Sonnenkinder - Nicole Mtawa - E-Book
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Nicole Mtawa

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Beschreibung

Nach ihrem Studium will Nicole die Welt bereisen. Dabei begegnen ihr so viel Elend und Armut, dass sie ihre geplante Karriere und ihr Leben im Wohlstand komplett in Frage stellt. In Neu-Delhi gründet sie stattdessen ein Heim für verstoßene, pflegebedürftige Kinder, um ihnen ein Zuhause voller Geborgenheit zu geben.

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Nicole Mtawa

Sonnenkinder

Mein Leben für die Armen in Indien

Knaur e-books

Für Raju, Ganesh und Jalia.

Die Sonnenkinder in meinem Herzen

Der Mensch ist dort zu Hause, wo sein Herz ist,

nicht dort, wo sein Körper ist.

 

MAHATMA GANDHI

»Vieles lässt sich planen, aber meist kommt es dann doch ganz anders«, schrieb ich am Ende meines ersten Buches Sternendiebe.

Ich war mir sicher, ich würde auch weiterhin Kinder in Not betreuen, denen ich auf meinem Weg begegne. Doch erst die vielen Anfragen von bewegten Leserinnen und Lesern, wie sie mich bei meiner Arbeit unterstützen könnten, brachten den Wunsch in mir auf, ein Pflegeheim für voll pflegebedürftige Kinder in Indien zu errichten. Mit diesem Ziel vor Augen und der unterstützenden Kraft meiner Leser war ich bereit für dieses große Projekt und den damit verbundenen Lebenswandel.

Als mich mein Mann Juma vor sechs Jahren bat, die Geschichte unseres Kampfes gegen das Straßenleben aufzuschreiben, konnte ich noch nicht wissen, dass ich aufgrund der positiven Reaktionen auf unser Buch den Verein Human Dreams e.V. gründen würde, um so noch mehr Menschen helfen zu können.

In meinem zweiten Buch möchte ich nun erzählen, wie ich mit Juma noch viele weitere Sterne vom Himmel holte und wie ich in Indien den ersten pflegebedürftigen Kindern ein Leben voller Sonnenschein ermöglichte.

 

NICOLE MTAWA

[home]

Prolog

Frische Bergluft und zarte Sonnenstrahlen empfangen mich, als ich am Morgen die Hüttentür aufmache. Freiheit und Glück, das ist es, was ich beim Anblick der mächtigen Bergketten um mich herum verspüre, während ein Steinadler über die tiefen Täler gleitet und dabei immer wieder einen gellenden Schrei ausstößt.

Auf einmal kommt ein braun-weißes Fellknäuel um die Ecke geschossen. Jacky, der muntere Hüttenhund, hat mich entdeckt und will sogleich mit mir spielen. Also springe ich los und klatsche Jacky dabei immer wieder auffordernd zu, der mir mit Freudensätzen auf dem schmalen, steilen Schotterweg zur nahen Bergkuppe folgt. Kurz wälzt er sich im noch verbliebenen Schnee, doch dann schießt er an mir vorbei und erreicht wenig später als Erster den höchsten Punkt der Kuppe, wo er sich stolz und hechelnd neben dem mit Steinen aufgetürmten Pfahl ins strohige Gras setzt.

Ich knie mich neben Jacky, um ihn ausgiebig zu kraulen, und genieße den Ausblick auf die prächtige Kulisse des niederösterreichischen Bergmassivs, das mich umgibt. In solchen Momenten, hoch oben auf einem Berg und mitten in der Natur, spüre ich deutlich, wie neue Kräfte in mir aufsteigen, die mich für alles stark machen, was kommen mag. Noch eine ganze Weile sitze ich, berauscht von der Natur, einfach so da, lausche einer Stille, die wir in unserem Zuhause in Afrika höchstens tief in der Nacht finden können.

Doch dann wird es Zeit, dass ich Juma wecke. Erst gestern Abend sind wir zusammen mit Wolfgang, dem stämmigen Hüttenwirt, mit einer Materialseilbahn in einem breiten und auch etwas wackligen Holzkasten auf die auf über 1800 Metern Höhe liegende Alm gefahren. Zu neu und aufregend für Juma, um Augen für die Schönheit der Alpen und die Natur um uns herum zu haben. Zum Glück ist er wenigstens schwindelfrei, auch wenn er sich zum ersten Mal in seinem Leben auf eine solche Höhe begibt. Sicher, in seinem Heimatland Tansania gibt es auch Berge, der Kilimandscharo ist mit seinen 5893 Metern sogar der höchste Berg Afrikas. Doch Juma ist seit frühester Kindheit nur mit den Straßen der Großstadt Dar es Salaam vertraut und hatte in seinem Überlebenskampf ganz andere Sorgen, als an Freizeitaktivitäten wie eine Bergwanderung zu denken.

Hoffentlich fühlt er sich heute schon ein wenig wohler, schließlich soll die Wanderhütte hier oben für die nächsten fünf Monate unser Arbeitsplatz sein. Zimmer putzen, Matratzenlager herrichten, in der Küche aushelfen und bedienen – als Allrounder würde es besonders während der Wandersaison im Sommer mehr als genug für uns beide zu tun geben. Hier würde es niemanden stören, dass Juma weder schreiben noch lesen kann, keine Ausbildung hat und noch nicht so gut Deutsch spricht. Nun würden eben noch ein paar österreichische Ausdrücke dazukommen, so wie sich die ersten Wandergäste gestern Abend mit »Pfiati« und »Baba« vom Hüttenteam verabschiedet hatten.

