An den grünen Hängen des Vesuv - Marie Matisek - E-Book

An den grünen Hängen des Vesuv E-Book

Marie Matisek

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Beschreibung

Der neue große Italienromanvon Marie Matisek erzählt von einer jungen Frau, die am Fuß des Vesuv auf die Suche nach ihrer Familiengeschichte geht - und sich selbst findet. Als Sergio Catalongo stirbt, trifft das die ganze Familie, aber ganz besonders die achtundzwanzigjährige Selina, seine Enkelin. Ihr Großvater war ein Original – er kam mit 22 Jahren als einer der ersten "Gastarbeiter" nach Deutschland und eröffnete mit dem "Bella Italia" die erste italienische Eisdiele in Wuppertal. Selina hingegen hat nur wenig Verbindungen zum Land ihres Opas. Nicht nur sie, sondern auch ihr Vater sind in Deutschland geboren; dass in ihren Adern italienisches Blut fließt, macht sich vor allem an ihrem Namen bemerkbar. Doch Sergios Tod macht ihr klar, wie wichtig es ist, die eigenen Wurzeln zu kennen. Also macht sie sich kurzentschlossen auf den Weg, um an den grünen Hängen des Vesuv herauszufinden, wer ihr Großvater wirklich war – und wer sie wirklich sein möchte. SPIEGEL-Bestsellerautorin Marie Matisek erzählt eine ebenso leichtfüßige wie tiefsinnige Geschichte über die Bedeutung der Familie, die  Kraft der Liebe, und die Suche nach den eigenen Wurzeln

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Marie Matisek

An den grünen Hängen des Vesuv

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Als Sergio Catalongo stirbt, trifft das die ganze Familie, aber ganz besonders die achtundzwanzigjährige Selina, seine Enkelin. Ihr Großvater war ein Original – er kam mit 22 Jahren als einer der ersten »Gastarbeiter« nach Deutschland und eröffnete mit dem »Bella Italia« die erste italienische Eisdiele in Wuppertal.

Selina hingegen hat nur wenig Verbindungen zum Land ihres Opas. Nicht nur sie, sondern auch ihr Vater sind in Deutschland geboren; dass in ihren Adern italienisches Blut fließt, macht sich vor allem an ihrem Namen bemerkbar. Doch Sergios Tod macht ihr klar, wie wichtig es ist, die eigenen Wurzeln zu kennen. Also macht sie sich kurzentschlossen auf den Weg, um an den grünen Hängen des Vesuv herauszufinden, wer ihr Großvater wirklich war – und wer sie wirklich sein möchte.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Motto

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

Nachbemerkung

 

 

 

 

Komm ein bisschen mit nach Italien

Komm ein bisschen mit ans blaue Meer

Und wir tun, als ob das Leben eine schöne Reise wär

Komm ein bisschen mit nach Italien

Komm ein bisschen mit, weil sich das lohnt

Caterina Valente, 1956

1

Selina

Wuppertal, 2023

Buon giorno, Signorina, wasse sind Se wieder so wunderschön heute! Che bella! Neue Frisure?«

»Ah, i bambini, come si chiamano?«

»Allora, un gelato spaghetti für de Donne e un gelato al cioccolato per il signore. Buon appetito!«

Amüsiert verfolgte Selina die Bewegungen ihres Großvaters, der sich geschmeidig zwischen den Tischen hindurchschlängelte, hier ein Kompliment in seinem Deutsch-Italienisch-Kauderwelsch verteilte und dort einen Witz riss. Dann wieder begrüßte er diesen oder jenen Gast – so intim, so vertraut, dass sich jeder als Stammgast fühlen durfte.

Sergio Catalongo, der Seniorchef des Bella Italia, war siebenundachtzig Jahre alt und eine Legende. Eigentlich hatte er sich längst zur Ruhe gesetzt und das Geschäft, Wuppertals beste Eisdiele jenseits des Weißwurstäquators, an seinen Sohn Marcello übergeben. Aber was hieß das schon – zur Ruhe setzen? Konnte sich einer wie Sergio, eine Ikone, einer, der sein Leben lang gearbeitet hatte, Tag und Nacht, der schmal war und drahtig wie eine Reitgerte, der sein weißes Hemd noch immer fast bis zur Brust aufgeknöpft trug, sodass die goldene Gliederkette auf dem schlohweißen Brusthaar trefflich zur Geltung kam, konnte sich ein Charmeur wie er überhaupt zur Ruhe setzen?

Sein Sohn Marcello kannte die schmerzliche Antwort nur zu gut: Leider nein.

»Selina, was stehst du hier rum? Komm, mach hinne, Tisch siebzehn einmal Bananenschiffchen, einmal Eisbecher Carpe Diem und zwei Cappuccino«, wies Sergio in astreinem Ruhrpott-Dialekt seine Enkeltochter an, kaum dass er von der Terrasse wieder ins Innere der Eisdiele kam.

Selina stand mit ihrem Vater hinter dem gebogenen Tresen aus Glas, in dem vierundzwanzig Sorten Eis, hausgemacht, kunstvoll zu Wellen geformt und mit den entsprechenden Grundzutaten dekoriert – Limonen, Vanilleschoten, Ananas, Pralinen, Gummischlümpfe, winzige Champagnerflaschen –, den Gästen das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Sie sah zu ihrem Papa hinüber. Der hob die Augenbrauen, schüttelte leicht die grauen Locken und griff an seine Brusttasche. »Ich geh mal aufs Klo.«

Sprach’s und verschwand aus der Schusslinie – natürlich nicht auf die Toilette, sondern zum Rauchen, wie Selina sehr wohl wusste.

Puh, dachte sie, während sie sich bemühte, die Bestellungen, die ihr Opa ihr gerade durchgegeben hatte, abzuarbeiten, puh, immer diese Hektik, die er verbreitete! Alles musste immer subito und pronto, jetzt und sofort ausgeführt werden. Für das Bananenschiffchen nahm sie die ovale Glasschüssel, füllte drei Kugeln Vanilleeis hinein, gab darauf eine in zwei Hälften geteilte Banane, einen Berg Sahne (»Nicht sparen mit der Sahne! Niemals an der Sahne sparen!«, hatte sie augenblicklich Sergios Stimme im Ohr), und darüber träufelte sie üppig Schokoladensirup. Ein paar geröstete Mandelblättchen, fertig war das Banana Boat. Was war das andere noch gewesen? Eine Coppa Bella Figura oder Carpe Diem? Selina seufzte. Statt ihr einen Zettel mit der Bestellung auf den Tresen zu legen, rief Sergio ihr lediglich immer zu, was zu tun war. Für sie war das purer Stress, denn niemand anders außer ihrem Großvater besaß die Fähigkeit, sich auch im größten Trubel zu merken, wer was bestellt hatte. Sergio war trotz seines hohen Alters in der Lage, unzählige Bestellungen im Kopf zu behalten, währenddessen quatschte er mit seinen Gästen und hatte jeden seiner Angestellten scharf im Visier. Er konnte ja auch so perfekt sein, wie er wollte, dachte Selina, aber dass er diesen Anspruch an alle stellte, die in seiner Eisdiele arbeiteten, war anstrengend. Sergio hatte ein Herz aus Gold, er liebte seine Familie, seine Eisdiele und seine Kunden. Aber er war auch fordernd. Insbesondere gegenüber seinem Sohn Marcello, dem das Geschäft mittlerweile gehörte – Sergio hatte es ihm auf Betreiben von Marianne, Selinas Oma, Sergios Ehefrau und Marcellos Mama, an dessen fünfzigstem Geburtstag endlich ganz überschrieben.

