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»Private Pflegerin für schwerkranken Unternehmer nach Südfrankreich gesucht. Sprachkenntnisse von Vorteil, aber nicht Bedingung.« Als die Krankenschwester Marita diese Annonce in der Zeitung liest, ahnt sie noch nicht, dass sich ihr Leben von Grund auf ändern wird. Schon lange hadert sie mit sich und den eingefahrenen Gleisen ihrer Existenz. Doch erst ihre achtzehnjährige Tochter bewegt Marita dazu, auf die Anzeige zu antworten. So landet sie auf dem von Blütenduft und Sonnenglut durchtränkten Gut der Lafleurs in der Nähe der Parfümstadt Grasse. Hier blühen die Rosen und der Jasmin, die die Grundlage für wunderbare Düfte und den Reichtum der Lafleurs bilden. Der schwerkranke Unternehmer entpuppt sich als schwieriger Patient, und Lucien, sein Sohn, ist offenbar auch nicht viel besser. Marita könnte verzweifeln, wären da nicht die herzensgute Haushälterin Segolène und der charmante Filou François, der Marita die zauberhafte Côte d'Azur von ihrer schönsten Seite zeigt …
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Seitenzahl: 354
Marie Matisek
Sonnensegeln
Roman
Knaur e-books
»Private Pflegerin für schwerkranken Unternehmer nach Südfrankreich gesucht. Sprachkenntnisse von Vorteil, aber nicht Bedingung.«
Als die Krankenschwester Marita diese Annonce in der Zeitung liest, ahnt sie noch nicht, dass sich ihr Leben von Grund auf ändern wird. Schon lange hadert sie mit sich und den eingefahrenen Gleisen ihrer Existenz. Doch erst ihre achtzehnjährige Tochter bewegt Marita dazu, auf die Anzeige zu antworten. So landet sie auf dem von Blütenduft und Sonnenglut durchtränkten Gut der Lafleurs in der Nähe der Parfümstadt Grasse. Hier blühen die Rosen und der Jasmin, die die Grundlage für wunderbare Düfte und den Reichtum der Lafleurs bilden. Der schwerkranke Unternehmer entpuppt sich als schwieriger Patient, und Lucien, sein Sohn, ist offenbar auch nicht viel besser. Marita könnte verzweifeln, wären da nicht die herzensgute Haushälterin Segolène und der charmante Filou François, der Marita die zauberhafte Côte d’Azur von ihrer schönsten Seite zeigt …
»Dieser schmale provenzalische Weg … wand sich durch zwei von der Sonne durchglühte Mauern, über deren Rand die großen Blätter der Feigenbäume, buschige Clematisranken und hundertjährige Oliven sich zu uns herunterneigten. …
Ich hörte die Zikaden singen und auf der im Licht honiggelben Mauer entdeckte ich Tiere, die wie in Stein gehauen dort lagen und mit offenem Mund die Sonne tranken.«
Marcel Pagnol
© 1964 by LangenMüller in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
aus dem Französischen von Pamela Wedekind
Dann lass mal die Hosen runter«, forderte Marita Hans-Peter auf, der erwartungsgemäß kicherte.
»Nicht nötig«, sagte er und lupfte keck sein Nachthemd. Joseph, der neben ihm auf dem Bett saß, stieß ihn mit dem spitzen Ellbogen in die Seite. »Nu zeig ihr, wo der Hammer hängt.«
»Lass du man selbst die Hosen runter«, giggelte daraufhin Hans-Peter und blätterte stolz einen Flush auf den Nachttisch.
Marita riss die Augen auf und tat erstaunt. »Du alter Hund!« Dann legte sie ihre schwache Straße daneben. »Zum Glück spielen wir kein Strip-Poker.«
Die beiden Alten, die nebeneinander auf dem Bett saßen, sahen sie treuherzig an. »An uns soll’s nicht liegen«, meinte Hans-Peter und streckte dann fordernd eine Hand aus. »Rück mal rüber mit dem Gewinn.«
Marita holte seufzend ihre Packung Zigaretten aus dem Kittel und gab eine daraus dem alten Mann. Dieser zog die kleine weiße Rolle langsam unter seiner Nase vorbei und atmete genüsslich den Geruch ein, bevor er die Kippe in der Brusttasche seines Nachthemds versteckte. Dann hielt er sich am Infusionsgestell fest und stemmte sich mühsam vom Bett hoch. Mit sehr kleinen Tippelschritten schlurfte er zur Tür. Das Gestell mit den Beuteln und Schläuchen schob er neben sich her. Bevor er das Zimmer verließ, drehte er sich zu Marita um und schickte ihr einen Luftkuss. »Danke, meine Schöne! Wenn ich dich nicht hätte …« Dann fiel die Tür hinter ihm zu.
Hans-Peter musste einst ein stattlicher Mann gewesen sein. Er war knapp zwei Meter groß, aber heute, mit vierundneunzig Jahren, wirkte er nur noch wie ein klapperdürres Riesengespenst. Die wenigen grauen Haare waren vom vielen Liegen am Hinterkopf zerzaust, die welke Haut von dunklen Altersflecken gesprenkelt.
Marita sammelte die Karten ein und legte das Päckchen in Hans-Peters Nachttisch zurück. Dann scheuchte sie Joseph in sein Bett – nicht ohne vorher das Kissen aufgeschüttelt zu haben. Sie musste Joseph helfen, sich hinzulegen, seine Gliedmaßen waren steif und verkrümmt. Liebevoll deckte Marita den alten Mann zu und streichelte sanft über seine Stirn.
»Und jetzt mach mal ein bisschen die Augen zu.« Sie lächelte ihn an. Joseph lächelte zurück und schloss gehorsam die faltigen Lider. »Aber nicht für immer«, murmelte er und war sofort eingeschlafen. Marita überprüfte noch die Schläuche und den Infusionsapparat, die Zufuhr von Schmerzmittel und Kochsalzlösung, dann verließ sie das Zimmer der beiden Männer.
Draußen auf dem Gang lief sie ausgerechnet Martin Joosten in die Arme. Der schien bereits auf sie gewartet zu haben und nahm sie wie eine bösartige Hornisse ins Visier.
»Frau Schade!«
Marita, die sich bei seinem Anblick rasch auf dem Absatz umgedreht hatte, zuckte zusammen. Mit gezwungener Freundlichkeit wandte sie sich dem neuen Klinikmanager wieder zu. Martin Joosten war gerade mal fünf Monate im Amt und hatte bereits alles umgekrempelt. Er war von der Klinikleitung dazu auserkoren, eine »Kostenoptimierung« zu prüfen, was nichts anderes hieß, als überall Kürzungen durchzuführen. Er prüfte den Verbrauch jedes Blattes Klopapier eigenhändig und war beim Personal der Klinik alles andere als beliebt.
