden Gebäckteilchen vom Teller stibitzt und in den Mund geschoben. Und ooooh … das, was da in seinem Mund ein köstliches Aroma von Mandeln, Honig und Puderzucker entfaltete, hätte ihn beinahe seinen Vorsatz vergessen lassen, nichts, aber auch gar nichts von der Familie Amato anzunehmen.
Sie waren Feinde und sollten es auch bleiben! Basta così! Mandelkekse hin oder her. Er würde seine Mamma oder die Nonna beauftragen, sich das Rezept von Signora Amato zu holen.
Außerdem hatte er es den anderen geschworen. Gestern, als sie ein kleines Feuerchen in ihrer Höhle angefacht hatten. Dort hatten sie zusammengesessen und Pläne geschmiedet. Marco, Pippo, Mimmo und Salvatore. Die vier Freunde. Vier Verbündete, ach was – vier Brüder. Sie würden immer zusammenbleiben, sich immer treu verbunden bleiben, einander niemals belügen oder hintergehen. Zu viert waren sie stark und konnten es mit allen aufnehmen. Mit Remo und seinen doofen Freunden. Mit dem Strandwächter, der das Geld für Sonnenschirme und Liegen kassierte und sie stets verjagte. Und erst recht würden sie gemeinsam gegen die Amatos kämpfen. So lange, bis die freiwillig wieder wegzogen.
Marco hatte seinen Freunden bei ihrem abendlichen Treffen in der Höhle also erzählt, dass er gezwungen werden würde, nach der Kirche einen Anstandsbesuch bei der neuen Familie zu machen. Seine Freunde waren zunächst entsetzt, aber dann hatten sie beschlossen, die Gelegenheit zu ergreifen, den Gegner auszuspähen. Vielleicht würde Marco etwas über die neuen Feinde erfahren, was ihnen dann half, sie zu bekämpfen. Hatten sie Kinder? Dann würde man ihnen auf dem Schulweg auflauern, ihnen den Ranzen wegnehmen, sie mit Wasserpistolen bespritzen, Mädchen an den Haaren ziehen, ihnen Ziegenkacke auf die Jacke schmieren – ach, die Möglichkeiten waren vielfältig!
So hatten sie zusammengesessen und im Schein des kleinen Feuers wilde Pläne geschmiedet. Marco war mit vor Abenteuerlust geschwellter Brust nach Hause ins Bett gegangen, die Aufgabe, die ihm zuteilgeworden war, erfüllte ihn mit Stolz. Er war ein Spion!
Als aber Mamma am nächsten Morgen die graue kurze Stoffhose, die so schrecklich an den Beinen kratzte, und das weiße Sonntagshemd, das ihm ein wenig zu klein war, herauslegte und ihm auftrug, diese Sachen anzuziehen, verrauchten Stolz und Abenteuerlust augenblicklich. Zurück blieb ein kleiner Siebenjähriger, der sich elendig vor dem bevorstehenden Treffen grauste. In die Kirche gehen war schlimm genug, aber da mussten alle anderen auch hin. Außerdem war sein Respekt vor dem lieben Gott – vor allem aber vor dem Heiligen Geist, den ihm seine Nonna als in graue Laken gewandetes Skelett beschrieben hatte – groß genug.
Aber anschließend auf Feindesgebiet mit fremden Kindern und einem Haufen Erwachsener zusammensitzen, in den unbequemen Kleidern, fremdes Essen zu sich nehmen, das ihm bestimmt nicht schmeckte – all das vermieste dem kleinen Marco Pantanella gehörig den Sonntag.
Und nun auch noch dieser unerklärliche Hagel. Gerade eben hatte ihn wieder etwas im Nacken getroffen. Verstohlen sah Marco die anderen an. Aber außer ihm schien niemand etwas zu merken. Seine Eltern und die Nonna plauderten ausgelassen mit den neuen Nachbarn, die drei Jungs futterten und flüsterten, nur er schien so geheimnisvoll gepiesackt zu werden. Ob es vielleicht Elstern waren, die über ihm im Baum saßen und etwas fallen ließen? Er wollte gerade nach oben blicken, da landete etwas auf seinem Teller. Ein Kirschkern. Offensichtlich hatte der sein Ziel verfehlt.
Marco starrte auf den Kern auf seinem Teller und wusste augenblicklich, dass ihn die ganze Zeit über jemand unter Beschuss genommen hatte. Aber wer? Die Brüder saßen mit ihm am Tisch, das wäre zu auffällig gewesen. Aber hatte seine Mutter ihm nicht angekündigt, die Familie Amato habe vier Kinder? Wo war das vierte?
Just in diesem Moment traf ihn ein weiteres feuchtes Geschoss am linken Ohr. Blitzschnell drehte Marco seinen Kopf in die Richtung, aus der der Kirschkern abgefeuert worden sein musste, und sah gerade noch, wie zwei nackte Füße im dichten Blätterwerk eines großen Kirschbaums verschwanden. Na warte, dachte Marco. Dich kriege ich! Du willst Krieg? Den kannst du haben! Seine düstere Stimmung hellte sich sogleich auf, denn nun sah er eine Möglichkeit, aus dem langweiligen Kaffeeklatsch doch noch ein Abenteuer werden zu lassen.
Er griff zu der Schale mit den himmlischen Mandelkeksen und steckte sich einen in die linke Backe, einen in die rechte. Sie schmeckten köstlich, und im Stillen leistete Marco bei seinen Mitverschwörern Abbitte: Er musste schließlich eine Tarnung aufrechterhalten! Damit rechtfertigte er vor sich, warum er den Schwur, bei der Familie Amato weder etwas zu essen noch zu trinken, brach. Immerhin musste er den Feind dort oben im Kirschbaum in Sicherheit wiegen, und das tat er am besten, indem er den zufriedenen Gast mimte.