Noch ist es still in der über hundert Jahre alten Hütte, nur Wolfgang scheint schon auf zu sein, um in der Werkzeugscheune Holz zu hacken. Strom oder eine Heizung gibt es nicht, und gerade jetzt im April kann es auf dem ungeschützten Hochplateau noch bitterkalt werden. Das Hüttendach sei mit Stahlseilen am Boden befestigt worden, damit es bei einem Sturm nicht weggerissen würde, meinte Wolfgang gestern zu uns, und im Winter komme es sogar vor, dass man bei meterhohem Schnee nur durch die Fenster im zweiten Stock Zugang zum Inneren habe. Er redete auch von Stürmen, die Betten verschieben können, und von senkrechten Blitzen, die Telefone explodieren lassen.

Solche Geschichten schrecken mich jedoch nicht ab. Zum einen würde nun bald der alpine Sommer beginnen, und schließlich wollte ich dem grauen Arbeitsalltag in Deutschland entgehen, um etwas Neues zu erleben, Erfahrungen zu sammeln und eine andere Welt zu sehen. Also hatte ich so lange im Internet nach einem Job für uns beide gesucht, bis wir auf Wolfgang gestoßen waren, der uns neben einem stattlichen Gehalt auch noch freie Kost und Logis versprochen hatte.

Eine steile und enge Holztreppe, die bei jedem Schritt knarrt, führt hinauf zu den Gästezimmern und dem Matratzenlager. Insgesamt kann die Hütte siebzig Personen beherbergen. Juma und ich haben ein winziges Zimmerchen bekommen, das so klein ist, dass es sich für Gäste nicht eignet. Dennoch finde ich es richtig gemütlich darin, mit den dunklen Holzwänden und den rot-weiß karierten Bettüberzügen, die so typisch für eine Wanderhütte sind.

»Hey, du Langschläfer, aufstehen! Die Sonne scheint, und unser erster Arbeitstag auf dem Berg beginnt«, wecke ich Juma fröhlich, doch der murmelt nur Unverständliches und zieht sich die Decke über den Kopf. Es wird ein paar Tage dauern, bis er sich eingelebt und sich an das Hüttenteam gewöhnt hat. Bestimmt wünscht er sich bis dahin wieder in die Kolbenfabrik in Deutschland zurück, in der wir letztes Jahr gemeinsam sechs Monate gearbeitet hatten, damit Juma sich in Tansania ein Haus kaufen konnte. Damit war sein größter Traum in Erfüllung gegangen, schließlich hatte das Haus nur 3500 Euro gekostet. Doch ich wollte nicht noch einen Sommer lang vor den lauten Maschinen stehen und in Schichtarbeit neun Stunden lang monotone Tätigkeiten ausführen.

Nachdem ich Juma eine Weile gut zugeredet habe, traut er sich doch mit mir hinunter in die Stube, wo Toni in Kniebundhosen seinen Tee schlürft und Elisa mit einem Lappen die Theke wischt. Toni ist unser Schankwirt, und Elisa ist für die Bedienung der Wanderer zuständig. Durch das Küchenfenster können wir die mollige Magdalena, die Almköchin, beobachten, wie sie in einem großen dampfenden Kessel rührt. Kaum sitzen wir am Frühstückstisch, kommt auch schon Wolfgang zur Tür herein, begrüßt uns und meint, dass wir nach dem Frühstück beginnen können, in der Stube Staub zu wischen, und dass danach die Toiletten im Eingangsbereich dran sind.

»Hier habt ihr noch Gummihandschuhe. Das Wasser holt ihr aus dem Wasserhahn in der Küche, das ist nämlich der einzige im ganzen Haus«, sagt er und erklärt noch, dass das Wasser von einem Regenauffangbecken unter dem Haus stammt und man sparsam damit umgehen muss. Sollte sich dort während des Jahres nicht genug Regenwasser angesammelt haben, müsse er Wasser in einzelnen Stahlflaschen mühsam mit der Materialseilbahn vom Dorf heraufholen.

Ich muss innerlich über die Zustände schmunzeln. Obwohl wir uns mitten im fortschrittlichen Österreich befinden, erinnert mich so vieles an unser einfaches Leben in Afrika, wo wir mit Eimern Wasser aus dem Brunnen vor dem Haus holen und abends im schwachen Licht einer Petroleumlampe zusammensitzen. Aber es gibt auch Unterschiede. So wirft Wolfgang zwar abends den Generator an, damit wir immerhin ein paar Stunden Elektrizität haben, doch das Duschen bei tropischen Temperaturen mit Brunnenwasser ist um einiges angenehmer, als sich bei nahezu null Grad über einer winzigen Schüssel mitten in unserem engen Zimmerchen zu waschen, weil es keine Duschräume auf der Hütte gibt. Aber ich bin es gewohnt, mich an die einfachsten Verhältnisse anzupassen, und so ändert das nichts an meiner guten Stimmung.

Nachdem wir die ersten Aufgaben am Vormittag erledigt haben, nimmt uns Elisa mit auf die Gästezimmer, um uns auch hier den Ablauf zu erklären. Im Anschluss daran richte ich das Matratzenlager her, während Juma zum Holzhacken hinter die Hütte geschickt wird. Obwohl es unser erster Tag ist, haben wir mehr als genug zu tun, kurz vor zweiundzwanzig Uhr gehen wir noch Magdalena in der Küche zur Hand. Auch am nächsten Tag schuften wir von morgens bis spätabends, doch ich fühle mich so voller Energie wie schon lange nicht mehr. Es muss wohl die Höhenluft sein, die mich beflügelt, und das siegreiche Gefühl, das erreicht zu haben, was ich mir gewünscht habe – den Sommer in den Bergen zu verbringen.

