Sommersprossen und Kondensstreifen - Katharina Michel-Nüssli - E-Book

Sommersprossen und Kondensstreifen E-Book

Katharina Michel-Nüssli

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Beschreibung

Die vielen Umzüge, die seltsamen Schulen, die ich besucht habe, die Alkoholsucht meines Vaters, die Arbeitslosigkeit meiner Mutter, meine Konzentrationsprobleme, mein geschissener Beistand, den ich jetzt endlich los bin. Der bekam Geld dafür, dass er sich nicht für mich interessierte. Ja, ich versuche es mit dem Schreiben. Hoffentlich interessiert das jemanden. Solche Sätze verfangen sich im Gedächtnis der Autorin, wenn sie den Menschen zuhört.

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Inhalt

Vorwort

Geschichten am Weg

Menschliches

Sommersprossen

Blitzlicht

Vom Lebensmut des Richi S

Wanderer in Rot

Pablo

Auffahrtsbrücke

Rorschach Hafen

Gruppentherapie

Nachwuchsspiesser

Vater hat’s geschafft

Der wahre Trennungsgrund

Das Zeugnis

Gastgeber

Aufleuchten

Nachtbus

Logis

Abendgespräch

Lebens-Mittel

Rössli

Einkaufen

Junger, aparter Herr

Personalnotstand

Beim Friseur

Rastlose Wanderung

Der Ingenieur

Diskrete Verabschiedung

Lebens-Inhalt

Pandemisches

Sommeri-Wurm

Corona-Himmel

Plexiglas

Kontrolle vs. Desinteresse

Ruhe vor dem Sturm

Eine verlorene Geschichte

Ländliches

Bundesfeier

Dialekt

Quelle

Töss

Das Ende einer Flucht

Der Drogist

Heimat?

Land-Spaziergang im November

Magisches

Gartenfest

Die Voliere

Die Wunderblume

Begegnung im Mondwald

Amandas seltsame Heimkehr

Philosophisches

Hierarchien

Creme-Schnitt-en-Ge-Schicht-e

Altersweisheit

Nachruf

Die Ente

Organigramm

Dazugehören

Kräftige Wurzeln, schlank vernetzt

Seelenverwandtschaft

Die Farben der Wochentage

Abbrüche

Nachdenkliches

Quasselstrippe

Stille Begleitung

Im Alter

Der letzte Sonnenuntergang

Innen und aussen

Die weinende Frau

Feierabend

Schliessliches

Zwei ungleiche Hälften

Macht

Die Midlife Crisis des Peter G

Ehekrise

Später vielleicht

Nachwort

VORWORT

Geschichten am Weg

Mit wachen Augen, offenem Herzen und empfindsamem Gespür ist Katharina unterwegs. Nimmt die Menschen ihrer Umgebung nicht oberflächlich wahr. Sie erkennt in jedem und jeder die einzigartige Persönlichkeit mit ihrer einzigartigen Geschichte. Oft sind es Männer, Frauen, Jugendliche und Kinder, die kaum ins Rampenlicht kommen.

Die Geschichten von Richi S. und seinem Lebensmut, vom Drogisten mit verkürztem Bein, der plötzlich verstarb, oder vom Vierzehnjährigen, der nach schwierigen Zeiten den Rank doch noch findet, alle berühren. Sie berühren auch, weil wir alle Menschen mit solchen Geschichten kennen. Es gibt aber auch immer wieder Momente zum Schmunzeln! So die Philosophie der Ente: «Der Tag wird bringen, was er eben bringt.»

Nicht nur in Geschichten gibt Katharina Menschen ein Gesicht, die sonst wohl kaum wahrgenommen würden, auch in ihrem Beruf unterstützt sie junge Menschen auf ihrem Weg zu ihrer ureigenen Geschichte. Selbstvertrauen sollen sie lernen und die Überzeugung, dass sie und ihre Geschichte einzigartig sind. Solche Erfahrungen der Berufsfrau übertragen sich auf die Autorin.

Kostbare Miniaturen würde ich sie nennen, diese Geschichten, die das Leben in seiner ganzen Farbigkeit beschreiben.