Dann stand er auf und erkundigte sich artig nach der Toilette. Signora Annunziata wies ihm den Weg, und Marco trottete gehorsam ins Haus. Kaum hatte er den kühlen Schatten des Flures erreicht, drückte er sich flach an die Wand hinter der offenen Eingangstür. Der Feind sollte nicht merken, dass er Bescheid wusste, dann würde er sich schon zeigen.
Marco hielt den Atem an und den Kirschbaum im Blick. Etwas bewegte sich darin, das erkannte er deutlich an den wackelnden Ästen. Aber das Etwas ließ sich einfach nicht blicken! Stattdessen glaubte er erkennen zu können, dass nun die Äste des benachbarten Baums erzitterten – war sein Feind etwa einem Eichhörnchen gleich von Baum zu Baum gesprungen?
Vorsichtig hielt er die Nase in Richtung des Gartens, aber offenbar war er nicht vorsichtig genug, denn augenblicklich ertönte die Stimme seines Vaters.
»Marco!«
Der Junge zuckte zurück, verbarg sich wieder im Schatten des Flures und tat, als habe er nichts gehört.
»Marco! Komm raus da, was ist denn mit dir los?« Raffaele ließ nicht locker. »Warum versteckst du dich?«
Marco biss sich auf die Lippe. Was sollte er tun? Käme er nun aus seinem Versteck hervor, würden sich alle Blicke auf ihn richten, sein Vorhaben, dem geheimnisvollen Feind in den Bäumen verstohlen aufzulauern, wäre gescheitert. Würde er aber der Aufforderung seines Papàs nicht Folge leisten, bekäme er Ärger.
Und tatsächlich, Raffaeles Stimme nahm einen schärferen Ton an.
»Marco, was ist das für ein Benehmen?! Komm augenblicklich raus da!«
Marco holte tief Luft und trat nach draußen in den Garten. Es war, wie er befürchtet hatte. Die Augen aller waren auf ihn gerichtet. Und vom Kirschkern spuckenden Eichhörnchen natürlich keine Spur. So ein Mist!
Raffaele winkte ihn ungeduldig an den Tisch. Mit gesenktem Kopf schlich Marco zu den Erwachsenen. Die blöden Brüder der Familie feixten und rissen tuschelnd Witze über ihn. Was für eine Blamage.
»Marco, lauf hinüber und hol eine Flasche von Mammas Limoncello.«
Einen größeren Gefallen konnte Raffaele ihm gar nicht tun – Marco drehte sich auf dem Absatz um und flitzte, so schnell er konnte, aus dem Garten. Bloß weg! Er bildete sich ein, das hämische Lachen der drei Brüder zu hören, das Tuscheln der Erwachsenen und leises Kichern aus den Bäumen. Er hatte seine Mission gründlich vermasselt!
Kaum hatte er das Grundstück verlassen und den heißen Asphalt der steilen Straße, die zur Zitronenfarm der Pantanellas führte, erreicht, verlangsamte er seine Schritte. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren, die Wollhose kratzte erbärmlich, und das weiße Hemd, aus dem er ohnehin herausgewachsen war, kniff unter den Achseln und klebte am Rücken.
Wütend brach Marco einen Zweig vom nächsten Baum und schlug damit auf die Straße. Was sollte er seinen Freunden sagen? Dass er sich mit Kirschkernen bespucken ließ? Und dann geflüchtet war, anstatt heroisch den Kampf aufzunehmen? Dass er nicht in der Lage gewesen war, herauszufinden, wer ihm so übel mitgespielt hatte? Eine Niederlage auf ganzer Linie.
Missmutig kickte Marco einen Stein von der Straße und schlug mit dem Zweig auf die Oleanderbüsche am Straßenrand. Nein, aufgeben war keine Option. Er würde den Limoncello holen und sich dann erneut in die Schlacht werfen. Denn dass eine solche begonnen hatte, daran konnte niemand zweifeln. Er war attackiert worden, und damit hatten die Amatos, was sie haben wollten: Krieg.
Jetzt bog Marco von der Straße ab und nahm die steile Steintreppe nach oben. Zweihundertsechsundvierzig Stufen waren in den Berg gehauen, auf dem der Zitronenhain der Familie lag. Auch die Straße führte nach oben zum Grundstück, aber die war bedeutend länger, wand sich in schmalen Haarnadelkurven empor. Die Treppe war eine Abkürzung, wenngleich eine recht mühevolle. Zumindest für die Erwachsenen, der siebenjährige Junge dagegen nahm zwei Stufen auf einmal und hatte sein Zuhause in wenigen Minuten erreicht. Die rote Katze lag wie immer auf dem Stuhl, der an der Wand neben der Eingangstür stand, und hob schläfrig den Kopf, als Marco an ihr vorbei ins Innere des Hauses trat. Er kraulte sie kurz unter dem Kinn, die Rote schnurrte kräftig.
Statt in den Keller nach unten nahm Marco die Treppe nach oben. Er musste unbedingt die scheußlichen Klamotten loswerden, wie sollte er den Eichhörnchen-Feind jemals zu fassen bekommen, wenn er seine unbequemen Sonntagssachen trug?! Rasch riss er sich Hemd und Hose vom Leib, schlüpfte in seine Fußball-Shorts und ein ausgewaschenes T-Shirt, zog auch die weißen Socken aus und pfefferte sie in eine besonders unaufgeräumte Ecke seines Zimmers.
Er war schon fast wieder im Treppenhaus, als er doch noch einmal zurücklief und aus der geheimen Schuhkiste mit den größten Schätzen, die er besaß, das kleine Taschenmesser mit der rostigen Klinge holte. Es war sein ganzer Stolz. Er hatte es in der Nähe ihrer Höhle gefunden, es steckte in einem kleinen Lederetui und war vom Rost halb zerfressen. Marco hatte es sofort eingesteckt und zu Hause heimlich den Rost abgeschliffen, die Klinge geölt und das Lederetui mit Schuhcreme behandelt. Dabei musste er heimlich vorgehen, denn Raffaele, sein Papà, war der Überzeugung, dass Marco erst mit zehn Jahren sein erstes richtiges Taschenmesser bekommen sollte. So ein Unsinn! Alle seine Freunde hatten eines! Pippo schon seit vielen Jahren, und er war der geschickteste Schnitzer unter ihnen.