»Ihre Verweildauer in diesem Zimmer hat exakt vierzehn Minuten betragen«, hielt er Marita nun vor und tippte auf ein Klemmbrett.
Und das war eine schnelle Partie Poker, dachte Marita bei sich. Laut aber sagte sie: »Die beiden Patienten sind schwer erkrankt, wie Sie wissen. Sie benötigen besondere Pflege und Aufmerksamkeit.« Den pampigen Tonfall konnte sie nicht unterdrücken, und das entging auch Joosten nicht.
»Sie sind Krankenschwester und keine Altenpflegerin«, korrigierte er. »Besondere Pflege heißt in dem Fall wohl auch, dass Sie Herrn Schuster in seiner Nikotinsucht unterstützen?«
Herr Schuster, das war Hans-Peter, und Marita hoffte inständig, dass dieser jetzt draußen auf dem Patientenbalkon stand und genüsslich an seiner Zigarette zog.
»Er hat unheilbar Krebs und laut Dr. Samland nur noch wenige Wochen, wenn nicht Tage zu leben. Ich bin die Letzte, die einem Mann wie ihm die kleinen Freuden nimmt. Viele hat er ohnehin nicht mehr.« Ihr Ton war jetzt nicht länger pampig, er war scharf.
Joosten sah sie drohend an. »Ob seine Familie das ebenso sieht?«
»Er hat keine.« Marita hielt Joostens Blick stand.
Einige Sekunden vergingen, dann wandte der Klinikmanager den Blick ab, notierte etwas auf seinem Klemmbrett und wiegte bedenklich den Kopf. »Ich werde das zu Protokoll nehmen und der Klinikleitung vortragen. Ich denke, Disziplinarmaßnahmen werden nicht ausbleiben.«
Marita starrte Joosten an und spürte, wie die Galle in ihr hochstieg. Sie war siebenundvierzig. Seit siebenundzwanzig Jahren war sie Krankenschwester, davon die meiste Zeit hier in Husum. Bei Kollegen wie Patienten und Angehörigen war sie gleichermaßen beliebt. Marita machte ihren Job mit Herzblut, sie ging darin auf, sie kümmerte sich gerne um Menschen, die Hilfe brauchten, und vermutlich hätte sie diesen Beruf noch einmal ergriffen, wenn sie erneut die Wahl gehabt hätte. Aber in den letzten Jahren war es immer schwieriger geworden, sich den Patienten zu widmen. Ständig neue Vorschriften, immer mehr Büroarbeit, jeder minimale Handgriff musste notiert und bewertet werden, sie und ihre Kollegen verbrachten bald mehr Zeit mit dem Papierkram als mit der Pflege – sie war davon oftmals einfach genervt. Und dass diese halbe Portion sie schwach anredete, ihr sogar drohte, das war heute zu viel des Guten.
»Sie können mich mal«, hörte Marita sich selbst sagen. Dann drehte sie sich um, ging forsch den Gang hinunter zum Schwesternzimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Ihre Schicht war ohnehin bereits seit einer Dreiviertelstunde zu Ende, und Marita wusste genau, dass sie diese Überstunden weder abfeiern konnte noch bezahlt bekam.
Sie wusch und desinfizierte ihre Hände, nickte dem Pfleger zu, der sie verwundert anstarrte und ihr dann wortlos einen Kaffee hinhielt. Marita lehnte dankend ab, verließ das Schwesternzimmer und rauschte über die Hintertreppe nach unten in den Hof der Klinik. Dort schwang sie sich auf ihr Hollandrad. Am liebsten hätte sie jetzt eine geraucht, ihre Hände zitterten, und die Knie waren weich, sie war nicht der Typ, der Konflikte dieser Art gut aushielt, aber heute waren die Pferde wieder mal mit ihr durchgegangen.
Es war Februar, und ein scharfer Wind pfiff durch Husum. Marita strampelte tapfer nach Hause, die Nase lief, die Kälte fraß sich sogar durch ihre dicken Handschuhe, und wenn sie Luft holte, fühlte es sich an, als frören die Nasenlöcher zu. Aber sie fuhr bei jedem Wetter mit dem Fahrrad zur Arbeit, egal ob es stürmte, regnete oder schneite. Es war so etwas wie ein Ablasshandel: Dafür, dass sie noch zur seltenen Spezies der Raucher gehörte, zahlte sie mit jedem sportlich erstrampelten Kilometer. Die Zigaretten waren ihre Achillesferse, natürlich sah sie als Krankenschwester auf der onkologischen Station täglich die Folgen des Tabakgenusses, aber wie bei den meisten ihrer Kollegen ließ sich der Arbeitsstress kaum anders kompensieren. Marita fühlte sich schlecht und schuldig, wenn sie rauchte, aber gesund und vorbildlich, wenn sie bei Wind und Wetter Fahrrad fuhr. Es war ihre Art, mit dem lieben Gott zu dealen.
Zu Hause angekommen, warf sie sich gleich aufs Bett. Sophie, ihre Tochter, war noch in der Schule. Für gewöhnlich kam sie nicht vor fünf nach Hause, sie stand kurz vor dem Abitur, und das Lernen war zum Vollzeitjob geworden. Marita, die seit vier Uhr morgens auf den Beinen war, kuschelte sich in ihr Bett, stellte sich den Wecker auf achtzehn Uhr und schloss erleichtert die Augen.
Doch trotz der Erschöpfung wollte sich kein Schlaf einstellen. Die Drohung von Joosten mit einer wie auch immer gearteten Maßnahme und ihre freche Entgegnung ließen ihr keine Ruhe. Was, wenn sie jetzt die Kündigung bekam? Marita wälzte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Undenkbar. Vom Chefarzt und der Klinikleitung bis runter zum Hausmeister gab es wohl niemanden in der Klinik – Joosten ausgenommen –, der sie loswerden wollte. Und doch … Marita wusste, dass sie sich nicht korrekt verhielt. Mit den Patienten pokern und ihnen Zigaretten zustecken war nicht gerade das, was man als Krankenschwester unter Pflichtbewusstsein verstand. Einerseits. Andererseits verlangte der Klinikalltag danach, dass man manchmal beide Augen zudrückte, sonst war der Betrieb nicht auszuhalten – sowohl als Patient als auch auf Seiten der Mitarbeiter. Marita wusste, dass es immer Ärzte gab, die sich zu den Rauchern auf dem Patientenbalkon gesellten, manchmal gerade zu jenen, denen sie wenige Minuten zuvor jegliche Genussmittel aus Gesundheitsgründen untersagt hatten.
Rausschmeißen würde sie wohl niemand. Aber eine Ermahnung war unumgänglich.
