Sophie fährt in die Berge - Rainer Moritz - E-Book

Sophie fährt in die Berge E-Book

Rainer Moritz

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Beschreibung

Sophie Hauffe macht einen Ausflug in die Berge. Sie steigt in einem abgeschiedenen Südtiroler Berghotel ab, um dem Durcheinander in ihrem Kopf endlich ein Ende zu setzen. Vielleicht muss sie Markus ja sogar dankbar sein, dass er nicht erst in zehn Jahren mit ihr Schluss gemacht hat. Ihr Körperhat ein wenig an Perfektion verloren, möglicherweise, aber attraktiv ist sie immer noch. Jetzt plant sie das Leben ohne ihn, den Bescheidwisser, denWichtigtuer, und die bodenständige Atmosphäre des Berghotels ist wie geschaffen für große Entscheidungen, die einem niemand abnehmen kann. Und dann begegnet sie dem Südtiroler Stefano, der sich um Konventionen nicht kümmert. In der wohltuenden Sicherheit jahrzehnte alter Hotelrituale und inmitten einer höchst ungewöhnlichen Urlaubsgesellschaft sucht Sophie die Antwort auf die Frage, ob sie in ihr altes Leben zurückkehren wird …

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Taschenbuchausgabe

1. Auflage 2014

ISBN 978-3-492-95850-9

© 2012 Piper Verlag GmbH, München Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München Umschlagmotiv: Pete Saloutos/Image Source Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

»In der Liebe aber ist es leichter,

auf ein Gefühl zu verzichten,

als eine Gewohnheit abzulegen.«

Marcel Proust,

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 5:

1

Silvestereinladungen misstraute sie. Wann immer sie in den letzten Jahren versucht hatte, aufgekratzt ins neue Jahr hinüberzurutschen, stellte sich der Misserfolg zwangsläufig ein. Mal stürzte sie heillos ab, mal ging sie in der U-Bahn am Fehrbelliner Platz ein betrunkener Rentner mit dem Stock an, und mal geriet sie sich mit den Gastgebern beim Raclette in die Haare, wegen eines politischen Themas, an das sie sich beim besten Willen nicht mehr erinnern konnte. Dieses Jahr, das hatte sie sich schon im September vorgenommen, würde sie sich tot stellen und allen Freunden weismachen, den Jahreswechsel irgendwo in der Karibik oder bei einer pflegebedürftigen Tante im Sauerland zu verbringen.

Sophie starrte auf die Einladung einer Studienfreundin, der sie nie geantwortet hatte. Für eine »Mottoparty« kam sie sich mit ihren fünfundvierzig Jahren zu alt vor. Sie verspürte keine Lust, sich als Figur aus einem Lieblingsfilm zu verkleiden und sich verzweifelt zu bemühen, die Kostümierungen der anderen Gäste zu erraten.

Kurz spielte sie mit dem Gedanken, als Phyllis Dietrichson aufzutreten, als jene wunderbar böse Frau in Billy Wilders »Frau ohne Gewissen«, doch dann scheute sie die Mühe, eine Perücke aufzutreiben, um ihr halblanges, undefinierbar braunes Haar in Barbara Stanwycks blonde Locken zu verwandeln.

Die Weihnachtstage hatte sie bei kinderlosen Freunden in Leipzig hinter sich gebracht, ohne anstrengende Rührseligkeit, und nun würde sie bis Anfang Januar abtauchen, um das Durcheinander in ihrem Kopf zu entwirren. Wenn das denn gelänge. Sie setzte sich auf den Küchenstuhl und blickte hinüber zu den Häusern auf der anderen Seite der Zähringerstraße. Kaum jemand zeigte sich an den Fenstern, die meisten Berliner schienen die Stadt verlassen zu haben, wanderten in wattierte Jacken gehüllt die Ostseestrände entlang oder wohnten ihre Wochenendhäuser im Umland ab. Sophie besaß keine Datsche, und sie wusste auch nicht, wozu sie eine hätte besitzen sollen. Wo sie ohnehin unsicher war, wie lange sie es in Berlin noch aushalten würde.

