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Es geht rund auf Heisterhoog! Falk Thomsen, Strandkorbvermieter wider Willen, freut sich auf seine zweite Saison auf der schönen Nordseeinsel. Doch dann kommt seine Mutter zu Besuch. Sie will den ganzen Sommer bleiben. Schon bald bandelt sie heftig mit Piet vom Fischimbiss an. Da taucht unerwartet Falks verschollener Vater auf, der bisher nie etwas von seiner Familie wissen wollte. Nun will er Versöhnung. Falk flüchtet zwischen seine Strandkörbe. Und Zeit für seine große Liebe Gina hat er auch nicht mehr. Das Drama ist perfekt, und Falk wünscht sich, er wäre adoptiert worden.
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Marie Matisek
Mutter
bei die Fische
Ein Küsten-Roman
List
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List ist ein Verlagder Ullstein Buchverlage GmbH
ISBN: 978-3-8437-0422-9
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Meinen Eltern, denen ich unendlich viel verdanke
– unter anderem Heisterhoog
Genüsslich vergrub Falk Thomsen die Zehen im Sand, der sich in der Mittagssonne so stark aufgeheizt hatte, dass die Haut an den Füßen zu prickeln begann. Falk liebte das Gefühl, er ließ sich ganz in den feinen weißen Sand fallen und schloss die Augen. Hinter seinen Lidern glühte es rot von der Sonne, die auf ihn herunterbrannte. Lange würde er es nicht aushalten, aber im Moment gefiel es ihm, dass sein Körper sich anfühlte wie ein Brötchen im Backofen.
Falk machte eine Pause von seiner harten Arbeit. Er war gerade dabei, die erste Sandburg seines Erwachsenenlebens zu bauen. Den Wassergraben hatte er bereits ausgehoben und daneben einen ansehnlichen Schutzwall errichtet. Auf diesem hatte er mit dem pinkfarbenen Zinnenförmchen der Kinder die Mauer der Vorburg aufgebaut. Im Inneren erhob sich stolz die Thomsen-Feste: ein großer Haufen aus feuchtem Sand, der darauf wartete, durch Falks Hände zu Mauern, Erkern, Höfen und Türmen geformt zu werden.
Aber jetzt war erst mal eine Pause angesagt. Falk drehte sich zur Seite und warf einen Blick in Richtung Wasser, wo sich die Badenden tummelten. Irgendwo da vorne war Gina mit den Jungs. Falk würde gleich die beiden Minibademäntel bereitlegen, um die Zwillinge darin einzuwickeln und zu knuddeln, wenn sie aus der frischen Nordsee kämen, kleine bibbernde Wonneproppen. Vorne an der Wasserkante wuselten unzählige Mamis und Papis mit ihren Kindern herum, man hörte das babylonische Ermahnungswirrwarr bis hier hinten. Als von rechts ein orangefarbenes Sonnensegel angeflogen kam, dem eine verzweifelte Mittfünfzigerin folgte, wurde er jäh aus seinen Betrachtungen gerissen. Die mollige Frau hatte die Hände ausgestreckt und versuchte vergeblich, einen Zipfel der langen Stoffbahn zu erhaschen, aber immer wenn sie es mit den Fingerspitzen berührte, wurde das Segel von einem Windstoß ergriffen und flog weiter davon. Die beklagenswerte Verfolgerin hatte nur Augen für das Segel und bemerkte dadurch nicht, dass sie auf die straff gespannte Schnur einer Strandmuschel zulief. Falk sprang auf und wollte die Frau warnen, aber sein Ruf kam zu spät, und so flog die Geplagte in hohem Bogen bäuchlings in den Sand. Der Besitzer der Strandmuschel kam sofort aus der grellfarbenen Nylonhöhle geschossen und zeigte der Frau einen Vogel. Dann kümmerte er sich hingebungsvoll um den Hering, den die Frau bei ihrem Sturz herausgerissen hatte, anstatt ihr aufzuhelfen.