Nur Juma kann ich selbst in den folgenden Tagen nicht von unserem Glück überzeugen. Immer häufiger spricht er davon, wie unwohl er sich hier fühlt. Zwar schmerzt auch mir von der ungewohnten Arbeit mittlerweile der Rücken, aber die alpine Umgebung entschädigt einiges. Juma allerdings kann mit der kargen Natur hier wenig anfangen und würde am Wegrand lieber Geschäfte und Läden sehen anstelle von Krokussen und Schneerosen. So abgeschieden von der materiellen Welt zu sein findet er gar nicht gut. Letztes Jahr in Deutschland war es gerade er gewesen, der regelmäßig zu einem Stadtbummel gerufen hatte.

Darüber hinaus ist er mit Wolfgang und den anderen immer noch nicht warmgeworden, unter anderem auch deshalb, weil sie nach Feierabend gerne einen über den Durst trinken. Wir hingegen trinken beide nicht. Ich habe mich grundsätzlich dagegen entschieden, und Juma verbindet damit schlimme Kindheitserinnerungen.

Aber es hilft alles nichts, schließlich brauchen wir ja auch das Geld, um davon in Afrika leben zu können. Juma braucht noch Kapital, um in seinem Haus einen Lebensmittelladen zu eröffnen, und ich möchte weiterhin Menschen in Not betreuen, ohne nebenbei einer bezahlten Arbeit nachgehen zu müssen. Bei den maximal hundert Euro, die ich in Tansania monatlich brauche, hat sich dieser Lebensrhythmus für mich als ideal erwiesen. So beißen wir die Zähne zusammen und kämpfen uns durch unsere ersten Wochen auf der Alm.

 

Am Montagabend ist es ruhig auf der Hütte, und Wolfgang meint, wir könnten heute schon früher Schluss machen. Juma zieht sich gleich auf unser Zimmer zurück. Mit Elisa, die schon das vierte Jahr auf der Hütte mit anpackt, laufe ich daraufhin bis zum Rand des Hochplateaus vor, wo der Berg steil ins Tal abfällt. Sie liebe die Arbeit, sagt Elisa, auch wenn im Sommer so viel Betrieb sei, dass man manchmal nicht mehr weiß, wo einem der Kopf steht.

»Und schau, immer wieder gibt es Bergsteiger, die sich hier das Jawort geben«, erzählt sie, als wir unweit der Hütte an einem Bergkirchlein vorbeikommen. »Vielleicht komme ich so auch noch unter die Haube!«, lacht sie mit ihrer frischen Art, aber auch einer Spur Wehmut in der Stimme, mit vierzig immer noch nicht den passenden Mann gefunden zu haben.

Immer wieder wundere ich mich über das Schicksal. Ich, die nie heiraten wollte und auch nicht nach einem Mann gesucht habe, bin nun schon seit über zwei Jahren mit Juma verheiratet. Meine Lebensplanung hat ganz anders ausgesehen. Nachdem ich so viele kranke und pflegebedürftige Kinder in den ärmsten Ländern der Erde gesehen hatte, wollte ich meine Energie für diese Menschen einsetzen. Daher habe ich mich zunächst innerlich gegen die Liebe zu Juma gewehrt.

Als wir uns 2005 in Tansania kennengelernt haben, war auch Juma ein junger Mann, der meiner Hilfe bedurfte. Er lebte seit seinem siebten Lebensjahr auf der Straße, hatte keine Perspektive, und aufgrund von Krankheit und Drogen hing sein Leben damals am seidenen Faden. Je näher wir uns kennenlernten, desto mehr musste ich schließlich zugeben, dass ich mich in ihn verliebt hatte. Die Liebe ist mir also einfach so zugeflogen, ohne dass ich danach gesucht hätte. Und auch wenn uns von Anfang an klar war, dass wir recht verschiedene Lebensziele haben, versuchen wir, uns gegenseitig keine Grenzen zu setzen und die Zeit miteinander zu genießen.

Zum Glück kann ich Elisa mit meiner Geschichte ein wenig aufmuntern. Vielleicht kommt die Liebe ja immer dann, wenn man sie am wenigsten erwartet?

Als wir uns schließlich auf den Rückweg zur Hütte machen, ist es bereits dämmrig. Zu meiner Überraschung begegnen wir wilden Gemsen, die völlig furchtlos auf der Alm weiden. Selbst als wir direkt an ihnen vorbeilaufen, schrecken sie nicht auf. Ihr Fell ist rotbraun, am Bauch und an den Schenkeln fast weiß, doch von den langen Ohren verläuft eine schwarze Längsbinde über die Augen. Die friedvolle Stimmung, die sie ausstrahlen, erinnert mich an eine fünf Jahre zurückliegende Safari in der Serengeti, als ich mein erstes halbes Jahr in Tansania verbracht hatte. Auch dort waren die Antilopen, Giraffen und Elefanten, als ich mit Freunden in einem Geländewagen im Schritttempo an ihnen vorbeifuhr, fast ohne jegliche Scheu.

Doch keine Stunde später ist abrupt Schluss mit meinem Frieden. Ich kann nicht glauben, was Wolfgang mir da gerade eben mitgeteilt hat. Es ist Monatsende, und er sitzt am Stammtisch über der Abrechnung, vor sich einen Bierkrug und einen vollen Aschenbecher. Er hat uns zu sich gerufen, und mir fällt auf, dass die anderen Hüttenarbeiter sich trotz noch halbvoller Gläser zurückgezogen haben. Und dann eröffnet Wolfgang uns unverfroren, er könne uns in den ersten drei Monaten nur ein Drittel des Lohns auszahlen, aber das wäre wohl kein weiteres Problem, da sich das ganze Hüttenteam am Ende der Saison das erwirtschaftete Geld teilen würde und wir so auf den Betrag kommen würden, den er uns anfangs am Telefon versprochen hatte.