Pippos Vater Sergio war Ziegenhirte und hatte seinem Sohn von Geburt an alles beigebracht, was ein Junge wissen musste. Wie oft hatte Marco ehrfürchtig beobachtet, wie sein bester Freund geschickt ein Feuer mit einer Glasscherbe und trockenem Gras entfachen konnte. Oder sich eine Angel bastelte. Mit der Zwille auf Vögel schoss. Er kam sich dabei stets vor wie ein Idiot, aber seit er das kleine Taschenmesser sein Eigen nannte, fühlte er sich männlicher und Pippo ebenbürtig.
Nun also steckte er das Messerchen in die Hosentasche – wer weiß, wozu es gut war? – und tapste barfuß durch das Treppenhaus in den Keller. Dort führte ihn sein Weg geradewegs in den Lebensmittelkeller. Was für ein Paradies! Hier stapelte sich in langen Holzregalen alles, was die Frauen der Familie Pantanella tagein, tagaus in der Küche zauberten: die Früchtebrote seiner Nonna, süße Eierbiscotti seiner Mamma, bunte Dosen mit Amarettini und Cantuccini, zahlreiche Gläser mit Eingemachtem. Aprikosen-, Erdbeer- und Orangenmarmelade. Eingelegte Artischocken, getrocknete Tomaten, Oliven grün und schwarz, Pesto, Tomatensugo, marinierte Zucchini und Auberginen. An den Regalen selbst hingen lange Ketten von getrockneten Steinpilzen, die die Nonna im Herbst gesammelt hatte, sowie in der Sonne getrocknete Peperoni. Eselssalami baumelte von der Decke, ein luftgetrockneter Schinken und in Wachspapier eingeschlagener Käse.
Vor allem aber: alles aus Zitronen! Zitronenmarmelade und Sirup, hohe Gläser mit Salzzitronen, kandierte Zitronenscheiben, Zitronenkuchen, Zitronensalz und eben Limoncello. Alles aus der kostbaren sfusato amalfitano, der berühmten Amalfi-Zitrone, die auch die Pantanellas kultivierten.
Den Zitronenlikör setzten seine Mamma und die Nonna aus den Schalen der Zitronen an, die sie für andere Zwecke ausgepresst hatten. Marcos Mamma Magdalena meinte immer, dies sei die leckerste Art der Kompostierung, die sie kenne. Für Marco hingegen war der Likör das am wenigsten Interessante im Speisekeller; wenn er an besonderen Feiertagen von seinem Papà ein winziges Gläschen davon bekam, um mit den Erwachsenen anzustoßen, schüttelte es ihn. Nein, dem Limoncello konnte er nichts abgewinnen. Die Erwachsenen aber anscheinend umso mehr, denn Magdalenas Zitronenlikör genoss einen legendären Ruf in Amalfi, und die wenigen Flaschen, die sie das Jahr über produzierte, waren heiß begehrt.
Mit einer Likörflasche in der linken und der rechten Hand in der Hosentasche, das Taschenmesser umklammert, trat Marco den Weg zum Grundstück der Familie Amato an. Während er die zweihundertsechsundvierzig Steinstufen wieder hinabsprang, grübelte er über eine geeignete Angriffsstrategie. Das Beste war, er setzte sich gar nicht mehr an die Kuchentafel. Er würde den Limoncello abliefern und dann fragen, ob er sich im Garten ein wenig umsehen könne. Natürlich würde er so tun, als sei ihm das Grundstück völlig fremd, niemand sollte wissen, dass er sich dort ebenso gut auskannte wie im heimischen Garten. Den Gegner in Sicherheit wiegen, das war oberster Taktikgrundsatz, das wusste er von seinem Papà. Zwar ging es bei Raffaele Pantanella nicht um Krieg, sondern um den Kampf gegen die Konkurrenz auf dem Zitronenmarkt, dennoch war Marco sich sicher, dass sich die Strategie auf alle Gebiete übertragen ließe.
Am Fuß der Treppe angekommen, fiel Marco leider nicht viel mehr zu seinem weiteren Vorgehen gegen den Kirschkernspucker ein, gerne hätte er sich jetzt mit Pippo beraten, der war gewitzt und nie um eine Idee verlegen.
Da traute er seinen Augen kaum: War das nicht sein bester Freund dahinten? Die dürre Zaunlatte war unverwechselbar, er hüpfte am Ende der langen Haarnadelkurve herum – offenbar hatte der liebe Gott Marcos Gebete erhört!
Marco rief den Namen seines Freundes und rannte, so schnell er konnte, zu ihm. Pippo drehte sich um und winkte.
Doch kurz bevor er seinen Kumpel erreicht hatte, verlangsamte Marco seine Schritte. Pippo war nicht allein. Er spielte mit einem Mädchen.
Einem Mädchen!
Noch dazu eines, das Marco noch nie in Amalfi gesehen hatte. Und der Ort war klein, alle einheimischen Kinder gingen gemeinsam in die gleiche Grundschule, sie kannten sich. Es musste also eine Touristin sein. Dass Pippo sich mit so einer Fremden abgab … Na, dachte Marco, er würde ihn schnell loseisen, schließlich gab es Wichtigeres. Sie würden gemeinsam den Kampf gegen die Familie Amato aufnehmen.
Als er die beiden Kinder erreicht hatte, sah er voll Entsetzen, dass Pippo ein Hüpfespiel mit ihr spielte! Sie hatten Kästchen mit Kreide auf den Asphalt gemalt, und Pippo sprang gerade mit einem Bein darin herum. Mädchenkram!