Falk hatte Mitleid mit der geplagten Dame und hechtete dem Sonnensegel hinterher, das in Armesbreite an ihm vorbeiflog. Er konnte es einfangen und kehrte zu der Frau zurück, die sich mittlerweile erhoben hatte und sich kleinlaut beim Strandmuschelbesitzer entschuldigte. Als Falk ihr das Sonnensegel übergab, bedankte sie sich überschwänglich und eilte dann sofort zu ihrem Liegeplatz zurück. Falk blickte ihr nach. Sie wurde bereits von ihrem Ehemann erwartet, der die Alustangen für das Segel ineinandergesteckt und samt der Schnüre und der Heringe in der exakten späteren Standposition des Segels auf dem Sand ausgebreitet hatte. Er empfing seine Frau mit Vorwürfen. Einige Fetzen seiner Beschimpfungen – »wie kann man sich nur so blöd anstellen«, »dusselige Kuh« – drangen bis an Falks Ohr. Falk schüttelte den Kopf und ging die paar Schritte zu seinem Strandkorb zurück. Niemals würde er in diesem Ton mit seiner Liebsten reden, auch nicht nach fünfzig Jahren Ehe. Er war noch immer bis über beide Ohren in Gina verliebt, ja vielleicht noch mehr denn je, seit sie die Zwillinge geboren hatte. Falk kuschelte sich in den hellblauen Strandkorb mit der Nummer 105 und dem geschwungenen Schriftzug »Thomsens Strandkörbe« auf der Rückseite, als er sie kommen sah. Louis war natürlich der Erste, er rannte, so schnell ihn seine kleinen Beinchen über den heißen Sand trugen, hatte die Arme ausgestreckt und schrie: »Papaaa!« Hinter ihm lief Lino, er hatte die Arme um seinen Oberkörper geschlungen und zitterte am ganzen Körper. Gina, ganz die stolze Mama, kam hinter den beiden und trug die Schwimmflügel, das Gummikrokodil, einen roten Eimer und zwei Schäufelchen. Falk stand auf, ging erwartungsvoll in die Hocke und breitete seine Arme weit aus, um Louis in Empfang zu nehmen. Aber dieser rannte einfach an ihm vorbei, ohne ihn nur eines Blickes zu würdigen, auf das DLRG-Häuschen zu, direkt in die Arme des Strandsheriffs Thies Hoop, der den kleinen Wicht hochhob und sich mit ihm einmal um die eigene Achse drehte. Louis jubelte laut, und nun beeilte sich Lino ebenfalls und rief: »Papa, will auch!« Der lang aufgeschossene Lucky-Luke-Verschnitt mit dem tiefschwarzen Outfit und der noch schwärzeren Zigarette im Mundwinkel setzte Louis ab, wirbelte nun den anderen Zwilling in die Luft und schloss dann Gina in seine Arme. Er ließ seine Hände über ihren schlanken Körper und den wohlgeformten Po gleiten und küsste Gina dabei lange und innig auf den Mund, bis …
Mit einem erstickten Schrei wachte Falk auf. Er war schweißgebadet und musste sich erst einmal in der Schwärze der Nacht orientieren. Was für ein Alptraum! Falk blinzelte und tastete mit seiner rechten Hand neben sich im Bett umher. Er fühlte das zerknautschte Laken, die warme Höhle der Bettdecke und schließlich Ginas Rücken darunter. Bedeckt von einem T-Shirt und gottlob ohne die tatschenden Hände von Thies Hoop darauf.
Erleichtert atmete Falk durch. Er lauschte auf Ginas leises Schnarchen und schlug die Bettdecke zurück. Es war kalt in der Kate, trotzdem stand er auf und ging barfuß zum Fenster. Es war März, und sie hatten noch einmal einen Wintereinbruch auf Heisterhoog, so kurz vor Ostern. Fasziniert beobachtete Falk durch die Butzenscheiben, wie dicke Schneeflocken leise und dicht vom Himmel fielen. Sie blieben auf den Sanddünen liegen und ließen diese wie eine Landschaft aus Zuckerbaisers aussehen. Falk lächelte. Zum Glück hatte er nur geträumt. Er drehte sich zum Bett und betrachtete verliebt Ginas Gestalt: zusammengekuschelt und bis über die Ohren zugedeckt. Ob er wohl jemals mit dieser Frau Kinder haben würde?
Konzentriert beobachtete Falk den Dirigenten, bevor er gemeinsam mit den anderen Tenören zum Refrain ansetzte. »Ein Schiff wird kommen« erklang machtvoll, und nach den zarten hohen Stimmen der Damen, die allesamt gesungen hatten, sie seien Mädchen aus Piräus, legten sich die Tenöre so richtig ins Zeug, bis die Wände des kleinen Pfarrhauses wackelten. Natürlich war der Text dieses Liedes vollkommen schwachsinnig, aber Falk Thomsen sang jeden zweiten Samstagabend mit Inbrunst im Shantychor von Heisterhoog, der von Bürgermeister Jörn Krümmel leidenschaftlich und mit harter Hand geleitet wurde.
An den Winterabenden oder jetzt, im März, bildete die wöchentliche Chorprobe oft das Highlight der gesamten Woche. Denn ein Strandkorbvermieter wie Falk Thomsen hatte nur dann so richtig Arbeit, wenn die Strandkörbe auch gebraucht wurden. Also in der Hauptsaison, und die begann erst an Pfingsten. Und gerade deswegen waren der Herbst und der Winter auf der kleinen Nordseeinsel so ganz nach Falks Geschmack gewesen. Er hatte nämlich einfach das getan, was er am liebsten tat, und das war: nichts. Ein bisschen untertrieben vielleicht, aber in den Augen seiner gut beschäftigten Freundin Gina war das kleine bisschen Beschäftigung, mit dem Falk sich die Zeit vertrieb, nicht der Rede wert.
»Und? Was hast du heute so gemacht?«, fragte Gina ihn bei ihren abendlichen Telefonaten.
»Öh … Ich war in der Halle, mit Nille. Wir haben ein paar Auszugsschienen der Fußteile entrosten müssen und …«
Gina seufzte. »Also auf gut Deutsch: nichts.«
Falk wusste daraufhin selten etwas Sinnvolles zu erwidern, was nicht sofort in einen Streit münden würde, also zog er es jedes Mal vor, nicht zu widersprechen, und fragte freundlich nach Ginas Tagesgeschäft. Daraufhin begann seine reizende Freundin aufzuzählen, womit sie sich den lieben langen Tag herumgeschlagen hatte während der 12-Stunden-Plackerei im Architekturbüro. Welche Schikanen ihr Chef Gerd Jonkers sich heute wieder ausgedacht hatte, welche Sonderwünsche der extravagante Kunde geäußert hatte, wie blöd die Kollegen waren und dass all dieser Ärger schließlich dazu führte, dass Gina praktisch stündlich daran dachte, wie es wäre, einfach aufzuhören.
