Und ewig singen die Krabben - Marie Matisek - E-Book

Und ewig singen die Krabben E-Book

Marie Matisek

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Beschreibung

Harte Schale, weicher Kern – von Krabben und Männern auf Süderum Eigentlich ist Heini Hinrichsen ein ganz lieber Kerl. Der Tätowierer aus Hamburg sieht zwar ziemlich wild aus, doch er sehnt sich nach Liebe. Als sein Vater stirbt, kehrt er zurück in die Heimat auf die schöne Nordseeinsel Süderum. Das Erbe: ein marodes Haus und ein hochverschuldetes Bestattungsunternehmen. Außerdem weckt die Insel Erinnerungen an seinen Vater und seine Kindheit. Mit seiner Stiefmutter sollte er sich auch endlich mal versöhnen. Mit Hilfe eines alten Schulfreundes und einer wunderschönen, lispelnden Floristin macht er sich auf und stellt fest: Die Nordseeküste stellt sein Leben gründlich auf den Kopf. Der vierte Roman von Bestsellerautorin Marie Matisek

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Das Buch

Eigentlich ist Heini Hinrichsen ein ganz lieber Kerl. Der Tätowierer aus Hamburg sieht zwar ziemlich wild aus, doch er sehnt sich nach Liebe. Als sein Vater stirbt, kehrt er zurück in die Heimat auf die schöne Norseeinsel Süderum. Das Erbe: ein altes Haus und ein hochverschuldetes Bestattungsunternehmen. Außerdem weckt die Insel Erinnerungen an seine Kindheit. Mit seiner Stiefmutter sollte er sich auch endlich mal versöhnen. Mit Hilfe eines alten Schulfreundes und einer wunderschönen, lispelnden Floristin macht er sich auf und stellt fest: Die Nordseeküste stellt sein Leben gründlich auf den Kopf.

Die Autorin

MARIE MATISEK führt ein chaotischen Haushalt mit Mann, Kindern und Tieren im idyllischen Umland von München. Neben dem Muttersein und der Schreiberei pflegt sie ihre Hobbys: Kochen, ihren Acker umgraben und Kröten über die Straße helfen.

Marie Matisek

Und ewig

singen die Krabben

Ein Küsten-Roman

List

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ISBN: 978-3-8437-1057-2

© 2015 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: ZERO, MünchenUmschlagabbildung: Michaela Spatz

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Meinem Mann und seinem Vater

1991

Ein Herbstabend auf Süderum

Er lag mit weit aufgerissenen Augen im Bett und starrte an die Decke. Da oben leuchteten die Sterne. Mama hatte sie dorthin geklebt. Damit er keine Angst hatte, damit es nie ganz dunkel war.

Heini klammerte sich Abend für Abend an den schwach gelblichen Schimmer der glimmenden Plastiksterne. Vor wenigen Sachen hatte er so große Angst wie vor dem Einschlafen. Er hatte Angst vor bösen Zauberern oder Hexen, die es nur darauf abgesehen hatten, den kleinen sechsjährigen Heini Hinrichsen in seinem hellblau-weiß gestreiften Frotteepyjama zu entführen. Deshalb mussten Mama oder Papa immer unter dem Bett nachsehen, ob die Luft rein war. Sie mussten den Kleiderschrank durchsuchen und einen Blick hinter die Vorhänge werfen. Außerdem passte Lupo auf ihn auf, der große braune Plüschhund, der mal so groß wie Heini gewesen war. Mittlerweile überragte Heini Lupo um das Doppelte, aber dennoch war es der Plüschhund, der über den kleinen Jungen wachen musste. Lupo war beileibe nicht der einzige Aufpasser in Heinis Bett, aber der wichtigste. Da waren noch Schweini, Pieps und Muckelchen. Natürlich Monchichi, Kängu und Bibo aus der Sesamstraße. Viel kleiner als der echte Bibo, zu Heinis großem Verdruss. Ja, wenn er einen Bibo hätte, der so groß wäre wie der aus dem Fernsehen, dann könnte sich der arme Lupo abends auch mal aufs Ohr legen und mit Bibo beim Wacheschieben abwechseln. Aber so …

Es donnerte auf einmal so krachend, dass es sich anhörte, als wäre eine Bombe im Nebenzimmer eingeschlagen, und Heini verkroch sich noch tiefer unter die Bettdecke. Zu der Angst, die er ohnehin jeden Abend vor dem Einschlafen hatte, kam heute noch ein schreckliches Gewitter hinzu. Es zog bereits seit Stunden über die Insel, das Donnern und die Blitze waren mal weiter weg, mal näher dran.