Feindselig nahm Marco das Mädchen ins Visier. Sie sah – das immerhin musste er zugeben – nicht richtig wie ein Mädchen aus. Sie trug abgeschnittene Jeans-Bermudas, die so dreckig waren, dass sie vermutlich von selbst stehen konnten. Ihr T-Shirt war bekleckert und hatte Löcher; Knie, Füße und Hände waren schmutzig schwarz. Sie sah vollkommen anders aus als alle anderen Mädchen aus Amalfi, die gerne Sommerkleider mit Rüschen, Pink und Glitzer trugen, Sandalen anhatten und heruntergerollte Söckchen. Nicht so dieses Mädchen. Sie hatte eine wilde Lockenmähne, die zottelig in alle Richtungen von ihrem Kopf abstand, als hätte sie in eine Steckdose gefasst. Als Marco näher kam, stemmte die Göre ihre Hände in die Hüften, grinste ihn an und sagte: »Hey! Haben dir die Mandelkekse meiner Mama geschmeckt?« Dabei entblößte sie eine freche Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen.
Marco klappte der Kinnladen herunter, und bevor er etwas entgegnen konnte, erläuterte Pippo: »Das ist Lisabetta Amato von nebenan.«
»Das Eichhörnchen!«, entfuhr es Marco, und in dem Moment spuckte ihm Lisabetta einen Kirschkern mitten an die Stirn.
Vor Schreck ließ Marco die Flasche mit dem Limoncello fallen, die auf dem Asphalt in tausend kleine Scherben zerplatzte. Zäh ergoss sich die hellgelbe Flüssigkeit auf dem glühenden Straßenbelag.
Marco wurde heiß vor Wut, er starrte dieses schreckliche Mädchen an und wusste: Er würde sie immer hassen!
Die Farbe spritzte ihm mitten ins Gesicht. Marco erstarrte, wischte sich mit der Hand übers Gesicht und erkannte, dass er eine volle Ladung abbekommen haben musste. Helltürkis. Na, vielen Dank auch.
Er drehte sich zu Lisabetta, die ihn breit anlächelte. Sie warf ihren Kopf in den Nacken und lachte aus vollem Hals. Marco schüttelte seine Farbrolle in ihre Richtung, sodass sich die grünen Spritzer nun gleichmäßig über ihre Latzhose verteilten.
»Hey! Leg dich nicht mit mir an, caro!« Lisabetta musste sich sehr bemühen, ihr Lachen zu unterdrücken und sich den Anschein zu geben, böse zu gucken. Sie runzelte ihre schöne Stirn, zog die Brauen zusammen und drohte Marco mit ihrem Farbpinsel. »Das ist dir noch nie gut bekommen.«
Dann fuchtelte sie so sehr mit ihrem Pinsel, dass die Farbe überallhin spritzte – an die türkisfarbene Wand, Marcos Hose und ihre Haare. Auf den Boden der kleinen Küche sowieso, aber den hatten sie bereits wohlweislich mit Zeitungspapier ausgelegt. Die Spritzer an der Wand waren auch nicht dramatisch, schließlich hatte Marco diese gerade in derselben Farbe gestrichen. Lisabetta sollte mit ihrem Pinsel die Ecken und Ränder sorgfältig ausmalen, aber sie machte schon den ganzen Tag über Quatsch und tat alles, um sie beide von der Arbeit abzuhalten.
Marco stieg von der kleinen Leiter herab und zog Lisabetta an sich. Er gab ihr einen Kuss auf die vollen Lippen und strich ihr die Wuschelhaare aus dem Gesicht.
»Ti amo.«
Die große Liebe seines Lebens lächelte, entblößte dabei die herrliche Zahnlücke und schlang beide Arme um seinen Körper.
»Ich dich auch. Komm, lass uns für heute aufhören. Wir gehen einen caffè trinken, ja?«
»Kommt nicht infrage. Wir sind gleich fertig mit der Küche. Nur noch die Wand über dem Herd. Das schaffen wir.«
Lisabetta stöhnte übertrieben. »Marco, mir tun schon die Handgelenke weh. Und in den Armen habe ich Muskelkater.«
»Du musst mehr Sport machen.«
»Pah! Sport! Spinnst du? Willst du etwa, dass aus diesen schönen Rundungen Ecken und Kanten werden?«
Lasziv strich sie sich über ihre breiten Hüften, und Marco musste lachen. Sie sah in ihren viel zu großen Jeans-Latzhosen, die über und über mit Farbe bespritzt waren, sowie den alten Badelatschen aus Plastik nicht gerade aus wie eine Verführerin, aber ihr Augenaufschlag und der Schmollmund, den sie jetzt zog, ließen sie immer sexy aussehen, ganz gleich, was sie anhatte.
»Also gut. Wir machen eine kleine Pause. Ein Espresso in der Bar, danach machen wir aber die Küche fertig. Du willst doch endlich mal einziehen – oder etwa nicht?«
»Ja, schon.« Lisabetta schälte sich erleichtert aus der weiten Latzhose. Darunter trug sie Jeans-Shorts und ein buntes Ringel-T-Shirt. Die Badelatschen ließ sie an. Sie sah großartig aus. »Aber renovieren macht mir keinen Spaß.«
»Ich verstehe nicht, warum du deine Söhne nicht einspannst. Die können auch mal was tun. Du verwöhnst sie zu sehr.«
»Das sagt der Richtige!« Lisabetta zog Marco am Ohr. »Verwöhne ich dich etwa nicht? Und deinen Papà noch dazu.«
Das allerdings stimmte. Vor knapp zwei Monaten hatte Lisabetta ihren Mann Remo verlassen und war wieder mit Marco, ihrer Liebe aus Kindertagen, zusammengekommen[1]. Die ersten Sommerwochen hatte Lisabetta noch auf der Undine gewohnt, dem ehemaligen Fischerboot ihres Vaters Nino, das ihr Vater und die Brüder für sie zum Hausboot umfunktioniert hatten. Aber vor zwei Wochen, als die Nächte frischer wurden, war Lisabetta zu Marco und seinem Vater Raffaele Pantanella in das Haus auf der Zitronenfarm eingezogen. Nur vorübergehend, das betonte sie mehrmals täglich, nur bis ihre kleine Wohnung im Zentrum von Amalfi endlich bezugsfertig war.