Marita drehte sich erneut um die eigene Achse und kuschelte sich tiefer in die Kissen. Sie würde den Anschiss hinnehmen müssen, wenn er denn kam. Aber es war eine Demütigung, ohne Frage. Sie war doch Krankenschwester mit Leib und Seele. Allerdings merkte sie jetzt, nach so vielen Jahren in dem Job, dass die Anstrengungen nicht spurlos an ihr vorübergingen. Sie war weniger stressresistent. Immer häufiger war sie chronisch übermüdet. Die traurigen Schicksale nahmen sie mehr mit als früher. Patienten, die es nicht geschafft hatten – und davon gab es auf der onkologischen Station mehr, als ihnen allen lieb war –, gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf.
Annette, ihre beste Freundin, mit der zusammen sie ihre Schwesternausbildung gemacht hatte, war vor sechs Jahren ausgestiegen. Hatte einen Kurs samt Prüfung zur Yogalehrerin gemacht. Seitdem gab sie Kurse bei der Volkshochschule. Mit dem, was sie dort verdiente, konnte sie keine großen Sprünge machen, aber sie war tiefenentspannt und sah plötzlich zehn Jahre jünger aus. Allerdings hatte Annette auch einen Mann, der in seinem Job fest angestellt war und gut verdiente. Der hatte die Yogalehrer-Ausbildung mal eben finanziert. Kunststück, dachte Marita neidisch und schämte sich gleichzeitig, weil sie sich nicht einfach nur für ihre Freundin freuen konnte.
Maritas Blick fiel auf die hübsche indische Kette mit bunten Stoffelefanten und goldenen Glöckchen, die Annette ihr geschenkt hatte und die nun an ihrem Fenster hing. Bilder von Indien, Thailand und Bali zogen an ihrem geistigen Auge vorbei, und Marita schlief mit dem Gedanken an Tempel, Palmen, weiße Strände und Elefanten selig ein.
Ein paar Stunden später prostete sie fröhlich einem grasgrünen Monster mit Stöpselohren zu.
»Hau weg den Scheiß!«, sagte das Monster, legte den haarlosen Kopf in den Nacken und kippte einen Klaren auf ex.
»Babsi, mach langsam«, mahnte Marita lachend, die selbst fast nie Schnaps trank und sich an einem Alster festhielt.
»Mensch, lass die Babsi«, raunzte Heidi Klum mit schwerer Zunge und schob sich die Blondhaarperücke wieder gerade auf den Kopf.
Shrek-Babsi nickte Heidi Klum dankbar zu. »Dangge, Heidi. Die Marita is ’ne Spaßbremse heute.« Damit schickte sie einen missbilligenden Blick über den kleinen Stehtisch und popelte sich hingebungsvoll in einem ihrer grünen Gummiohren.
Heidi kicherte und zupfte Shrek liebevoll an dem anderen Ohr. »Weissu was – ich hab heut ein Foto für dich, mein Schöner!« Über den Scherz, den Heidi an diesem Abend gefühlt tausend Mal schon gemacht hatte – nicht nur mit Shrek, auch mit dem Kellner, der Toilettenfrau und beinahe jedem halbwegs ansehnlichen Mann, der an ihrem Dreimädeltisch vorbeiging –, brachen Maritas Freundinnen vor Lachen beinahe zusammen. Seufzend zog sich Marita die rote Schaumgumminase ab, unter der sie höllisch schwitzte und die sie beim Trinken behinderte.
Sie standen im Glücklichen Matthias, einer gemütlichen Kneipe am Husumer Hafen, und feierten Faschingsdienstag. »Feierten« war relativ, denn während Shrek-Babsi und Heidi Klum, die im bürgerlichen Leben Annette hieß, ausgelassen herumblödelten, war Marita heute nicht in Partylaune. Eigentlich hatte sie nach dem Erlebnis mit Martin Joosten ganz absagen wollen, aber ihre Tochter Sophie hatte sie überredet. »Das bringt dich auf andere Gedanken, Mama«, meinte sie.
Es hatte noch nicht wirklich funktioniert. Schon an dem Versuch, sich zu verkleiden, war Marita gescheitert. Ein Ringelhemd und die rote Nase, das war das Höchste an Karnevalsgefühl, das Marita aufbringen konnte. Sie kam auch nicht dazu, ihren beiden besten Freundinnen von ihrem Kummer zu erzählen, denn als sie die Kneipe betraten, war diese bereits rappelvoll, und Andreas Gabalier hatte die Bude zum Kochen gebracht.
Marita ließ Babsi und Annette am Tisch weiterlachen und ging nach draußen, um eine zu rauchen.
Unter dem Heizpilz stand ein Mann und schlotterte. Er trug hochhackige Schuhe und Strapse zu seinem behaarten Bauch, der notdürftig in ein schwarzes Lackkorsett gezwängt war. Marita wandte den Blick rasch ab.
»Können wir tauschen?«, fragte der schlotternde Mann und zeigte abwechselnd auf sein Korsett und Maritas Ringelhemd. Sie lachte und schüttelte den Kopf.
»War ’ne Wette«, sagte der Mann und guckte sehr unglücklich. Er sah gar nicht so schlecht aus, fand Marita, als sie ihm nun doch ins Gesicht blickte. Anfang fünfzig, sympathische Augen. Aber ein Flirt war in dem Kostüm absolut indiskutabel.
Marita musste lachen. »Dann doch lieber um Geld wetten«, gab sie zurück. Er nickte. Die Tür der Kneipe schwang auf und spuckte außer einem Schwall verbrauchter Luft und Fetzen von »It’s raining men« auch Shrek und Heidi aus.
»Hier bist du!«, rief der grüne Oger und schob seinen massigen Bauch an Marita heran, während Heidi Klum das Hinterteil des Mannes in den Strapsen musterte und ihm »Mmmh, du kriegst nachher ein Foto von mir« in den Nacken hauchte.
»Lieber nicht«, gab dieser zurück, nickte Marita zu und verschwand wieder im Glücklichen Matthias.
»Wassn los mit dir?!«, wandte sich Heidi nun Marita zu und zog sich die blonde Perücke vom Kopf. Jetzt war sie wieder Annette, was Marita auch viel lieber war.
»Hatte heute Stress mit unserem Klinikmanager.«
»Joosten, der Arsch«, kommentierte Babsi-Shrek. Sie und Marita waren Kolleginnen und hatten sich in der Klinik kennengelernt.
»Das habe ich ihm leider auch ins Gesicht gesagt«, gestand Marita.
Annette sog scharf die Luft ein. »O je – und jetzt?«
Marita zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Morgen bin ich nicht im Dienst. Er meinte, es gibt eine Strafe oder Belehrung oder keine Ahnung was.«
»Weil du ihn beleidigt hast?«
Sowohl Babsi als auch Annette wirkten plötzlich schlagartig nüchtern.