Heini hatte überhaupt nicht ins Bett gehen wollen, aber nach »Meister Eder und sein Pumuckl«, einer warmen Badewanne und einem Teller Wurstbrote war Mama unerbittlich gewesen. Sie hatte ihn in sein Zimmer begleitet und sich an sein Bettchen gesetzt. Sie hatte mit ihrer leisen, etwas kratzigen Stimme gegen das schreckliche Gewitter angesungen, alle Schlaflieder, die sie kannte. Und sie hatte ihm dabei ganz sanft den Unterarm gestreichelt.

Heinis Mama hatte lange gepflegte Fingernägel, und wenn sie damit ganz zart auf der Innenseite der Unterarme hin und her fuhr, schlief Heini normalerweise binnen Minuten tief ein.

Aber nicht heute. Es krachte so entsetzlich draußen, dass Heini sicher war, sein letztes Stündlein habe geschlagen.

Schließlich aber hatte seine Mama geseufzt, ihm die Bettdecke übers Kinn gezogen, sie außenrum festgesteckt und war aufgestanden.

»Schlaf schön, mein Kleiner.«

»Mama! Du sollst nicht gehen!«

»Ich muss zur Generalprobe, mein Schätzchen. Aber schlaf du schön.«

»Ich kann nicht! Mama, ich hab Angst!« Heini schluchzte ein paarmal theatralisch. Wie gerne hätte er ein paar Tränen verdrückt. Ihm war hundeelend zumute, er fürchtete sich über alle Maßen, aber leider blieben seine Augen trotz der hervorgepressten Schluchzer trocken.

Seine Mama beugte sich noch einmal zu ihm hinunter und küsste ihn zärtlich auf beide Backen.

»Papa ist zu Hause. Der guckt nach dir. Und wenn ich wiederkomme, schau ich auch sofort in dein Zimmer. Du wirst sehen: Dann schläfst du ganz tief. Mach dir keine Sorgen, das ist nur ein Sturm.«

Sie lächelte ihn an und dann verließ sie das Zimmer.

Und jetzt lag der kleine Heini hier in seinem Bettchen und fürchtete sich. Er dachte an den Häwelmann. Das Märchen hatte Mama ihm oft vorgelesen. Aber er mochte es nicht. Er konnte diesen Häwelmann einfach nicht verstehen. Wieso wollte der denn unbedingt hinaus aus seinem Bettchen, aus seinem Zimmer, weg von seiner Mama? Dieser doofe Häwelmann. Jedes Mal wenn Mama die Stimme nachmachte und rief: »Mehr! Mehr!«, wunderte sich Heini über ihre Begeisterung. Von ihm aus hätte der Häwelmann ruhig in dem See ertrinken können. Was fuhr er auch in der Nacht umher, noch dazu ohne sein Hemdchen und dann dem guten alten Mond über die Nase!

Heini wollte nachts um keinen Preis hinaus in die Welt, er wollte schlafen, ohne an Hexen, Zauberer und Gespenster denken zu müssen. Er wollte, dass Mama neben ihm saß und seinen Arm bis zum nächsten Morgen streichelte.

Jetzt zuckte ein Blitz über das schräge Dachfenster von Heinis Zimmerchen, gleichzeitig krachte es erneut. Von Papa hatte Heini gelernt, dass man zwischen Donner und Blitz zählen musste. Je mehr man zählen konnte, desto weiter war das Gewitter entfernt. Heini konnte locker bis hundert zählen, er wusste also Bescheid, aber gerade eben hatte er zum Zählen noch nicht einmal den Mund öffnen können, geschweige denn »Eins« sagen.

Panisch packte Heini seinen Lupo, schlug die Bettdecke zurück und flitzte auf nackten Füßen über die Holzdielen zur Tür.

Er riss die Tür auf und zögerte kurz. War es richtig, jetzt das Zimmer zu verlassen? Draußen im Treppenhaus war es stockfinster. Zum Glück befand sich der Lichtschalter gleich neben seiner Tür und Heini drückte ihn. Mit der anderen Hand presste er Lupo fest an sich.

Endlich wurde es hell, Heini musste blinzeln und seine Augen an das grelle Licht gewöhnen. Dann rief er angstvoll in das Treppenhaus: »Mama! Mama!« Keine Reaktion, natürlich, Mama war ja bei der Generalprobe. Und Heini wusste, wenn Mama beim Chor war, dann kam sie immer erst spät nach Hause. Also rief er nach seinem Vater. Er hoffte, dass dieser nicht vor dem Fernseher saß, denn dann hatte er immer so laut den Ton an, vor allem wenn er Fußball guckte, dass er außerhalb seines Fernsehsessels gar nichts hörte.