Lisabetta, zweifache Mutter von erwachsenen Söhnen, wollte endlich einmal unabhängig sein, mit Ende dreißig ihre erste eigene Wohnung beziehen und Geld verdienen. In den vergangenen Jahren war sie Hausfrau und Mutter gewesen.
Marco respektierte das. Aus eigener leidvoller Erfahrung wusste er, wie wichtig es für ihre noch so junge Beziehung war, dass Lisabetta sich jetzt nicht von einer Abhängigkeit nahtlos in die nächste begab. Aber tief in seinem Herzen wünschte er sich nichts sehnlicher, als Tag und Nacht mit ihr zusammen zu sein. Außerdem war es schön, dass wieder eine Frau in seinem Elternhaus wirbelte. Auch seinem Vater tat Lisabettas Anwesenheit gut, sie war ein wahrer Jungbrunnen für ihn. Raffaele Pantanella lebte seit zweiundzwanzig Jahren allein in dem Haus und betrieb den Zitronenhain – so lange war es her, dass Marcos Mutter Magdalena gestorben war. Marco fand, dass sein Papà durch das Alleinleben ziemlich verschroben geworden war, und es kam häufiger vor, dass die beiden, Vater und Sohn, aneinandergerieten.
Auch Marco war erst vor wenigen Wochen nach Amalfi gezogen. Allerdings verbrachte er einen Teil seiner Zeit in München, dort, wo auch seine von ihm getrennte Frau und die Kinder lebten. Jede zweite Woche pendelte er für eine Woche von Süditalien nach Bayern, auch um mit Geli den gemeinsamen Haushalt aufzulösen. Die Ferien sollten Sabrina und Luis, ihre Kinder, mal mit Mama, mal mit Papa verbringen.
»Hm«, sagte Lisabetta, als sie im Treppenhaus standen und die Tür der kleinen Wohnung hinter sich zuzogen, »wir könnten natürlich auch zu Franco gehen und eine Pizza essen. Diese Renoviererei macht hungrig.«
»O nein! Ich weiß, wie das endet. Wenn wir eine Pizza essen, dann wollen wir auch ein Glas Wein dazu trinken. Wenn wir eines getrunken haben, dann ist es so nett, und dann setzt sich Franco zu uns an den Tisch, und dann gießt er uns ein zweites Glas ein – und auf einmal ist es später Abend, und das Einzige, was wir dann noch zustande bringen, ist, schlafen zu gehen.«
»Was ist daran so verkehrt?«
Sie traten jetzt vom dunklen Treppenflur ins gleißende Sonnenlicht. Es war bereits Anfang Oktober, eigentlich Herbst, aber die Sonne gab ihr Bestes, und die Tage waren fast sommerlich warm. Lisabetta schob ihre Hand in die Marcos.
»Nichts! Nichts ist daran verkehrt. Es ist wunderschön«, gestand Marco lächelnd ein, während sie nun die schmale Gasse hinunterschlenderten. »Aber ich habe Angst, dass du es eines Tages nicht mehr bei mir und Papà aushältst, wenn du noch länger bei uns wohnen musst, weil deine Wohnung noch nicht fertig ist.«
»Du willst mich loswerden?« Lisabetta grinste, während sie das sagte; sie wusste genau, dass dem nicht so war.
»Ich möchte, dass wir dir die Wohnung schön machen, bevor es kalt wird. Und dann werde ich mich bei dir einnisten und es genießen, dass nicht ständig mein Papà um uns herum ist.«
Lisabetta lachte wieder. »Pfui, Marco! So redet man nicht über seinen Vater!«
Tatsächlich war es ziemlich gewöhnungsbedürftig für Marco, mit 39 wieder in seinem Elternhaus zu wohnen. Er kam sich vor wie ein Teenager. Wenn er Musik hörte, durfte er sie nicht zu laut stellen, sonst störte es Raffaele. Nahm er sich etwas zu essen aus dem Kühlschrank, konnte er sicher sein, dass sich sein Vater irgendwann darüber beschwerte, weil er selbst genau darauf Appetit gehabt habe. War Marco dran mit Einkaufen, dann kaufte er natürlich nie das Richtige. Zum Glück mussten sie sich nicht übers Putzen streiten, denn das besorgte Serafina für sie, die Nachbarin.
Aber im Moment hatte Marco keine andere Wahl, als im Haus der Eltern zu leben. Durch die bevorstehende Scheidung würde er finanzielle Einbußen haben, schließlich zahlte er Unterhalt an Geli und die Kinder. Außerdem hatte er seinen Job als Anwalt in der renommierten Kanzlei Renke, Heinzmann & Cie hingeschmissen, um mit seinem Papà zusammen die Zitronenfarm zu betreiben – die er irgendwann einmal alleine führen sollte. Die warf nicht gerade üppiges Geld ab, im Vergleich zu seiner Tätigkeit als Immobilienanwalt. Zwar reichte es, um in Amalfi zu leben – er musste ja auch keine Miete zahlen –, aber die finanzielle Unterstützung seiner Familie in München konnte Marco damit nicht leisten. Außerdem musste dringend in die Zitronenfarm investiert werden. Marco hatte Pläne, und das nicht zu knapp. All das musste er aus dem Ersparten und der Abfindung aus der Kanzlei bezahlen. Wenn er diese bloß endlich bekommen würde …
Lisabetta neben ihm blieb abrupt stehen. Sie ließ Marcos Hand los, um in zwei großen Körben zu wühlen, die vor einer Boutique standen. In den Körben waren verschiedene Stoffe, Tischdecken, Servietten, Geschirrhandtücher. Alles aus Leinen, sehr stylish, wie Marco fand, die Sachen hätte man auch in einer Schwabinger Boutique kaufen können. Aber Lisabetta schüttelte nur den Kopf, nachdem sie in den Sachen herumgesucht hatte.