Falk schwieg immer dazu und ließ das Gewitter an sich vorbeiziehen. Er wusste, was er an Gina hatte. Wie schön es war, wenn sie zusammen waren, was leider höchstens einmal im Monat vorkam, denn die Strecke Heisterhoog–Berlin ließ sich dank Fähre und Bummelzug nicht unter sieben Stunden bewältigen. Falk hatte nicht das nötige Kleingeld, um öfter nach Berlin zu pendeln, und Gina hatte dank des anstrengenden Jobs keine Zeit. Also telefonierten sie jeden Abend miteinander. Gina rief ihn an, kaum dass sie das hippe Büro in Berlin-Kreuzberg verlassen hatte. Da lag Falk oftmals schon im Bett. Aber er wusste, dass die abendlichen Telefonate mit ihm wichtig für den Aggressionsabbau waren. Denn Gina, aufstrebende und ehrgeizige Architektin, litt seit langem darunter, dass sie es mit Ende zwanzig noch nicht zu einer Festanstellung gebracht hatte. Letzten Sommer war sie kurz davor gewesen, doch dann hatte sich – nicht zuletzt wegen Falk – alles zerschlagen. Das gleiche Architekturbüro Jonkers & Jonkers engagierte sie nun immer wieder, für Wettbewerbe oder besondere Aufträge als Teamverstärkung. Schlecht bezahlt und ausgenutzt. Gina ärgerte sich völlig zu Recht, am meisten aber ärgerte sie sich über sich selbst, weil sie sich nicht aus der künstlerischen Knechtschaft befreien konnte. Also ließ sie bei den fernmündlichen Gesprächen Berlin–Heisterhoog bei ihrem Freund Dampf ab und war am Ende des Telefonats wieder so besänftigt, dass sie den Kampf am nächsten Arbeitstag von neuem aufnehmen konnte.
Insgeheim befand Falk allerdings, dass er seine Funktion als Klagemauer selbst verschuldet hatte. Er hatte im vergangenen Sommer tatsächlich ein Millionengeschäft ausgeschlagen und es vorgezogen, sein Dasein als mittelloser Strandkorbvermieter zu fristen. Als Millionär hätte er Gina einfach einen Antrag gemacht, sie finanziell unterstützt und ihr so einen Start in die Selbständigkeit ermöglicht. Stattdessen saß er auf Heisterhoog und lebte davon, dass der örtliche Immobilienhai und Bauunternehmer Hubsi von Boistern ihn ab und an als Hausmeister, Baugehilfe und Putzmann beschäftigte.
Aber nun kam der Frühling, und Falk sah der kommenden Saison frohen Mutes entgegen. Er würde diesen Sommer in nur vier Monaten mit seiner Strandkorbvermietung und dem dazugehörigen Kiosk bestimmt so viel verdienen, dass er mühelos den nächsten Winter überstehen könnte.
Falk wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als Jörn Krümmel vorne am Pult streng über seine Halbbrille schaute und rief: »Ich erwarte also eure Kooperation und vor allem: üben, üben, üben!«
Obwohl Falk nicht mitbekommen hatte, worum es ging, nickte er so engagiert wie möglich. Fischbrat-Piet, der Seeräuber unter den Insulanern, grinste Falk breit an.
»Wegen der CD«, raunte er Falk zu, während sich der Chor zerstreute und nach und nach das Pfarrhaus verließ. Falk guckte verständnislos, und Piet klärte ihn auf.
»Jörn will mal wieder eine CD aufnehmen«, erläuterte er Falk mit gesenkter Stimme und zwinkerte mit einem Auge verschwörerisch.
»Aber das kauft doch eh keiner«, flüsterte Falk noch leiser zurück. »Wir singen miserabel, und wer interessiert sich schon für den Heisterhooger Shantychor?«
Piet erwiderte nichts mehr darauf, sondern blickte ertappt über Falks rechte Schulter, von wo nun eine strenge Stimme erscholl.
»Zum Beispiel die vielen Touristen, die jährlich unsere schöne Insel frequentieren«, vernahm Falk nun Jörn Krümmels Bass.
Falk drehte sich um und lächelte möglichst unschuldig.
Jörn setzte sofort nach. »Und wenn nur ein paar Prozent von denen die CD kaufen, sind das vielleicht 2000 verkaufte Exemplare. Wir bieten sie im Buchhandel an, auf der Fähre und in der Kurverwaltung. Jeder Laden von Süderende bis Norderende muss die an der Kasse haben – wirst mal sehen, Falk, das geht weg wie geschnitten Brot.« Jörn war total in Fahrt.
Falk grinste. Geschäftstüchtigkeit war eigentlich nicht das vordringlichste Markenzeichen des Bürgermeisters, aber während des geruhsamen Winters hatte Jörn einen Fernkurs in Tourismusmanagement und Marketing belegt. Offenbar war das Projekt »Shanty-CD« ein erstes Ergebnis der Fortbildung.
»Und der Erlös fließt in die Vogelstation«, strahlte Jörn nun triumphierend.
»Nicht schlecht«, zollte Falk seinem Freund und Skatgenossen den nötigen Respekt. »Also, dann werde ich mir ordentlich Mühe geben und üben, üben, üben.«
Er klopfte Jörn Krümmel freundlich auf die Schulter und nahm seine Wetterjacke vom Haken, um den anderen Chorsängern nach draußen zu folgen.
