Sonnenseite - Roland Kaiser - E-Book
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Sonnenseite E-Book

Roland Kaiser

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Beschreibung

Ein großer Entertainer – Ein großes Leben

Nur wenige deutschsprachige Künstler blicken auf eine solche Karriere zurück: Seit fast 50 Jahren steht Roland Kaiser auf der Bühne, Hits wie Santa Maria, Joana, Dich zu lieben oder Warum hast du nicht nein gesagt machten ihn bekannt, er verkaufte mehr als 90 Millionen Tonträger, wurde mit Preisen geehrt und trat so häufig in der ZDF-Hitparade auf wie niemand sonst: 67 Mal. Die Konzerte seiner jährlichen Kaisermania in Dresden sind in wenigen Minuten ausverkauft.

Angefangen hat es ganz unglamourös. 1952 in Berlin zur Welt gekommen, gab seine leibliche Mutter ihn fort. Ronald Keiler, wie er damals hieß, wuchs bei einer Pflegemutter auf, einer einfachen und warmherzigen Frau – deren gelebte Werte ihn bis heute leiten: Anstand, Ehrlichkeit, Konstanz. Er erlebte den Mauerbau, hörte 1961 Willy Brandts Rede vor dem Schöneberger Rathaus und 1963 John F. Kennedy, als er sagte Ich bin ein Berliner. Durch einen Zufall wurde er mit 21 Jahren ins legendäre Hansa-Tonstudio eingeladen, sang In the Ghetto – und bekam umgehend einen Plattenvertrag. Aus Ronald Keiler wurde Roland Kaiser. 1976 gelang ihm mit Verde ein erster Erfolg, 1980 mit Santa Maria der große Durchbruch.

In fast fünf Jahrzehnten hat Roland Kaiser miterlebt, wie Deutschland sich veränderte. Und natürlich hat auch er sich verändert. Im Jahr 2000 erkrankte er an der chronisch obstruktiven Lungenerkrankung COPD – nur eine Transplantation rettete ihm das Leben. Dass dieses zweite Leben auch zu einer zweiten Karriere führte (sein Duett Warum hast du nicht nein gesagt mit Maite Kelly wurde bis heute sagenhafte 150 Millionen Mal auf YouTube geklickt und wurde mittlerweile 5-fach mit Gold ausgezeichnet), macht ihn dankbar und demütig. Er engagiert sich in zahlreichen Stiftungen und sozialen Einrichtungen, um etwas zurückzugeben. Wie sehr Solidarität und Gerechtigkeit im Leben zählen, das hat er schon als Junge im Berliner Wedding gelernt.

In Sonnenseite blickt Roland Kaiser zurück – und erzählt dabei nicht nur aus seinem Leben, sondern immer wieder auch deutsche Zeitgeschichte. Ein Buch für seine Fans und alle, die sich für Schlager und Politik, für Musik und Nachkriegsgeschichte begeistern.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 438

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Ein großer Entertainer, ein großes Leben, berührende Zeitgeschichte

Seit bald 50 Jahren begeistert Roland Kaiser seine Fans – dabei war es Zufall, dass er zur Musik kam. Wie in einem Liebeslied ans Leben erzählt er in seiner ersten umfassenden Autobiographie von Jahren, in denen wenig selbstverständlich war, in denen es viele unerwartete Wendungen gab, Krisen und großartige Glücksmomente. Er erzählt von Menschen und Ereignissen, die ihn geprägt haben: seiner Pflegemutter, einer einfachen, liebevollen und gradlinigen Frau, die ihn im Berlin der Nachkriegszeit aufzog und starb, als er gerade 15 Jahre alt war; der Teilung der Stadt durch den Bau der Mauer; den Wurzeln seines sozialen Engagements und seiner politischen Überzeugungen; den Menschen, die ihn auf seinem künstlerischen Weg begleitet haben; seiner großen Liebe …

Ungewöhnlich offen, aufrichtig, selbstkritisch, humorvoll – und voller Dankbarkeit für ein Leben, das ihn auch aus dunkelsten Phasen immer wieder auf die Sonnenseite führte.

Die Grundlage für die in diesem Buch enthaltenen Dialoge sind die Erinnerungen von Roland Kaiser. Die Gespräche sind sinngemäß wiedergegeben. Ein Anspruch auf wörtliche Übereinstimmung mit tatsächlich stattgefundenen Dialogen wird nicht erhoben.

Zum Schutz Einzelner, die nicht Personen des öffentlichen Lebens oder Mitglieder der Familie sind, wurden einige Namen anonymisiert.

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Originalausgabe 2021

Copyright © 2021 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Heike Virchow, Textpertise

Beratung: André Selleneit

Umschlaggestaltung: Georg Babetzky, punktdesign, Münster

Umschlagfoto: Paul Schirnhofer

Bildredaktion: Susanne Harecker, Sabine Kestler, Tanja Zielezniak

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-27700-0V003

www.heyne.de

Inhalt

Back to LIVE

Im Wedding

In the Ghetto oder: Wie alles anfing

Hitjahre

Reifezeit

Auf Leben und Tod

Ein zweites Leben

Back to LIVE

Danksagung

Anhang

Quellenverzeichnis

Abdruckgenehmigungen

Bildnachweis

Für Silvia,

Hendrik, Tim, Jan und Annalena

Back to LIVE

Es ist 19.28 Uhr.

Der Himmel draußen ist fast wolkenlos, und das klare Blau des Tages wird langsam grau. Ich höre Schritte, Stimmen, manchmal ein Lachen, ab und zu pfeift jemand.

Um 19.35 Uhr gehst du raus, sagt Sandra, spätestens um 19.40 Uhr.

Wir werden also mit Verspätung beginnen. Dabei bin ich gern pünktlich. Doch die Regeln heute Abend sind streng. Der Einlass muss beendet, alle müssen auf ihren Plätzen sein, kein Herumlaufen, kein Alkohol, und natürlich gilt das Abstands- und Maskengebot, überall haben sich Ordner in Warnwesten positioniert.

Die Stimmen auf der anderen Seite des Vorhangs werden ungeduldiger, hier und da ruft jemand. Die Akustik in der Berliner Waldbühne ist sehr klar, weil sie wie ein antikes Theater in einen Talkessel hineingebaut wurde. Im Halbrund ziehen sich die steinernen Ränge den steilen Hang hinauf. Während der Olympischen Spiele 1936 fanden hier die Wettkämpfe im Geräteturnen statt. Ungefähr dort, wo heute die Ton- und Lichttechniker sitzen, war damals die Führerloge. Außerdem gibt es einen unterirdischen Gang, der in den Backstage-Bereich hinter der Bühne führt. Der Gang ist nicht besonders breit, aber ziemlich lang und verwinkelt. Damit man darin niemanden hinterrücks erschießen kann, heißt es. Der wahre Grund ist banaler und hat vor allem mit der Streckenführung zu tun. Ich bin durch diesen Tunnel in den Backstage-Bereich gelaufen, weil ich gern ungesehen auf die Bühne gehe. Wer schießt schon auf einen Unterhaltungskünstler?

Draußen beginnt das Publikum, rhythmisch zu klatschen. Mehr als 22 000 Menschen passen in die Waldbühne, 4500 Karten durften ausgegeben werden; für das erste Konzert am Vortag waren sie innerhalb von 24 Stunden ausverkauft. Ein halbes Jahr nach Beginn des Lockdowns im März 2020 wird die Waldbühne wieder eröffnet – die ersten großen Open-Air-Konzerte seit Ausbruch der Pandemie –, und die Menschen sehnen sich nach Unterhaltung und Kultur. Beides ist eben kein Luxus, sondern ein Grundbedürfnis, gerade in Krisen. Das haben wir in den vergangenen Monaten eindrücklich erlebt. Die Leute wollen endlich wieder Musik hören, sie wollen lachen, singen, tanzen, sie wollen besondere Momente erleben und sie mit anderen teilen, zumindest im Rahmen des Möglichen. Wochenlang haben sich der Konzertveranstalter und die Verantwortlichen der Waldbühne im Vorfeld mit dem Gesundheitsamt abgestimmt. Das Hygiene- und Infektionsschutzkonzept umfasst 27 Seiten und definiert Schutzmaßnahmen, Regeln und Abstände. Es bestimmt, wer wo und neben wem sitzen darf und wer nicht; es bestimmt, wie An- und Abreise, Ein- und Auslass, Produktion, Technik und Catering zu managen sind. Außerdem wurden die Eintrittskarten personalisiert, am Eingang ist der Personalausweis vorzuzeigen. Der Katalog ist umfangreich und dezidiert, und natürlich appellieren die Verantwortlichen auch an das Verantwortungsbewusstsein jedes Einzelnen. Anders geht es gar nicht.