Ruth Rechsteiner

MENSCHLICHES

Sommersprossen

Mit einem entschlossenen Ruck wurde der lange weisse Vorhang hinter der Balkontür zugezogen. Die Leichtigkeit der Bewegung liess auf eine Frau in den Dreissigern schliessen. Es war am frühen Samstagmorgen. Er war der einzige Besucher des Parks, der an den neuerbauten Wohnblock grenzte. Als er an der Fassade hochblickte, stellte er fest, dass etwa die Hälfte der Rollläden geschlossen war. Das beruhigte ihn ungemein, es gab ihm das Gefühl, einen Vorsprung zu haben gegenüber all den Langschläfern. Und er glaubte sich weniger beobachtet. Die unbedeckten Fenster waren wie Augen, die auf ihn herunterschauten. Er wollte für sich sein. Mit sich und seinen eigenen Gedanken.

Unter dem Schatten der Blutbuche legte er sich auf eine Bank, atmete tief aus und schaute in die Krone, die ihn wie ein mächtiger Schirm beschützte. Er fühlte sich geborgen. Die Welt blieb draussen, die Angst vor dem Wochenende, dessen Ereignislosigkeit ihm bedrohlich vorkam, ermattete. Die Leere konnte nicht in sein Gemüt eindringen.

Ob die Frau hinter dem Vorhang Sommersprossen hatte? Man müsste sehr nahe hingehen, um das festzustellen, unhöflich nahe. Rötlichblonde Haare hatte sie bestimmt. Sie musste hübsch sein, und selbstbewusst, das Tuch hatte sich so anmutig vor das Fenster geschwungen, bevor es sich sanft der Trägheit ergab. Er sieht sich mit einer Blume – im Park wachsen jede Menge davon – an der Eingangstür des Wohngebäudes warten, bis jemand herauskommt, und er dann schnell hineinschlüpfen kann. Hochparterre, mittlere Tür, es kann nicht anders sein. Er klingelt. Sie öffnet, lächelt mit ihrem Stupsnäschen. Weil er so nahe zu ihr hintritt, um sich zu vergewissern, ob sie wirklich Sommersprossen hat, spürt er ihren Hauch über sich hinweg wehen. Hinter ihr hebt sich der weisse Vorhang vor dem Balkon, schwebt davon und legt sich tröstlich auf den Träumenden.

Blitzlicht

Der Bleistift kritzelt über das Papier. Radiergummi und Spitzer liegen in Reichweite. Das Auge will nicht gelingen. Wie ungelenk ihre Hand geworden ist. Einst war sie die zweitbeste Zeichnerin der Klasse. Ihr glückte jedes Porträt. Die Modelle hatten sich ausnahmslos wiedererkannt. Einige Skizzen liegen in ihrer alten Zeichenmappe. Weder aufgehängt noch weggeworfen. Sie fristen ihr Dasein im Schatten, um in wenigen tageslichten Momenten die Genugtuung ihrer Schöpferin zu erneuern. Jung waren sie damals gewesen. Noch nicht einmal zwanzig. Wie sie sich wohl verändert haben? Die Haare, die Falten, die Körperformen? Nur die Augen altern nicht. Sie glänzen, sie leuchten. Besonders diese Augen. Keine Zeichnung, kein Foto besitzt sie, nur die Erinnerung. Ausgelöst durch diese banalen Akkorde heute Morgen beim Bügeln. Sie stellt das Radio lauter und dann ab, damit die Töne in ihr nachklingen können. Der Hit ihrer ersten Schülerparty. Immer wieder diese Melodie, Patschuli im Übermass, sie glaubt es wieder zu riechen. Im Blitzlicht des Stroboskops wirkten noch die unbeholfensten Tänzer attraktiv. Sie legt das Bügeleisen weg. Natürlich ist die Musik primitiv. Der Unerreichbare ein normaler Junge. Vielleicht ist er dick geworden. Egal. Sie legt sich bäuchlings aufs Bett und gibt sich den Erinnerungen hin. Ein süsses Kribbeln durchrinnt ihren Körper, verliert sich und lässt sie zurück einem leisen Gefühl des Bedauerns. Sie sieht ihre Finger, wie sie sich ans Kopfkissen klammern. Kein Wunder, dass ebendiese Finger keine Zeichnung mehr zustande bringen, die sie zufriedenstellt.