Wie hat Papa das nur ausgehalten, fragte sich Selina, während ihr Großvater ihr bereits die nächste Bestellung – einmal Coppa Roma, Espresso doppio, stilles Wasser und eine Kugel Stracciatella in der Waffel – zurief. Selina stellte das Banana Boat zur Seite, ließ zwei Cappuccini durch die Maschine laufen, notierte sich die aktuelle Bestellung und nahm sich vor, Sergio bei seinem nächsten Sprint durch den Laden zu fragen, welcher Eisbecher noch an Tisch siebzehn ging.

»Coppa Carpe Diem!« Ihr Großvater zog das Tablett mit Eis und Kaffee vom Tresen und verschwand mit seinem tänzelnden Gang nach draußen.

»Hiere kommte bella Banana für la bella signorina«, hörte Selina ihn schnurren.

Zwei Kugeln Aprikoseneis, einmal Vanille, dazu frisches Kompott aus Pfirsich und Maracuja, von ihrer Oma selbst gekocht, wieder eine ordentliche Sahnehaube – »Nicht sparen mit der Sahne! Niemals an der Sahne sparen!« –, bunte Zuckersprenkel in Herzform, und fertig war die Coppa CarpeDiem. Bestellung um Bestellung kam herein, Selina hätte zehn Arme gebraucht, um alles in der Schnelligkeit, die Sergio forderte, abzuarbeiten. Irgendwann kam auch Papa Marcello wieder zurück – aus der einen Zigarette mussten drei geworden sein, stellte Selina mit einem Blick auf die Uhr fest. Aber sie verkniff sich eine Bemerkung. Ihr Vater trauerte und war latent überfordert, wer konnte es ihm verdenken? Dass die Trauerphase nun schon fünf Jahre anhielt – geschenkt. Trotzdem machte es Selina ratlos, ihn so zu sehen. Sie warf einen Seitenblick auf ihn. Seiner großen, massigen Gestalt nach konnte man kaum glauben, dass er Sergios Sohn war. Der war drahtig, agil und nicht größer als eins fünfundsechzig. Marcello dagegen überragte seinen Vater um einen Kopf, er war breit, früher sportlich, heute jedoch folgten die Muskeln der Schwerkraft, der Bauch über dem Hosenbund war stattlich. Und trotzdem war er noch immer ein attraktiver Mann. Manchmal fing Selina die Blicke von Frauen in seinem Alter auf, durchaus interessierte Blicke, aber Marcello bemerkte sie nicht. Mensch, appellierten seine Kinder, seine Freunde und auch seine Ex-Frau an ihn, such dir doch eine neue Frau, bevor du zu alt bist! Woraufhin Großvater Sergio stets kommentierte, niemand sei jemals zu alt für die Liebe – dieser Punkt ging an ihn.

Selina liebte es, ihrem Vater bei der Arbeit zuzusehen. Schon als Kind hatte sie die Augen nicht von seinen Händen lassen können – kräftige Finger, der goldene Ehering, den er trotz der Trennung unverdrossen trug, die schwarzen Haare auf dem Handrücken. In diesen Pranken verschwand der Eisportionierer fast zur Gänze. Mit ihm pflügte er eine breite gerade Spur durch die Eiscreme, um anschließend eine perfekte, gleichmäßig runde Kugel in die Waffel abzustreifen. Nichts an seinen Bewegungen war jemals hektisch oder ungenau, ihrem Vater bei einer Tätigkeit zuzusehen verlieh Selina immer die größte Ruhe. Was er tat und vor allem wie er es tat, schien stets zu sagen: Mach dir keine Sorgen. Es kann nichts passieren. Dein Papa ist durch nichts zu erschüttern und wird immer für dich da sein.

Leider hatte sich der erste Teil des Satzes als Illusion erwiesen. Marcello war durchaus zu erschüttern, und zwar so heftig und in seinen Grundfesten, dass er nicht mehr ins Lot fand.

Trotzdem war ihr Vater immer für sie da, und seiner ruhigen und sicheren Ausstrahlung tat dies keinen Abbruch. Und genau das war der Grund gewesen, warum Selina nach Wuppertal zurückgekehrt war.

Nur für die Sommerferien, hatte sie ihrer Familie erzählt – schließlich hatte sie nicht mit der Tür ins Haus fallen wollen.

Nur für die Sommermonate, hatte sie sich vorgenommen, denn sie hatte nicht vor, sich selbst zu desillusionieren, indem sie vor sich zugab, dass sie in Berlin gescheitert war und nun schmachvoll in das familiäre Nest zurückkehrte.

Nur für die nächsten Jahre, hatte ihre beste Freundin Rieke gewitzelt und sie damit aufgezogen, obwohl sie beide wussten, dass es eigentlich ganz und gar nicht lustig, sondern vielmehr tragisch war.

Selina war siebenundzwanzig, und vor sieben Jahren war sie mit zwölf Umzugskisten und ein paar IKEA-Möbeln in einem Miettransporter voller Hoffnung von Wuppertal-Elberfeld nach Kreuzberg aufgebrochen. Sie hatte einen der begehrten Studienplätze für Politologie ergattert und dazu ein Zimmer in einer supernetten Frauen-WG. Sie hatte studiert, Freunde gefunden, gefeiert, gebüffelt, die Nacht zum Tag gemacht, ein Praktikum im Bundestag und ein Volontariat bei einer überregionalen Tageszeitung absolviert. Währenddessen hatten sich ihre Eltern getrennt, ihr Vater war Chef der Eisdiele geworden, ihre Freundin Rieke schwanger. Die Borussen waren auf- und wieder abgestiegen, kurzum: Die Welt hatte sich weitergedreht. Alles ganz normal.

Aber irgendwann hatte sich in ihrem Leben plötzlich nichts mehr bewegt. Selina konnte es nicht mal benennen – sie schleppte ihre Bachelorarbeit Semester für Semester weiter, konnte sich aber nicht dazu durchringen, sie jemals zu beenden. Corona kam und ging nicht mehr. Keine ihrer Beziehungen überlebte das erste halbe Jahr, und auch die Mädels in ihrer Wohngemeinschaft wechselten beständig, nur Selina blieb. Wie dieser eine Hut, den jemand bei einer Party an der Garderobe vergessen hatte und der nie mehr abgeholt wurde. Selina konnte nicht sagen, welcher der vielen Gründe der ausschlaggebende war, warum sie das Gefühl hatte, dass ihr Leben auf der Stelle trat. Sie kam einfach nicht mehr vom Fleck. Plötzlich sah sie, wenn sie in Berlin mit der U-Bahn fuhr, nicht mehr die Leute, die in den zugigen Gängen musizierten, sondern nur noch diejenigen, die nicht mehr in der Lage waren, aufzustehen. Die typische Berliner Kakofonie aus rauschendem Verkehr, Haste mal ’n Euro, Hundegebell und Kinderlachen tönte schrill in ihren Ohren. Ihre Kommilitoninnen machten ihre Abschlüsse und wechselten zum Masterstudium irgendwo anders hin, manche ergatterten die ersten Jobs.