19.32 Uhr. Sandra bekommt über Funk eine Nachricht. Und nickt. Der Einlass ist beendet, sagt sie, wir können anfangen. Draußen – als hätten die Leute ihre Worte auch gehört – steigert sich der Jubel. Ich höre die Freude der Fans und freue mich mit ihnen, meine Begeisterung wächst mit dem Pegel ihrer Begeisterung: endlich wieder auftreten, endlich wieder live spielen! Ein Livekonzert ist etwas Besonderes – diese Nähe, diese Lebendigkeit, diese Unmittelbarkeit! Die Überraschung, wenn ein bekannter Song plötzlich anders arrangiert ist. Das Glück, in den Klang einzutauchen, der uns alle umgibt, ins Licht, in diese aufgeladene Atmosphäre. Das gemeinsame Erleben eines einzigartigen Augenblicks, dieses Wir-Gefühl, das glücklicher macht als irgendwelche Besitztümer. Als ich gestern Abend mit der Band auf die Bühne kam, hielten die Fans ein Transparent hoch: Wir haben euch so vermisst! Wir waren gerührt. Auch die Band und ich hatten einander monatelang nicht gesehen, hatten monatelang nicht miteinander gespielt. Es wurde ein sehr bewegender Abend. Die Luft flirrte und funkelte vor geteilter Freude. Alle spürten: Es ist höchste Zeit, auf die Bühne zurückzukehren.

Die Künstlerinnen und Künstler waren die Ersten, die es traf. Über Nacht verloren sie ihre Jobs. Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Ich kritisiere den Lockdown nicht. Ich finde, Bund und Länder haben gut reagiert, sie haben rasch und mit Maß gehandelt in einer Zeit, in der man nicht viel über das Virus wusste. Doch auf Dauer können wir auf Kultur und Unterhaltung nicht verzichten, und die Menschen brauchen wieder eine Perspektive. Das Publikum braucht sie – und die Kunstschaffenden, die Veranstalter, die Tour- und Technikteams, die Catering-Crews und Booking-Agenturen brauchen sie. Genau wie Filmemacher, Autorinnen, Schauspieler, Bühnenbauerinnen, Masken- und Kostümbildner, Kameramänner und Tontechnikerinnen, Museumsleute und Clubbetreiber. Für viele geht es ums schiere Überleben. Darum wollen wir mit diesen beiden Back to LIVE-Konzerten ein Signal setzen und den politisch Verantwortlichen sagen: Bitte gebt auch der Kultur- und Veranstaltungsbranche, den großen und kleinen Firmen und den vielen Soloselbstständigen wieder die Chance, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Gebt ihnen die Möglichkeit, in einem epidemiologisch und ökonomisch vertretbaren Rahmen Konzerte zu spielen und Theater zu machen, Filme, Kabarett, Ausstellungen, Performances. Sonst gehen in der Unterhaltungsindustrie sehr viele Unternehmen in Konkurs. Und an jeder Pleite hängen Existenzen, Menschen, Familien.

19.34 Uhr. Meine Frau prüft den Sitz meiner Krawatte. Silvias Blick entgeht nichts. Für heute hat sie zwei Dreiteiler mitgebracht, einen hellen und einen dunkleren, falls es doch regnen sollte. Silvia achtet akribisch auf Details, dokumentiert die Farbe meiner Anzüge, die Krawatten, Einstecktücher, Manschettenknöpfe (für heute hat sie die mit dem Berliner Bären ausgewählt). Sie bewahrt mich sozusagen davor, zweimal hintereinander im selben Kleid zur Party zu gehen. Ich bin froh über ihre Unterstützung. Höflichkeit und Respekt sind mir wichtig – und wenn sich meine Fans auf einen Konzertabend vorbereiten, gebe ich mir mindestens ebenso viel Mühe.

19.35 Uhr. Gitarrist, Bassist, Drummer, Geigerinnen, Bratschistin, Cellistin, Keyboarder, Pianist und die Sängerinnen – alle haben sich inzwischen verkabelt und ihre Monitoring-Kopfhörer in die Ohren gestöpselt. Alle tragen Schwarz. Alle tragen Masken. Und weil auch wir hinter und auf der Bühne Abstand halten müssen, stellen sie sich mit Abstand zum Es-geht-los-Ritual auf, strecken ihre Hände aus und lassen sie mit einem anschwellenden Ohhhhhhhhh! in die Luft steigen, wie Fußballer in der Kabine vor dem entscheidenden Spiel.

Das Medienecho nach dem ersten Konzert am Vortag war überwältigend: Bild-Zeitung und Süddeutsche haben berichtet, FAZ und Hürriyet, dpa, Tagesspiegel und BZ,Stern und Bunte, ARD, ZDFund etliche Privatsender und natürlich die sozialen Medien. Er sei schon bei sehr, sehr vielen Konzerten gewesen, schrieb ein Kommentator, doch keines habe ihn so berührt. Er habe die 4499 anderen Anwesenden nicht gekannt und doch jeden Einzelnen vermisst: Corona zeige uns, wie sehr Menschen andere Menschen brauchen.

19.37 Uhr. Der Monitortechniker prüft noch einmal meine Verkabelung, das Beltpack an meinem Gürtel. Draußen verschwindet das letzte Licht des Tages. Es ist immer etwas Besonderes, im Dunklen auf die Bühne zu gehen – für die Band, für mich und auch für das Publikum.

19.38 Uhr. Früher wäre ich in so einem Moment noch einmal meine Moderationen durchgegangen. Ich hatte immer Lampenfieber. Heute, in meinem zweiten Leben, denke ich: Was soll mir noch passieren? Ich nehme meinen Job ernst, meine Fans, ich gebe mein Bestes – wenn trotzdem mal was schiefgeht, ist das nicht das Ende der Welt. Im Gegenteil: Manchmal entsteht sogar etwas Neues, etwas, das ich mir nicht hätte ausdenken können.

19.39 Uhr. Die Maskenbildnerin tupft mit einem Tuch über meine Stirn. Silvia fährt mir mit der Fusselrolle übers Revers. Viviane, die seit vielen Jahren meine Buchungen koordiniert und die Konzerte betreut, nickt mir zu. Dieter, mein alter Freund und Wegbegleiter, reckt beide Daumen in die Höhe und ruft: Toi, toi, toi!

Sandra nimmt den schweren, schwarzen Vorhang ein Stück beiseite. Draußen begrüßt eine Stimme über die riesigen Bühnenlautsprecher das Publikum. Sie weist noch einmal ausdrücklich auf sämtliche Corona-Hygienevorschriften hin. Und schließlich, endlich sagt sie: Wir wünschen euch viel Spaß! In den Jubel mischen sich die ersten Takte von Ich glaub, es geht schon wieder los, und im nächsten Moment erfüllt unser Opening die Waldbühne. Die Fans singen mit, sie klatschen im Takt.

19.40 Uhr. Die Musiker drängen sich hinter dem Vorhang. Ich sage: We can go! und hebe den Daumen in Sandras Richtung.

Stopp, ruft der Produktionsleiter.

Alle verharren, wie Autos, die synchron eine Vollbremsung machen.

Sandra fragt über Funk, was los ist. Jörg, mein Gitarrist, hört über seine Kopfhörer, dass es ein Softwareproblem gibt und die Tontechniker die Computer neu hochfahren müssen. Der Drummer lacht. Die Sängerinnen gehen auf und ab. Die Geigerinnen gehen auf und ab. Die Bratschistin, der Bassist, der Pianist, der Keyboarder, alle warten. Und Sandra lässt niemanden aus den Augen. Yvonne tupft über meine Stirn, Silvia zupft den Saum meines Sakkos zurecht. Still stehe ich da. Sandra wartet auf die entscheidende Ansage – und schließlich nickt sie und nimmt den Vorhang zum zweiten Mal beiseite. Die Band läuft auf die Bühne, und sofort brandet wilder Applaus los, die Lightshow beginnt, das Keyboard setzt ein, es spielt die ersten Takte von Kurios, und im nächsten Augenblick setzen die Gitarren ein, die Drums treiben, die Bässe wummern, und Sandra hält immer noch den Vorhang auf und fragt: Möchtest du von links oder rechts kommen? Ich sage »von rechts« und gehe einen Schritt vor, leise wippe ich mit dem Fuß im Takt, warte auf meinen Einsatz, mache noch einen Schritt, atme ein, atme aus, schaue kurz in den dunklen Himmel, warte noch einen winzigen Augenblick.

Und gehe hinaus.

Back to LIVE-Konzert in der Berliner Waldbühne (2020)

Der Berliner Wedding

Mit meiner Pflegemutter (ca. 1954)

Im Wedding

»Steh auf, Ronald.«

Eine Hand strich über mein Haar.