»Wolfgang, ist das dein Ernst? Jetzt sind wir den weiten Weg von Deutschland mit dem Zug gekommen und haben keine Garantie, wie viel Geld uns am Ende bleiben wird? Das sind ja nicht einmal zwei Euro Stundenlohn, die du uns momentan für die knochenharte Arbeit bezahlen willst!«

Als ich für Juma übersetze, zögere ich mit meiner Einschätzung einen Moment. In einem mir völlig fremden Land wäre ich von vornherein vorsichtiger gewesen, aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass es in Österreich Probleme geben würde. Und zugegeben, mit der üblichen Abrechnungsweise von Hüttenmitarbeitern kenne ich mich nicht aus. Es leuchtet mir zwar ein, dass jetzt zu Beginn der Saison kaum Wandergäste kommen und sich deshalb die Kasse erst im Hochsommer füllen wird, aber schließlich war bei allen ausgeschriebenen Hüttenjobs stets die Rede von einem festen monatlichen Gehalt gewesen.

Wolfgang hingegen spielt alles herunter und macht keine Anstalten, auf meine Bedenken einzugehen. Sein plötzliches Aufbrausen macht mir zudem klar, dass er nicht mit sich reden lassen will. Auf einmal sehe ich nicht mehr einen ehrenhaften Hüttenwirt vor mir, sondern einen miesen Ausbeuter mit langen strähnigen Haaren, wulstiger Nase und gläsernen Augen, dessen Plan von Anfang an feststand. Da wir keinen schriftlichen Vertrag in den Händen halten, haben wir hinterher keine Möglichkeit, unseren gerechten Lohn einzufordern.

Wolfgang zieht unruhig an seiner Zigarette, die Diskussion scheint ihn nervös zu machen. Hatte er wirklich gedacht, wir würden uns mit einem Hungerlohn zufriedengeben und wie Sklaven stillschweigend weiterschuften?

Juma sitzt geknickt da. In seinem Gesicht lässt sich ablesen, wie ihm zumute ist. Jetzt, wo ihm selbst die Aussicht darauf genommen wird, ordentlich Geld verdienen zu können, hält ihn nichts mehr auf diesem Berg. Und auch ich muss unsere Situation neu überdenken. Ausnutzen lassen werden wir uns ganz bestimmt nicht, auch wenn damit mein Traum vom Hüttenjob erst mal geplatzt ist. Und das mache ich Wolfgang auch unmissverständlich klar. Unter diesen Bedingungen würden wir unsere Taschen packen und uns einen anderen Job suchen, so viel steht fest.

Aber so einfach scheint die Sache für Wolfgang nicht zu sein. Auf einmal lenkt er ein und meint beschwichtigend, uns wie versprochen die 1200 Euro monatlich zu bezahlen. Nur müssten wir uns dann selber um unser Essen kümmern.

Der Diskussion müde, gehen Juma und ich schließlich auf unser Zimmer, ohne eine endgültige Entscheidung getroffen zu haben. Zwar ist wieder neue Hoffnung in mir entflammt, dass wir doch noch jeden Monat unser Gehalt cash auf den Tisch ausbezahlt bekommen, doch die Einschränkung, nicht mehr wie sonst mit dem Hüttenteam gemeinsam zu essen, sondern wöchentlich extra mit der Materialseilbahn ins Dorf zum Einkaufen zu fahren, erscheint mir lächerlich. Vielleicht würde sich alles mit der Zeit einrenken, schließlich sind Arbeitskräfte in diesen Höhen rar. Aber jetzt, wo Wolfgang uns bereits seine dunkle Seite offenbart hat, würde ich Juma kaum mehr zum Bleiben motivieren können.

Trotz der Sorge, wie es nun weitergehen soll, steht unsere Entscheidung am nächsten Morgen fest. Wir packen unsere Taschen, und ich rufe Katrin, meine Kindergartenfreundin, die vor zwanzig Jahren mit ihrer Familie von Deutschland nach Österreich gezogen ist, an. Der Zufall wollte es, dass unser Berg nur wenige Kilometer von ihrem Zuhause entfernt ist. So hatten wir vor zwei Wochen bereits ein paar schöne Tage bei ihr verbringen können, bevor sie uns zur Talstation fuhr. Mit ihr verbindet mich eine ganz besondere Freundschaft, die trotz der vielen Jahre und der großen Entfernung nie unterbrochen war, auch wenn wir uns nur sehr selten sehen.

Katrins Stimme zu hören ist mir ein kleiner Trost. Schließlich sind wir mit dem Kontakt zu ihr nicht ganz verloren inmitten von Österreich, auch wenn ich momentan noch keine Ahnung habe, wo wir zu zweit auf die Schnelle einen neuen Job finden sollen. Katrin macht mir Mut und verspricht, uns um zehn mit dem Auto im Tal abzuholen. Sie bedauert, wie es uns mit dem Hüttenwirt ergangen ist, freut sich aber auch, uns so schnell wiederzusehen. Wir können erst mal bei ihr bleiben und uns sogar beim Renovieren ihres zukünftigen Heims ein paar Euro verdienen. Ihr Mann Fredi sei schon völlig überfordert von den noch anstehenden Arbeiten an dem baufälligen Haus seiner verstorbenen Oma.