Wie häufig hatte sich Selina vorgenommen, es ihnen gleichzutun, der Bachelor hatte doch nur dreißig lächerliche Seiten, Himmel, so schwierig konnte das doch nicht sein. Aber ihre Motivation war gen null gesunken. Hatte sie eine Depression? Sie besuchte den psychosozialen Dienst der Uni, aber als sie dem übermüdeten Psychotherapeuten gegenübersaß, der ihr Lamento, ohne eine Miene zu verziehen, über sich ergehen ließ, aber nicht mal richtig zuhörte, weil es vermutlich dasselbe war, was er sich seit Jahren tagtäglich anhören musste, wusste sie, dass sie keine Depression hatte, ja nicht einmal einen klitzekleinen Burn-out. Sie war schlicht und ergreifend falsch abgebogen.

Sie hatte sich geirrt. Hatte falsche Entscheidungen getroffen.

Weder Berlin noch Politologie waren das Richtige für sie. Sie hatte sich ein Studium gewählt, das sie nicht interessierte, in einer Stadt, in der sie nicht leben wollte. Basta.

Diese Erkenntnis traf sie wie ein Blitzschlag. Die Stadt war zu schmutzig, zu laut, zu bunt, ein paar Nummern zu groß für sie. Aber weil alle Welt nach Berlin wollte, hatte sie auch dorthin gewollt, nur um dann festzustellen, dass sie mit dem Tempo nicht mithalten konnte. Politologie hatte sie gewählt, weil es nicht Medizin war. Und nicht BWL oder irgendwas mit Medien. Sie hatte etwas Geisteswissenschaftliches gesucht, aber Germanistik war ihr zu simpel gewesen. Was hatte ihre Familie ihr nicht in den Ohren gelegen: Du hast ein Einser-Abitur! Dir steht die Welt offen! Mach was draus! Und weil sie jung und doof gewesen war, hatte sie nach dem Studienplatz gegriffen, den sie mit ihrem tollen Notendurchschnitt haben konnte. Bloß weg aus Wuppertal-Elberfeld, fort von Coppa Carpe Diem und dem Elefanten aus der Schwebebahn.

Als sie endlich erkannt hatte, dass sie ein falsches Leben führte, dauerte es noch mal ein paar Monate, in denen Selina sich in Selbstmitleid gesuhlt und nicht gewusst hatte, welche Konsequenzen sie aus der schmerzhaften Erkenntnis ziehen sollte. Rieke, die mittlerweile mit Mann, Hund und Säugling nach Bergisch Gladbach gezogen war, hatte schließlich den wahren Satz gesagt: Wuppertal ist doch gar nicht so schlimm.

Also hatte Selina ihr WG-Zimmer gekündigt, die zwölf Kisten und die IKEA-Möbel (beschämenderweise war ihr Hausstand weder angewachsen noch exklusiver geworden) in einen Lagerraum nach Brandenburg gefahren und ihrem Papa lediglich mitgeteilt, dass sie für die Dauer der Sommerferien zu ihm ziehen und in der Eisdiele jobben würde. Nur über die Ferien! Und da war sie nun, eine Frau, die auf die dreißig zuging und nicht wusste, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. War das traurig? Ja, sagte Rieke, das ist traurig. Aber besser, du hast die Phase jetzt als mit fünfzig.

 

Wie meine Mutter, dachte Selina, während sie das gepresste Espressopulver aus dem Siebträger in die hölzerne Schublade leerte, neues Pulver einfüllte, den Siebträger in die Halterung klemmte und weitere Espressi und Cappuccini durch die Maschine laufen ließ. Wie Mama, die mit Ende vierzig aus ihrer Ehe ausgebrochen war, völlig unvermittelt, und nach Bali abgehauen war, um dort eine Yoga-Ausbildung zu machen.

»Haben Sie auch veganes Eis?«, hörte sie jemanden fragen und wurde so aus ihren Gedanken gerissen. Aber noch bevor sie sich einmischen konnte, rettete Marcello die Situation.

»Aber natürlich«, klang seine kraftvolle Stimme durch den Laden bis auf die Terrasse, wo zwei junge Frauen standen, von denen die eine ihre Frage an Großvater Sergio gestellt hatte. Der hatte schon Luft geholt für eine Antwort, aber sein Sohn kam ihm zuvor.

»Dunkle Schokolade mit Ingwer, Frozen Kokosjoghurt, außerdem die Fruchteissorten Limette und Mirtillo, Blaubeere. Sie können gern probieren.«

Sergio warf den beiden jungen Frauen, die an den Glastresen eilten, um die von Marcello angepriesenen veganen Eissorten auszusuchen, einen skeptischen Blick hinterher.

So charmant Sergio auf jeden noch so extravaganten Spezialwunsch von Gästen reagierte – beim Thema veganes Eis zeigte sich, dass er aus einer anderen Generation stammte. Eis ohne gute fette Kuh- oder Ziegenmilch? Ohne Ei? Porca miseria! Welch ein Frevel! Das war doch kein Eis!

Marcello hatte sich schließlich durchgesetzt, aber es war ein zäher Kampf gewesen. Wie schafft Papa das nur, dachte Selina und beobachtete ihren Vater, der nun von jeder der veganen Eissorten kleine Pröbchen auf Holzlöffel gab und sie den Mädchen über den Tresen reichte. Er war die Ruhe selbst. Fünfundfünfzig Jahre, kreuzunglücklich, weil Inga, die Liebe seines Lebens, die Mutter seiner beiden Kinder Selina und Fabio, ihn verlassen hatte, stand er in seiner Wuppertaler Eisdiele und musste sich von seinem steinalten Vater herumscheuchen lassen, konnte keine eigenen Entscheidungen treffen, ohne dass er sich automatisch mit dem dickschädeligen Sergio anlegte. Und doch blieb er stets ruhig und freundlich, kein böses Wort kam je über seine Lippen, er erduldete jedes Ungemach in seinem Leben stumm. Ärgerte er sich sehr oder gewann die Trauer Oberhand, rauchte er. Niemals würde er gegen seinen Vater aufbegehren, so wie Inga, seine Frau, es manchmal von ihm verlangt hatte. Er solle sich nicht gängeln lassen, Sergio solle sich endlich zur Ruhe setzen und ihm die Verantwortung übergeben, er müsse sich durchsetzen, sonst würde er niemals Chef sein können, weder die Kunden noch die Angestellten respektierten ihn – ein ewiges Lamento. Aber Marcello hatte immer nur geguckt wie ein sanftmütiges Lamm, seine Locken geschüttelt und gesagt, dass es doch gar nicht darum gehe, wer das Sagen habe.