»Steh auf, Junge, wir müssen los.«

Ich blinzelte. Im Dunkel des Zimmers zeichneten sich die Umrisse der Möbel ab – lauter vertraute Gestalten, die auf den Morgen warteten: die behäbige Vitrine, der schmalbrüstige Tisch, die Stühle, die alle unterschiedlich aussahen, als käme jeder aus einer anderen Familie. Dahinter schmal und hoch die Tür, die zu dem Zimmer führte, in dem Tante Gertrud wohnte.

»Ich schmier dir eine Stulle«, sagte meine Mutter, die Stimme gedämpft, um die Tante nicht zu wecken. Dann strich sie mir noch einmal übers Haar, versicherte sich, dass ich wirklich wach war, und ging in die Küche.

Schlaftrunken schob ich die Beine unter der Decke hervor. Es war kühl, der Ofen noch nicht eingeheizt. Im Winter, wenn es richtig kalt wurde, wickelte meine Mutter abends einen Backstein, den sie zuvor auf den Herd gelegt hatte, in Zeitungspapier und schob ihn unter meine Bettdecke, damit er mich wärmte. Doch es war erst Oktober. Vorsichtig tasteten meine Füße über den Fußboden. Ich nahm meine Hose von der Stuhllehne, schlüpfte in den Pullover und folgte meiner Mutter in die Küche. Sie hatte schon Wasser in die Schüssel gefüllt, und ich wusch mein Gesicht, putzte die Zähne. Dann nahm ich den Schlüssel und lief die halbe Treppe hinab zur Toilette.

Als ich zurückkam, stand ein Teller mit einem Margarinebrot auf dem Tisch und ein Glas Milch. Meine Mutter wärmte sich die Hände an ihrer Kaffeetasse; sie trank so früh nur Muckefuck und frühstückte erst, wenn wir zurückkamen. In ihrem Haar saßen noch, in ordentlichen Reihen, die Lockenwickler. Doch sie war bereits fix und fertig angezogen.

Ich biss in meine Stulle. Im Haus war es still. Ab und zu hörte ich hinter der Wand ein Schnarchen von Tante Gertrud. Tante Gertrud war zehn Jahre älter als Mutter und konnte kaum gehen, sie sah schlecht und trug eine Brille mit Gläsern dick wie die Finger des Fleischers in der Müllerstraße, bei dem ich manchmal eine Gewürzgurke für einen Groschen kaufte. Meine Mutter trug auch eine Brille, doch ihre Gläser waren nicht dick, und auch sonst war sie ganz anders als Tante Gertrud: flink und gesund und stets in Bewegung. Manchmal, wenn ich nicht einschlafen konnte, lauschte ich Tante Gertruds Schnarchen, ein langgezogenes quietschendes Einatmen, dann ein knarzendes Ausatmen, als würde jemand eine alte Tür in einem verfallenen Schloss öffnen. Jedenfalls stellte ich mir vor, dass in verfallenen Schlössern jede Menge Türen quietschten und knarzten.

Kurz nach halb fünf brachen wir auf. Die Luft war feucht und der Himmel kaum von den grauen Straßen, den grauen Mietshäusern zu unterscheiden. Es roch nach kaltem Rauch und ein bisschen nach Müll. Die Schaufenster der Geschäfte waren dunkel, die vertrauten Straßen schliefen. Auf den bunten Blättern der wenigen Bäume glänzte Reif. Wir liefen zur Müllerstraße, zur Abholstation, wo wir die Zeitungen in den Handkarren luden, den meine Mutter vor sich herschob. Unser Revier war der Sprengelkiez im östlichen Wedding. Hier kannte ich mich aus. Mit meinen Freunden – wir waren die Burgsdorfstraßenbande – streifte ich hier jeden Tag umher. Wir fuhren Rollschuh, spielten Eishockey mit Stöcken, manchmal liefen wir zum Kuhstall am Ende der Lynarstraße am Nordufer des Kanals und spielten Autoquartett. Oder zum Tante-Emma-Laden gleich um die Ecke in der Willdenowstraße, wo die Verkäuferin in einer weißen Schürze Milch in die klappernden Kannen pumpte, mit denen die Frauen aus der Nachbarschaft zu ihr kamen. Wenn ich für meine Mutter Milch einkaufte, Käse oder Quark fürs Sonntagsessen (Pellkartoffeln mit Quark und Leinöl), bekam ich dort oft ein Bonbon. Im Sommer spielten wir an der Wasserpumpe vor der Bäckerei, wo auch der Pferdewagen hielt, hängten uns an den eisernen Schwengel, zogen ihn herunter, sodass das Wasser aufs heiße Pflaster klatschte, wir liefen mit nackten Füßen durch die kühlen Pfützen, und jeder versuchte, den Kopf länger unter den eisigen Schwall zu halten als die anderen.

Wir waren acht Jungs, eine verschworene Gemeinschaft, und sobald die Bande aus der Müllerstraße kam oder vom Lausepark oder auch nur die von der anderen Straßenseite, gab’s was auf die Mütze. Man spazierte nicht einfach durch das Revier einer anderen Bande. Es galten Regeln. Wir hielten zusammen, komme, was wolle, wir waren dickste Freunde. Und weil wir Freunde waren und zusammenhielten, konnten wir uns gut behaupten; nur manchmal bekamen auch wir Prügel, wenn wir auf unseren Rollschuhen durch ein fremdes Revier jagten. Mädchen durften in unserer Bande nicht mitmachen. Mädchen spielten mit Puppen oder Himmel und Hölle oder Gummihopse. Banden waren Jungssache.

An der Ecke Triftstraße hielt meine Mutter. »Schmidtke, dritter Stock«, sagte sie und gab mir eine Morgenpost. Ich flitzte die Treppen hinauf, während sie bei Grabowski im Parterre ein Exemplar durch den Türschlitz schob. Als ich die Treppen wieder hinunterspurtete, lief sie bereits zum nächsten Haus.

Bald wurde mir warm unter meiner Jacke. Doch die Luft war immer noch kühl, und wenn ich heftig ausatmete, konnte ich sehen, wie mein Atem weiße Wölkchen bildete. Mit unserem Karren liefen wir am Lebensmittelladen vorbei, an der Heißmangel, an dem Zigarettengeschäft, über dem noch ein Schild von vor dem Krieg hing, mit Buchstaben, die ich nicht lesen konnte. Das ist Fraktur, sagte meine Mutter und las mir vor: Cigarren & Cigaretten. Sie selbst rauchte nicht, aber viele meiner Tanten und alle meine Onkel. Eigentlich rauchten alle Erwachsenen. Meine Mutter scherte sich nicht darum. Zigaretten schmeckten ihr nicht. Sie war, so sehe ich es heute, eine sehr gradlinige Frau. Bodenständig, bescheiden und mit klaren Vorstellungen davon, was gut und schlecht, was recht und unrecht war. Sie arbeitete beim Deutschen Gewerkschaftsbund als Putzfrau, und später, als ich schon zur Schule ging, putzte sie bei der SPD im Kurt-Schumacher-Haus, das 1961 in der Müllerstraße/Ecke Burgsdorfstraße eingeweiht wurde. Sie verdiente 480 D-Mark im Monat. Ende der 1950er-Jahre herrschte nahezu Vollbeschäftigung, und das sogenannte Wirtschaftswunder sorgte dafür, dass der Lebensstandard stieg, doch in vielen Haushalten lebte man noch ziemlich bescheiden, vor allem im Wedding. Der sogenannte Rote Wedding war schon immer ein Arbeiterkiez gewesen, ein Viertel der einfachen Leute.

Eines Tages hatte meine Mutter beschlossen, dass wir zwei neue Couches brauchten; die, die wir abends ausklappten und auf denen wir schliefen, fielen auseinander. Außerdem wollte sie uns im Winter warme Stiefel kaufen, mir ab und zu ein Geschenk machen, und sie selbst wünschte sich eine Musiktruhe mit Radio und Schallplattenspieler. Also suchte sie sich einen Zweitjob und wurde Zeitungsausträgerin bei der Berliner Morgenpost. Die Morgenpost war während der Weimarer Republik die auflagenstärkste Tageszeitung gewesen, wegen ihrer unabhängigen Berichterstattung, auch während des Krieges wurde sie viel gelesen. Doch 1945 verbot der Alliierte Kontrollrat alle deutschen Zeitungen, und erst 1952, im Jahr meiner Geburt, wurde die Berliner Morgenpost wieder gegründet. Sonntags stand meine Mutter nun um vier Uhr auf. Es machte ihr nichts aus, sie war Frühaufsteherin, auch unter der Woche ging sie gegen fünf Uhr zur Arbeit. »Ich verdiene uns ein bisschen was dazu«, sagte sie in ihrer schnörkellosen Art. Und dann fragte sie, ob ich ihr helfen würde. Ohne zu zögern sagte ich Ja. Schließlich war ich schon sieben. Andere Kinder holten für ihre Väter Bier oder Zigaretten, manche halfen beim Kohlenschleppen. Holte meine Mutter Kohlen aus dem Keller, sagte sie jedes Mal, während sie die Briketts in ihrer Kiepe stapelte und sich auf den Rücken lud: »Dazu bist du noch zu klein.« Zum Zeitungen-Austragen war ich nicht zu klein, und das machte mich stolz. Außerdem fand ich die Aussicht, im Dunklen durch die Stadt zu laufen, höchst spannend. Mit meinen Freunden durfte ich um diese Zeit nicht auf die Straße.