Juma lauscht mit sichtbarer Erleichterung unserem Gespräch. »Nicky, bin ich froh, dass wir wieder runter vom Berg gehen«, meint er, als ich mein Handy beiseitelege. »Ich arbeite gerne, nur muss es das nächste Mal nicht wieder auf einer Berghütte sein.«

»Schade, ich wäre gerne wieder auf einen Berg gegangen«, antworte ich enttäuscht. »Na ja, wenigstens habe ich für eine kurze Zeit diesen Traum leben können. Zugegeben, es wäre ganz schön stressig geworden, während der Hochsaison ununterbrochen Betten zu machen, zu schrubben, zu putzen, abzuwaschen und die vielen Wanderer bedienen zu müssen.«

Juma fegt zum Schluss noch das Zimmer, und dann begeben wir uns mit unserem Gepäck nach unten, um Wolfgang unsere Entscheidung mitzuteilen. Wir hören ihn im Flur vor sich hin pfeifen, doch als er uns so abreisefertig sieht und ich ihn noch einmal darum bitte, uns für die letzten Tage gerecht zu entlohnen, damit wir wenigstens unsere Reisekosten decken können, schlägt seine Stimmung augenblicklich um.

»Jetzt muss ich mich auch noch nach neuem Personal umschauen, nein, das Geld, das ihr bekommen habt, ist genug, mehr gibt es für euch nicht«, entgegnet er mir schroff.

Nun werde ich richtig wütend. Was denkt er sich eigentlich dabei, uns auch noch die Schuld zuzuschieben? Als alles nichts hilft, drohe ich ihm schließlich mit der Polizei, was ihn fuchsteufelswild macht. Er scheint allen Grund zu haben, die Polizei zu fürchten, denn er greift tatsächlich in die Kasse, knallt uns 200 Euro auf den Tisch und verlässt wutentbrannt die Stube.

Ich stecke das Geld ein und gehe mit Juma in die Küche, wo wir uns von Elisa und Magdalena verabschieden wollen, um dann diesem Alptraum ein Ende zu machen. Toni wartet bereits draußen, um uns mit der Materialseilbahn hinunterzubringen. Elisa wirft uns einen vielsagenden Blick zu und schüttelt traurig den Kopf. Und während Magdalena mich fest an ihre Brust drückt, flüstert sie mir noch zu, dass wir nicht die Einzigen sind, denen es so ergangen ist. Auf einmal poltert Wolfgang daher, brüllt, dass wir sofort seine Küche verlassen sollen, und schiebt uns grob zur Tür hinaus. Doch der Höhepunkt ist, dass er Toni befiehlt, von uns fünf Euro für den Transport den Berg hinunter zu kassieren.

Ich komme mir vor wie in einem schlechten Film. Wie kann sich ein erwachsener Mann nur so kindisch verhalten? Juma schlägt vor, zu laufen, also fragen wir einen Wanderer vor der Hütte nach dem Weg hinunter ins Tal. Ohne uns noch einmal umzudrehen, machen wir uns an den Abstieg. Die geschotterten Serpentinen fallen steil ab, und wir müssen uns sehr darauf konzentrieren, mit unserem Gepäck nicht auszurutschen. Zum Glück verläuft der Weg nach einer halben Stunde bereits auf festem Boden an blühenden Bergwiesen entlang.

Unsere Mienen hellen sich allmählich wieder auf, und statt zu fluchen, lachen wir jetzt über die grotesken Szenen mit Wolfgang. Unser abenteuerlicher Ausflug in die Berge hat uns wieder um einige Erfahrungen reicher gemacht. Ich muss an eine tibetische Weisheit denken, die ich irgendwo einmal gelesen habe: »Denke daran, dass das Nichterreichen von etwas, das du möchtest, manchmal ein Glücksfall ist.«

Gerade dann, wenn etwas nicht so klappt, wie ich es mir gewünscht habe, stelle ich mir einfach vor, dass alles seinen guten Grund hat. Man kann so viel erreichen, wenn man an sich glaubt und immer das Positive sieht. Würden wir hingegen wochenlang Trübsal blasen und uns über den missglückten Hüttenaufenthalt ärgern, bräuchten wir uns nicht zu wundern, wenn das Unglück seinen Lauf nimmt und wir keinen Schritt vorwärtskommen.

So leicht würde ich mich nicht unterkriegen lassen. Irgendwo wird es eine neue Arbeit für uns geben, die wie für uns gemacht ist, da bin ich mir sicher. Denn seit ich mich damals auf meinen Reisen in die ferne Welt, nach Australien, Tansania und Indien, gegen ein geregeltes Leben in Deutschland entschieden habe, um mich für Kinder in Not zu engagieren, habe ich gelernt, wie ich mit neuen Herausforderungen umgehen muss, damit sich doch noch alles zum Guten wendet. Ich habe nie aufgegeben und deshalb diese Entscheidung bis heute nicht bereut, auch wenn es nicht immer einfach war. Ja, meine Vergangenheit hat mich stark gemacht für alles, was da noch kommen mag.

Wenn ich meine Energie Not leidenden Kindern widmen kann, ist mein Leben von Freude erfüllt.

[home]

1.

Wer mit Flügeln geboren wird, sollte alles dazu tun, sie auch zum Fliegen zu benutzen.

FLORENCE NIGHTINGALE

Hebamme wollte ich einmal werden. Doch trotz meines guten Abiturzeugnisses, eines mehrwöchigen Praktikums im Kreißsaal des Margaritenhospitals in Schwäbisch Gmünd und eines sozialen Jahres in einem Internat für gehörlose Kinder kam eine Absage nach der anderen von Hebammenschulen in ganz Deutschland. Tausend Bewerber auf fünfzig Ausbildungsplätze, hieß es damals im Jahr 1998 als Begründung.