»Du bleibst hier«, hielt ihn Jörn zurück und fasste Falk am Oberarm. »Ich muss was mit dir besprechen.«
Falk beschlich bei dieser Ankündigung ein ungutes Gefühl. Seit er im letzten Sommer entschieden hatte, dass er die Strandkorbvermietung seines verstorbenen Onkels Sten übernehmen würde, dann aber durch eine Sturmflut die Einnahmen der gesamten Saison verloren hatte, kümmerten sich die Heisterhooger reizend um Falk. Was hieß, dass sie ihm alle mit Jobangeboten unter die Arme griffen, allen voran eben Hubsi von Boistern, der sich Falks Arbeitskraft auch am ehesten leisten konnte. Oftmals waren die Arbeitsangebote zwar gut gemeint, aber trafen nicht unbedingt Falks Kernkompetenzen. So hatte Falk schon der Töpferin Silke Söderbaum bei der jährlichen Inventur ihres durch und durch chaotischen Ladens geholfen, sich bei Ole Reents in der »Rum-Ba-Bar« als Barkeeper versucht und gemeinsam mit dem Vogelwart und selbsternannten Strandsheriff Thies Hoop Zugvögel beringt. Nichts von alledem war besonders vielversprechend gelaufen, und Falks Bedarf an »Almosen-Jobs« war eigentlich gedeckt. Aber Jörn zog ihn schon aus dem Pfarrhaus und kündigte an, Falk ein Angebot zu machen, das dieser keinesfalls ablehnen konnte: »Komm, wir gehen zu Gino, und ich lade dich ein.«
Eineinhalb Stunden und drei Gänge von Ginos köstlicher süditalienischer Küche später goss Jörn den letzten Tropfen sizilianischen Rotwein in Falks Glas und sah ihn gespannt an.
»Und? Was sagst du?«, erkundigte er sich.
Falk sagte erst einmal gar nichts, in seinem benebelten Gehirn jagten sich die Gedanken. Er sollte Marita ersetzen? In der Kurverwaltung? »Nur für acht Wochen«, hatte Jörn ihm versichert. Solange Marita noch im Mutterschutz war.
»Aber ich habe von Tourismusmanagement keine Ahnung«, wandte Falk vorsichtig ein.
»Marita doch auch nicht!«, wischte Jörn den Einwurf fröhlich beiseite und orderte bei Gino eine zweite Flasche von dem guten Roten.
»Du musst einfach nur darauf achten, dass die Anzeigen rechtzeitig geschaltet werden, dass die Infos auf der Website immer aktualisiert sind, dass die Künstler, die in dieser Saison bei uns gastieren, ihre Verträge rechtzeitig zurückschicken und so. Wenn die heiße Phase kommt, ist Marita wieder zurück, das hat sie mir zugesichert.«
Falk mümmelte nachdenklich an einer mit Olivenpaste bestrichenen Bruschetta und überlegte. Eigentlich war das ein lahmer Job, bei dem er gut verdiente. Seine Strandkörbe hatte er dank seines Gehilfen Nille so weit alle saisonfertig gemacht. Was noch an Arbeit blieb, schaffte Nille allein. Der war in handwerklicher Hinsicht ohnehin viel besser als Falk. Und die Bezahlung, die Jörn ihm für die acht Wochen Halbtagsstelle angeboten hatte, war absolut okay.
»Ich mach’s.« Falk hielt Jörn optimistisch die Hand hin, welche dieser sogleich erfreut ergriff.
»Super, vielen Dank, Falk. Du wirst sehen, da kann gar nichts mehr schiefgehen!«
Das abendliche Telefongespräch mit Gina, welches Falk mit schwerer Zunge führte, verlief zum ersten Mal ganz anders als die vorhergehenden.
»Falk, das ist ja super! Wer weiß, vielleicht ist das genau das Richtige für dich. Dann kannst du ja später eine Zusatzausbildung machen oder ein Fernstudium oder so und dich bei Jörn auf eine feste Stelle bewerben. Tourismusmanager werden da oben auf den Inseln immer gebraucht, das wäre doch mal eine Perspektive!«
Falk gab sich alle Mühe, Gina zu bremsen. Tourismusmanager wurden seines Wissens gar nicht gebraucht, jedenfalls nicht auf Heisterhoog, wo Marita den Job in der Kurverwaltung einfach so übernommen hatte, ohne irgendetwas in der Richtung gelernt zu haben. Sie machte den Job perfekt und mit Schwung und würde bestimmt bis zur Rente die Stelle besetzen. Aber Gina war dauernd auf der Suche nach einer irgendwie akademisch angehauchten Perspektive für ihn, während Falk ganz zufrieden damit war, wie es eben war. Sein Onkel Sten hatte die Strandkorbvermietung auch bis ans Ende seines Lebens geschmissen, und Falk hatte nie das Gefühl gehabt, dass dem Alten etwas im Leben gefehlt hatte. Aber er wollte Gina nicht das Gefühl geben, dass er keinen Wert auf »Perspektive« legte, also dämpfte er ihren Enthusiasmus nur wenig.
»So superinteressant ist der Job jetzt aber auch nicht …«
»Aber ein Einstieg!« Ginas Stimme war hell vor Begeisterung.
»Gina, es sind nur acht Wochen. Da ist alles vorbereitet, ich muss einfach nur aufpassen, dass nichts schiefgeht. Ich kann praktisch nichts verkehrt machen.«
»Du kannst den Job doch kreativ gestalten. Dir was ausdenken, ein Event vielleicht.«
»Ich glaube nicht, dass das gewollt ist«, wandte Falk ein. »Die Saison ist schon verplant. Und ich muss mich dann ja wieder full-time um die Strandkorbvermietung kümmern.«
»Okay«, Gina seufzte. »Dich muss man wirklich zu deinem Glück tragen.«
Falk, der die leichte Enttäuschung in ihrer Stimme hörte, sah sich zur Verteidigung gezwungen. »Ich glaube nicht, dass diese Stelle mein großes Glück ist«, sagte er und schob liebevoll hinterher: »Das bist doch du.«
Schon wenige Wochen später sollte sich zeigen, wie recht Falk mit dieser Einschätzung hatte.