»Schulze, vierter Stock.« Meine Mutter reichte mir zwei zusammengefaltete Zeitungen. »Die andere steckst du bei Hanke im zweiten rein.« Die Zeitungen rochen nach Blei und Druckerschwärze. Ich mochte den Geruch und nahm das Bündel und spurtete los. Mutter marschierte weiter zum nächsten Haus. Sie war gut zu Fuß, am Wochenende schnappte sie ihren Rucksack und mich, und dann wanderten wir durch die Berliner Wälder. Das Wandern mochte ich nicht, doch unsere Touren durch den schlafenden Wedding liebte ich. Ich sah die dunklen Fenster der Mietshäuser, die düsteren Fassaden, manche noch immer voller Einschusslöcher. Ich sah die Baustellen, auf denen tagsüber die Arbeiter schufteten und die jetzt verlassen dalagen. Die Straßen, sonst voller Leben, waren vollkommen leer, nur hier und da ein Karren am Straßenrand, ein parkendes Auto (ein Lloyd 300 – der Leukoplastbomber –, ein VW Käfer mit Brezelfenster, manchmal auch ein Ford Taunus 12M, ich kannte mich aus). Ich sah die Pumpe vor der Bäckerei, schwarz und schemenhaft, ich hörte die Stille der schlafenden Menschen. Die Stadt war so anders als während des Tages, so fremd und voller Geheimnisse.

Irgendwann erloschen die Straßenlaternen. Vereinzelt schimmerte mattes Licht hinter einem Fenster auf. Ich hörte, wie es in den Gullys zu gurgeln begann, hörte, wie in der Ferne das leise Rauschen der Stadt einsetzte. Ich roch den Duft frischer Schrippen. Ich erlebte, wie Berlin langsam erwachte.

»Makowski, vierter Stock. Und die hier …«, Mutter sah auf ihre Liste, »die sind neu: Rehbein, zweites Hinterhaus.« Ich spurtete los. Flitzte mühelos die Stockwerke hinauf und hinunter, ins Vorderhaus, ins Hinterhaus, in den rechten Seitenflügel, in den linken Seitenflügel. Obwohl Mutter gut zu Fuß war, fielen ihr die vielen Treppen nicht leicht. Sie war schließlich schon 57.

An der Torfstraße bogen wir ab und liefen zur Sprengelstraße. Wir liefen die Tegeler Straße entlang, die Kiautschoustraße und über die Fennstraße wieder zur Müllerstraße. Überall steckten wir Zeitungen in Briefkästen und Türschlitze; die Morgenpost war noch immer sehr beliebt. Gegen Ende unserer Tour war der Wedding wach, und überall krähten Kinder, Frauen stritten mit ihren Männern, Fahrräder klapperten übers Pflaster, und irgendwo spielte immer ein Radio.

Zu Hause wartete Tante Gertrud schon auf uns. Meine Mutter schnitt Brot auf, holte Dauerwurst und Käse aus der Speisekammer, gab Haferflocken für mich in eine Schüssel und goss frische Milch dazu, und als auf dem Herd langsam das Wasser zu brodeln begann, löffelte sie Caro-Kaffee in die Emaillekanne – und während sie all das tat, saß ich auf meinem Stuhl, sah ihr zu und kuschelte mich tief in die Behaglichkeit unseres Sonntagsfrühstücks.

Fasching mit den Cousinen Helga und Regina und Cousin Wolfgang (ca. 1960)

Ella Oertel war nicht meine leibliche Mutter.

Die hatte mich am 10. Mai 1952 im Jüdischen Krankenhaus in Berlin-Wedding zur Welt gebracht und vier Wochen später vor dem Paul-Gerhardt-Stift in der Müllerstraße abgelegt. Sie war siebzehn Jahre alt und wusste mit einem Kind, einem unehelichen noch dazu, nichts anzufangen. Die Diakonissen fanden mich vor dem Haupteingang und brachten mich ins Waisenhaus.

Dort holte mich ein paar Wochen später Ella Oertel. Das Jugendamt hatte ihr schon öfter Pflegekinder vermittelt, beispielsweise wenn deren Mütter ins Krankenhaus mussten. Für ein paar Tage oder Wochen nahm sie die Jungen und Mädchen bei sich auf. Doch sie wünschte sich ein Kind, das immer bei ihr lebte, das sie großziehen konnte. Wie viele Frauen in der Nachkriegszeit war sie alleinstehend, und soweit ich weiß, war sie auch nie verheiratet gewesen. Als Alleinstehende durfte sie mich nicht adoptieren. Doch das Jugendamt bot ihr an, mich als Pflegekind auf Dauer zu sich zu nehmen.

Nicht nur für sie, auch für mich war das ein Glück.

Wir lebten in einer Zweizimmerwohnung in der Burgsdorfstraße 2, im Hinterhaus, im rechten Seitenflügel. Das Haus war ein Altbau, wahrscheinlich aus der Gründerzeit, es war grau, und der Putz blätterte ab wie an vielen Häusern im Wedding. Die beiden Zimmer lagen hintereinander, das vordere teilten meine Mutter und ich, im hinteren lebte Tante Gertrud. Außerdem gab es eine Küche mit Herd, Speisekammer und fließend kaltem Wasser. Obwohl die Wohnung im dritten Stock lag, fiel nicht viel Licht herein. Im Sommer war es angenehm kühl, im Winter wärmten die Mauern, doch waren die Wände meist etwas klamm, und es roch ein bisschen muffig. Im Grunde bestand unser Haus aus vier Häusern: dem Vorderhaus, dem Hinterhaus und den beiden Seitenflügeln. Über hundert Leute lebten hier, darunter viele Kinder. Ein Hausmeisterpaar sorgte für Ordnung. Walter war ein seltsamer Mann, klein und dünn wie ein Strich, er sprach kaum und ging mit hängenden Schultern durch den Tag. Er fegte, räumte auf und reparierte. Er tat, was seine Frau ihm sagte. Edith war das exakte Gegenteil: kräftig, laut und forsch. Immer in Kittelschürze und immer mit einer Zigarette im Mund. Sie berlinerte so heftig wie niemand sonst, den ich kannte. Und im Wedding sprach eigentlich niemand lupenreines Hochdeutsch. Erwischte Edith uns, wenn wir im Innenhof an der Teppichstange herumturnten, schnauzte sie los: »Haut ab, oda et jibbt ’nen Satz warme Oahrn!«

Erwischte sie uns, wenn wir Ball spielten, schwang sie ihren Besen, den Teppichklopfer oder was sie gerade zur Hand hatte und rief: »Ick sach euern Eltern Bescheid, dann jibbt’s aba watt uff’n Arsch!«

Walter rief uns nie zur Ordnung, dazu fehlte ihm der Mut. Edith dagegen zögerte keine Sekunde. Das Gute war jedoch, dass sie sich, so schnell wie sie auf hundertachtzig war, auch wieder beruhigte. Erfüllten wir ihre Forderungen und trollten uns, war sie versöhnt. Sie war weder nachtragend noch gemein. Sie hatte einfach eine typische Berliner Schnauze. Ja, ein Klischee, aber manchmal eben auch wahr.

Wenn ich heute daran denke, wie Walter wie ein geprügelter Hund neben Edith herlief, frage ich mich manchmal, was ihn so hat werden lassen.

Im linken Seitenflügel, uns gegenüber, aber im ersten statt im dritten Stock, wohnte Mutters jüngere Schwester mit ihren drei Kindern; Tante Erna war Witwe. Die jüngste Oertel-Schwester, Elisabeth, war ans obere Ende der Müllerstraße gezogen, dorthin, wo schon die besseren Leute wohnten. Tante Lisbeth hatte gut geheiratet und hatte eine Wohnung mit Balkon und eine Badewanne, sie besaß sogar ein Telefon. Unsere Badewanne stand auf dem Dachboden, in der Waschküche. Es gab einen Plan, der genau festlegte, welche Parteien die Waschküche wann nutzen durften, und Edith, die Hausmeisterin, wachte darüber. Immer freitags waren wir dran. Nach der Wäsche setzte meine Mutter mich in die Zinkwanne neben der Mangel, und zwischen Leinen voller Laken schrubbte sie mich mit einer Bürste und lauwarmer Seifenlauge. Anschließend aßen wir Schrippen mit Hackepeter und Zwiebeln; auch Schrippen gab es nur freitags. Es fehlte mir an nichts. Ich hatte meine Freunde, deren Eltern auch nicht reicher waren, ich hatte meinen Kiez, ich hatte meine Mutter.