»Viel zu teuer«, lautete ihr vernichtendes Urteil. »Touristenkram.«
Marco zuckte mit den Schultern. »Aber hübsch. Würde in deine Wohnung passen.«
»Das ist das gleiche Zeug, das du auf dem Markt für ein Zehntel des Preises kaufen kannst. Schlechte Qualität. Und von wegen Leinen. Da ist überall Kunstfaser drin. Das merkst du beim Bügeln sofort.«
Marco beugte sich ihrem Urteil. Von Stoffen und Deko-Krempel hatte er keinen Schimmer, dafür war Geli zuständig gewesen. Aber Lisabetta wird es schon wissen, dachte er, schließlich hat sie ständig mit gerissenen Händlern zu tun.
Seit der Trennung von ihrem Gatten Remo jobbte Lisabetta zwei Mal in der Woche auf dem Markt. Einmal in Amalfi, einmal in Positano. Sie half einer Freundin, die einen Stand mit frischer Pasta und anderen Delikatessen betrieb, aber wenn einer der Händler und Händlerinnen Not am Mann hatte, sprang sie auch ein. Sie kannte mittlerweile alle Verkaufstricks und musste jedes Mal lachen, wenn Marco sie dort besuchte und ihr voller Stolz zeigte, was er günstig eingekauft hatte.
»Der hat dich übers Ohr gehauen!«, urteilte sie oft, viel zu oft. Allerdings wusste sie auch um die Geheimtipps – bei wem gab es die besten San-Marzano-Tomaten? Wer hatte echtes kalt gepresstes Olivenöl und nicht gepanschtes zu einem guten Preis? Der beste Fischstand, Ledergürtel mit Qualität, heimische Oliven – Lisabetta kannte alle Geheimnisse des Marktes.
Marco steuerte jetzt die kleine Bar an, in der sie sich einen caffè genehmigen wollten. In dem Moment klingelte sein Handy in der Hosentasche. Geli. Marco seufzte. Wenn Geli anrief, dann selten mit guten Nachrichten.
»Marco, sag mal, kannst du einen Tag früher kommen?«, fiel sie auch umgehend mit der Tür ins Haus.
»Spinnst du? Das ist ja schon morgen!«
»Sorry, ich weiß, das ist jetzt blöd, aber ich habe einen Vorstellungstermin in Frankfurt.«
Jetzt erst bemerkte Marco, dass die Stimme seiner zukünftigen Ex-Frau nicht frustriert oder genervt klang wie meistens, wenn sie ihn um einen Gefallen bat, sondern gut gelaunt und aufgeräumt.
»Moment mal – Frankfurt?«
Sofort begann Marcos Herz schneller zu schlagen – Geli wäre bereit, mit den Kindern nach Frankfurt zu ziehen? Das war ja noch weiter von Amalfi entfernt als München, dann konnte er nicht mehr einfach mit dem Nachtzug übers Wochenende …
»Mach dir keine Sorgen«, unterbrach Geli sein Gedankenkarussell, als wüsste sie genau, was in ihm vorging. »Das Gespräch ist in Frankfurt, aber die Kanzlei hat einen Ableger in München. Ich zieh nicht weg.«
Geräuschvoll atmete Marco aus. »Ich dachte schon …«
Lisabetta beobachtete ihn während des Gesprächs genau. Sie kannte die Stimmung, die ihren Freund überfiel, wenn seine Ex unerwartet anrief.
»Aber für den einen Tag brauchen die Kinder doch keinen Babysitter?!«, versuchte er die vorzeitige Abreise abzuwenden. Er hatte bereits alles für die Bahnreise in der Nacht von Donnerstag auf Freitag gebucht, eine Stornierung kostete, und ob er noch einmal einen Platz im Liegewagen bekäme, war mehr als fraglich.
»Luis hat Magen-Darm. Und Sabrina Deutsch-Klausur. Es muss jemand bei ihm zu Hause bleiben.«
Das war ein Argument. Marco stöhnte. Es wäre nicht fair, Geli jetzt damit alleine zu lassen. Das hatte er lange genug getan, und letztendlich war ihre Ehe auch daran zerbrochen. Und er hatte nicht sein ganzes Leben umgekrempelt – den Job als erfolgreicher Immobilienanwalt hingeschmissen, um die Zitronenfarm seiner Vorväter zu übernehmen –, um die gleichen Fehler wieder und wieder zu begehen.
In den letzten Wochen hatte er an sich eine Veränderung wahrgenommen, die er nie für möglich gehalten hätte. Sein Herzrasen, der Tinnitus, der Reizmagen – all die Vorboten eines handfesten Burn-outs waren so gut wie verschwunden. Er schlief wie ein Bär, aß gesund, arbeitete den ganzen Tag über an der frischen Luft, und wenn es doch mal ein Problem gab, hielt er sich an die Maxime seines Vaters: Es ist, wie es ist, und es kommt, wie es kommt. Außerdem war er nach dreißig Jahren emotionaler Irrfahrt endlich mit der Liebe seines Lebens zusammen: Lisabetta. Besser konnte es ihm nicht gehen, also bemühte er sich nach Kräften, Geli entgegenzukommen und für Luis und Sabrina endlich ein besserer Vater zu sein – trotz der Entfernung.
»Okay, ich komme. Ich werde das schon hinkriegen.« Damit legte er auf.
Ein Blick zu Lisabetta, und die ahnte, was los war. Sie zog ihn am Hemdsärmel. »Wir gehen zu Franco, Pizza und Wein. Ich hab das Gefühl, das brauchst du jetzt.«
Marco nickte. »Andiamo[2].«
Es kam, wie Marco es prophezeit hatte. Zur Pizza ein Glas Wein, dann ein zweites mit dem Wirt, der sich immer gerne auf ein Schwätzchen zu seinen Freunden und Stammgästen gesellte. Allerdings beharrte Marco ständig darauf, dass er die Küche aber noch fertig streichen würde. Heute! Gleich nach dem Essen! Lisabetta sah ihn mit einer Mischung aus Mitleid und Verliebtheit an, und auf ihrer Stirn standen deutlich die Worte: »Träum weiter, du süßer Trottel«.