»Ein Offshorewindpark?« Falk ließ entgeistert die Zeitung sinken und blickte in das käseweiße Gesicht von Jörn Krümmel. »Direkt vor unserem Strand? Fünfzig Windräder in der Optik? Das gibt’s doch nicht!«
Jörn schüttelte betrübt den Kopf. »Das gibt’s auch nicht, beziehungsweise das entspricht nicht der Wahrheit. Aber jetzt ist die Meldung raus.«
»Und wie konnte das passieren?« Falk, der einerseits den Medien grundsätzlich misstraute, konnte andererseits nicht glauben, dass alle seriösen Blätter durch die Bank eine Meldung druckten, die nicht richtig war.
Jörn zuckte desinteressiert mit den Schultern und zog Falk die Zeitung wieder vom Tisch, um selbst einen weiteren missmutigen Blick auf die Meldung zu werfen. »Keine Ahnung. Vermutlich wollte sich der Betreiber profilieren oder die Landesregierung oder was weiß ich. Mit Enten dieser Art haben wir schon öfter zu tun gehabt. Die Meldungen haben weder Hand noch Fuß – aber das Leben machen sie uns trotzdem schwer.«
Jörn zog sich resigniert die Lesebrille von der Nase, ließ sich in den Besucherstuhl fallen, der Falks Schreibtisch gegenüberstand, und rief durch die geöffnete Zimmertür nach draußen: »Biggi? Machst du uns bitte mal ein Teechen?«
Als Antwort kam aus dem Nebenzimmer nur das unangenehme Geräusch von scharrenden Stuhlbeinen, die energisch auf dem Boden zurückgeschoben wurden.
Falk und Jörn saßen im Büro der Kurverwaltung in Norderende, einer liebevoll restaurierten Villa aus den Anfängen der Seebäderwelle des späten 19. Jahrhunderts. Sie war gleichzeitig auch Sitz des Rathauses und beheimatete somit ebenfalls Jörns Büroräume. Falk war hier seit vier Wochen halbtags tätig, in Maritas Büro. Marita hatte ihn am ersten Tag in den Job eingeführt und ihm das Nötigste gezeigt – ihrer Meinung nach. Tatsächlich war sie, ganz stolze Mama, mit ihrem eine Woche alten Sohn im Kinderwagen angefahren gekommen, hatte ihr Baby von allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen im Amt bewundern und verhätscheln lassen und war nach einer knappen Stunde wieder nach Hause aufgebrochen, um Jeremias zu stillen.
Falk hatte sich vergeblich bemüht, zwischen »ist der aber süß« und »dutzi, dutzi« sowie »ganz die stolze Mama« ein paar Sachfragen zu stellen, die ihm allesamt mit »irgendwo gibt’s eine Datei« beantwortet wurden. Jedenfalls war er nach der »Übergabe« durch Marita genauso schlau wie zuvor gewesen. Kollegin Biggi im Nebenzimmer, die vornehmlich die Büroleitung von Jörn Krümmel war, hatte sich auch nicht als große Hilfe gezeigt. Bei jeder Frage von Falk hatte sie mit den Augen gerollt, mit den Schultern gezuckt und Falk deutlich zu verstehen gegeben, dass sie sich mit Problemen dieser banalen Art nicht abgeben konnte. Sie fand grundsätzlich, dass Falk sich alleine durchwursteln sollte, so schwer könnte der Job schließlich nicht sein. Dann widmete sie sich wieder konzentriert dem Geschehen auf ihrem Computer.
Biggi, eine wohlbeleibte Mittfünfzigerin, gab sich stets den Anschein, sehr im Stress und hochkonzentriert zu sein, um den nicht eben geringen Anforderungen ihres verantwortungsvollen Jobs gerecht zu werden. Tatsächlich aber spiegelte sich der Monitor ihres Computers, den sie wohlweislich so gedreht hatte, dass er den neugierigen Blicken von Chef und Kollegen entzogen war, in der Fensterscheibe hinter ihr und Falk wusste demnach immer, ob Biggi gerade auf einer der von ihr favorisierten Websites war: Facebook oder eBay.
Tatsächlich hatte Falk es binnen einer Woche ohne fremde Hilfe geschafft, sich in Maritas Job einzuarbeiten. Denn Marita hatte alles penibel geordnet, ihre Ablage, ihre Verteiler, ihre Kontakte und den Schriftverkehr – alles war picobello abgelegt. Und Falk hatte festgestellt: Diesen Job konnte er auf einer Arschbacke absitzen. Er kam also morgens um neun, arbeitete brav Maritas Agenda ab, erledigte Mail- und Telefonverkehr und war um elf Uhr reif für die erste Kaffeepause.
In dieser Hinsicht zeigte sich die sonst so ruppige Biggi durchaus kooperativ, sie übernahm grundsätzlich alle Arbeiten, die mit der leiblichen Versorgung der gesamten Kurverwaltung zu tun hatten. Das lag daran, dass Biggi die hiesige Tupperware-Vertretung innehatte. Sie präsentierte also allwöchentlich stolz ihre neuen Produkte – und was wären diese ohne die gleichzeitige Demonstration, was man sinnvoll damit anfangen konnte. Ob rote Grütze, Kartoffelsalat oder Eistee – Biggi hatte für alles die richtige Plastikverpackung. Dank ihr hätte man eine fünfstöckige Erdbeertorte bei Windstärke sechs auf einem Krabbenkutter über die Nordsee aufs Festland befördern können – ohne dass die Torte auch nur eine Delle bekommen würde. Davon waren Biggi und all ihre weiblichen Adepten überzeugt.