Es gehe um Eis! Um das beste Speiseeis in Wuppertal, ach was, um das fantastischste Eis in Nordrhein-Westfalen – da sei es doch vollkommen egal, wer der capo di tutti i capi sei.

Selina beobachtete ihren Großvater auf der Terrasse. Er lief mit einem feuchten Lappen zwischen den Tischen hindurch und wischte sie sauber, überprüfte die Zuckerspender und ordnete die Eiskarten sorgfältig. Ja, er war ein Kontrollfreak, ihr Nonno, dachte Selina amüsiert und verfolgte die schmale Gestalt mit den Augen. Er war ein Despot, ein Choleriker – aber er war Sergio Catalongo. Er hatte das italienische Lebensgefühl nach Wuppertal gebracht, er hatte den Leuten hier, die sich nicht leisten konnten, nach Capri zu fahren und der Sonne beim Versinken zuzusehen oder auch ein Wochenende am Lago di Garda zu verbringen, das Dolce Vita nahegebracht. Er hatte zu den Klängen von Caterina Valente und Silvio Francesco zart schmelzende Eiscreme und krosse, mit echter Butter gebackene Cornetti serviert, er hatte sie mit Stracciatella verwöhnt und ihnen echten caffè mit warmer Milch serviert – niemals mit Sahne! Sahne gehört auf den Eisbecher, nicht in den caffè! –, er hatte ihnen, die in den nahen Kohlengruben oder in den Stahlwerken und Textilfabriken hart arbeiteten, den italienischen Sommer in den kalten deutschen Winter gezaubert.

Es gab Fotos aus den Jahren der Eröffnung der Eisdiele, Sergio Catalongo noch mit einer üppigen schwarzen Haartolle auf dem Kopf, schon damals in weißem lässigen Hemd und schmal geschnittener Anzughose, seine Frau Marianne, einen Kopf größer als er, weshalb sie ihr Leben lang flache Schuhe trug, im Sommerkleid mit ausgestelltem Rock voll roter Kirschen darauf, ihre Haare ein Berg Blond wie das aufgetürmte Spaghettieis. Arm in Arm standen sie strahlend und ein bisschen schüchtern vor der Eisdiele, als würden sie denken: Alles gut und schön, aber was haben wir uns nur dabei gedacht? Innen war der Laden mit zierlichen Stühlchen und Tischchen aus weißen gebogenen Metallstreben mit quietschroten Kunstlederpolstern, die an die Kirschen auf Mariannes Kleid erinnerten, eingerichtet.

Der Tresen war aus hochglanzpoliertem Chrom, die Glasvitrine nur halb so groß wie heute. Überhaupt war der Laden, dessen eine Wand ein kitschiges Bild vom Sonnenuntergang hinter dem Vesuv geziert hatte, deutlich kleiner gewesen. Erst in den frühen Siebzigerjahren hatte Sergio das Nachbargeschäft gepachtet und vom Eigentümer die Erlaubnis bekommen, die Wand durchzubrechen und aus zwei Geschäften eines zu machen.

Das neue, große Bella Italia war geboren. Die italienische Eisdiele schlechthin, die sich den Ruf erobert hatte, nicht nur das beste Eis zu verkaufen, sondern auch die gewagtesten Kreationen. Ja, Sergio behauptete noch immer steif und fest, dass die Idee, Vanilleeis durch eine Kartoffelpresse zu drücken und mit Erdbeersoße als Spaghettieis zu servieren, auf sein Konto ginge. Die Inneneinrichtung der Eisdiele hatte alle Moden mitgemacht, von psychedelischen Lampen in den Siebzigerjahren über den Neon-Chic der Achtziger, die coole Industrial-Ästhetik der Neunziger bis zum heutigen cleanen Style mit viel naturbelassenem Holz und Grünpflanzen, aber das Eis und seine Zutaten waren seit Jahrzehnten die gleichen geblieben. Sergio hortete seine Rezepte wie einen Schatz. Das war auch der Grund, warum er beim Thema veganes Eis keinen Spaß verstand – das Eis der Catalongos gehorchte keinen Moden!

Doch trotz aller Strenge war Selinas Opa Sergio ein Mann mit großem Herzen. Er liebte Kinder, alle Kinder, er war großzügig und drückte gern eine Extrakugel auf die Waffel, wenn auch das Taschengeld nicht dafür reichte. Er spendierte Obdachlosen immer einen Cappuccino und veranstaltete jedes Jahr an Weihnachten einen großen Basar zugunsten Notleidender. Er hatte für seine Enkelkinder stets einen Scherz, eine kleine Geschichte, Trost oder Ratschläge parat, und niemals hatte Selina von ihm den Satz »Ich habe jetzt keine Zeit« gehört. Außerdem kümmerte er sich seit einigen Jahren aufopferungsvoll um seine Frau Marianne, die an Parkinson erkrankt war.

Selina sah auf die Uhr. Noch drei Stunden bis zum Feierabend. Dann würde sie sich ihre Sportsachen anziehen und ihre liebste Joggingstrecke laufen. Harry Styles auf die Ohren und ab dafür. Und einen Schlenker zu Mariannes Gärtchen machen. Nach dem Rechten sehen und ein Glas selbst gemachten Most mit ihrer Oma trinken. In den warmen Monaten verbrachte ihre Großmutter, die sich vor dreißig Jahren aus der Eisdiele zurückgezogen hatte, jeden Tag in ihrer Laube. Es war ein dreieckiges Grundstück zwischen Eisenbahngleisen. Marianne hatte es von ihrem Großvater, der Eisenbahner gewesen war, übernommen, und es war ein Paradies. Auf jedem Zentimeter des Gartens wuchs Essbares. Johannisbeersträucher umrahmten das Grundstück rot, weiß und schwarz. Apfel-, Birnen- und Pflaumenbäume standen hier, Himbeeren und Brombeeren rankten sich hinter dem kleinen Häuschen empor. In Töpfen und Hängeampeln kultivierte ihre Großmutter verschiedene Erdbeersorten, es gab Stachelbeeren und einen Feigenbaum, angeblich aus Italien. Kein Gemüse! Nur Obst. Und zwischen all der süßen Pracht baumelten Vogelhäuser und mit Stroh gefüllte Blumentöpfe für Ohrwürmer, Bienenstöcke und Komposthaufen, in denen Igel wohnten. Nirgendwo hatte sich Selina früher lieber aufgehalten als bei Oma im Garten. Und so war es heute wieder. Die Laube lag direkt an ihrer Joggingstrecke, oder noch besser: Selina hatte ihre Laufroute so gewählt, dass sie bei Marianne endete. Die Parkinson-Erkrankung war noch nicht so weit fortgeschritten, dass ihre Oma in ihrem Aktionsradius sehr eingeschränkt wäre, aber es gab immer etwas, bei dem Marianne Hilfe benötigte. Schraubverschlüsse öffnen oder schließen, kleinere Notizen machen, Fallobst aufheben oder die uralte Saftpresse bedienen.