Heini beugte sich über das Geländer und schrie laut. Keine Reaktion.

Heini versuchte es noch mal, so laut, dass sich seine Stimme überschlug. »Papa!« Draußen donnerte es wieder, kurz darauf ein Blitz. Heinis kleines Herz schlug bis zum Hals. Er hörte, wie der Sturm ums Haus heulte, und vor seinen Augen sah er die Hexen auf ihren Besen den Schornstein umkreisen. Ob das Haus ihren Attacken standhalten würde? War der Kamin so breit, dass die Hexen hineinschlüpfen konnten? Schon oft hatte der kleine Heini sich gewünscht, dass er nicht das einzige kleine Zimmer unterm Dach bewohnen würde. Wäre es nicht viel besser, er hätte sein Zimmerchen im ersten Stock, direkt neben dem Schlafzimmer von Mama und Papa? Aber seine Eltern hatten es gut gemeint, als sie ihm das kleine Dachzimmerchen eingerichtet hatten. Papa meinte, es sei wie der Ausguck auf einem Piratenschiff, und an guten Tagen war es das auch. Heini konnte, wenn er sich auf einen Stuhl stellte, aus seiner schrägen kleinen Dachgaube über die Fontanestraße hinweg bis zum Meer sehen! Wenn Moritz zu Besuch kam, sein Freund aus dem Kindergarten, dann spielten sie meistens Piratenschiff, und natürlich war dort oben der Ausguck. Von hier konnten sie genau beobachten, ob sich feindliche Schiffe näherten, und aus ihren Pistolen auf die Angreifer feuern.

Aber im Moment war kein guter Tag, sondern vielmehr eine böse Nacht. Heini hatte weder Moritz noch eine Pistole zur Hand. Nur Lupo. Mama war nicht da und Papa hörte ihn nicht, also blieb ihm nichts anderes übrig, als barfuß durch das kalte und zugige Treppenhaus zu laufen, auf der Suche nach Hilfe.

Seine kleinen Füße tapsten flink über die Stufen in den ersten Stock. Badezimmer, Schlafzimmer, kleine Stube – rasch hatten Heini und Lupo alle Türen geöffnet. Dabei rief Heini ohne Unterlass nach seinem Papa. Aber die Räume waren dunkel, kein Papa, nirgends. Nun musste Heini hinunter ins Erdgeschoss. Mittlerweile war er schon ganz durchgefroren, die Füße waren eiskalt und er zitterte unter seinem Frotteepyjama.

Er presste Lupo an sich und lief zur Wohnzimmertür. Es war seltsam still dahinter, man hörte im ganzen Haus nur das Heulen des Sturms, Ächzen im alten Dachstuhl, Blitz und Donner.

Heini griff nach der kalten Messingklinke und drückte diese hinunter. Er musste nur einen kleinen Spalt öffnen, um zu sehen, dass sein Vater nicht vor dem Fernseher saß. Es war kein Licht im Wohnzimmer. Auch sah er nicht das bläuliche Flackern der Röhre. Das Wohnzimmer war menschenleer und Heini zog die Tür sofort wieder zu. Ein letzter verzweifelter Schrei nach seinem Papa entrang sich seiner Kehle, dann kauerte sich der kleine Junge auf der untersten Treppenstufe zusammen. Er wusste, was passiert war. Die bösen Geister und Hexen hatten seine Eltern geholt. Tief in sich drinnen war Heini alt genug, um zu wissen, dass diese Vorstellung irgendwie nicht der Wahrheit entsprechen konnte, und doch gab es keine andere Erklärung für die Abwesenheit seiner Eltern. Niemals hätten Mama und Papa ihn abends alleine gelassen. Niemals. Noch dazu, wo sie beide wussten, wie sehr sich ihr kleiner Sohn vor der Nacht und der Dunkelheit fürchtete.

Heini weinte ein paar bittere und ängstliche Tränen, aber davon bekam er fürchterlichen Durst. Er wischte seine Triefnase an Lupos Fell ab, das von den Tränen schon ganz nass war, und nahm die Küche ins Visier. Hier hatte er seinen Vater noch nicht gesucht, aber die Tür zur Küche stand immer offen, er hatte also gleich gesehen, dass auch dieser Raum dunkel war.