Und so barg jede Kaffee- und Mittagspause eine neue süß-salzige Überraschung. Die Kollegen, die seit Jahr und Tag von Biggi gemästet wurden, revanchierten sich bei ihr für den erhöhten Kücheneinsatz, indem sie ab und an schlechten Gewissens einige ihrer Plastikboxen kauften. Auch Falk hatte bereits einige äußerst praktische Produkte erstanden, von deren Unentbehrlichkeit Biggi ihn überzeugt hatte. Vor allem jedoch hatte Falk in den vier Wochen gefühlte fünf Kilo zugelegt. Aber, so beruhigte er sich, nur noch vier Wochen, bis Marita zurückkehrte, und weitere zwei Wochen bis zum Saisonbeginn. Dann würde er sein Sportprogramm wiederaufnehmen und von früh bis spät an der frischen Luft sein. Die Pfunde würde er ganz einfach in Muskelmasse umwandeln. Schließlich war er erst knackige neunundzwanzig, da hatte man gefälligst noch nicht mit Figurproblemen zu kämpfen.
Ein Thema, das Jörn Krümmel, seines Zeichens deutlich über vierzig, offensichtlich nicht umtrieb. Denn der saß Falk nun gedankenverloren gegenüber, nippte an Biggis »Teechen« und knabberte dazu einen Schoko-Cookie nach dem anderen weg.
Falk, der noch nicht ganz begriffen hatte, inwieweit die Falschmeldung über den Offshorepark vor Heisterhoog ihn betraf, entschloss sich, Jörn aus seiner Grübelei zu holen.
»Wenn es eine Falschmeldung ist, müssen wir doch nur eine Gegendarstellung verfassen, an den großen Presseverteiler verschicken, und schon hat sich das Problem erledigt.«
Aus dem Nebenzimmer ließ Biggi ein verächtliches Schnaufen vernehmen.
Jörn legte den angeknabberten Cookie zur Seite, ganz so, als hätte er jetzt erst bemerkt, dass er die Kalorienmenge eines ganzen Tages in sich hineinstopfte, und sah Falk mitleidig an.
»1996 lief der Tanker Sea Empress vor Wales auf Grund. Rund 70 000 Tonnen Öl flossen in die Nordsee. Wir hatten daraufhin fünfzehn Prozent Stornierungen in der Hauptsaison. Ein schwarzes Jahr für Heisterhoog.«
»Aber«, hakte Falk verständnislos nach, »die Küste vor Wales, das hat doch mit uns nichts zu tun.«
»Eben«, Jörn zog grimmig die Stirn in Falten, »das ist ja, was ich dir begreiflich machen möchte. Der Urlauber ist sensibel. Zumindest kurz vor den Ferien oder wenn er gebucht hat. Da reicht das Stichwort ›Öl in der Nordsee‹, und er fährt doch lieber in den Süden. Quallenplage, Robbensterben und jetzt eben Windpark – hat alles denselben Effekt.«
»Aber im Jahr drauf hat er es doch wieder vergessen.« Falk fand, dass Jörn die Tragweite etwas übertrieb.
»Das ist ein Jahr zu spät. Wir alle leben hier vom Tourismus. Die einen mehr, die anderen weniger. Für manch einen ist eine Einbuße von fünfzehn Prozent existenzbedrohend.«
Falk dachte an Silke Söderbaum, die Töpferin, oder Fischbrat-Piet mit seinem Imbiss in Norderende. Jörn hatte recht. Sie lebten vom Tourismus, sie hatten allerdings bei weitem nicht so ein dickes Stück vom Kuchen abbekommen wie beispielsweise Hubsi von Boistern. Den würden ein paar Stornierungen in der Saison wenig jucken. Aber die kleinen Unternehmer, die, die der Sommer durch den Winter bringen musste, für die konnte es unter Umständen tatsächlich hart werden. Nicht zuletzt für Falk selbst.
»Okay. Was tun wir also? Außer der Gegendarstellung.«
Falk gab sich tatkräftig. Bislang hatte der Job ihn ein müdes Lächeln gekostet, vielleicht lag hier ja die Chance einer Herausforderung. Er wollte gerne zeigen, was in ihm steckte, und wenn er Jörn behilflich sein konnte, die Misere zu lösen, dann tat er es umso lieber.
»Wir müssen uns etwas einfallen lassen, um den möglichen Stornierungen zuvorzukommen. Beziehungsweise neue Gäste rekrutieren.« Jörn begutachtete den Schoko-Cookie, als steckte tief im Keks die Lösung für das Problem. Dann schob er das Gebäck kurzerhand ganz in den Mund und erhob sich.
»Lass dir was einfallen.« Ein paar Krümel stoben aus seinem Mund. »Du bist schließlich jung und kreativ. Mach was Neues, Anderes, nie Dagewesenes. Dafür habe ich dich ja geholt.«
Jörn zwinkerte Falk freundlich zu und verließ das Zimmer. Falk blickte ihm sprachlos und überfordert hinterher. Er sollte es nun richten? Im Alleingang? Das war doch etwas zu viel der Herausforderung. Er wollte dem Bürgermeister noch etwas nachrufen, aber da steckte Biggi den Kopf in die offene Tür und grinste süffisant.