Vor bald einem Jahr hatte ihr Mann das Weite gesucht, und der Sommer hatte … nein, ihr Leben hatte er nicht verändert. Der Sommer in Südtirol und der Herbst danach hatten Zweifel gesät, an ihrem Alltag, an ihrem Beruf, an ihrem Lebenstempo. An allem, hätte sie beinahe gedacht, doch mit der für sie typischen Entschlossenheit rief sie sich zur Räson und verbat sich Verallgemeinerungen. Wie ihr Menschen zuwider waren, die alles in Bausch und Bogen verdammten oder lobten. Würde sie an allem zweifeln, hätte sie der Stadt längst den Rücken gekehrt und sich der Schafzucht in Neuseeland gewidmet. Sie goss sich Kaffee ein und fuhr mit der Hand über den Ärmel ihres Pullovers. Schafwolle? Zählten Alpakas zu den Schafen? Oder waren das Kamele? Kamelwolle zu tragen wäre ihr unangenehm.

Sie würde wenig tun in den nächsten Tagen, keinen Winterspaziergang im Grunewald unternehmen, keine Museen – das sowieso nicht! – besuchen, ihre E-Mails ignorieren oder höchstens einmal am Tag durchsehen. Ab und zu vielleicht in einem Buch blättern. Den Kühlschrank hatte sie aufgefüllt mit dem wenigen, was eine alleinlebende Frau benötigt. Im Tiefkühlfach schlummerten sicher unverhoffte Schätze. Glaubte sie. Und der Gemüsehändler unten im Haus hatte sie mit Äpfeln, Orangen und Kohlrabi versorgt. Sie stellte sich einen Berg vor, der sich aus ihrem Lieblingsgemüse zusammensetzte, liebevoll aufgeschichtet, einen stuhlhohen Kohlrabiberg. Seitdem sie von Köln nach Berlin gekommen war und den Gemüsemann ihres Vertrauens gefunden hatte, verzehrte sie Unmengen von Kohlrabi. Gegen einen Kohlrabi, roh oder gedünstet, ließ sich nichts sagen. Erdal, ihren treuen türkischen Gesundheitszuträger, verdächtigte sie seit Längerem, die besten Knollen für sie zurückzulegen. Unvorstellbar, wenn sie mit einem Mal auf Fenchel oder Zucchini umstiege. Das konnte sie dem Mann nicht antun.

Sophie beschloss, die nächsten Tage von der Welt nichts wissen zu wollen und die Südtiroler Tage heraufzubeschwören. So wie bisher weiterzuleben und zu warten, bis andere, bis ein anderer ihr die Entscheidung abnähme, damit musste Schluss sein. Danach, spätestens am Neujahrstag würde sie klarer sehen. Sicher.

Draußen zog sich der Himmel zusammen. Berliner Dezemberdunkelgrau. Schneeschauer waren angekündigt.

2

Das Regenwasser stand in den tiefen Furchen, die sich über den ganzen Parkplatz ausbreiteten. Wie immer im Sommer drängten sich die Autos hinter dem Unterbalwitter Hof dicht aneinander. Sophie war erleichtert, ihr Ziel unbeschadet erreicht und sogar die Haarnadelkurven hinauf nach Barbian überstanden zu haben. Als Beifahrerin wäre ihr sicher kotzübel geworden, wie früher, als sie in Vaters Audi 80 die Verwandten in der fränkischen Schweiz besuchten und ihr schon nach wenigen Kilometern Landstraße auf Knopfdruck schlecht wurde. Wochenlang hielt sich der Gestank des Erbrochenen im Wagen, und Vaters Laune hätte nicht frostiger sein können, als sie endlich bei Tante Anneliese in Pommersfelden ankamen.

Sophie sah sich um, studierte die Autokennzeichen, die ihr eine erste Ahnung davon gaben, mit wem sie die nächsten zwei Wochen verbringen würde. Berliner wie sie natürlich, aber auch Hamburger und Düsseldorfer und zwei britische Wagen.

Sophie wuchtete ihr Gepäck aus dem Kofferraum, sorgsam darauf bedacht, das gänzlich unpassende Schuhwerk nicht in eine der Lachen zu setzen. Heute Abend erst würde sie sich in eine Bergziege verwandeln, denn nichts fand sie peinlicher als naturliebende Großstädter, die sich in lächerlichen Latschen Gipfeln nähern wollten. Sie hatte vorgesorgt und in einem Outdoor-Laden schicke, rotschwarze Wanderschuhe erstanden, die jetzt Trekkingschuhe hießen und sich für jeden steinigen Grat eigneten.

In zehn Minuten sei er bei ihr, hatte der Mann vom Taxidienst ins Handy gerufen, und die Leute aus Krefeld werde er auch in den Großraumwagen packen. Auf die Koffer käme es ja nicht an, die könne man zur Not zurücklassen, hatte er prustend hinzugefügt, ganz beglückt davon, die Sommerfrischler gleich mit einem gelungenen Scherz aufzuheitern.