Vom Lebensmut des Richi S

Ein alter Mann. Wie unnatürlich schief er an den Krücken steht, draussen vor dem Physiotherapiezentrum. Sicher wartet er auf ein Taxi. Seine blauen Augen leuchten aus dem charmant unrasierten Gesicht, dessen Lächeln den freundlichen Ausdruck ein Leben lang geprägt zu haben scheint. Jetzt erkenne ich Richi.

Es war mehr als eine Hüftoperation. «Mein halbes Becken ist weg.» Ich habe Hemmungen, mir das bildlich vorzustellen. Als wir noch zusammenarbeiteten, hatte er einen Tumor in den Nieren. Er kam nach der Operation gerne zurück an den Arbeitsplatz, mit der gleichen zugewandten Art wie zuvor, verlor kaum Worte über den Eingriff, war wieder da für die Jugendlichen in der Lernwerkstatt. Nach der Pensionierung widmete er sich seinen alten Fahrzeugen und rüstete sie auf für einen Trip nach Afrika. «Magst du so lange stehen?», frage ich ihn. «Kein Problem», meint er. «Ich gehe jeden Tag spazieren.» Trotz regelmässiger Untersuchungen hat man erst spät entdeckt, dass sich in seinem Hüftgelenk ein neuer Tumor mit Ablegern gebildet hatte. So blieb nur noch die Brachialmethode: die teilweise Entfernung des Knochens. «Jetzt werde ich von einer Spezialistin betreut. Sie ist neurologisch ausgebildet und hilft mir, mein Gehirn umzuprogrammieren. Ich muss lernen, mich anders zu bewegen. Sie konnten mich halt nicht mehr anatomisch perfekt zusammenflicken.» Ein Auto hält neben uns an. Durch die heruntergelassene Scheibe strahlt uns eine hübsche Frau entgegen. Sie ist sichtlich erfreut, Richi zu sehen. «Meine frühere Therapeutin», erklärt er. «Ihr habe ich zu verdanken, dass ich wieder gehen kann.»

Richi nimmt den Faden wieder auf. «Nach Afrika fahre ich nicht mehr. Das ist zu umständlich. Jetzt bereisen meine Partnerin und ich Frankreich, ein schönes Land, das ich endlich besser kennenlernen will.» «Du bist ein wahres Stehaufmännchen», stelle ich bewundernd fest. «Weisst du, entweder bin ich tätig oder tot. Der Rollstuhl ist keine Option für mich. Ich habe mir ein E-Bike gekauft. Damit unternehme ich Ausflüge in die Umgebung. Den Motor schalte ich aber nur bei Steigungen ein. Das Radfahren ist gut für den Rücken. Es macht mich wieder symmetrischer», schmunzelt er. «Wartest du auf jemanden, oder halte ich dich vielleicht auf?», frage ich ihn, mich wundernd, dass er ebenso viel Zeit zum Plaudern hat wie ich. «Dort steht mein Auto. Ich habe es nicht eilig. Aber du vielleicht?» Er fragt mich nach meinem Befinden, nach meiner Familie, nach meiner Arbeit. Zum Schluss ein rauer Wangenkuss. «Bleib gesund!», ruft er mir nach.

Wanderer in Rot

Wir sind bereits in den Bus Richtung Passhöhe gestiegen, als er mir auf dem Bahnhofplatz ins Auge sticht. Ein breitkrempiger Hut, rotes T-Shirt, rote Shorts, darunter kräftige, braungebrannte Beine in Wanderschuhen. Am Rücken leichtes Gepäck. Wie alt er wohl sein mag? Ich schätze ihn auf Mitte siebzig.

Am Ende unserer Höhenwegetappe lockt eine einfache Alpbeiz zur Einkehr. Da es herbstlich kühl ist, wollen wir uns drinnen aufwärmen. Am Tisch vor dem Eingang sitzt niemand. Da liegen lediglich ein Rucksack und ein breitkrempiger Hut. Bevor wir eintreten, begrüsst uns die mürrische Wirtin, die den Grill im Freien bedient. Wir sind kurz irritiert, weil man die Küche durchqueren muss, bevor man die Gaststube betritt. Da sitzt der illustre Wanderer, den ich im Tal beobachtet habe, vor dem bereits geleerten Glas und unterhält die Anwesenden, allesamt ältere Personen; ein einzelner Mann, der genüsslich Speck kaut, und ein Ehepaar, welches soeben ein dickes Stück heissen Fleischkäse mit wenig Kartoffelsalat serviert bekommt.