»Selina, cara, come va?«, riss eine knarzige Stimme sie aus ihren Gedanken. Der alte Francesco stand vor ihr, lachte sie an, sodass sein Goldzahn blitzte, und machte einen vorsichtigen Diener – so tief es sein ramponierter Rücken zuließ.

Die Herrenrunde! Natürlich, fiel Selina ein, heute war Donnerstag. Sie begrüßte Francesco, drehte sich um und wollte zu den Cognacschwenkern greifen, doch Marcello war schneller. Er hatte bereits drei Gläser vor sich und goss den Cognac ein – großzügig und von dem guten Tropfen. Dem, der für die Herrenrunde reserviert war.

Die Herrenrunde, das waren außer Francesco und Sergio noch Giancarlo und Roberto, die ältesten Freunde des Großvaters. Der Legende nach waren sie alle mit dem Zug aus Neapel gekommen, um in Deutschland ihr Glück als Fremdarbeiter zu suchen. Alle vier waren sie geblieben und pflegten ihre Freundschaft seither. Ursprünglich waren sie zu sechst gewesen, doch zwei aus der Runde hatten bereits das Zeitliche gesegnet. Auch heute waren die »Jungs«, wie Marcello die Gruppe Ü-80-Jähriger zu nennen pflegte, nur zu dritt, denn Roberto lag wegen seiner Hüft-OP im Krankenhaus.

Wenn die Herrenrunde kam, machte Sergio Feierabend. Und zwar tatsächlich Feierabend. Dann saß er mit seinen Freunden stets in der Nische im hintersten Eck des Ladens, sie tranken Cognac und erzählten sich die neuesten Schwänke aus ihrem Leben und die ältesten Witze. Was im Gastraum passierte, war Sergio dann herzlich egal – aber nur an diesen Donnerstagen!

Marcello brachte die Cognacschwenker an den Tisch, Selina bereitete drei caffè für die alten Herren vor, und Sergio half seinem Freund Francesco, der nicht mehr gut zu Fuß war und sich gebeugt auf einen Stock stützen musste, zu seinem Stuhl. Währenddessen fand sich auch Giancarlo ein, wie immer wie aus dem Ei gepellt mit dreiteiligem Anzug, Fliege und Strohhut. Formvollendet hauchte er Selina einen Kuss auf den Handrücken, machte ihr ein Kompliment und gesellte sich zu den anderen beiden. Kaum waren sie vollzählig und hatten Platz genommen, steckten die drei ihre kahlen Köpfe zusammen und sprudelten auf Italienisch los. Dass Sergio überhaupt noch Italienisch sprach, war lediglich dieser Runde zu verdanken, denn er hatte sein Heimatland, das er 1956 verlassen hatte, nie wieder besucht. Es gab dort keine Familie, und anscheinend hatte er auch keine Sehnsucht nach dem Land, in dem er geboren worden war – obwohl er noch immer in den höchsten Tönen von Italien schwärmte. Aber er hatte in eine deutsche Familie eingeheiratet, sprach mit Marianne und auch seinen Kindern stets Deutsch – obwohl er ihnen italienische Namen gegeben hatte – und benutzte gegenüber den Kunden das seltsame Pseudo-Italienisch, das jeder verstand und sich sofort im Italienurlaub wähnte.

Selina kehrte an die Theke zurück, nahm das Tablett mit den Bestellungen für Tisch drei und steuerte auf diesen zu, als sie hörte, wie ihr Onkel laut lachte, dann polterte etwas. Francesco stieß einen heiseren Schrei aus, und noch während Selina die Cappuccini und drei Eisbecher servierte, nahm sie aus den Augenwinkeln wahr, wie Marcello blitzschnell hinter dem Tresen hervorkam und in Richtung der drei Alten rannte. Selina murmelte den Gästen eine Entschuldigung zu und lief so schnell sie konnte hinterher.

Sie erreichte den Tisch der Herrenrunde und sah ihren Großvater am Boden liegen. Ihr Vater kniete bereits neben Sergio, hielt eine Hand an dessen Hals, um nach dem Herzschlag zu tasten.

»Ruf den Notarzt!«, rief er Selina zu, und während sie zum Telefon hastete, den Notruf wählte, hörte sie die verzweifelten Rufe ihres Vaters, der versuchte, zu ihrem bewusstlosen Opa durchzudringen.

Keine zehn Minuten später waren die Notfallsanitäter im Laden, doch alle Versuche, Sergio Catalongo wiederzubeleben, scheiterten.

»Er ist beim Lachen vom Stuhl gefallen«, sagte Francesco erschüttert, während Marcello mit Tränen in den Augen seine Tochter in den Arm nahm.

»Das hätte Papa gefallen«, murmelte er, »wenn er es mitbekommen hätte. Hat sich einfach aus dem Leben gelacht.«

2

Sergio

Pietra Alta, 1956

Sorgfältig setzten die Sargträger ihre Schritte. Sie liefen über den steinigen Pfad hinunter, die Grabstelle lag am Rand des kleinen Friedhofs, dorthin, wo sich das Gestrüpp der Macchia immer wieder einen Fußbreit Terrain eroberte. Kaum wurde es gerodet, kroch es wieder zurück auf seinen angestammten Platz. Brombeerranken und Wacholder, wilder Lorbeer und verkrüppelte Steineichen wuchsen hier, krallten sich mit den Wurzeln in die magere Erde. Nur Steine hinderten das Dickicht von Ranken und Dornen, Ästen und Flechten am Wuchs.

Hier lag sein Grab, weitab von den anderen Gruben. Kein Pfarrer sprach seinen Segen, keine Trauergäste begleiteten die kleine Prozession. Sie trugen den Sarg zu viert. Sein Vater Gabriele. Sein Onkel Teodoro. Anselmo, der Ziegenbauer, und dessen Sohn Niccolò.

Hinterdrein lief seine Mutter. Sie weinte. Mit einem schwarzen Taschentuch fuhr sie sich über die Augen, aber der Tränenstrom mochte nicht versiegen. Angelica trug Schwarz, ein Schleier fiel über ihr Gesicht. Es war dunkle Nacht, sie brachten ihren Sohn zu Grabe wie einen Dieb. Und das war er in den Augen der anderen: ein Dieb. Er hatte Verbotenes getan, er hatte sich nicht an die Regeln gehalten. An die Regeln, die seit Jahrhunderten hier galten, in diesem Landstrich nahe des Vesuv. Hier machte der Don die Regeln. Er gab und er nahm, er war der Herr und konkurrierte mit dem Sohn Gottes.

Deshalb durfte der Priester keinen Segen sprechen, der Don hatte es untersagt. Immerhin, Angelica und Gabriele durften ihren Sohn, ihren einzigen Sohn, den Dieb, den Aussätzigen, den Verbrecher, in den geweihten Gottesacker legen. Der Don war kein Unmensch, er war ein Christ, aber er pochte auf die Einhaltung der Regeln. Und wer ihn bestahl, den Don, bekam das feurige Schwert der Rache zu spüren. Glühend fuhr es auf die nieder, die dem Don nahmen, was des Dons ist. Keine Gnade.

Und so versenkten sie heute, mitten in der Nacht, in Schande und Heimlichkeit, den Sarg in das Grab, das der Vater am Tage ausgehoben hatte.