»Teechen?«
Den Abend verbrachte Falk am Telefon. Zuerst mit Grit, seiner Mutter, dann mit Gina. Beide Gespräche hatten gleich begonnen: »Ihr bekommt einen Windpark? Direkt vorm Strand? Das ist ja schrecklich!«
Falk, der Mühe hatte, beiden Frauen zu erklären, dass es sich um eine Falschmeldung handelte, dass der freie Blick an Heisterhoogs schönem Strand keineswegs mit Windrädern verstellt würde, begriff, welche Eigendynamik so eine Falschmeldung entwickeln konnte und dass die winzig kleine Gegendarstellung, die morgen oder übermorgen in den Zeitungen erscheinen würde, keineswegs diese Reichweite hätte. Obwohl er nach dem Telefonat mit Gina todmüde war, entschloss er sich dazu, sich mit dem Problem der drohenden Stornierungen gedanklich auseinanderzusetzen. Und sei es nur, um das Gefühl zu haben, er hätte den Job von Marita zu Recht übernommen und würde die Sache nicht nur einfach aussitzen. Befeuert von einer Flasche eiskaltem Bier und Matjes auf Vollkornbrot, machte Falk sich Notizen, wen man wie für einen Urlaub auf Heisterhoog begeistern könnte. Eigentlich fand er ja, dass die Insel für sich selbst sprach – wer einmal hier gewesen war, kam entweder nie oder immer wieder. Aber diese Ansicht schien heute überholt, und so knobelte er ein paar Konzepte aus, wie von Jörn gefordert.
Es war kurz vor drei, als ihm der Stift aus der Hand fiel und der Kopf aufs Papier. Falk schaffte es gerade noch mit letzter Kraft, sich vom Esstisch seiner kleinen Kate in sein Bett zu rollen.
Am anderen Tag tauchte er motiviert in Jörns Büro auf und legte diesem seine Vorschläge zur Gästerekrutierung dar.
»Also, zunächst einmal habe ich mir Gedanken über die Zielgruppe gemacht«, begann Falk seinen Vortrag. »Heisterhoog zeichnet sich dadurch aus, dass es vornehmlich Individualtouristen anspricht, vor allem Familien …«
»… die einen naturnahen, kinderfreundlichen Urlaub ohne Fremdanimation in ruhiger, gesunder und spektakelfreier Umgebung wünschen«, setzte Jörn seinen Satz fort.
Falk blickte irritiert auf seine Notizen. »Äh, ja, genau.«
Noch während er suchte, an welcher Stelle er nun fortfahren sollte, fiel ihm Jörn erneut ins Wort.
»Den Teil mit der Zielgruppe kannst du überspringen.« Er holte aus einer seiner Schubladen eine großformatige Kladde hervor, auf deren Cover der breite, menschenleere Strand von Heisterhoog im Sonnenuntergang abgebildet war.
»Ich lasse alle drei Jahre eine Marktforschung vornehmen, um zu gucken, ob wir mit dem, was wir so anbieten, noch auf der Höhe sind oder eventuell etwas verbessern sollten. Also, das mit der Zielgruppe …« Jörn winkte nur müde mit der Kladde und ließ diese dann wieder in den Untiefen seines Schreibtisches verschwinden.
»Verstehe.« Falk wollte sich nicht anmerken lassen, dass er etwas aus dem Konzept war, fragte sich aber dennoch, warum er von Jörn zum Retter auserkoren worden war, wenn diesem doch bereits ausgeklügeltes Profimaterial vorlag.
Jörn kam ihm mit der Antwort zuvor, als hätte er Falks Gedanken lesen können. »Hier geht es um langfristige Projekte. Golfplatz ja oder nein, werden wir in Zukunft mehr Senioren oder mehr Kinder hier beherbergen, und so weiter. Was ich von dir will, ist das Feuerwehrkonzept. Die Rettungsinsel, die sich in Sekunden von selbst aufpumpt. Du weißt schon.«
Falk überprüfte mutlos seinen Zettel. Eigentlich konnte jetzt nur noch eine Idee bestehen.
»Ein sportliches Großereignis. Beachvolleyball-Meisterschaft.« Falk versuchte, eine große Portion Enthusiasmus in das Wort Großereignis zu legen, aber Jörn sah ihn nur weiterhin reglos und nachdenklich an.
»Studienreisen, Gewinnspiele, Aktivferien für die 60+-Generation …?«, legte Falk zögerlich nach.
Jörn erhob sich seufzend. »Das ist eine schöne Idee mit dem Volleyball. Wirklich, Falk, ich werde es mir mal durch den Kopf gehen lassen.« Jörn erhob sich, quälte sich ein Lächeln ab und machte Falk deutlich, dass die Audienz beim Bürgermeister für heute beendet war.
»Findest du es nicht gut?« Falk wollte sein Scheitern nicht begreifen.
»Doch, doch. Sehr gut sogar. Aber weißt du, wie lange so eine Meisterschaft geht? Eine Woche. Wenn’s hoch kommt. Die meisten Gäste, die deswegen herkommen würden, sind junge Leute, die campen und ihr Geld beisammenhalten. Außerdem muss man sich als Austragungsort für so etwas erst einmal einen Namen machen. Ich fasse das gerne ins Auge. Vielleicht für nächstes oder übernächstes Jahr.« Jörn klopfte Falk kameradschaftlich auf die Schulter. »Wir sehen uns heute bei Silke zum Skat. Und vielen Dank für deine Mühe. Tolle Idee.«
Falk begriff, dass er einem alten Hasen in Sachen Tourismus nichts vormachen konnte. Jörn war mit allen Wassern gewaschen, er kannte den Ferienbetrieb auf Heisterhoog wie seine Westentasche. Er wusste natürlich viel besser als Falk, was ging und was eben nicht. Aber anstatt beleidigt zu sein, beschloss Falk, seine Niederlage sportlich zu nehmen. Schließlich hatte Jörn, den er immer als ausgleichenden und großzügigen Menschen erlebt hatte, einfach nur versucht, Falk eine Chance zu geben, sich zu profilieren. Das war ihm nicht gelungen, schade drum. Aber er würde hocherhobenen Hauptes vom Spielfeld gehen.