»Nein. Das kommt noch als Sahnehäubchen obendrauf.« Nun gestand Marita ihren Freundinnen ihr Fehlverhalten: zu lange Verweildauer bei den Patienten, die Zigaretten, die sie Hans-Peter zugesteckt hatte, und noch weitere, lässliche Sünden.
»Pfff, das ist doch total normal«, winkte Babsi ab. »So was machen doch alle.«
Annette sah sie schräg von der Seite an. »Na ja, alle ist wohl übertrieben.« Und zu Marita gewandt sagte sie: »Darum habe ich den Job nicht mehr ausgehalten. Schon allein das Wort Verweildauer. Bei kranken Menschen!« Sie schüttelte sich. »Dass ihr das noch immer aushaltet?!«
Marita und der Oger warfen sich einen Blick zu. Shrek zuckte mit den fetten Schultern und nahm einen tiefen Zug von Maritas Zigarette. »Sex and drugs and Rock ’n’ Roll.«
»In solchen Situationen überlege ich mir schon, ob ich einfach alles hinschmeiße«, gestand Marita.
»Auf gar keinen Fall!« Der grüne Oger schlang seine mit Schaumstoff gepolsterten Arme um sie und drückte sie fest. »Das ist eine ganz normale Krise. Die haben andere Leute in anderen Berufen auch. In unserem Alter jedenfalls.«
Annette nickte bekräftigend. »Vielleicht kannst du ja mal ’ne Auszeit nehmen?«
»Ich glaub nicht, dass es das bei uns gibt.« Marita hatte selbst schon daran gedacht, eine Kur zu beantragen. Wegen Burn-out oder so. Andererseits fühlte sie sich nicht wirklich so, als bräuchte sie so etwas. Sie sehnte sich nur manchmal nach Veränderung. Ob da eine Kur half?
»Yoga hilft total«, meinte Annette nun und rief mit dem Kommentar tiefes Seufzen bei ihren Freundinnen hervor. Yoga war Annettes Mittel gegen alles. Frust, kein Sex, Hüftspeck – sie pries Yoga als Allround-Heilmittel. Dabei litt sie selbst noch immer unter den zwei letztgenannten Wehwehchen. Nur der Frust war weg.
»Komm, meine Schöne, wir wärmen uns ein bisschen auf, und du wirst sehen, morgen sieht der Tag schon ganz anders aus.« Babsi zog Marita hinter sich her, und diese folgte gehorsam, schließlich war sie mittlerweile total durchgefroren.
Im Glücklichen Matthias war die kleine Tanzfläche gestopft voll und die Stimmung auf dem Siedepunkt. Der DJ nudelte für sein Publikum im besten Alter die dollsten Kracher der letzten vierzig Jahre herunter, schließlich wollten vom Dreißig- bis Sechzigjährigen alle Gäste Spaß haben. Strapsmann hatte offensichtlich bei irgendjemandem mit seinem Klamottentausch landen können und trug nun das Oberteil eines Biene-Maja-Kostüms. Er balancierte darin geschickt auf seinen High Heels und winkte Marita freundlich von der Tanzfläche aus zu. Babsi schubste Marita in seine Richtung, und diese beschloss, den Ärger Ärger sein zu lassen und das zu tun, was eigentlich ihre Kernkompetenz war: gute Laune haben und andere damit anstecken. Schließlich lief gerade »Kiss« von Prince, ein Lieblingshit aus ihren Zwanzigern.
Marita blieb noch schweißtreibende zwei Stunden auf der Tanzfläche, tanzte und flirtete mit der männlichen Biene Maja, dessen richtigen Namen sie wegen der lauten Musik nicht verstand, tauschte schließlich ihre Sneakers gegen seine High Heels und lief weit nach Mitternacht, links mit Shrek am Arm, rechts mit Heidi, nach Hause.
Den Krach mit Martin Joosten hatte sie sich tatsächlich von der Seele getanzt. Als sie vor dem Schlafen noch eine schöne heiße Dusche nahm, dachte sie lediglich bedauernd daran, dass sie mit der bestrapsten Biene Maja nicht Telefonnummern ausgetauscht hatte, und wenn es nur war, um ihre Sneakers zurückzubekommen. Mit einem Lächeln auf den Lippen fiel sie schließlich in einen komatösen Schlaf.
Als Marita um acht aus dem Bett kroch, war Sophie bereits in der Schule, hatte ihrer Mutter aber trotzdem den Tisch in der kleinen Küche gedeckt und ihr einen Zettel hingelegt: »Genieß deinen freien Tag, ich hab dich lieb, S.«
Mit dem Gefühl, dass ihr Leben eigentlich doch ganz in Ordnung war, schäumte Marita sich die Milch für ihren Kaffee auf. Von der Klinik hatte sie nichts gehört, vermutlich würde Joosten ohnehin zu feige sein, um ihr an den Karren zu fahren.
Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird, dachte Marita zufrieden. Draußen vor dem Fenster tanzten die Schneeflocken so dicht, dass sie ihr die Sicht auf die gegenüberliegenden roten Backsteinhäuser nahmen.
Marita liebte ihre kleine Wohnung in Husum. Und sie liebte die »graue Stadt am Meer«, die viel weniger grau war, als man ihr nachsagte. Sie war zur Ausbildung nach Husum gekommen und hatte die Stadt schnell ins Herz geschlossen. Für sie als junges Mädchen atmete die Hafenstadt damals den Duft der großen, weiten Welt. Denn viel rumgekommen war sie bis dahin noch nicht. Auch jetzt, mit Ende vierzig, hatte Marita noch nicht viel von der Welt gesehen. Sie war einmal in Kroatien, einmal in der Türkei und vor langer Zeit ein paar Mal in Italien gewesen. Eigentlich hatte sie das Reisen nicht großartig vermisst, sie war auf Amrum geboren, und wenn sie das Bedürfnis nach Urlaub verspürte, dann kehrte sie am liebsten auf ihre Heimatinsel zurück, wo ihre Eltern noch immer wohnten. Die kleine Perle in der Nordsee war zu jeder Jahreszeit ein Traum, fand Marita, und obwohl sie ihre wenigen Abstecher in den Süden stets genossen hatte, vermisste sie doch immer den weißen Strand mit den hohen Dünen, die geduckten kleinen Reetdachhäuser, ihre Laufstrecke am Watt und die wunderbare klare Nordseeluft.
Ihr Bedürfnis nach Großstadtleben wurde in Husum gestillt, es zog Marita nicht in die Metropolen der Welt.