Noch während sie mit Franco hin und her plänkelten, vernahmen sie das vertraute Geräusch von Pippos Ape. Das war der dreirädrige Eiswagen, mit dem Marcos ältester und bester Freund die Amalfitana rauf- und runterdüste, um sein großartiges hausgemachtes Eis zu verkaufen.
Zuerst kam das Knattern, dann der Gestank der Auspuffwolke, und zu guter Letzt bog Pippos grünes Gefährt auf die kleine Piazza ein. Hier war Autoverkehr verboten, aber Pippo hatte für den Eiswagen eine Ausnahmegenehmigung.
Marco sprang auf und winkte, Pippo fuhr direkt auf ihn zu und bremste wenige Zentimeter vor den Füßen seines Freundes. Dann wuchtete er sich von seinem Sitz, umarmte Marco, gab Lisabetta die obligatorischen Wangenküsschen und nahm an ihrem Tisch Platz.
Franco war bereits unterwegs, um ein weiteres Glas zu holen.
»Na, wie geht es bei euch voran?«, erkundigte sich Pippo.
»Pfff …«, machte Marco.
»Super!«, rief Lisabetta.
Pippo lachte, sodass sein ausladender Leib bebte. »Ich warte ja schon seit Wochen auf die Einweihungsparty, also richtig schnell seid ihr nicht.«
»Im Moment streichen wir die Küche. Und nicht einmal die schaffen wir in einem Tag.« Vorwurfsvoll guckte Marco zu Lisabetta, aber die spielte den Ball umgehend zurück.
»Du bist schließlich nicht immer da. Tagsüber musst du arbeiten, und ich bin alleine nicht motiviert. Morgen fährst du wieder nach München …«
Eigentlich war jetzt wieder der Zeitpunkt gekommen, an dem Marco erneut die Mithilfe von Lisabettas Söhnen anmahnen sollte, aber dann wäre die Stimmung sofort im Keller. Also zuckte er lediglich mit den Schultern.
Pippo sprang gleich in die Bresche. »Ich helfe dir ein bisschen, Lisa. Ich habe morgen Abend Zeit. Und übermorgen. Und – Moment mal – auch überübermorgen.« Dann sprang er auf. »Ich habe heute etwas für dich gefunden!«
Pippo ging noch einmal zu seinem Eiswagen und zog schließlich ein Emaille-Schild hervor. Es stammte original aus den 20er- oder 30er-Jahren, schätzte Marco. Es warb für Amaro, den italienischen Kräuterlikör, und darauf war eine muntere Krankenschwester abgebildet, die dem Betrachter ein Gläschen anbot. Die Ecken waren schon etwas angeschlagen, das Emaille hatte Patina, aber das Schild war wunderschön. Lisabettas Augen leuchteten.
»Pippo! Das ist wunderschön! Wo hast du das her?«
Pippo strahlte. »Aus Pontone. Es hing in einer Bar, aber das Haus soll abgerissen werden, also verkauft der Besitzer seine Einrichtung.«
»Ich kann das nicht annehmen.« Lisabetta streckte dem Freund das Schild hin.
»O doch.« Pippo hielt beide Hände nach oben und weigerte sich, das Geschenk wieder zurückzunehmen. »Wenn es dich beruhigt: Ich habe nichts dafür bezahlt. Ich habe ihm einen Gefallen getan und er mir. Du weißt, wie das ist.«
Pippo setzte sich und prostete seinen Freunden und Franco zu, der ihm gerade Wein eingegossen hatte. »Themawechsel. Wie geht es zu Hause? Was machen die Kinder?«, wandte er sich an Marco.
»Luis hat einen Magen-Darm-Infekt, und Geli muss zu einem Vorstellungsgespräch nach Frankfurt. Deshalb muss ich schon morgen Abend fahren. Ich muss sehen, dass ich noch umbuchen kann.«
Pippo verzog schmerzlich das Gesicht. »Das tut mir leid. Sag dem Kleinen gute Besserung. Kann ich irgendetwas für dich tun?«
»Mich mit deinem Dreirad nach Bologna bringen.« Marco lachte und klopfte Pippo auf die Schulter.
»Du könntest mit mir zu Ikea fahren«, fiel es Lisabetta ein. »Ich brauche noch ein paar Sachen für die Küche. Oberschränke und so. Das alte Zeug haben wir rausgeschmissen.«
»Ikea?!« Pippo tat so, als würde er gleich vom Stuhl kippen vor Entsetzen. »Doch nicht Ikea! Wenn du etwas für die Küche brauchst, dann bau ich es dir. Lass uns lieber zum Holzhandel fahren.«
»Pippo, spinnst du? Du kannst mir doch keine Küche bauen …«
Der Freund fiel ihr ins Wort. »Ich habe mein Haus selbst gebaut, Lisa.«
Lisabetta schüttelte einfach nur ihre wilden Locken.
»Ich komme morgen mal vorbei und gucke mir die Küche an«, beharrte Pippo.
Marco beobachtete das Geplänkel der beiden mit Freude. Seit dreißig Jahren kannten sie einander alle. Er konnte noch heute das Gefühl abrufen, das er gehabt hatte, als er die beiden zum ersten Mal miteinander gesehen hatte. An dieser Haarnadelkurve in der heißen Mittagshitze. Wie sie das Hüpfespiel gespielt hatten. Oh, wie hatte er Lisabetta gehasst! Wenn er jetzt daran zurückdachte, musste er schmunzeln. Seine glühende Wut auf dieses Mädchen, das immer schon anders gewesen war als alle anderen, war vermutlich schon damals Liebe auf den ersten Blick gewesen. Nur dass er als Siebenjähriger nicht in der Lage gewesen war, das zu erkennen. Pippo und Lisabetta. Nach seinen Kindern die beiden wichtigsten Menschen in seinem Leben.