Meine Welt war in Ordnung.

Ronald Keiler (1960)

Die Stimme tönte vom Balkon des Schöneberger Rathauses über den Platz. »Berlinerinnen, Berliner!«

Hunderttausende waren gekommen, sie drängten sich bis zum Rudolph-Wilde-Platz, zur Martin-Luther-Straße, zur Badenschen Straße, zur Freiherr-vom-Stein-Straße, sie drängten sich auf Bürgersteigen und Fahrbahnen, auf den Balkonen der umliegenden Häuser, an den Fenstern. Der Himmel über ihren Köpfen war wolkenverhangen, und immer wieder blies ein scharfer Wind, sodass der Berliner Bär auf den flatternden Fahnen kaum zu erkennen war.

»Die Berliner haben ein Recht darauf zu wissen, wie die Lage tatsächlich ist.« Der Bürgermeister stand vor einer Reihe von Mikrofonen. Wie immer trug er einen Anzug, ein weißes Hemd, eine Krawatte. »Ein Regime des Unrechts hat neues Unrecht begangen, das größer ist als alles zuvor!«

»Recht hat er«, sagte meine Mutter. Ich verstand nicht genau, was sie meinte, doch ich spürte, wie wichtig es ihr war, ich hörte die Inbrunst in ihrer Stimme. Die Menschen um uns herum applaudierten. Doch ihre Gesichter zeigten keine Freude, kein Lachen, nicht einmal ein Lächeln, nur Sorge. Manche hielten Schilder und selbstgebastelte Transparente in die Höhe. Auf einem stand: An die Westmächte:Mit Papier hält man keine Panzer auf! Ein Stück weiter las ich: Der Spitzbart muss weg. Der Spitzbart, das wusste ich, das wusste jeder in Berlin, war Walter Ulbricht.

Es war Mittwoch, der 16. August 1961. Drei Tage zuvor, in der Nacht von Sonnabend auf Sonntag, hatte die Regierung der DDR begonnen, eine Mauer quer durch Berlin zu bauen. Im Radio hieß es, mehr als drei Millionen Menschen seien aus dem Osten in den Westen geflohen, darunter viele junge und gut ausgebildete – nun ließ der Spitzbart eine Mauer bauen, damit niemand mehr flüchten konnte.

»Was ist das für ein Land, das seine Bürger einsperrt, damit sie nicht abhauen«, sagte ein Mann neben uns und schnaubte.

Meine Mutter nickte. Und ich dachte an meine Freunde, die über Nacht verschwunden waren. Sie wohnten weiter unten in der Müllerstraße, da, wo die Chausseestraße begann – und jetzt durften sie nicht mehr zu uns und wir nicht zu ihnen. Wir durften nicht mehr zusammen spielen. Bewaffnete Soldaten der Nationalen Volksarmee und Volkspolizisten passten auf, dass niemand auf die andere Seite des Zauns lief, und französische Panzer fuhren die Müllerstraße entlang. Das Geräusch ihrer schweren Ketten auf dem Asphalt ließ mich erschauern. Meine Mutter und Tante Gertrud schraken jedes Mal zusammen. Heute weiß ich, dass die Panzer in ihnen Erinnerungen an den Krieg wachriefen, die sie lieber für immer vergessen hätten, doch mich faszinierten die monströsen Gefährte mit ihren riesigen Kanonenrohren. Alles schien ungeheuer aufregend. Zugleich hatte die Situation etwas Unwirkliches. Immer wieder lief ich zur Chausseestraße und sah, wie auf der Westberliner Seite Passanten vor dem Stacheldraht standen, allein, fassungslos, ratlos … oder in Gruppen, auch sie schockiert, empört, verzweifelt. Ab und zu spähte jemand über die Barrikaden – und blickte direkt in ein Maschinengewehr. Auf der Ostberliner Seite war es beinahe unheimlich leer. Vopos und Soldaten überwachten die Bauarbeiten. Nur selten drangen Zivilisten bis zum Stacheldraht vor und wenn doch, streckten weinende Kinder die Arme nach ihren Eltern auf der anderen Seite aus, Frauen nach ihren Männern, Männer nach ihren Frauen. Leute riefen vom Fenster aus ihren Verwandten etwas zu, die auf der anderen Straßenseite standen – in einer anderen Welt. Die Vopos versuchten, alle Kontakte zu unterbinden, während die französischen Soldaten darauf achteten, dass die NVA-Soldaten die Grenze nicht Richtung Westen verschoben. Taten sie es doch, walzten sie die Zäune mit ihren Panzern nieder.

Plötzlich war Berlin eine geteilte Stadt.

Bei uns zu Hause lief ununterbrochen das Radio. Bundeskanzler Adenauer hatte zu Ruhe und Besonnenheit aufgerufen, doch erst neun Tage später besuchte er Berlin. Die Alliierten reagierten zögerlich, doch US-Präsident Kennedy sagte, Berlin würde eine freie Stadt bleiben. Er verstärkte die amerikanischen Truppen und schickte General Clay und Vizepräsident Johnson. Nur Willy Brandt, unser Bürgermeister, protestierte vehement, und als es hieß, er würde vor dem Rathaus Schöneberg sprechen, schnappte meine Mutter ihren Mantel, ihre Handtasche und mich, und wir fuhren mit der S-Bahn vom Wedding nach Schöneberg. Es war nicht das erste Mal, dass wir »unseren Willy« sprechen hörten. Meine Mutter bewunderte ihn. »Er kämpft für die Freiheit«, erklärte sie mir. »Er beschützt uns und diese Stadt.«

»Unsere Landsleute hinter dem Stacheldraht«, rief Willy Brandt jetzt vom Balkon des Rathauses, »die bewacht werden von den Truppen der Roten Armee, damit sie nicht zeigen können, was sie wollen, sie blicken in dieser Stunde hierher.«

»O ja«, rief meine Mutter.

Vor ein paar Wochen hatte der Spitzbart noch gesagt, niemand habe die Absicht, eine Mauer zu errichten. Selbst ich wusste, dass man nicht lügen durfte. Und ich war neun.

»Wir wissen, dass nur die Panzer sie zurückhalten, ihrer Empörung freien Lauf zu lassen«, rief Willy Brandt.

»Ja«, rief meine Mutter. »Ja, genau!«

»Deshalb mein Aufruf, mein Appell an alle Funktionäre des Zonenregimes, an alle Offiziere und Mannschaften der militärischen und halbmilitärischen Einheiten: Lasst euch nicht zu Lumpen machen! Zeigt menschliches Verhalten!«

»Dieser Mann … ist so stark und anständig.« Meine Mutter schlug sich mit der Hand vor den Mund, und wieder verstand ich nicht genau, was sie meinte, verstand nur die Inbrunst in ihrer Stimme.

»Und – vor – allem …«, Willy Brandt betonte jetzt jedes Wort, machte nach jedem eine Pause, als sammle er Kraft, um das nächste noch etwas mehr zu betonen; er schickte sie mit größter Dringlichkeit hinaus auf den Platz und in die Straßen der Stadt. »Schießt – vor – allem – nicht – auf – eure – eigenen – Landsleute!«

Meine Mutter griff nach meiner Hand und drückte sie – und ich sah, wie aufgewühlt sie war. Ich sah, wie die Menschen um uns herum nickten, wie sie zustimmten. Auch für sie war Willy Brandt der Garant eines freien Berlins, auch sie vertrauten und bewunderten ihn, weil er standhaft war und für Frieden und Menschlichkeit kämpfte. Willy Brandt war Berlin – und Berlin war Willy Brandt. Die Blockade durch die Sowjetunion, die Zeit der Luftbrücke, das Leben in den vier Sektoren, der Kalte Krieg – all das schweißte uns zusammen, gab uns das Gefühl, an einem besonderen Ort zu leben. Natürlich hatte ich die Luftbrücke nicht miterlebt, doch wenn meine Mutter, meine Tanten und Onkel davon erzählten, überkam auch mich dieses Berlin-ist-eine-Insel-Gefühl. Heute heißt es oft, in der Nachkriegszeit hätten sich die Menschen wenig für Politik interessiert. Auch meine Mutter, meine Tanten und Onkel, die Eltern meiner Freunde waren nicht explizit politisch engagiert. Doch sie hörten Nachrichten. Sie lasen die Morgenpost. Politik fand schließlich vor ihrer Haustür statt. Was die Sowjetunion und die drei Westmächte entschieden, bestimmte ihren Alltag. Immer wieder kamen ausländische Staatsgäste und versicherten den Westberlinern, während diese die Straßen säumten, für ihre Freiheit einzustehen – in Berlin konnte man gar nicht nicht politisch sein.