Im Schweiße seines Angesichts hatte Gabriele es gegraben. Unbarmherzig war die Sonne an diesem Oktobertag gewesen. Hier im Süden Italiens konnte es in diesem Monat noch einmal ordentlich heiß werden, die Sonne hatte Kraft, die letzten Ernten wurden eingefahren. Die Äcker waren trocken, der Gottesacker war es auch. Lange hatte Gabriele mit seinem Spaten in die Erde gestochen, die hart war wie gebrannter Ton. Mit bloßen Händen kratzte er die Steine heraus, so lange, bis seine Fingernägel splitterten und die Nagelhaut blutig war. Aber er tat es mit Verbissenheit und Hingabe, denn er grub für seinen Sohn. Seinen Sohn, den er über alles liebte und den er nun verloren geben musste.

Die vier Sargträger näherten sich der Grabstelle, vorsichtig tastend, damit der einfache, in aller Hast gezimmerte Sarg mit seiner kostbaren Fracht ihnen nicht aus den Händen glitt. Ihre Augen hatten sich einigermaßen an die Finsternis gewöhnt, dennoch sahen sie kaum die Hand vor Augen, es war stockdunkel in diesem Teil des Friedhofs, dem abseits gelegenen, der für die Abtrünnigen reserviert war, für die, denen der Priester seinen Segen verweigerte.

Lediglich eine Kerze durfte vor dem Holzkreuz entzündet werden, Angelica hatte sie dort hingestellt, sie war schon vor den Sargträgern an dem tiefen Loch gewesen, das ihr Mann für den einzigen und über alles geliebten Sohn geschaufelt hatte, und hatte die Kerze entzündet. Sie hatte auch ein Heiligenbildchen in das Loch geworfen, heimlich, hatte es geküsst und die Muttergottes angerufen, zehn Rosenkränze und noch mehr Ave Maria gebetet, unter Tränen. Auf dass sich die Heiligen ihres Sohns erbarmten, der in den Augen seiner Mutter unschuldig war. Er hatte doch nur auf sein Herz gehört! Er war kein Dieb, auch wenn er den Don erzürnt hatte und dem Don genommen, was des Dons war. Angelica wusste im Tiefsten ihres Herzens, dass ihr Sohn ein frommer, ein guter Mann war. Er war gottesfürchtig, und alles, was er getan hatte, hatte er im Namen der Liebe getan.

Am Nachmittag, als Gabriele das Grab ausgehoben hatte und nach Hause zurückkehrte, in das kleine Haus am Rand der Plantage mit den Aprikosenbäumen, als ihr Mann also zurückkehrte, seine Haut rot wie Feuer von der Sonne, überzogen mit einer festen Kruste aus Erde und Schweiß, da nahmen sie sich in den Arm und weinten und gaben einander Halt.

»Wir werden ihn nie wiedersehen«, sagten sie sich unter Tränen.

»Aber Maria wird ihre Hand schützend über ihn halten, das schwöre ich, Gabriele, das lasse ich mir vom Don nicht nehmen«, hatte Angelica gesagt und war mit der Kerze, die sie heimlich mit dem Weihwasser der Kirche benetzt, und dem Heiligenbildchen, das sie seit Stunden mit allen Gebeten, die sie kannte – und sie kannte alle Gebete in der Heiligen Schrift und aus ihrem Gebetbüchlein –, besprochen hatte, losgezogen, um vom Don unbeobachtet ihr Werk zu tun.

Der Don hatte seine Augen überall, Angelica wusste, dass er jedoch, solange die Sonne schien und keine Heimlichkeiten zuließ, den Blick nicht auf sie richten würde.

Erst jetzt, in der Nacht der Bestattung, hatte er Leute abgestellt, die die Prozedur des Begräbnisses genau verfolgten, damit er sicher sein konnte, dass der Sarg des Diebs in die tiefe Erde gebettet wurde und der Missetäter nicht doch durch ein Wunder aus dem Grab herausgesprungen kam und lebendig wurde und ihm eine lange Nase zeigte. Der Don war abergläubisch, und er traute nur dem, was er sah, auch wenn es nicht seine eigenen Augen in dieser Nacht am Grab waren, sondern die Augen derer, die er dafür bezahlte, dass sie für ihn sahen und wachsam waren.

Nun standen sie hier, die beiden Männer des Dons, einige Meter erhöht, abseits des Grabes, in den dunklen Schatten der hohen Grabsteine rundherum. Grimmig, die Arme vor der Brust verschränkt, breitbeinig, wachten sie darüber, dass der Dieb, der geliebte Sohn Angelicas und Gabrieles, unter die Erde kam.

Die vier Sargträger ließen den Holzsarg hinab, mit Mühe hielten sie die Bänder, die unter der hölzernen Kiste hindurchliefen, und ließen sie langsam, Zentimeter für Zentimeter, hinunter. Angelica kniete neben der Öffnung, sie biss sich in die Faust, so fest, dass Gabriele die Abdrücke ihrer Zähne noch Tage später in der zarten Haut ihrer Hände erkennen konnte. Ihr Flehen, ihr Weinen und Schluchzen war weithin zu hören, die Käuzchen in den Pinien, die Kröten im Dorftümpel und die räudigen Katzen, die um die Kirche herumstrichen, hielten den Atem an und blieben still, um der Trauer dieser Mutter keine Konkurrenz zu machen. Mochte ihr Wehklagen hochsteigen in die warme Oktoberluft, sollten alle Heiligen im Himmel hören, dass Angelica Catalongo ihres Lebens nicht mehr froh werden würde, dass nach dieser Nacht ihre Haare schlohweiß und Kleider fortan nur noch schwarz und ihr Herz vertrocknet sein würde.

Ihre Klagen durften ruhig die Ohren des Dons erreichen, der hoch oben über Pietra in seinem Bett lag, in der leinenen Bettwäsche, angeschmiegt an seine Frau, sollte er nur erwachen von der unbändigen Trauer einer Mutter.

Sollte er seines Lebens nicht mehr froh werden, der Don, weil sein Herz ein Herz aus Stein war. Unerbittlich, und weil der Don keine Augen und keine Ohren für die wahre Liebe hatte, denn sonst hätte er erkannt, dass ihr Sohn, der Sohn der Angelica und des Gabriele Catalongo, dass dieser gute Mensch alles andere als ein Dieb war und dass er mitnichten dem Don das Liebste genommen hatte, was des Dons war, sondern ihm im Gegenteil ein Geschenk gemacht hatte. Das Geschenk der Liebe, das er in das Haus des Dons gebracht hatte, aber das dieser nicht sehen konnte mit seinem Herzen aus Stein.

Der Sarg war nun am Boden des tiefen Lochs angekommen, unter ihm nur noch das Heiligenbildchen, das Angelica am Nachmittag heimlich in das Grab geworfen hatte. Mochte es ihren Sohn auf all seinen Wegen begleiten und ihn zu einem glücklichen Mann machen.

Ihren Sohn, dessen Name auf dem Holzkreuz am Grab eingebrannt war: Sergio Catalongo. Geboren in Pietra am 5. Mai 1936. Gestorben dortselbst am 12. Oktober 1956.