Heini stand auf und dachte sich, dass es sicher nicht schlimm war, wenn er jetzt, da sowieso alles vorbei war und er eine arme Waise, eine von Papas Colas trinken würde. In all seiner tiefen Verzweiflung über das schlimme Schicksal seiner Eltern durchzuckte ihn eine winzige diebische Freude, dass er tun und lassen konnte, was er wollte. Vielleicht hatten die Bösen ihn nur einfach nicht gefunden. Und er würde ab sofort ganz allein in dem großen Haus leben. Und niemand würde ihm sagen, wann er den Fernseher ausmachen sollte und dass er sich die Hände gefälligst waschen sollte, bevor er sich etwas zu essen nahm. Heini öffnete den Kühlschrank und wie erwartet stand neben der Packung Vollmilch die kleine Flasche mit der Cola, die seine Mama stets für seinen Papa dort bereithielt.

In der Regel trank sein Papa nach der Arbeit Bier, aber ab und zu, meistens am Samstag nach dem Autowaschen, seufzte er und sagte: »Ach, jetzt könnte ich mal ’ne Cola vertragen.« Und dann zauberte Mama das kleine Glasfläschchen mit der geschwungenen Aufschrift aus dem Kühlschrank.

In Gedenken an seine Eltern schluchzte Heini pflichtschuldigst, aber bei dem Gedanken, jetzt gleich die absolut und unter Todesstrafe verbotene giftige Limo in sich hineinzuschütten, gerieten sowohl seine Eltern als auch das schreckliche Gewitter und alle bösen Geister sowieso in den Hintergrund. Jetzt galt es, diese Flasche aufzubekommen. Heini hatte wohl hundertmal bei seinem Vater zugesehen, wie dieser mit dem Flaschenöffner sowohl die Cola als auch seine Bierflaschen aufhebelte, aber jetzt, wo er mit seinen kleinen weichen Fingern an dem Verschluss zog, erwies sich die Sache als weniger leicht als gedacht. Irgendwann schließlich gelang es Heini, die Zunge in den Mundwinkel geklemmt, den Metallverschluss aufzuhebeln. Dabei hätte er um ein Haar die ganze Flasche ausgekippt, so unerwartet hob sich der Deckel vom Flaschenrand. Eine braune Pfütze breitete sich auf dem Küchenboden aus, aber Heini tapste nur drum herum, anstatt diese aufzuwischen. Er war ein armes Waisenkind, also wen scherte schon die klebrige Pfütze?

Als der kleine Junge wieder in die Diele zurückkehrte, bemerkte er, dass die Tür zu den Geschäftsräumen einen schmalen Spalt offen stand und dahinter Licht war.

Heinis Herzchen machte einen Sprung! Sein Papa war noch mal an die Arbeit gegangen! Natürlich, warum hatte er nicht gleich daran gedacht! Es kam öfters vor, dass sein Vater sich nach einem abendlichen Telefonanruf stöhnend aus dem Fernsehsessel erhob und etwas von »… noch einen auf den Tisch gekriegt« murmelte. Dann küsste er Heinis Mama auf die Stirn, die diese nur böse runzelte und den Kopf schüttelte, und verschwand nach nebenan.

Die Geschäftsräume waren von ihrem Privathaus aus zugänglich, sie waren von der Diele der Hinrichsens nur durch eine dünne Tür getrennt. Manchmal hörte Heini, wie die Leute dort drüben bei seinem Papa weinten. Aber er ging selten nach drüben, es gefiel ihm dort ganz und gar nicht. Nur wenn Moritz drängelte, dann ließ er sich dazu herab, seinem Freund die Vorhalle zu zeigen. Moritz war so neugierig, er wollte immer alles sehen und alles wissen, was Heinis Vater so arbeitete. Aber Heini hatte selbst nur eine vage Vorstellung von dem, was sein Vater tat, und um sich selbst keine Blöße zu geben, überredete er Moritz immer ganz schnell, wieder in ihre privaten Räume zurückzukehren.

Aber jetzt blieb ihm nichts anderes übrig. Das Gewitter tobte mit unverminderter Kraft um das alte Haus und um nichts in der Welt wäre Heini jetzt alleine wieder ins Bett gegangen.

In der einen Hand die Cola, in der anderen Lupo, zwängte sich der kleine Junge durch die Tür, die zum Geschäft seines Vaters führte. Nun stand Heini in der Vorhalle, dort, wo sein Papa die Leute empfing, die zu ihm kamen. Dicke Auslegware dämpfte jedes Geräusch, der große Strauß mit den weißen Lilien, der immer in der Ecke stand, verströmte einen schweren süßlichen Geruch. Mama bestand darauf, dass die Lilien immer frisch waren, auch wenn Sune, Heinis Papa, fand, dass dies zum Fenster rausgeschmissenes Geld war. Aber Mama ließ keinen Widerspruch zu, lächelte sanft und arrangierte Woche um Woche einen frischen Strauß Lilien.