Meine Enttäuschung war groß. Bereits bei fünf Geburten hatte ich während meines Praktikums dabei sein dürfen und die wundervollen Momente miterleben können, wenn eine Mutter ihr Neugeborenes im Arm hält und der Geburtsschmerz mit einem Mal vergessen ist. Konnte es einen schöneren Beruf geben, als Geburtshelferin zu sein, wo ich sowohl für das Baby als auch für die frischgebackenen Eltern bei diesem emotionalen Ereignis da sein könnte?

Soziale Arbeit hat mir schon immer Freude bereitet. Als Teenager besuchte ich in meiner Freizeit Menschen in einem Altenheim, fuhr sie im Rollstuhl in der Stadt spazieren und hörte mir ihre Sorgen an, die sich meist um die Einsamkeit und das Alleinsein drehten. Damals gab es auch ein neues Mädchen in unserer Klasse, mit dem niemand etwas zu tun haben wollte. Es wurde getuschelt über Denise, dass ihre Mutter öfter mit der Polizei zu tun habe und ihr Bruder wegen Drogen bereits im Gefängnis sitze. Denise verhielt sich anders als die anderen, und das machte sie zur Außenseiterin. Sie fehlte oft unentschuldigt und hatte für die unangenehmen Nachfragen der Lehrer stets erfundene Geschichten parat.

Denise interessierte mich erst als Mensch und schließlich auch als Freundin, doch dann flog sie noch im selben Jahr von der Schule und zog mit ihrer Mutter in eine andere Stadt. Wenn ich an sie denke, wird mir bewusst, dass ich nicht erst Jahre später in Tansania und Indien meine Lebensaufgabe gefunden habe, sondern dass es noch nie anders gewesen war: Menschen in Not zogen mich regelrecht an, und ich suchte gerne nach Lösungen, wie es ihnen wieder bessergehen konnte.

Dass ich einen sozialen Beruf erlernen wollte, stand für mich daher außer Frage. Für meine Zukunft stellte ich mir außerdem ein ruhiges und geregeltes Leben an der Seite meiner Jugendliebe Jens vor. Jens hatte ich bereits mit sechzehn kennengelernt, und wir galten unter Freunden jahrelang als unzertrennlich. Wir verbrachten jede freie Minute miteinander, planten alles gemeinsam und glaubten, dass es für immer so bleiben würde. Ich mochte seinen blonden Wuschelschopf, und durchtrainiert wie er war, hätte er mit seinem Waschbrettbauch locker für eine Jugendzeitschrift Modell stehen können. Aber nicht nur sein Aussehen gefiel mir. Jens war fürsorglich, bereitete mir immer wieder mit kleinen Aufmerksamkeiten eine Freude und schenkte mir seine aufrichtige Liebe.

Manchmal denke ich, es muss eine Fügung des Schicksals gewesen sein, dass dennoch alles ganz anders gekommen ist. Dass gerade Jens mir nach sechs gemeinsamen Jahren den nötigen Schubs geben würde, der mich schließlich in die weite Welt und zu den ärmsten Menschen führen sollte, ahnten wir damals beide nicht. Bis dahin waren die armen Länder dieser Welt so weit von meinem wohlhabenden Leben in Deutschland entfernt gewesen, dass ich meine innere Stimme zunächst unterdrückt hatte. Vor Entwicklungshelfern, die in solchen Ländern leben und helfen konnten, hatte ich aber große Hochachtung, und insgeheim beneidete ich sie sogar ein wenig dafür.

Wie unterschiedlich Jens und ich im Grunde waren, bemerkten wir lange nicht. Jens kaufte sich gerne teure Markenkleider, hatte Schuhe im Überfluss und schaffte sich immer wieder mal etwas Neues an. Zwar habe ich auch damals schon auf das Maß und den Preis geachtet, aber ich ließ mich dennoch von der Konsumwelt gefangen nehmen. Den Druck, ständig auf neue Kleidersuche zu gehen, um sich wohl zu fühlen und in der Gesellschaft mithalten zu können, empfand ich als normal, wenngleich er auch viel Frust mit sich brachte. Oft kam es vor, dass ich entweder nichts Passendes gefunden hatte oder mir etwas gekauft hatte, das mir schon wenige Tage später doch nicht mehr gefiel und schließlich kaum benutzt im Schrank lag.

Erst in Afrika sollte ich später erfahren, wie unbeschwert sich Freiheit von materiellen Dingen anfühlt, wenn im Kopf endlich Platz für die wichtigen Dinge im Leben ist. Ich sollte Kindern begegnen, deren Leid mich dazu brachte, mein Leben von Grund auf in Frage zu stellen und mich schließlich zu einer konsequenten und drastischen Lebenswandlung bewegte.

Doch bis dahin gab es für mich nichts Wichtigeres, als meine Zeit mit Jens zu verbringen, an dessen starke Schulter ich mich immer anlehnen konnte. Mir gefielen der Schutz und die Liebe, die er mir gab, und wenn ich bei einem handwerklichen oder technischen Problem Hilfe brauchte, konnte ich mir sicher sein, dass Jens eine Lösung fand.

Damals merkte ich es nicht, aber heute sehe ich mich in diesem Lebensabschnitt wie hinter einer Nebelwand verborgen. Es kommt mir so vor, als hätte ich geträumt, und wäre ich nicht aufgeweckt worden, würde ich vielleicht noch heute das Leben weiterführen, das ich gewohnt war. War es reine Bequemlichkeit gewesen, die mich lange Zeit zurückhielt, meinen eigenen Weg zu suchen?

Mit der Liebe, die mich so fest an Jens band, stellte ich mir solche Fragen nicht. Ich glaubte lange Zeit, das wahre Glück gefunden zu haben.