Biggi setzte ihr spöttisches Grinsen auf und öffnete den Mund, doch Falk kam ihr zuvor.
»Kein Teechen, danke.« Er ging an Biggis Schreibtisch vorbei in sein Büro, drehte sich vorher aber noch mal um. »Weißt du eigentlich, dass im Meer sechsmal mehr Plastikmüll schwimmt als Plankton?«
Biggis Lächeln fror ein.
Falk schloss seine Bürotür und ballte die Faust. Verdammt, nachgetreten in der letzten Spielminute.
Den Nachmittag verbrachte Falk wie immer in seiner Lagerhalle. Seit die Strandkörbe am Saisonende im vergangenen Herbst ins Trockene gebracht worden waren und dort auf Sanierung warteten, kamen Falk und Nille Tag für Tag um drei Uhr nachmittags dort zusammen. Die Lagerhalle gehörte zu dem Grundstück, das sein Onkel Sten ihm vererbt hatte, und lag inmitten der Dünen. Sie war keine Schönheit, ein langgezogener Steinbau mit rechteckigem Grundriss, einem Wellblechdach und in der Höhe von vier Metern einer Reihe erblindeter Fenster. Ein billiger Zweckbau aus den Fünfzigern. Aber wenn Falk das schwere hohe Metalltor aufzog, um die Halle zu betreten, entfaltete diese ihren Zauber. Vor allem im Winter, wenn der Allesbrenner in der Ecke bullerte und die fünfhundert Strandkörbe sich wie eine Herde Pinguine zusammenkuschelten. An den Wänden und von der Decke hingen alte Netze und Taue herab, die allerhand Strandgut beherbergten, das über die Jahre an Heisterhoogs Küste geschwemmt wurde. Oder die Fundstücke, die in den Strandkörben verblieben, nachdem die Gäste abgereist waren. Gummitiere, Sandspielzeug, Badeanzüge, Sandalen, aber auch Bücher, Thermoskannen, Brettspiele und sogar Pfeifen hatten sie schon gefunden.
Beim Betreten der Lagerhalle schlug einem der unverwechselbare Geruch vom Peddigrohrgeflecht der alten Körbe, von Salz und Sand und natürlich vom Meer entgegen. Es duftete nach Algen, vertrockneten Quallen oder Krebsen und Teer. Nicht zu vergessen nach dem Kaffee, den Nille immer schon aufgebrüht hatte, wenn Falk kam.
Nille der Klabautermann, wie er genannt wurde, in seinem gelben Ölzeug, den übergroßen Gummistiefeln und dem dunkelblauen Troyer, umarmte Falk stets, als hätte er ihn jahrelang nicht gesehen, und legte vertraulich den Kopf auf Falks Schulter, bis Falk ihn begütigend auf den Rücken klopfte. Falks Gehilfe war geistig nur eingeschränkt fähig, aber er war hilfsbereit, eifrig und immer von sonnigem Gemüt. Nille war schon dem alten Sten zur Hand gegangen, und Falk hatte ihn gerne übernommen. Zwar konnte er Nille nicht wirklich angemessen für seine Tätigkeit bezahlen, aber erstens wurde Nille von den Insulanern mit Klamotten, Lebensmitteln und allem, was er zum Leben brauchte, versorgt, und zweitens arbeitete Nille nicht vorrangig in der Strandkorbvermietung, um Geld zu verdienen, sondern weil sein Herz daran hing. Nille kannte jeden einzelnen Strandkorb und seine Macken. Er war in der Lage, alles zu reparieren, und Falk war voll tiefer Bewunderung für Nilles handwerkliches Geschick. Wie er das Korbgeflecht der Stühle ausbesserte oder die kleinen Holzbrettchen, die als Minitischchen auf einer Seite in den Strandkörben angebracht waren, zurechtsägte und abschliff oder die Metallstreben, an denen die ausziehbaren Fußstützen befestigt wurden, wieder geradedengelte – Nille war ein Meister seines Fachs!
Als Falk an diesem Nachmittag die Halle betrat und seinen Gehilfen umarmte, spürte er sofort, wie sich seine Laune hob. Hier, in der warmen Lagerhalle, mit Nille und den Körben und einem heißen Kaffeebecher in der Hand, relativierte sich die Niederlage vom Vormittag sofort. Während er ein paar neue Holzbretter abschliff und mit Öl behandelte, erzählte er dem Klabautermann von der Zeitungsente mit dem Windpark, von Jörns Befürchtung über die ausbleibenden Gäste und seinem fehlgeschlagenen Versuch, sich ein zündendes Konzept auszudenken. Nille nickte zu allem eifrig, obwohl Falk überzeugt war, dass er nicht mal ein Viertel von dem Gesagten verstanden hatte.
Nille zuckte daraufhin mit den Schultern, grinste Falk an und sagte: »A-a-aber wir s-s-sind da, F-f-falk.« Und dann lachte er fröhlich.
Und Falk fand, dass Nille einfach recht hatte. Sie waren da, und das war im Moment alles, was zählte.