Ganz anders ihre Tochter. Sophie hatte schon immer einen großen Wunsch gehabt: Reisen! Nur wegen ihr hatte Marita die Pauschalurlaube gebucht, aber in Sophie war die Sehnsucht danach, die Welt zu erkunden, durch die Abstecher in fremde Länder nur noch größer geworden. Seit sie sechzehn war, seit drei Jahren also, jobbte Sophie eifrig, um sich ihre Urlaube leisten zu können. Sie hatte schon jetzt mehr gesehen als Marita, fuhr mit dem günstigen Fernbus durch halb Europa oder flog zum Schnäppchenpreis nach Paris, Barcelona, London.
Marita umklammerte ihre Tasse mit dem heißen Milchkaffee und warf einen Blick auf die mit Fähnchen gespickte Weltkarte über dem Tisch. Jedes Fähnchen markierte einen Ort, an dem Sophie bereits gewesen war. Und ihr erklärtes Ziel war es, dass sich die Fähnchen von Europa auf alle anderen Kontinente ausbreiteten.
Nur noch wenige Monate, dann machte ihre Tochter Abitur, und Marita wusste, dass die gemeinsamen Tage gezählt waren. Es versetzte ihr einen Stich ins Herz. Sophie würde zusammen mit ihrem Freund auf Weltreise gehen. Ihre zarte kleine Tochter würde sich einen Rucksack, der halb so groß wie sie selbst war, auf den Rücken schnallen und furchtlos in einen Flieger steigen, der sie in die entlegensten Winkel katapultierte.
Neben dem Schmerz, dass sie ihre Tochter auf längere Zeit nicht mehr sehen und schrecklich vermissten würde, empfand Marita aber auch Stolz und Bewunderung. Fremde Sprachen, Ungeziefer, ansteckende Krankheiten – Sophie lachte alle Einwände Maritas einfach weg. Sie hatte keine Angst, sie war wagemutig und neugierig. Ein Quentchen von dieser Unbedarftheit – was das Reisen anging – wünschte sich Marita auch. Sie hatte viel zu viele Berührungsängste, was daran lag, dass ihre Eltern mit ihr nur selten weggefahren waren. Sie vermieteten Ferienwohnungen, und da auf Amrum immer Saison war, hatten sie die Insel kaum verlassen.
Aber vermutlich, so dachte Marita jetzt, während sie wieder auf die verschneite Häuserzeile blickte, spielte außerdem eine Rolle, dass sie nicht mit dem Internet aufgewachsen war. Für Menschen im Alter von Sophie war die Welt kleiner geworden; viel greifbarer waren Menschen, Länder und Kulturen auf der anderen Seite der Erde. Eine globale Generation, die mühelos und in Sekundenschnelle Bilder, Videos und Nachrichten von Grönland nach Peru oder eben von Husum nach Französisch- Polynesien verschickte.
Marita dachte daran, wie lange früher ein Brief nach Australien gebraucht hatte – insbesondere wenn man vergessen hatte, eine der blauen kleinen »Air Mail«-Briefmarken darauf zu kleben! Durch die Zeit, die der Brief brauchte, die fremden Stempel und Marken, war die Entfernung begreifbar geworden. Heute skypte man und konnte das Gefühl bekommen, als säße der Gesprächspartner drei Häuser weiter und nicht Tausende von Kilometern entfernt.
Mit diesen Gedanken im Kopf griff Marita zur Zeitung und freute sich darauf, heute mal Zeit zu haben, diese von vorne bis hinten zu lesen, anstatt wie sonst im Stehen ihren Kaffee zu schlürfen und dabei nur einen Blick auf die Schlagzeilen zu werfen.
Nach ausgiebiger Lektüre und drei Milchkaffee später war Marita auf der Seite mit den Kleinanzeigen angekommen. Neugierig warf sie einen Blick in die Stellenanzeigen. Nur mal so gucken, dachte Marita. Tatsächlich gab es einige Angebote in der Rubrik »Sozialberufe«, hauptsächlich aber wurden Altenpflegekräfte gesucht. Sie hatte eher daran gedacht, sich räumlich zu verändern. In der Klinik gab es einige Ärzte, die sich bei Ärzte ohne Grenzen engagierten und für einen gewissen Zeitraum, manchmal nur ein paar Wochen oder Monate, aus dem deutschen Klinikalltag ausklinkten. So etwas müsste es für Krankenschwestern doch auch geben, hatte Marita sich überlegt. Das wäre ideal, um dann wieder in den Job zurückzukehren.
Da fiel ihr Blick auf eine kleine zweizeilige Anzeige: »Private Pflegerin für schwerkranken Unternehmer nach Südfrankreich gesucht. Sprachkenntnisse von Vorteil, aber nicht Bedingung.«
Ein paar Sekunden lang blieb ihr Blick an den Zeilen hängen, aber dann wanderten Maritas Augen weiter. Frankreich kam ja gar nicht in Frage, sie hatte in der Schule nur ein Jahr Französisch gehabt, und das war eine halbe Ewigkeit her.
Einerseits.
Andererseits.
Südfrankreich.
Hm.
Marita warf einen Blick auf die Weltkarte. Sie musste aufstehen, um die Namen, die entlang der Mittelmeerküste zwischen Italien und Spanien aufgeführt waren, zu entziffern. Namen, die prickelten wie Champagner, standen dort dicht an dicht: Nizza, Cannes, Marseille … Augenblicklich stiegen Bilder vor ihrem Auge auf, Bilder von schroffen hellen Felsen, die sich über türkisfarbenes Wasser wölbten, weiße Pferde vor wogenden grünen Reisfeldern, lilafarbene Lavendelfelder im Licht der glühenden Sonne, die pink wie eine reife Grapefruit am Horizont versank.
Kam ja gar nicht in Frage.
Plötzlich wurde Marita ganz heiß. Aufregung stieg in ihr hoch, Wangen und Ohren glühten, und ihr Herz schlug schneller. Augenblicklich hatte sie das dringende Bedürfnis, etwas Verrücktes zu tun. Sie ging in ihr Schlafzimmer, das gleichzeitig auch ihr kleines Büro war, und fuhr den PC hoch. Dann begann sie zu googeln. Und konnte nicht mehr aufhören. Palmen, Pinien, die Croisette, Schluchten, Wasserfälle, Avignon, die Camargue, malerische Steinhäuser und besonders der Lavendel hielten sie gefangen und zogen sie in ihren Bann. Immer schneller flogen Maritas Finger über die Tasten, sie las Artikel über Artikel, klickte von einem Link auf den nächsten, und ehe sie sichs versah, hatte sie eine Mail geschrieben und auf Senden gedrückt.
An: [email protected].
Marita wurde schlecht. Was hatte sie getan? Sie hatte sich doch nicht ernsthaft beworben? Aber dann versuchte sie, sich wieder zu beruhigen. Niemals würde sie eine Antwort bekommen. Sie hatte auf Deutsch geschrieben und nicht einmal ein Zeugnis mitgeschickt. Marita fuhr den PC herunter. Sie war ein wenig durch den Wind. Vielleicht, so befürchtete sie, kündigten sich bei ihr langsam die Wechseljahre an.