Bevor ich Jens kennengelernt hatte, war ich mit meinen Freundinnen an den Wochenenden meist in die Stadt etwas trinken oder in eine Disco gegangen. Anders als ich es später in Afrika kennenlernen sollte, versuchte man sich in Deutschland immer zu beschäftigen, um der Langeweile zu entgehen oder etwas Aufregendes zu erleben. Oft wussten wir dennoch nicht, wohin wir sollten. Viele der jungen Leute, die ich kannte, betranken sich häufig, um gute Stimmung zu haben, egal ob auf einer Party, einem Ausflug oder einem Stadtfest.

Alkohol war mir schon immer ein Dorn im Auge gewesen, und obwohl ich immer wieder dazu aufgefordert wurde, mitzutrinken, lehnte ich konsequent ab. Einem Gruppenzwang zu unterliegen war das Letzte, was ich wollte. Alkohol kam mir gegenüber dem realen Leben wie eine Lüge vor. Menschen fanden darin Spaß, taten aber oft Dinge, die sie später bereuten, oder verloren gar die Kontrolle über sich. Mein Entschluss wurde nur bestärkt, als ich mit der Jugendkapelle, in der ich damals Querflöte spielte, eine Woche im wunderschönen Kleinwalsertal verbrachte. Statt sich auf die gemeinsame Freizeit inmitten der Natur und der Berge zu freuen, stopften die anderen Jugendlichen ihre Rucksäcke mit Bierdosen voll und hatten nichts anderes im Sinn, als sich auf ihrem Zimmer zu betrinken und sich mit ihren alkoholbedingten Eskapaden zu rühmen.

Jens war anders. Da auch er nicht trank, fand ich in ihm einen Gleichgesinnten. Die Zeit in verrauchten Kneipen und vollgestopften Discos nahm damit ein Ende, und ich schwebte mit Jens wie auf Wolken.

Er hatte zudem das coolste Auto weit und breit, einen komplett in Regenbogenfarben lackierten Suzuki Jeep, mit dem wir im Sommer mit offenem Verdeck und flatternden Haaren ins Freibad fuhren. Doch »Suzy«, wie wir sein Auto liebevoll nannten, sollte nicht lange alleine bleiben. Pünktlich zur Volljährigkeit kaufte ich mir von meinem ersparten Geld – trotz der Bedenken meiner Eltern über dessen Tauglichkeit – einen Rover Mini Cooper in Schwarz. Mit elf Jahren war der englische Kleinwagen zwar schon in die Jahre gekommen, wodurch sich nach einer Weile die unter Kennern verbreitete Bezeichnung »British Elend« bewahrheiten sollte, doch ich war stolz, mir meinen Traum durch viele Stunden Ferienarbeit in Fabriken verwirklicht zu haben. Welch ein Bild mussten wir abgegeben haben, wenn Mini und Suzy hintereinander herfuhren!

Alles hätte perfekt sein können, denn im Grunde fehlte es Jens und mir an nichts. Und trotzdem machte sich nach ein paar Jahren immer mehr ein Gefühl der Unzufriedenheit in mir breit. Wir hatten mit der Routine zu kämpfen, die sich langsam und unaufhaltsam in unsere Beziehung eingeschlichen hatte. Irgendwann wussten wir nicht mehr, welches Video wir noch nicht ausgeliehen hatten, um uns am Wochenende die Zeit zu vertreiben, oder was wir gegen die Langeweile tun konnten. Wir begannen, uns über Kleinigkeiten zu streiten, und störten uns an den Eigenheiten des anderen.

Jens trainierte immer häufiger im Fitnessstudio, so dass ich mich eines Tages auch dort anmeldete, in der Hoffnung, ein gemeinsames Hobby zu finden. Aber bald schon merkte ich, dass das nicht meine Welt war. Der Wahn vom makellosen Körper und der Wettkampf um das beste Aussehen begegneten mir nirgends mehr als dort.

Und dann, als ich eines Tages lustlos auf einem Indoorbike über imaginäre Hügel radelte und gleichzeitig in einem Magazin blätterte, stieß ich auf die Postkarte einer Hilfsorganisation, die für Patenschaften in Afrika warb. Es war wie eine Antwort auf meine negativen Empfindungen, mit denen ich mich immer häufiger in Verbindung mit diesem äußerlich schönen und wohlhabenden Leben konfrontiert sah. Der Gegensatz hätte nicht krasser sein können: Während man hier versuchte, durch Fitness schlank zu werden, kämpfte man in Afrika mit dem Hunger.

Entschlossen steckte ich die Karte ein und hielt eine Woche später bereits das Foto von Faustine in der Hand. Mit kritischen Augen und einem Schmollmund blickte mich der dreijährige Afrikaner an. Er war barfuß, seine Beine von Staub bedeckt und sein Bauch aufgebläht. Außer einer Hütte aus Lehm war nichts als Dürre um ihn herum. Tansania hieß das Land, von dem ich bis dahin nicht einmal gewusst hatte, dass es in Ostafrika lag. Mit den fremden Namen, die Faustines Wohnort beschrieben, tat ich mich anfangs schwer: In Mwabagalu im Shinyanga-Distrikt, irgendwo im Norden Tansanias, sollte er mit seinen Eltern und einem Bruder wohnen. Die Eltern waren Bauern, stand in der Broschüre des Patenkindvorschlags. Sie pflanzten Süßkartoffeln im trockenen Boden neben ihrer Hütte an, aber zum Leben reichte das nicht aus.

Mit dem monatlichen Betrag, den ich fortan für diese Patenschaft überwies, unterstützte ich die Hilfsorganisation dabei, innerhalb eines sieben Jahre dauernden Projekts den Bewohnern des Dorfes durch Bildung, den Bau von Brunnen und medizinische Versorgung zu einem besseren Leben zu verhelfen. Ziel dabei war es, dass das Dorf im Anschluss daran für sich selbst sorgen konnte.