Sie saßen noch ein gutes Stündchen auf der Piazza und unterhielten sich, bevor Pippo aufbrach, weil er sich um die Ziegen kümmern musste. Als er mit einem Knattern davonfuhr, brachen auch Marco und Lisabetta auf. Sie waren zu Fuß und genossen den Weg durch das abendliche Amalfi. Je höher sie in der Altstadt stiegen, desto schöner war der Blick auf die Bucht und die untergehende Sonne, die ihre rotgoldenen Finger sanft über das Meer streichen ließ.
»Er hat zu viel Zeit«, sagte Lisabetta plötzlich unvermittelt, als sie am Fuß der Treppe, die zum Haus der Pantanellas führte, angekommen waren.
»Wer? Pippo?«
»Ja. Er hilft allen und jedem. Bei euch arbeitet er im Zitronenhain mit, er berät dich, er kümmert sich um Raffaeles Ziegen, er macht Feuerholz für Serafina und Giuseppe, er will mir eine Küche bauen, und ich weiß nicht, was sonst. Das ist nicht gut.«
»Wieso ist das nicht gut? Er ist hilfsbereit. Das war Pippo schon immer und auch sein Papà.«
»Er braucht eine Frau.« Lisabetta klang sehr entschieden, als sie das sagte.
»Also, ich weiß nicht …« Marco war sich nicht sicher. »Er ist doch glücklich. Er hat ein tolles Leben. Pippo ist immer ausgeglichen und hat beste Laune.«
»Pah! Du weißt nichts! Er wäre bestimmt noch ausgeglichener, wenn er eine eigene Familie hätte. Pippo wäre toll für eine Frau. Und für Kinder erst, mamma mia!«
»Vielleicht sollte er erst mal ein bisschen abnehmen.«
Den Kommentar hätte sich Marco lieber sparen sollen. Lisabetta, die vor ihm die steinernen Treppen erklomm, fuhr herum und funkelte ihn wütend an. »Hast du sie nicht mehr alle? Wieso sagst du so einen Blödsinn!«
»Aber Pippo ist doch wirklich ein bisschen …«
»Nein! Pippo ist Pippo, so wie er ist. Und glaub bloß nicht, nur Waschbrettbäuche wären sexy! Pippo ist dick, aber er ist ein Dicker mit Herz und Charakter. Er hat ein tolles Gesicht. Und diese Hände! Es liegt bestimmt nicht an seiner Figur, dass er keine Frau hat.«
Marco schwieg betreten. Zwar gab er Lisabetta recht, aber er glaubte nicht daran, dass Äußerlichkeiten bei der Partnersuche eine untergeordnete Rolle spielten. Er für seinen Teil war durchaus empfänglich für attraktive Frauen. Allerdings für Frauen, die keine Hungerhaken waren, sondern wunderbare Rundungen hatten. So wie seine große Liebe, die nun grollend vor ihm die Treppe hinaufstapfte.
»Er braucht eine Frau, und ich werde ihm eine suchen!«, rief Lisabetta. »Basta!«
Keine Widerrede also. Marco würde sich da ohnehin nicht einmischen wollen. Er hielt es für eine ziemliche Schnapsidee, also schwieg er, bis sie das Haus erreicht hatten.
In der Küche war es hell, vermutlich würde Raffaele gerade zu Abend essen, es war schließlich noch nicht spät in der Nacht. Lisabetta steuerte zielstrebig dem warmen Licht entgegen, blieb dann aber in der Türschwelle zur Küche stehen mit einem Blick, den Marco an ihr noch nicht gesehen hatte. Neugierig trat er neben sie.
Am Küchentisch saßen sein Papà Raffaele und eine spindeldürre Rothaarige. Sie sah verweint aus, ihre Wimperntusche war verschmiert und die Augen gerötet. In den Händen knetete sie ein Taschentuch, vor ihr standen ein Glas Wein und ein Teller mit Antipasti. Beides hatte sie nicht angerührt.
Raffaele blickte Marco und Lisabetta an und zuckte hilflos mit den Schultern.
Die Rothaarige stieß einen Seufzer aus, als sie Marco sah, und sagte: »Ich brauche deine Hilfe, Marco. Ganz dringend.«
Auch das noch, schoss es Marco durch den Kopf. Jetzt verfolgte ihn seine Vergangenheit sogar bis Amalfi.
Die Frau in der Küche war ihr auf Anhieb unsympathisch. Alles an ihr schrie Hysterie und Egozentrik. Rotes geglättetes Haar, das wie gebügelte Seidenfransen ein schmales weißes Gesicht umrahmte. Die langen Fingernägel, die sicherlich jede Woche in einem Nagelstudio in Form gebracht wurden. Der mager gehungerte Körper, die viel zu hohen Pumps, das edle Kostüm – die Frau, die dort am Küchentisch der Pantanellas saß, war in allem das komplette Gegenstück zu ihr, Lisabetta.
Aber wer war sie? Lisabetta warf einen Blick auf Marco, der aussah, als würde er am liebsten in einem Mäuseloch verschwinden. Das Auftauchen der Rothaarigen war ihm offenkundig unangenehm. Seine Ex-Frau Geli konnte es nicht sein. Von ihr hatte Lisabetta Fotos gesehen. Sie war nicht so eine exaltierte Businesswoman wie die weinende Frau hier in der Küche, das hätte auch nicht zu Marco gepasst. Aber wer war die Fremde dann? Marcos Geliebte?
»Ich verstehe kein Wort von dem, was sie sagt«, erklärte Raffaele nun auf Italienisch. »Sie kam vor einer Stunde hier an und sitzt seitdem weinend in der Küche. Sie isst nicht und trinkt nur Wasser.«