Wir bestellen Kaffee, der im Glas gebracht wird, und Schlorzifladen, die lokale Spezialität. Der rot gekleidete Senior erzählt mit geschliffenem Thurgauer Mundwerk von seinen zahlreichen Wanderungen. Obwohl er sich an die anderen Gäste wendet, zieht er mit seinem gewinnenden Wesen auch mich in Bann. Seine vor kindlicher Begeisterung leuchtenden Augen kullern fast aus dem gefurchten Gesicht, die gut erkennbaren Lachgrübchen scheinen allen Stürmen des Lebens getrotzt zu haben. Immer fällt ihm noch eine Geschichte ein, von kulinarischen Sensationen mit selbst gesuchten Steinpilzen in Tessiner Berghütten, von Wetterumstürzen

und heimtückischen Gewittern. Das führt hin zu einer Fussballmannschaft, die kürzlich beim Training von einem Blitzschlag getroffen wurde, es soll sogar Verletzte gegeben haben. Früher hätte man so etwas nie gemacht, bei Gewittergefahr sei man sofort in die Garderobe geflüchtet. Wer wisse das besser als er, ehemaliger Juniorenobmann ebendieses Vereins. Der Stolz lässt seine Stimme beben. Endlich bezahlt er sein Bier, angemessenes Trinkgeld inklusive. Sorgfältig bindet er sich ein rotes Schweisstuch um die Stirn und verlässt unverdrossenen Schrittes die Wirtschaft.

Durch das Fenster sehe ich ihn den Rucksack schultern und den Hut aufsetzen. Während er entschwindet, räumt die Wirtin sein Glas weg. «Ach, lassen wir ihn doch reden», brummelt sie.

Pablo

Ein neues Gesicht in der Haushaltabteilung des Warenhauses. Strahlend, mit aufmerksamen schwarzen Augen und einem hellbraunen Lockenkopf, der kaum zu bändigen ist. Etwas Kindliches, gepaart mit vollendeten Umgangsformen, verleiht ihm einen unwiderstehlichen Charme. Verkaufen und Beraten liegen ihm im Blut. «Guten Tag! Darf ich Ihnen etwas zeigen? Bitte, die Wohntextilien sind gleich geradeaus.» Sein Gang drückt Dienstfertigkeit aus. Er führt das Ehepaar in die entsprechende Abteilung, auf die er mit ausgestrecktem Arm hinweist. Mit einem angedeuteten Knicks tritt er diskret in den Hintergrund.

Ich lasse ihn gleich selber zu Wort kommen: «Vor drei Wochen habe ich hier die Lehre begonnen. Sie dauert nur zwei Jahre, ich bin eben nicht der beste Schüler. Wenn ich mich anstrenge, kann ich später das Eidgenössische Fähigkeitszeugnis erwerben. Aber eins ums andere. Sie können sich kaum vorstellen, wie glücklich ich war, als ich die Stelle gekriegt habe. Ich habe extra in meiner Freizeit geschnuppert. Das hat Eindruck gemacht. Früher wäre mir das nie in den Sinn gekommen. Freizeit ist Freizeit, man ist ja nur einmal jung. So dachte ich. Hausaufgaben interessierten mich nicht. Heute weiss ich, dass man auch an die Zukunft denken muss. Ich habe Freunde, die hängen jetzt rum. Am Anfang ist es vielleicht noch cool, ausschlafen und zocken. Aber ich verdiene jetzt mein Geld selber. Und ich gehöre zu einem Team. Die Schule ist gar nicht so schwer. Alle Lehrerinnen und Lehrer sind nett, und es gibt gratis Stützkurse. Überhaupt hatte ich Glück mit den Lehrpersonen. Mit meiner Unterstufenlehrerin bin ich heute per Du. Sie fährt Velo wie ich. Hallo Claudia,