Aber Südfrankreich sah wirklich sehr schön aus.
Er machte Rast auf einem Plateau, wählte einen Findling, der wie ein Sattel geformt und so von der Sonne des Tages erwärmt war, dass Bo Ricklefs die Hitze durch den groben Stoff seiner Hose spürte. Das Bündel, welches er seit Tagen an einem Stock geknüpft auf den Schultern trug, legte er beiseite. Nichts darin war ihm jetzt von Nutzen, er hatte eine trockene Kehle, aber seine Feldflasche hatte er bereits in den frühen Morgenstunden geleert und seitdem keine Möglichkeit gehabt, sie aufzufüllen.
Bo blickte über die Bucht. Weit spannte sich der Bogen von Genua bis Marseille und umfasste sanft das türkisfarbene Mittelmeer. Von hier oben und aus weiter Entfernung wirkte das Wasser ruhig. Harmlos, fast lieblich. Aber Bo wusste es besser. Er hatte sein siebenundzwanzigstes Lebensjahr erreicht, er war ein weit gereister und erfahrener Seemann. Und er hatte Stürme erlebt. Er hatte Wellen sich auftürmen sehen, höher als fünf Häuser übereinander. Er kannte das Ächzen eines Schiffes, bevor es mit einem Seufzen der Gewalt des Meeres nachgab und auseinanderbrach, schreiend, bevor die Fluten es verschlangen, mitsamt Ladung und Mannschaft. Er kannte die Tücken der spiegelglatten See während einer Flaute, wenn sich das Meer nur bereit zu machen schien, seine Kräfte sammelte, um sich dann, wenn der dunkle Horizont immer näher kam, binnen einer Stunde zu Brechern zusammenzuballen, so dass man sich mit einem Seil festzurren musste, um nicht über Bord zu gehen.
Während er über die tückische Braut, die das Meer für ihn seit nunmehr zwanzig Jahren war, nachdachte, spürte Bo Ricklefs den Stich des Heimwehs. Es war Oktober, und während hier, an der lieblichen Küste Südfrankreichs, die Sonne mit unverminderter Macht herniederbrannte, bereiteten sie sich in seiner Heimat, auf der Insel Amrum, auf die Herbststürme vor. Womöglich peitschte gerade eben der Regen flach über den Kniepsand, während die Männer seiner Familie mit ihren geteerten Booten, den kleinen Schmacken, aus Grönland zurückkehrten. Im Frühjahr zogen sie aus, gen Holland, und von dort führte der weite Weg ins Eis. Von allen Inseln heuerten die Männer beim Walfang an, wurden mit großen Feuern im März verabschiedet und ließen ihre Familien über die Frühlings- und Sommermonate allein auf der Insel zurück.
Bo Ricklefs stammte aus einer Familie von Walfängern; solange er denken konnte, hatte es nichts anderes unter den Männern der Ricklefs gegeben. Großvater, Vater, seine Brüder – sie verdienten ihr Geld mit Harpunieren, dem Schleppen der Wale, dem Zerlegen der riesenhaften Tiere für die Niederländer, die dadurch reich und mächtig wurden. Auch die Walfänger selbst verdienten gut, auf den Inseln selbst gab es kaum ein Auskommen. Bo war mit dem dumpfen Geruch des Trans groß geworden, er hatte nichts darüber hinaus gekannt und keine größeren Wünsche gehabt, als in die Fußstapfen seiner Vorfahren zu treten und ebenfalls Walfänger zu werden. Aber es war anders gekommen.
Eines Tages war ein Mann auf der Insel erschienen, seltsam gekleidet, mit Rüschen am Rock und einer gepuderten Perücke. Er hatte mit den Männern gesprochen, als sie nach einem harten Tag auf See ins Gasthaus kamen, um ihren Rum zu trinken. Er hatte auf sie eingeredet, bis sie stumm und nachdenklich geworden waren. Bo war nicht dabei gewesen, aber sein Bruder hatte ihm erzählt, wie es gewesen war, und er konnte sich noch daran erinnern, wie sein Vater in der Nacht in die Stube getorkelt war. Er hatte kaum etwas gesagt, aber das Weinen seiner Mutter hatte den kleinen Bo die ganze Nacht hindurch verfolgt.
Am nächsten Tag hatte sein Vater Hark ihn ordentlich angezogen, an die Hand genommen und zum Hafen geführt. Dort warteten bereits vier seiner Freunde, ebenso ahnungslos und verwirrt wie er. Bevor der Fremde mit den Rüschen sie auf die Schaluppe führte, hatte Hark den kleinen Bo fest an beiden Schultern gefasst und ihm in die Augen geblickt. »Du kommst zurück, min Jong«, hatte er gesagt, »als ein reicher Mann mit einem besseren Leben.«
Dann war Bo zusammen mit den anderen auf die Schaluppe gegangen, und viele Jahre hatte es sich angefühlt, als sei das, was der Vater ihm gesagt hatte, nichts weiter als eine fromme Lüge gewesen.
Seine Freunde verlor Bo schnell aus den Augen, sie waren als Schiffsjungen verkauft und in Hamburg auf dem Markt auf verschiedene Schiffe verteilt worden. Bo hatte großes Glück gehabt. Er war auf einer britischen Fregatte gelandet und segelte mit ihr als Schiffsjunge nach Ostindien. Schiffsjungen waren in dieser Zeit eine Ware; sie starben, sie gingen über Bord, sie wechselten das Schiff – niemand vermisste sie, sie wurden nicht bezahlt und nur so lange auf einem Schiff geduldet, solange sie ihre harte Arbeit ohne Klagen verrichteten. Bo Ricklefs, gerade mal sieben Jahre alt und bisher vom Leben nicht verwöhnt, begriff das schnell. Und so duckte er sich, tat, was von ihm verlangt wurde, teilte sein Essen mit den Ratten und Hunden – und überlebte. Er wuchs, wurde größer und kräftiger, mauserte sich zum Matrosen und wurde schließlich ein Mann, dessen Arbeitskraft bezahlt wurde. In den Häfen ging er an Land und suchte sich neue Schiffe, wobei er stets danach trachtete, sich zu verbessern.
Und so kam es, dass er, Bo Ricklefs, Sohn des Walfängers Hark Ricklefs von der Insel Amrum, im Alter von zwanzig Jahren auf seine Heimatinsel zurückkehrte – als gemachter Mann. Sein Vater erlebte nicht mehr, dass seine Prophezeiung sich erfüllt hatte, er war bei einem der Walfangzüge im Packeis über Bord gegangen und nicht mehr nach Hause zurückgekehrt.