»Wir Berliner haben wieder einmal eine besondere Bewährung vor uns«, rief Willy Brandt. Die Menschen auf dem Platz sogen seine Worte auf, sie schienen sich geradezu an ihnen aufzurichten. Immer wieder klatschten sie Beifall. Doch ich sah auch, dass die Sorge nicht aus ihren Gesichtern wich. Und plötzlich breitete sich auch in mir eine dumpfe Unruhe aus. Auch wenn ich nicht alles verstand, was die Erwachsenen sagten, spürte ich die Angst, die über meiner Stadt lag.

»Wir haben uns alle so zu verhalten, dass nicht die Feinde sich freuen und die Landsleute verzweifeln. Wir haben mehr denn je zusammenzurücken und zusammenzustehen. Wir haben uns würdig zu erweisen den Idealen, die in der Freiheitsglocke über unseren Häuptern symbolisiert sind. Wir haben in Ruhe, aber auch in Entschlossenheit und mit festem Willen einzustehen für das ganze Deutschland, für Einigkeit und Recht auf Freiheit.«

Applaus brandete über den Rathausplatz, brandete über den Rudolph-Wilde-Platz, durch die Martin-Luther-Straße, die Badensche Straße, die Freiherr-vom-Stein-Straße – und als Willy Brandt von den Mikrofonen zurücktrat, erklang die Nationalhymne und anschließend über unseren Köpfen, im Turm des Rathauses, die Freiheitsglocke. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Meine Mutter hielt noch immer meine Hand. Ich spürte ihre Wärme, fühlte mich geborgen an ihrer Seite – und doch war da diese leise Furcht.

Würde es bald wieder Krieg geben?

In den Tagen darauf wurde Westberlin eingemauert. Wo Grenzpolizisten und NVA-Soldaten anfangs die Straßen aufgerissen hatten, um Pflaster und Asphalt zu Barrikaden zu schichten, wo sie Zäune errichtet und Stacheldraht gezogen hatten, rammten nun Bauarbeiter Pfähle in den Boden und errichteten eine massive, schier unüberwindbare Mauer aus Beton. Straßenzüge wurden getrennt; manchmal gehörte der Fußweg zu Westberlin, die Häuserzeile zu Ostberlin. Haustüren wurden zugemauert, und die Menschen kamen nur noch durch den Hintereingang zu ihren Wohnungen. Kanäle wurden gesperrt und S- und U-Bahnhöfe zu Geisterbahnhöfen gemacht, an denen niemand mehr ein- oder aussteigen durfte. Schilder wurden aufgestellt: Achtung – Demarkationslinie. Das Brandenburger Tor wurde zum Sperrgebiet erklärt.

Die Mauer, die alle nur Schandmauer nannten, teilte die Stadt und das Land.

Weihnachten in der Burgsdorfstraße (Anfang der 1960er-Jahre)

Im Jahr darauf, 1962, wurde ich zehn. Zu Weihnachten schenkte meine Mutter mir ein Fahrrad.

Heiligabend putzte und schrubbte sie, klopfte den Teppich aus und wienerte die Böden, sodass die ganze Wohnung nach Bohnerwachs roch. Später mischte sich der Duft von Rouladen dazu. Rouladen aß ich für mein Leben gern, doch es gab sie nur zu besonderen Gelegenheiten. Weihnachten, fand ich, war eine besondere Gelegenheit, und darum hatte ich sie überredet, dieses Jahr statt der traditionellen Würstchen mit Kartoffelsalat Rouladen zu machen. Am Nachmittag stellten wir gemeinsam die Tanne auf, die wir auf dem Wochenmarkt am Leopoldplatz gekauft hatten, und sie zog zwei kleine Kartons hervor, die das ganze Jahr im Schrank hinter den Bettlaken lagerten. Wir hängten die bunten Kugeln an den Tannenbaum, das schwere Lametta, und Tante Gertrud sah uns durch ihre dicken Brillengläser zu. Als es dämmerte, zogen die beiden Frauen ihre besten Kleider an und machten sich zurecht. Für mich hatte Mutter den Matrosenanzug aufgebügelt.

»Oh, nee …« Vor ein paar Monaten, im Sommer, waren wir zu einem Tanzorchesterkonzert gefahren. Mutter und die Tanten liebten alte Melodien: Berliner Luft und Untern Lindenund Ich hab so Heimweh nach dem Kurfürstendamm. Anschließend machten wir eine Dampferfahrt, und ich schämte mich dermaßen, in meinem Matrosenanzug, den kurzen Hosen, weißen Kniestrümpfen und Lackschuhen an Deck herumzusitzen, dass ich schließlich vom Dampfer sprang. Meiner Mutter blieb beinahe das Herz stehen, als man mich aus dem Tegeler See fischte.

»Weihnachten zieht man sich ordentlich an.« Ihr Ton duldete keinen Widerspruch. »Das gehört sich so.« Sie ging zum Kleiderschrank, und wieder zog sie die schwarzen Lackschuhe hervor.

Ich holte tief Luft … und wusste, ich musste mich fügen.

»Morgen, wenn Tante Luzie und Onkel Kurt kommen, kannst du die schwarze Hose und das weiße Hemd anziehen.« Sie reichte mir die frisch polierten Schuhe. »Mit Krawatte natürlich.«

Später wurde ich in Tante Gertruds Zimmer geschickt, wo ich auf die Bescherung warten musste. Draußen war es inzwischen dunkel, und ich setzte mich aufs Fensterbrett und sah hinaus, linste in die erleuchteten Wohnungen der Nachbarn, zählte die geschmückten Weihnachtsbäume und guckte, wo die Bescherung schon begonnen hatte.

Bis ich das Glöckchen hörte.

Das war Mutters Zeichen, dass ich ins Wohnzimmer kommen durfte. Es leuchtete festlich im Schein der Kerzen. Es duftete nach Wachs und Tannennadeln und ein wenig nach den Rouladen, die wir nach der Bescherung essen würden, und meine Mutter, die Weihnachten liebte, stand neben dem Tannenbaum und hatte vor Freude ganz rote Wangen. Doch als ich die wenigen Päckchen unter dem Baum liegen sah, war ich etwas enttäuscht.

»Freust du dich, Ronald?« Meine Mutter strahlte.

Ich nickte.

Und reichte ihr mein Geschenk. Ein Portemonnaie, das ich von meinem Taschengeld bei Woolworth in der Müllerstraße gekauft hatte.

»Aber Junge, das wäre doch nicht nötig gewesen.« Sie war gerührt und reichte mir ebenfalls ein Päckchen. »Das darfst du jetzt auspacken.«

Vorsichtig löste ich das Band, das sie später bügeln und bei der nächsten Gelegenheit wiederverwenden würde. Ich löste das Geschenkpapier. Und fand einen Schlafanzug.

»Danke«, sagte ich.

»Zieh ihn gleich mal über, damit ich weiß, ob er passt.«

Ich hielt den Pyjama vor meinen Matrosenanzug.

»Sehr schön!« Meine Mutter strahlte übers ganze Gesicht.

»Das ist von mir«, sagte Tante Gertrud und reichte mir ihr Päckchen.

Das Autoquartett, das ich mir wünschte? Vorsichtig löste ich das Band, das Papier. Und fand einen Satz Glasmurmeln.

»Danke«, sagte ich und reichte Tante Gertrud mein Geschenk. Einen Liebesroman.

»Aber Junge, das wäre doch nicht nötig gewesen.« Doch sie drückte mich an sich, was sie das restliche Jahr über nie tat.

Meine Mutter reichte mir ein weiteres Päckchen: einen Karl-May-Band, den ich noch nicht hatte. Ich freute mich.

Und dann waren auch schon alle Päckchen geöffnet. Und meine Mutter strahlte, heller als der Weihnachtsbaum.

Ich biss mir auf die Lippe und gab mir Mühe, meine Enttäuschung zu verbergen.

Sie streckte die Hand aus. »Komm mal mit.«

Ich zögerte. Aber es war Weihnachten, und darum nahm ich ihre Hand.