Die Vorhalle war nur matt erleuchtet, nicht die Deckenbeleuchtung war eingeschaltet, sondern die kleine weiße Tischlampe nahe des Eingangs. Aber Heini konnte dennoch erkennen, dass die Tür zum Keller offen stand, und von dort unten drang nicht nur Licht zu ihm herauf, sondern auch Musik. Heini hatte jetzt die Gewissheit, dass sein Papa im Keller war und arbeitete, aber er war dennoch verunsichert. Es war ihm nämlich streng verboten worden, jemals diese Kellertreppe hinabzusteigen. Sein Vater, der sich viel im untersten Stockwerk aufhielt, hatte Heini eindringlich davor gewarnt. Irgendwann, hatte Sune gesagt und mit seiner großen Hand Heinis Haare durchwuschelt, irgendwann sei Heini groß genug, dass er in den Keller dürfe. Aber niemals – und das musste Heini seinem Vater hoch und heilig versprechen – , niemals durfte er die Kellerräume ohne Erlaubnis betreten.

Heini stand also frierend in der Vorhalle und zögerte. Er hatte schreckliche Angst, das hatte auch die Cola nicht ändern können – die im Übrigen lange nicht so gut wie kalte Milch mit Kaba schmeckte –, und er wollte unbedingt, dass sein Papa kommen und ihn hochheben und ins Mama-Papa-Bett tragen würde.

Aber sein Papa war dort unten, im verbotenen Keller, und er schien die verängstigten Rufe seines Sohnes nicht hören zu können, weil er so laut Musik hörte.

Es donnerte, dass das Haus wackelte, und Heini überlegte nicht mehr weiter. Stattdessen lief er angsterfüllt die Kellertreppe hinunter und rief nach seinem Papa.

»I am sailing«, tönte es zunehmend lauter aus dem Keller, Sune Hinrichsens Lieblingslied, das er gerne aus voller Kehle mitgrölte.

Die Kellertreppe wand sich in zwei Drehungen nach unten, und je schneller Heini lief, desto lauter wurde die Musik und desto heller das Licht. Heini vergaß vor Erleichterung, gleich seinen Papa in die Arme zu schließen, dass er sich auf verbotenem Terrain befand, und rannte die Treppe hinab, so schnell ihn seine kleinen Beinchen trugen.

Unten angekommen, stand er vor einer geöffneten Tür, hinter der sich ein Gewölbekeller mit weißen Wänden und hellem Licht befand. In der Mitte des Raumes stand ein langer Tisch, dahinter sein Vater mit einem grünen Kittel und Gummihandschuhen. Vor ihm auf dem Tisch lag unter einem Tuch ein Mensch, nur der Kopf guckte aus dem Tuch hervor.

Im gleichen Moment, als Heini die Szene erfasst hatte, krachte ein Blitz ganz in der Nähe. Der Junge zuckte zusammen, ließ die Cola fallen, sein Vater, der sich an dem Menschen auf dem Tisch zu schaffen machte, guckte hoch, starrte Heini an und dieser begriff in der gleichen Sekunde, das der Mensch auf dem Tisch ein Toter war.

Er schrie so laut, wie er noch nie in seinem sechsjährigen Leben geschrien hatte, bevor es um ihn herum schwarz wurde.

1

Hamburg, August

Seit einer gefühlten Stunde kurvte Heini nun schon ums Karree. Er schlug wütend auf sein Lenkrad und fluchte leise. Er war drauf und dran, die Nerven zu verlieren. Ihm stand der wichtigste Termin seines Berufslebens bevor. Wenn Ali Hassan ihn nach der heutigen Sitzung pries, dann würden die Leute ihm die Bude einrennen!

Und dann so was. Kein Parkplatz. Natürlich nicht, man bekam in seinem Viertel nie einen Parkplatz. Schon gar nicht, wenn man einen uralten Volvo 240 fuhr, fast fünf Meter lang. In der Regel ließ Heini den Wagen einfach stehen, wenn er es mit viel Glück und Satans Willen geschafft hatte, irgendwo einen Platz zu ergattern, und vermied es anschließend tunlichst, damit zu fahren. Heute aber hatte er mit dem Auto fahren müssen, er transportierte die Jugger-Rüstungen seiner Mannschaft. Keiner von den Jungs und Mädels hatte eine Karre, in die so viel von dem Zeugs reinpasste wie in seine. Also stapelten sich um ihn Langpompfen und Schilder, Q-Tips und Stangen – alles, was man für ein Jugger-Spiel brauchte. Das Tor hatten sie auch noch hineingequetscht.

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