Bo aber hatte sein Glück gemacht. Er brachte Goldstücke nach Hause, Gewürze aus Indien und anderen fernen Ländern, feinen Stoff, den er auf den Basaren der Türken erstanden hatte. Die Freude seiner Mutter und auch der jungen Frauen auf der Insel war groß, denn Bo war ein stattlicher Mann mit langem blondem Haar, die Haut dunkel von seinen Seefahrten unter südlicher Sonne. Aber ein Jahr war kaum vergangen, da hielt es Bo nicht mehr aus in den geduckten dunklen Häusern unter dem Schilf. Ertrug den Geruch des verbrannten Walfetts nicht mehr, mit dem die Insulaner kochten und heizten und ihre Häuser abdichteten. Er sehnte sich nach der brennenden Sonne, wie er sie nur vom Mittelmeer kannte. Nach den Düften auf den Märkten, wo in großen Haufen Vanille und getrocknete Paprika und gelbes scharfes Pulver feilgeboten wurde. Wo die Händler lauthals schrien, um sich zu überbieten, und roter Wein in Strömen aus Messingbechern floss. Wo die Frauen dunkelhaarig und glutäugig waren und man des Nachts unter freiem Himmel schlafen konnte, weil es dann noch immer so heiß war wie in Amrum am Tage nur in den Sommermonaten.
So saß Bo Ricklefs auf dem Stein, betrachtete das Meer und die in Terrassen ansteigenden Hügel unter sich. Er hatte die schlimmste Seereise hinter sich, die er jemals erlebt hatte, sie hatten das Kap der Guten Hoffnung umrundet und dabei mehr als die Hälfte der Mannschaft verloren. Auch sein Freund war dabei gewesen, ein kleiner dunkler Italiener, mit dem er die letzten Jahre auf den gleichen Schiffen verbracht hatte – Bo als Bootsmannsmaat und der Kleine als Koch. Der Italiener war ihm mit seiner drolligen Sprache und seiner Art, alles, was er sagte, mit ausladenden Gesten zu untermalen, ans Herz gewachsen. Und da Bo wusste, dass dieser in Genua eine Familie, Frau und acht Kinder hatte, war er dort an Land gegangen. Nachdem er zwei Tage bei der Familie des Kochs, die über den Verlust des Ernährers schier verzweifelt war, verbracht hatte, ließ er sich treiben.
Noch nie hatte Bo mehr als zehn Tage an Land verbracht, aber hier, in dem besonderen milden Klima der Bucht, gefiel es ihm. Er nahm beizeiten eine Kutsche, dann wanderte er wieder ein gutes Stück und genoss es, dass der Boden unter seinen Füßen nicht schwankte, obgleich er nichts anderes kannte. In Nizza hatte ihm jemand von Grasse erzählt, der lieblichen Stadt im Hinterland. So war Bo Tag für Tag weiter in den Westen und weiter ins Landesinnere vorgedrungen, weg vom Meer, hoch in die Luft. Es gefiel ihm. Die Milde, die Ruhe, nur unterbrochen vom Zirpen der Zikaden. Er mochte die steinigen Wege, die Kräuter, die am Rande wuchsen und ihn mit ihren würzigen Gerüchen begleiteten. Bo Ricklefs spürte, wie die Rastlosigkeit von ihm wich, wie er träge wurde und es genoss, ohne Arbeit in den Tag zu leben. Er war kein junger Mann mehr und sein Geld reichte, um sich eine Zeitlang zur Ruhe zu setzen.
Während er also auf dem warmen Findling saß und gelassen über die Bucht blickte, hörte er das Rumpeln hölzerner Räder. Ein alter Mann mit einem Esel kam den steilen Weg herauf. Vier große Körbe, aus Weide geflochten, waren an dem Tier festgezurrt. Ein betörender Duft von lieblicher Süße und zarter Frische stieg dem Seemann in die Nase. Von dem Alten konnte der Duft schwerlich ausgehen, denn der lachte ihn aus zahnlosem Mund an, die Haut fast schwarz verbrannt, Falten im Gesicht und am Körper, dreckige Lumpen umhüllten die klapperdürre Gestalt. Als der Eselstreiber den blonden Seemann erblickte, lachte er freundlich und winkte. Bo erwiderte den Gruß und bedeutete dem Mann mit Gesten, dass es gut röche, dabei deutete er auf die großen Körbe. Der Alte lachte noch breiter, griff in einen der Körbe und holte eine Handvoll zarter weißer Blüten hervor, die er Bo reichte. Ein Duft, wie er ihn noch niemals gerochen hatte, stieg in die Nase des Friesen. Er atmete tief durch die Nase ein, schloss die Augen und blähte die Nüstern. Es war ein süßer Duft der Verheißung, der von den kleinen Blüten ausging. Es roch wie eine Sommernacht an der Seite der Geliebten, wie ihre zarte warme Haut, die man sanft liebkost.
Der Alte erkannte die Verzückung des Fremden, er forderte Bo auf, ihm zu folgen. Dabei lachte er ohne Unterlass, deutete den Hügel hinauf, wo sich, weit entfernt, die Mauern der Stadt Grasse erhoben. Bo Ricklefs zögerte nicht, er packte seinen Stock mit dem Bündel und folgte dem Alten und seinem Esel den Berg hinauf. Obgleich sie sich nicht durch eine gemeinsame Sprache verständigen konnten, »unterhielten« sie sich doch prächtig miteinander. Vor allem mit Hilfe des Weins, den der Alte aus einem Schlauch anbot und der dem durstigen Bo mit dem ersten Schluck in die Glieder fuhr.
Nach einigen scharfen Wegkehren öffnete sich die Hügellandschaft und gab den Blick frei auf breite Felder, die sich an den Berg schmiegten und durch kleine Mäuerchen aus Stein abgrenzten. Weiße Blüten, wohin das Auge schweifte. Und Frauen, die inmitten der stark duftenden Blütenfelder standen und mit geschickten Fingern die zarten Blüten von den Bäumchen pflückten. Sie hatten große Tücher vor Brust und Bauch gebunden, in welchen sie die Blüten sammelten, und wenn diese bis oben hin gefüllt waren, kippten sie die Tücher in Weidenkörbe wie die, die der Alte an Bos Seite transportierte. »Jasmin«, sagte der Alte mit knarrender Stimme in seltsam eckigem Französisch und deutete auf die Felder und seine Körbe. »Jasmin!« Dabei lachte er Bo aus seinem zahnlosen Mund freundlich an.
Jetzt sah Bo Ricklefs auch die Türme und stattlichen Häuser von Grasse, umgeben von Palmen und Blütenkaskaden, die über die Stadtmauer fielen, Zitronen- und Orangenbäume, welche die Straße säumten. Und im Kopf des Friesen, benebelt vom süßen Roten, formte sich die Idee, dass er, ein Mann, den die rauhe See geknetet hatte, dessen Hände schwielig von den feuchten Tauen waren und dessen Rücken gekrümmt vom Wind, gegen den er sich stets stemmen musste, dass er hier in der Stadt der zarten Düfte wohl eine Zeit verweilen und sein Glück suchen konnte.