Sie öffnete die Tür, und wir traten in den dunklen Flur. Ihre Finger tasteten nach dem Lichtschalter – und im nächsten Moment erstarrte ich. An der Wand lehnte ein rot-weißes Jungenfahrrad, mit Dreigangschaltung, Weißwandreifen und einer großen grünen Schleife am Lenkrad. Alle meine Freunde hatten ein Fahrrad, nur ich nicht. Immer, wenn sie irgendwohin fuhren, musste ich mit dem Bus oder der Bahn fahren. Oder mit meinem Roller. Oder jemand nahm mich auf dem Gepäckträger oder auf der Lenkerstange mit, aber nur auf den kurzen Strecken.

Und nun stand da ein Fahrrad – mein Fahrrad.

Meine Mutter löste den Ständer und schob es ins Wohnzimmer. Jetzt ließ meine Starre nach, und ich griff nach dem Lenker, stieg auf das Fahrrad und stützte mich mit einem Fuß am Boden ab. Unsere Wohnung war zu klein, um darin Rad zu fahren, aber ich tat, als sei das Wohnzimmer die vierspurige Müllerstraße. Mit beiden Händen fasste ich den Lenker, lenkte nach links, lenkte nach rechts, ich klingelte und juchzte, als würde ich wie ein geölter Blitz durch Berlin rasen. Ich war außer mir, und meine Mutter strahlte wie zwei Weihnachtsbäume. Wie lange hatte sie gespart, um mir so ein Geschenk zu machen? Ein Fahrrad kostete über 100 Mark. Ein Fünftel dessen, was sie im Monat verdiente – noch heute bin ich ihr dankbar.

Ein Fahrrad … das war pure Freiheit!

Endlich war auch ich mobil.

Endlich gehörte ich wieder dazu.

Nun war ich nicht länger nur im Sprengelkiez unterwegs, sondern fuhr allein oder mit meinen Freunden Richtung Süden nach Moabit oder in den Norden nach Reinickendorf. Ich fuhr zum Flughafen Tempelhof, wo ich zusah, wie Flugzeuge starteten und landeten; wenn ich groß war, würde ich Pilot werden. Ich fuhr nach Wittenau, wo mein Cousin Wolfgang wohnte, und gemeinsam fuhren wir weiter in den Tegeler Forst. Wir fuhren nach Hermsdorf und Lübars, wo es Bauernhöfe gab. Manchmal kamen wir an Bonnies Ranch vorbei, so nannten die Berliner die Karl-Bonhoeffer-Heilstätten in der Oranienburger Straße, und wenn wir jemanden sahen, der uns komisch vorkam, witzelten wir, er sei wohl aus der Irrenanstalt, von Bonnies Ranch, abgehauen. Wir fuhren zur Güterverladestelle in der Hermsdorfer Straße und sahen zu, wie dicke, stinkende Rangierlokomotiven Waggons hin- und hermanövrierten. Wir tobten zwischen den Zügen herum, sprangen über die Gleise und rannten lachend weg, wenn uns jemand erwischte. Wir stellten uns im Gleisbett einem fahrenden Zug entgegen – wer als Letzter zur Seite sprang, hatte gewonnen. Wir hatten viel Spaß, und nicht immer war uns klar, wie riskant manche Spiele waren. Es wäre uns wohl auch egal gewesen. Wir genossen einfach unsere Freiheit.

Doch irgendwann war da immer diese Mauer.

Am 26. Juni 1963 schnappte meine Mutter ihren Mantel, ihre Handtasche und mich, und wir machten uns wieder auf den Weg zum Rathaus Schöneberg.

Ganz Berlin schien auf den Beinen zu sein. Frauen und Männer, Kinder und Alte waren unterwegs, zu Fuß, mit Fahrrädern, Mopeds oder Autos versuchten sie vorwärtszukommen. Sie drängten sich an Bus- und Straßenbahnhaltestellen. Sie schoben sich in dichten Pulks Richtung S-Bahn-Station. Sie alle wollten ihn sehen – den amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy.

In der Frühe war meine Mutter wie immer zur Arbeit gegangen. Als sie zurückkam, war sie ganz aufgeregt. »Alle Läden sind geschlossen! Die Müllabfuhr fällt aus, und auf dem Polizeirevier und beim Gericht herrscht Notbetrieb, sagen die Leute.« Ich hätte ausschlafen können, denn auch die Schule fiel aus, doch auch ich war mordsmäßig aufgeregt. Während ich auf meine Mutter gewartet hatte, hatte ich Radio gehört. Auf allen Programmen liefen Sondersendungen. Reporter berichteten vom Flughafen – live, das kannte ich nur von den Fußballspielen, die am Wochenende übertragen wurden. Sogar die Reporter klangen aufgeregt, sie sprachen schnell, und ihre Stimmen schienen sich fast zu überschlagen, als sie beschrieben, wie das Flugzeug des amerikanischen Präsidenten gegen 9.45 Uhr in Tegel landete. Wie JFK mit Jackie aus dem Flugzeug stieg. Wie der Präsident mit dem Bundeskanzler und unserem Bürgermeister in eine offene Limousine stieg. Wie Konrad Adenauer hinter dem Fahrer stand, Willy Brandt in der Mitte und Kennedy rechts, während sich der Tross aus Autos und Bussen durch die Stadt bewegte. Um 11 Uhr wurde er vor der Kongresshalle erwartet. Von dort würde er zum Brandenburger Tor weiterfahren. Anschließend sollte Kennedy vor dem Rathaus Schöneberg eine Rede halten.

Jemand rempelte uns an, als wir aus der Burgsdorfstraße in die Müllerstraße bogen. »Junga Mann, ’ne alte Frau is do’keen D-Zuch!«

»Tschuldijung!« Der Mann lupfte seinen Hut.

»Was’n mit dem los?« Ich staunte. Obwohl der Mann es eilig hatte, war er freundlich und lachte sogar. Normalerweise war der Berliner Ton rauer.

»Muss an diesem besonderen Tag liegen.« Meine Mutter strich über ihren Mantel und griff nach meiner Hand. Eigentlich waren es nur ein paar Hundert Meter bis zur S-Bahn-Station Wedding. Die Strecke war so kurz, dass es nicht mal eine Abkürzung gab. Doch wir kamen kaum von der Stelle. Überall versuchten Polizisten, die Menschenströme zu lenken. 13 000 Beamte waren im Einsatz, hatten sie im Radio gesagt, nur um den Verkehr zu regeln und die mehr als fünfzig Kilometer lange Strecke zu sichern, die JFK durch Berlin fahren würde. Ich zog meine Jacke fester zu, denn ich hatte Angst um mein Schild – Willkommen, Mister President –, das ich in der Schule gebastelt hatte. Auch meine Mutter schob ihr Amerika-Fähnchen – eines der letzten, am Tag darauf waren alle Fahnen ausverkauft – unter ihren Mantel. Die Uhr über der Apotheke zeigte halb neun.

Wer würde eher am Rathaus sein – Kennedy oder wir?

»Wir kommen schon rechtzeitig an«, sagte meine Mutter, als hätte sie meine Gedanken gelesen.

»Aber es geht so langsam.«

»Ach, Junge …« Immer, wenn ich drohte, ihr auf die Nerven zu gehen, nannte sie mich nicht Ronald, sondern Junge.

»Wir kommen bestimmt zu spät!«

»Keine Sorge, wir werden schon rechtzeitig am Rathaus sein.«

Warum tat sie so ruhig? Sie wollte den amerikanischen Präsidenten doch auch unbedingt sehen. Sie hatte sogar ihre Haare onduliert, und unter dem Mantel trug sie ihr neues Sommerkleid.

Endlich erreichten wir die S-Bahn-Station. Auch auf den Bahnsteigen herrschte ein Gedränge, wie ich es noch nie erlebt hatte. Die erste Bahn, die kam, war so voll, dass wir nicht einsteigen konnten. Die zweite auch. »Macht nix«, sagte meine Mutter, »wir nehmen die nächste.«

Einen Moment lang war ich absolut sicher, dass wir nie ankommen würden. Ein flaues Gefühl machte sich in meinem Bauch breit – was, wenn auch die nächste S-Bahn durchfuhr? Und die übernächste? Wenn wir am Nachmittag noch im Wedding standen und Kennedy wieder nach Hause flog, ohne dass wir ihn gesehen hatten?

»Mach dir keine Sorgen, Junge, wir werden ihn schon sehen.«

»Warum bist du so sicher?« Ich sah mich um – Frauen, Männer, Alte, Junge, Kinder, alle drängten vorwärts, ich konnte mich kaum bewegen, ich bekam kaum Luft. Wo kamen diese Menschenmassen her?

»Ich weiß es eben. Außerdem nützt es nix, sich aufzuregen.«

»Das sagst du immer. Aber es ist doch besser, ungeduldig zu sein, als was Wichtiges zu verpassen, oder?«

Als die nächste S-Bahn kam, nahm meine Mutter wieder meine Hand, und diesmal bahnte sie uns einen Weg zur Bahnsteigkante, mit einer Zielstrebigkeit, die mich verblüffte.