3

Selina

Wuppertal, 2023

Man kann sich nicht entscheiden, ob man in einem italienischen Spielfilm von Visconti ist oder in einer amerikanischen Mafiaserie.«

Inga lachte und ließ den Blick über das reichhaltige Büfett schweifen. Selina stand neben ihrer Mutter und wusste auf Anhieb, was diese meinte. Jeder kannte diese Szenen aus Filmen – wie sich die Trauergemeinde im Haus des Verstorbenen versammelte, und jeder Gast, jede Nachbarin brachte etwas zu essen vorbei. Oder die lange üppige Tafel im sizilianischen Gutshof, an dessen Kopfende der Padrone saß, die Gäste in Schwarz dem Rotwein und der Pasta zusprachen, Kinder im Hintergrund mit Hunden herumtollten, bis am Ende irgendjemand aufstand und eine italienische Arie zum Besten gab. Und alle weinten.

Nun, hier hatten weder die Gäste das Essen mitgebracht wie in Amerika, noch befanden sie sich in Sizilien. Das hier war schlicht und ergreifend Wuppertal-Elberfeld, und das Büfett für die Trauergemeinde im Bella Italia hatten allein Marcello und Marianne zu verantworten, mit Selinas Hilfe. Drei Tage lang hatten sie gekocht und gebacken, geweint, sich in den Armen gelegen und Geschichten über Sergio erzählt (ihr Vater und ihre Großmutter, Selina hatte interessiert zugehört). Dann, am gestrigen Abend, hatte Marianne in die Hände geklatscht, »E poi basta!« gerufen und ihren Sohn gebeten, eine gute Flasche Barolo zu entkorken.

Selina hatte zum ersten Mal verstanden, wozu diese Küchenorgie diente: Es war schlicht und einfach Trauerbewältigung.

Das änderte aber nichts daran, dass sie jetzt keinen Bissen von den Speisen runterbekam. Sie hatte keinen Appetit. Sie war traurig. Und zugegebenermaßen verwirrt. Der Tod ihres Großvaters hatte sie weitaus mehr erschüttert, als sie vermutet hatte. Irgendwie waren die vergangenen vier Wochen seit ihrer Rückkehr nach Wuppertal angenehm gleichförmig verlaufen. Niemand hatte sie gefragt, warum sie den Sommerjob (der in Wahrheit keiner war) machen wollte. Sie war gekommen, in Liebe aufgenommen worden und hatte sich zwischen ihrem Nonno und ihrem Papa im Bella Italia eingerichtet. Selina hatte gemerkt, wie dieses ganz und gar unaufgeregte Leben – sie hatte sogar die Tinder- und Bumble-Apps vom Handy gelöscht – ihr guttat. Zweifel und Schuldgefühle waren in den Hintergrund gerückt, die großen Fragen des Lebens (wer bin ich, wer will ich sein und wie soll es weitergehen) waren zugunsten von »Stracciatella oder Limone?« verschwunden. Am liebsten hätte sie ewig so weitergemacht und die Augen vor den realen Problemen verschlossen.

Doch nun war Sergio nicht mehr da. Er hatte einen so heftigen Herzinfarkt erlitten, dass er, so sagte der Arzt, nichts mehr gespürt hatte, keinen Schmerz im Arm, kein Herzrasen, keine Panik – nichts davon. Er war schnell und schmerzlos aus dem Leben getreten. Seitdem hing die Welt schief in den Angeln. Ihr Vater sprach noch weniger denn je, die Eisdiele wurde vorübergehend geschlossen, und auf der Straße wurde Selina von Wildfremden das Beileid ausgesprochen. Der Bürgermeister persönlich kam vorbei und kondolierte ihrer Großmutter, die Lokalzeitung brachte eine halbe Seite über den »Mann, der den Wuppertalern Italien nahebrachte«, und Marcello rauchte Kette. Die Flucht in die Küche, um für das große Büfett beim Leichenschmaus aufzukochen, hatte ihnen dreien über die schlimmsten Stunden hinweggeholfen.

Doch Selina wusste: Nun konnte sie sich nicht mehr davor drücken, Entscheidungen zu treffen.

Ihre Mutter Inga ließ sie jetzt am Büfett stehen und flatterte auf eine Jugendfreundin zu, die in dem Moment die Eisdiele betrat, und Selina zog sich ein wenig in den Hintergrund zurück. Von der Garderobe im Gang zu den Toiletten aus warf sie einen Blick in die Runde. Schwarz, wohin das Auge blickte, aber die Tränen trockneten allmählich und wichen zaghaftem Lächeln und entspannten Mienen. So sollte es sein, Sergio hätte sich genau diesen Abschied gewünscht. Alle waren sie versammelt, die Herrenrunde und viele Wegbegleiter aus seinen frühen Jahren, Verwandtschaft, Nachbarn, Stammkunden. Andere Gewerbetreibende aus der Straße und fast alle Laubenpieper aus Mariannes Anlage. Man saß zusammen, aß, trank, weinte – und kam mit Anekdoten über den Verstorbenen ins Gespräch und zum Lachen. Eine heitere und gelöste Stimmung legte sich allmählich über den Raum.

Selina dachte an das Begräbnis. Marcello hatte eine wunderbare Rede auf seinen Papa gehalten – wann hatte er die bloß geschrieben?, fragte sich seine Tochter –, eine Sopranistin der Wuppertaler Oper, die von Sergio bei einer Halsentzündung mit Eis versorgt worden war und die ihn seither als Wunderheiler pries, hatte italienische Opernarien gesungen. Der Bürgermeister hatte ein paar Worte darüber gesagt, dass Menschen wie Sergio das Bild der Stadt geprägt hatten, und zum Schluss sprach der Priester ein paar Worte. Obwohl Sergio niemals religiöses Interesse gezeigt hatte, war er doch laut Ausweis katholisch getauft, und Marianne wollte ihren Mann nicht ohne Segen der Kirche in den Himmel ziehen lassen. Denn dass er dort oben saß und schmunzelnd auf sie herabblickte, galt für sie als feststehende Tatsache.

Schließlich war der schier unendliche Trauerzug zum Grab gezogen, viele Schaulustige, aber auch Kunden der Eisdiele, die nicht zur Trauerfeier eingeladen waren, Sergio allerdings dennoch das letzte Geleit geben wollten, waren hinterhergelaufen. Die Sargträger hatten die Grabstelle erreicht, da hatten die Letzten noch nicht die Aussegnungshalle verlassen. Auch auf dem Friedhof hatte Selina sich an Mafiafilme erinnert gefühlt, es war, als würde mit Großvater Sergio der Boss einer Sippe zu Grabe getragen.