Der Landeanflug auf Nizza erfolgte bei schönstem Sonnenschein, und alles, was Marita von dem kleinen Fenster aus erblickte, übertraf ihre Erwartungen. Grüne Hügel, die in Terrassen zum Meer hin abfielen, cremefarbene, halb verfallene Palazzi, Palmen und, alles überstrahlend, das glitzernde Mittelmeer. Von der Sonne durchdrungen, strahlte es in allen Schattierungen von hellem Blau bis Türkis. Es funkelte wie ein fein bearbeiteter Edelstein, ganz anders als die rauhe Nordsee, von der sich Marita vor wenigen Stunden verabschiedet hatte. Die Nordsee war dunkelgrün, ihre Schaumkronen gelblich, sie war schwer und tief, ganz und gar ungeschliffen. Sie roch nach Salz und Sand, rief Assoziationen nach wilden Stürmen und geborstenen Deichen hervor. Wenn das Mittelmeer eine reich geschmückte Tänzerin war, so musste die Nordsee ein Arbeiter auf einer Bohrinsel sein, im Ölzeug, mit schweren Gummistiefeln.
Es war Ende April, in Schleswig-Holstein stiegen die Temperaturen noch nicht über fünfzehn Grad, aber beim Landeanflug auf Nizza hatte der Pilot soeben verkündet, dass hier zweiundzwanzig Grad herrschten, bei wolkenlosem Himmel und strahlendem Sonnenschein. Natürlich war Marita, an die Temperaturen im Norden gewöhnt, zu warm angezogen, und während sie nach unten auf die Côte d’Azur starrte, schwitzte sie auch noch vor Aufregung. Was würde sie erwarten? Sie wusste so wenig über ihren neuen Auftraggeber.
Auf Maritas unbedacht abgesandte E-Mail war bereits nach einer Stunde eine Antwort gekommen, auf Französisch. Ein Monsieur Lucien Lafleur hatte sich mit knappen Worten vorgestellt und Marita gebeten, einen Lebenslauf sowie ein Arbeitszeugnis vorzulegen. Sophie hatte ihrer Mutter die Mail am Abend übersetzt und war vollauf begeistert gewesen, als Marita ihr von ihrer spontanen Aktion erzählt hatte. Eigentlich hätte Marita Herrn Lafleur lieber geantwortet, dass es sich um ein Missverständnis handelte, aber ihre Tochter korrespondierte in ihrem Namen sogleich mit dem Franzosen und drängte Marita, ihm die erforderlichen Unterlagen zuzusenden. Es koste ja nichts, und hey, wer weiß, vielleicht saß sie in ein paar Wochen schon in der Provence und freute sich über ihr neues Leben!
Sophie war Feuer und Flamme. Wie hatte die Figur in Maritas Lieblingsserie immer gesagt? »Fürchte dich nicht vor Veränderung, fürchte dich vor dem Stillstand.« Na, dann, allez hopp!
Die Klinikleitung war aus allen Wolken gefallen, als Marita um ein Arbeitszeugnis gebeten hatte, aber sie versicherte, dass sie nicht im Ernst vorhatte, tatsächlich nach Frankreich zu gehen, sie wolle sich nur einmal ausprobieren, vielleicht eine kurze Auszeit nehmen … Maritas Chefs stellten ihr ein hervorragendes Zeugnis aus, allerdings nur unter der Bedingung, dass sie es sich noch einmal reiflich überlegte. Von einem Disziplinarverfahren war keine Rede mehr, und Marita genoss es, dass sie offenbar unentbehrlich war und Martin Joosten eine lange Nase drehen konnte.
Aber Monsieur Lafleur meinte es durchaus ernst. Nachdem er ihren Lebenslauf und das Arbeitszeugnis erhalten hatte, bot er Marita einen dreimonatigen bezahlten Probeaufenthalt an, danach könnten beide Seiten entscheiden, ob sie längerfristig zusammenarbeiten konnten und wollten.
Marita hatte angenommen.
Sophie hatte die Lafleurs gegoogelt und zauberhafte Bilder zutage gefördert. Die Familie war seit Jahrhunderten im Blumenanbau tätig, Rosen und Jasmin. Das Anwesen samt den Blumenfeldern befand sich in der Umgebung der Stadt Grasse, von jeher die Stadt der Parfümeure und ihrer Zulieferer. Marita würde sich um den alten Lafleur kümmern müssen, der, so schrieb sein Sohn Lucien, nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt war und sein Sprachvermögen eingebüßt hatte. Lucien Lafleur deutete lediglich an, dass der Charakter seines Vaters nicht ganz einfach war, aber damit hatte Marita kein Problem. Sie dachte an die betagten Herren, die sie all die Jahre auf ihrer Station betreut hatte. Auch unter ihnen waren nicht nur dankbare Opis gewesen, aber sie hatte die meisten Griesgrame früher oder später geknackt. Sie würde auch mit Lafleur senior klarkommen, da machte sie sich die wenigsten Sorgen. Dass er nicht sprechen konnte, war ein Vorteil für sie, dann hatte sie vielleicht mehr Chancen, sich nonverbal zu verständigen, denn ihrem Französisch-Intensivkurs, den sie in den vergangenen vier Wochen belegt hatte, traute Marita nicht recht über den Weg.
»Drei Monate Südfrankreich, und das im Sommer? Das ist ein Sechser im Lotto!« Annette war sofort aufgesprungen und hatte aus dem Kühlschrank eine Flasche Prosecco geholt.
»Dafür bezahlen andere ein Vermögen!«, hatte auch Babsi beigepflichtet.
Sie hatten bei Annette zu Hause gesessen, als Marita ihren Freundinnen ihre Pläne enthüllt hatte.
»Und dabei kann ich nicht mal richtig Französisch.« Marita war von ihrer eigenen Courage etwas überfordert, aber Sophie hatte ihr von Anfang an keine Wahl gelassen. Nun saß sie in Annettes Küche, ein Flugticket in der Tasche und hoffte in einer Ecke ihres Herzens, dass jemand sie endlich an den Schultern packen, sie schütteln und ihr sagen würde, dass alles nur ein Traum war.
Stattdessen wiegte Annette ihre Hüften, schenkte den Prosecco ein und sang mit Babsi lauthals im Duett: »Voulez-vous coucher avec moi, ce soir …«
»Das ist alles, was du brauchst«, hatten ihre Freundinnen ausgelassen gemeint. »Die Liebeskunst der Franzosen ist doch legendär!«