An der Station Rathaus Schöneberg drängten sich noch mehr Leute. Wir waren noch nicht richtig ausgestiegen, als die Masse uns mit sich zog, uns vorwärtsschob, den Bahnsteig entlang, die Treppen hinunter Richtung Ausgang – eine riesige Menschenwelle, wir hatten gar keine andere Wahl, als uns mittreiben zu lassen.

Ich war froh, als wir wieder an der frischen Luft waren. Ich sah bereits die Rückseite des Rathauses, den hohen viereckigen Turm. Doch um uns herum waren unfassbar viele Menschen – nie zuvor hatte ich so ein Meer von Männern und Frauen, Kindern und Alten gesehen. Nicht einmal als Willy Brandt nach dem Mauerbau vor dem Rathaus sprach. Würden wir es überhaupt bis auf den Rathausplatz schaffen? Oder würden wir im Gedränge steckenbleiben? Würden wir am Ende Kennedys Rede hören – ihn aber nicht sehen?

Ich versuchte, mich umzudrehen. »Ich kenn ’ne Abkürzung durch den Park.«

»Aber da vorne ist doch schon das Rathaus.«

»Ich kenn trotzdem ’ne Abkürzung.« Ich suchte nach dem Pfad, der von hinten zu dem Gebäude führte. Doch in dem Getümmel war es hoffnungslos.

»Ham Se jehört?« Ein Mann tauchte aus der Menge auf. Er hatte rabenschwarze Haare, dichte Augenbrauen und einen mächtigen Schnauzer, und er hielt sich ein Transistorradio ans Ohr. »Kennedy is am Brandenburjer Tor!«

»Siehste!« Meine Mutter zwinkerte mir zu. »Wir kommen vor ihm an.«

»Die Leute drühm wolln JFK och sehn, aba die lass’nse nur bis Unter’n Linden, Ecke Wilhelmstraße vor.« Die dichten Augenbrauen und der Schnauzer hüpften bei jedem Wort, das der Mann sagte. »Außerdem ham die Bonzen dit Tor zujehängt.«

»Zugehängt?«

»Ja, die Offizielln ham die Torbög’n mit riesijen Fahn’ zujehängt.« Er deutete auf sein Radio, wie zum Beweis. »Wahrscheinlich, damit Kennedy nich rinkieken kann inne DDR.«

»Oda damit die Ostla nich rauskieken könn’.« Eine Frau neben ihm – seine Frau? – kicherte. Ihre Haare waren wie zu einem Vogelnest toupiert. Sie sah aus wie die Kellnerin vom Pohlmann, der Kneipe in der Müllerstraße, gleich neben dem Polizeirevier, wo ich manchmal für Edith, unsere Hausmeisterin, Bier holte und wo es öfter Schlägereien gab, wenn auch nicht so oft wie in der Kaffeeklappe, wo sie die Gitter vorsichtshalber innen vor den Fenstern angebracht hatten, damit die Scheiben nicht zu Bruch gingen, wenn Stühle flogen.

Der Mann drehte an seinem Radio und lauschte angestrengt am Lautsprecher. »Inne Mitte vom Brandenburjer Tor hängt ’ne DDR-Fahne. Und links und rechts hamse rote Vorhänge uffjehängt.«

»Für de Bonzn is Kennedys Besuch ’ne Provokation.« Die Frau zog an ihrer Zigarette.

»Quatsch«, erwiderte meine Mutter. »Er tritt doch nur für unsere Freiheit ein.«

»Eben.«

»Das ist nichts Schlechtes.«

Die Frau hob eine Augenbraue und blies den Rauch in die Luft. »Wenn der Spitzbart nich verhindan kann, datt Kennedy seine olle Mauer ankiekt, machta ehm Propajanda.«

»Schttt!« Der Mann wedelte mit der Hand durch die Luft und presste sein Ohr noch fester ans Radio, über seinem Schnauzer glänzten Schweißperlen. »Schilder hamse och uffjestellt. Mit’m Text vom Potsdama Abkomm’ druff.«

»Weil Kennedy das nicht kennt?« Meine Mutter lachte.

»Die Schilda hamse JFK quasi direkt vor de Nase jestellt, uff Englisch.«

»So ’n Quatsch«, sagte meine Mutter und umfasste energisch ihre Handtasche. Als wollte sie sie Ulbricht um die Ohren hauen.

»Also wenn Se mir frajen …« Der Mann drehte sein Transistorradio noch etwas lauter. »Dit Janze is nix wie ’n plumpet Ablenkungsmanöva.«

»Diese SED-Bonzn wolln nich, datt de Amis uns beschützn.« Die Frau – seine Frau – hakte sich bei ihm unter. »Mit’e Freiheit hamset drühm ehm nich so.« Im nächsten Moment waren die beiden im Getümmel verschwunden.

Die Uhr am Turm des Rathauses zeigte kurz vor elf, als wir endlich am Rathausplatz ankamen. Die Menschen drängten bis zum Rudolph-Wilde-Platz, zur Martin-Luther-Straße, zur Badenschen Straße, zur Freiherr-vom-Stein-Straße, sie drängten sich an den Fenstern der umliegenden Häuser, sie drängten sich auf den Balkonen, manche so voll, dass ich fürchtete, sie könnten in die Tiefe stürzen. Die Menschen standen auf Dächern, saßen in Baumkronen, kletterten an Laternenpfählen hoch, sogar an Litfaßsäulen. Sie winkten mit Taschentüchern, wedelten mit Papierfähnchen, schwenkten bunte Luftballons. Über dem ganzen Platz lag ein heiteres Sirren, ein ausgelassenes, erwartungsvolles Flirren – es war, als wären wir mitten in ein Fest hineingeraten.

Eine unbändige Freude packte mich.

Das Rathaus war mit Blumen geschmückt, und auf dem Balkon stand ein Rednerpult mit mehreren Mikrofonen. Darunter hing eine riesige amerikanische Flagge. Links davon wehte eine Deutschlandflagge, rechts die weiß-rote Fahne mit dem Berliner Bären. Auch auf dem Platz wehten Fahnen, die Flaggen der Alliierten. Und überall hielten Menschen Schilder in die Höhe: Berlin grüßt Kennedy und Welcome Mr. President. Im Radio hatte ein Reporter erzählt, auf dem Weg durch die Stadt habe er hinter einer Absperrung einen Jungen mit einem Transparent gesehen, auf dem I greet Caroline stand. Caroline, sagte er, hieß Kennedys Tochter. Sie war fünf. Ich war schon elf.

Auch ich rollte jetzt mein Schild aus und hielt es hoch. Neben mir stand eine junge Frau, sie trug ein geblümtes Kleid und weiße Pumps und sah voller Sehnsucht hinauf zum Balkon. Der Wind spielte mit ihren Locken. Als sie merkte, dass ich sie ansah, lächelte sie. Viele Frauen trugen Sommerkleider oder Kostüme, manche auch Hüte oder Kopftücher, manche Sonnenbrillen. Einige Männer hatten Blaumänner an oder Kittel, als seien sie eben von der Arbeit gekommen, andere trugen Anzüge und Krawatten. Hier und da zog jemand sein Sakko aus, öffnete den obersten Knopf seines Hemdes oder krempelte die Ärmel auf. Der Wetterbericht hatte Wolken und einzelne Gewitter angekündigt, doch nun war der Himmel blau, und die Sonne schien. Viele nahmen ihre Kinder auf die Schultern, damit sie auch etwas sahen. Mütter hielten ihre Babys im Arm, Jugendliche hakten sich bei ihren Großeltern unter. Und alle lachten und freuten sich. Auch meine Mutter zog ihren Mantel aus und legte ihn sorgfältig über ihren Arm. »Junge, Junge!« Ihre Wangen waren gerötet, und plötzlich wirkte sie gar nicht mehr wie die Ruhe selbst. »So wat ha’ick no’nich alebt! Aba dit is och dit erste Mal, seit der Krieg zu Ende is, datt ’n amerikanischer Präsident nach Berlin kommt.«

Über unseren Köpfen begann die Freiheitsglocke im Turm des Rathauses zu schlagen. Sie läutete jeden Tag um zwölf Uhr, und ich hörte sie nicht zum ersten Mal. Doch jetzt bekam ich eine Gänsehaut – langsam kroch sie über meine Kopfhaut, den Hals und den Rücken hinab, über Arme und Beine, bis hinunter in die Zehenspitzen. Um uns herum jubelten die Menschen, klatschten und winkten mit Taschentüchern, sie schwenkten ihre Amerika-Fähnchen, sie schwenkten ihre Hüte. Auch meine Mutter wedelte wild.