Selina hatte zwischen ihrer Großmutter, ihrem Vater und ihrer Tante gestanden – dass ihr Bruder Fabio nicht da war, war mal wieder typisch und wurde von niemandem erwähnt. Unter Tränen hatten sie Hände geschüttelt, fremde Menschen umarmt und Kondolenzen entgegengenommen. Selina war plötzlich von Trauer geschüttelt, Trauer um ihren geliebten Großvater, aber auch Trauer wegen all der verpassten Chancen. Vor sieben Jahren war sie aus Wuppertal weggegangen und hatte keinen Kontakt mehr mit ihren Großeltern gehalten. Weihnachten und Ostern, wenn sie in die alte Heimat zurückgekehrt war, hatte sie die beiden pflichtschuldigst besucht, sich über deren Fürsorge gefreut, aber mehr auch nicht. Weil sie so sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt gewesen war. Und wohin hatte es sie geführt? Eben.

Marcello versuchte, ihr die Selbstvorwürfe zu nehmen, indem er meinte, das sei doch völlig normal für junge Menschen, dass sie sich abnabelten und ihren eigenen Weg gingen, aber Selina wusste es besser: Sie hatte ihre Wurzeln vergessen.

Jetzt war sie zurückgekommen, und Sergio, eine der wichtigsten Säulen des Familienzusammenhalts, war tot.

Wie würde es weitergehen?

Die Eisdiele war das geringste Problem – Marcello war der Chef, er würde eine weitere Kraft einstellen müssen, die den Großvater ersetzte, der absolut unersetzlich war.

Aber was war mit Oma Marianne? Noch ging das Alleineleben, die Krankheit schritt nur langsam voran, sie kam zurecht. Aber das würde nicht mehr lange so bleiben. Wer kümmerte sich dann um sie?

Außerdem setzte es Selina unter Druck, unversehens mit dem Rest ihrer Familie konfrontiert zu sein – Inga war aus Bali angereist und mir nichts, dir nichts ebenfalls bei Marcello untergekommen. Ohne ihn zu fragen, natürlich, denn Selinas Mutter behauptete fröhlich, dass zwischen ihr und ihrem Ex-Mann alles geklärt und völlig harmonisch sei. Typisch ihre Mutter! Inga hatte sich getrennt und zu einer neuen Freiheit und Selbstbewusstsein gefunden, war »zentriert in ihrer Mitte« (O-Ton Inga), da passte es einfach nicht ins Bild, dass Marcello noch immer trauerte und alles andere als über sie hinweg war. Selina saß also mit ihren getrennten Eltern in der Wohnung und kam sich vor wie ein Teenager. Ihr Papa war komplett überfordert – er trauerte um seinen Vater, musste sich um seine Mutter kümmern, die Formalitäten mit der Beerdigung und dem Nachlass regeln und sich auch noch mit seiner Verflossenen konfrontieren, die wie ein tropischer Schmetterling gebräunt und mit einem durch Yoga gestählten Körper aus Bali eingeflogen kam und behauptete, dass sie ihn mit positiver Energie unterstützen wolle.

Kein Wunder, dass er in den vergangenen Tagen Kette geraucht hatte.

Und dann war da noch Tante Claudia mit Anhang.

Selina warf einen Blick zu dem dänischen Teil der Familie. Claudia war Marcellos Schwester, benannt natürlich nach Claudia Cardinale. Marcello Mastroianni und Claudia Cardinale – wer um Himmels willen tat seinen Kindern so etwas an?! Zumal Tante Claudia keineswegs nach der italienischen Schauspielschönheit kam. Claudia war eine aufgeschwemmte Mittfünfzigerin mit ehemals naturblondem, nun fahlgelb blondiertem Haar und blauen Augen. Sie kam ganz nach ihrer Mutter Marianne, hatte aber nur die unattraktiven Gene abbekommen. Als Au-pair-Mädchen war sie nach der Mittleren Reife nach Dänemark gegangen – und dort geblieben. Mit Mann und zwei Kindern lebte sie in Aalborg, Selina hatte sie zweimal besucht, da diese Besuche jedoch nicht von Herzlichkeit geprägt waren, hatte sie es dabei belassen. Claudias Kinder waren ebenfalls zur Beerdigung angereist, hochgeschossene langweilige junge blonde Männer, die Selina weniger durch ihre beruflichen Erfolge – Chefarzt mit dreißig der eine, Quantenphysiker der andere –, sondern vielmehr durch ihre unüberbietbare Durchschnittlichkeit beeindruckten. Der dänische Teil der Familie sprach kein Deutsch, erst recht kein Italienisch, also unterhielten sie sich auf Englisch miteinander.

Was sind wir eigentlich für eine seltsame Familie, fragte sich Selina, während sie gezwungenermaßen Cannelloni mit Ricotta auf ihren Teller häufte (sie hatte vor, eine ordentlich fette Grundlage für den Rotwein und den Grappa zu schaffen, zu denen sie später von den italienischen Freunden ihres Großvaters gezwungen werden würde). Wir haben italienische Namen, aber außer Opa spricht niemand von uns Italienisch. Wir feiern italienisch, wir essen italienisch, aber mit meinen Cousins muss ich Englisch sprechen, weil ich sie sonst nicht verstehe. Überhaupt, Italien. Selina war mit ihren Eltern und ihrem Bruder zweimal in dem Land gewesen, in Sirmione am Gardasee. Ihr Vater hatte über das Eis gemeckert, aber die Pizza in den Himmel gelobt, sie hatten gebadet und Ausflüge in die Gegend unternommen wie ganz normale Touristen. Dass sie italienische Wurzeln hatten, dass ihr Großvater waschechter Italiener war – davon hatte sie nichts gespürt. Es mutete ohnehin seltsam an, dass es kein einziges Familienmitglied von Sergio zu geben schien. Er hatte auch kaum etwas über seine Vergangenheit, seine Eltern, seine Herkunft erzählt. Es war, als hätte sein Leben mit der Ankunft am Hauptbahnhof in Duisburg Mitte der Fünfzigerjahre begonnen.

»Zu viel Grübeln macht Falten.«

Selina fuhr herum. Hinter ihr stand Fabio, ihr Bruder, und grinste sie breit an.

Selina stellte den Teller mit den Cannelloni ab und fiel ihm um den Hals. »Wo bist du gewesen? Ich habe dich auf dem Friedhof nicht gesehen?«

Ihr Bruder verdrehte die Augen. »Sag es bloß nicht Papa, mein Zug hatte Verspätung.«

»Als ob er nicht bemerkt hätte, dass du nicht da warst. Wir haben dich vermisst!«

Wie dämlich kann man sein, schoss es Selina durch den Kopf, zur Beerdigung des eigenen Großvaters zu spät zu kommen. Sie war sicher, dass Fabios Zug mitnichten Verspätung gehabt hatte – er hatte vermutlich den Zug verpasst, weil er verpennt hatte. Das sollte sie sich mal wagen! Es hätte sofort ein Donnerwetter gegeben. Aber Fabio, der fünf Jahre jünger war als sie, konnte sich alles erlauben. Das immerhin war typisch italienisch, die kleinen Jungs wurden verwöhnt und blieben ihr Leben lang Mamasöhnchen. Wie aufs Stichwort stellte sich ihre Mutter zwischen die Geschwister und umarmte ihre Kinder.

»Meine Süßen!« Inga küsste Selina und Fabio auf die Wangen. »Wie habt ihr mir gefehlt!«