Feuer und Flamme von dieser mir fremden Welt, setzte ich mich schon bald an meinen ersten Brief an Faustines Familie, der von der Hilfsorganisation später übersetzt werden würde. Und tatsächlich, sechs Wochen später erhielt ich eine Antwort. Mein erster Brief aus Afrika! Geschrieben auf Suaheli von Faustines Tante, übersetzt von einem Mitarbeiter der Hilfsorganisation.

Wir schrieben noch viele Briefe hin und her, schickten uns kleine Geschenke wie beispielsweise ein gemaltes Bild oder ein Foto und stellten uns gegenseitig viele Fragen über das jeweils andere Land. In den Berichten, die ich regelmäßig von der Hilfsorganisation über die Fortschritte bekam, las ich, dass man sein Patenkind sogar besuchen konnte. Wenige Jahre später, mit dreiundzwanzig, würde ich genau das tun, doch bis dahin würde sich mein Leben gravierend verändern.

 

Nach all den Absagen der Hebammenschulen hatte ich mich schließlich in Bezug auf die Berufswahl neu orientiert. Im Berufsinformationszentrum war ich auf eine Broschüre über das Studium der Bekleidungstechnik in Albstadt-Ebingen gestoßen. Laut Internet-Routenplaner sollte die Kleinstadt nur zwei Autostunden von meinem Elternhaus entfernt auf der Schwäbischen Alb liegen. Nicht zu weit also, aber weit genug, um mein eigenes Leben entdecken zu können.

Das Fachhochschulstudium versprach viel praktischen Unterricht, zum Beispiel Nähen, Zeichnen und Design, und technische oder wissenschaftlich ausgerichtete Seminare für den theoretischen Hintergrund. Bis dahin hatte ich zu Hause mit einer simplen Hausnähmaschine bereits die verschiedensten Dinge ausprobiert und in der Schule Bildende Kunst als Leistungsfach neben Latein gewählt. Nun sah ich einen Weg, wie ich die kreative Seite in mir weiterentwickeln konnte. Auch naturwissenschaftliche Fächer sollten nicht zu kurz kommen, denn nach Beendigung des Studiums würde ich eine Diplomingenieurin der Bekleidungstechnik sein, um beispielsweise in der Produktionsplanung oder Qualitätssicherung einer Firma eingesetzt zu werden.

Was den Beruf betrifft, hätte ich damals schon erkennen müssen, dass er mich nicht glücklich machen würde. Aber das Studium war in der Tat interessant und abwechslungsreich, zumal ich mich schon immer gerne mit Handarbeiten beschäftigt hatte. Besonders zu Geburtstagen war es mir wichtig, etwas Selbstgemachtes schenken zu können, und nun würde ich nicht wie früher nur Teddybären mit Herzkissen, Clown-Puppen und Strohfiguren herstellen können, sondern richtige Kleidungsstücke.

Meinem Umzug nach Albstadt-Ebingen blickte ich mit Freude entgegen. Die Aussicht auf die Freiheit, mein Leben nun zum ersten Mal vollkommen selbst gestalten zu können, beflügelte mich. Während sich meine Mutter, Sparkassenangestellte, und mein Vater, ein pensionierter Goldschmied, noch Gedanken darüber machten, was so ein Studium wohl kosten würde, hatte ich bereits BAföG beantragt und mir eine günstige Unterkunft in einer Wohngemeinschaft besorgt.

So ließ ich im Herbst 1999 mein Elternhaus voller Tatendrang hinter mir. In Albstadt-Ebingen zog ich frohgemut, den Mini vollbepackt bis obenhin, in ein älteres Reihenhaus, das mit Möbeln aus Omas Zeiten eingerichtet war. Dort lernte ich auch gleich Biggi kennen, die ebenfalls zwanzig und Studentin war und mit der ich mir fortan das ganze Haus inklusive einem kleinen Garten mit Hängeschaukel teilen würde. Wir verstanden uns auf Anhieb blendend, und einer aufregenden Studentenzeit stand somit nichts mehr im Wege. Noch war ich zuversichtlich, dass der räumliche Abstand zu Schwäbisch Gmünd auch meiner Beziehung zu Jens neuen Schwung verleihen würde.

 

Das Erste, was ich an Albstadt lieben lernte, waren die Berge. Sie waren gerade so hoch, um sie ohne große Anstrengung besteigen zu können, aber dennoch mit einer grandiosen Aussicht auf die Alb belohnt zu werden. Albstadt war für mich das reinste Naturparadies. Duftende Heidewiesen und wunderschöne Hochebenen luden zum Wandern und Fahrradfahren ein. Meine Abenteuer bestanden darin, die vielen Wanderpfade zu erkunden, immer neue Wege zu entdecken und unter anderem auch nachts über die Felder der Hochebenen zu spazieren.

Ich liebte die intensive Stimmung in der Dunkelheit, mit dem Zirpen der Grillen und dem ganz besonderen Duft der Bäume. Meine Eltern hätten sich vor Sorge natürlich alle möglichen Horrorszenarien ausgemalt, wenn ich bei ihnen in Schwäbisch Gmünd mitten in der Nacht meine Stiefel angezogen hätte. In Albstadt hingegen brauchte ich niemanden zu beunruhigen und konnte das tun, zu dem ich mich gerade berufen fühlte.

Selbst im Winter bot mein Studienort mehr Abenteuer als meine Heimatstadt. Nicht umsonst verpasste man der Stadt den Namen »Klein-Sibirien«. Minus 27