Am hinteren Ende des Parkplatzes schlugen Autotüren zu. Sophie sah hinüber, das mussten die Krefelder sein, ein älteres Ehepaar mit einem überraschend kleinen Kind. Seit ein paar Jahren kamen ihr alle Leute ihres Alters älter als sie selbst vor. Empört reagierte sie, sobald sie mitbekam, dass sie Gleichaltrige vor sich hatte. Bewegte sie sich auch so schleppend? Stöhnte sie leise beim Treppensteigen und verzog unzufrieden ihr Gesicht? Das konnte heiter werden, in fünf oder zehn Jahren, wenn sie in die Wechseljahre käme. Wechseljahre – ein Wort, das sich nur ein Mann ausgedacht haben konnte, vermutlich ein finsterer Gynäkologe aus dem 19. Jahrhundert. Sie schlug die Kofferraumklappe zu und beschloss, diesen Gedanken nicht weiterzuverfolgen. In einer Frauenzeitschrift hatte sie gelesen, welche Symptome das Klimakterium üblicherweise mit sich brächte – eine Litanei, die eine Frau glatt dazu verleiten konnte, sich den Gnadenschuss zu geben. Es reichte ihr, an das zu denken, was ihr in den letzten Monaten widerfahren war.

Natürlich dauerte es fast eine halbe Stunde, bis sich das wuchtige Großraumtaxi auf den Parkplatz zwängte. Die Räder griffen kaum, pflügten sich durch den aufspritzenden Schlamm, bis der Wagen abrupt zum Stillstand kam. Der Schriftzug »Kastner-Taxi« zog sich in geschwungenen gelben Buchstaben über die Fahrer- und Beifahrertüren, und kaum stieg der Chauffeur aus, erkannte sie ihn wieder. Seinen blauen Schurz, sein Gesicht, noch wetterzerfurchter als bei ihrem letzten Aufenthalt, sein verschmitztes Lachen, sein skeptisch freundlicher Blick, der sofort erfasste, mit welcher Art von Gästen er es zu tun hatte. Überraschen konnte man ihn nicht mehr, seit zwei Jahrzehnten fuhren er und sein Sohn die Waldstrecke hinauf und hinunter, mehrmals am Tag, entweder nach Zweikapellen oder noch zweihundert Meter höher hinauf zum Sonnenhäusl. Der alte Kastner kannte die Stammgäste, und er hätte ohne Zögern Prognosen abgegeben, wer von den Ankömmlingen sich hierher verirrt hatte, verführt durch einen mit erlesenen Fotos garnierten Zeitschriftenartikel, der die Abgeschiedenheit des Berghotels pries.

Sie erkenne er wieder, rief er Sophie zu, drückte ihre Hand so kräftig, dass sie beinahe aufgeschrien hätte, und hievte ihren sperrigen Koffer auf die Ladefläche. Mit einer Freundin, einer Kurzhaarigen, sei sie heroben gewesen, vor sechs oder sieben Jahren, nicht? Sophie lächelte ihn staunend an, nicht nur, weil sich der Mann an sie erinnerte, sondern weil es ihr nicht schwerfiel, sein kehliges Deutsch zu verstehen. Das Ehepaar aus Krefeld – Lehmann heißen wir, und das ist unsere Julia – schien bereits an dieser ersten Aufgabe zu scheitern und starrte auf Kastners Mund, als ob sie diesen nur lange genug fixieren müssten, bis die Sätze in einer niederrheinischen Synchronfassung als Sprechblasen aufstiegen.

Alle drei nahmen in der zweiten Reihe des Siebensitzers Platz, Julia auf dem Schoß ihrer Mutter … oder handelte es sich doch um die Großmutter? Kastner ließ den Motor aufheulen, um den Städtern zu zeigen, was sein Allradantrieb leistete. Frau Lehmann – wir sind zum ersten Mal in der Gegend – klammerte sich an den Türgriff, während das Kind aufjuchzte und Kastner anfeuerte. Sophie sah aus dem Fenster, erinnerte sich mühelos an das Sägewerk und an die Waldwegkurven, die Kastner mit geschlossenen Augen hätte nehmen können. Schlaglöcher und hervortretende Baumwurzeln ließen den Wagen hin- und herschaukeln. Kastners Augen blitzten im Rückspiegel auf. Eine Autobahn sei das nicht, rief er seinen Gästen im Fond zu und beschleunigte, sodass der Wagen mit einem kleinen Sprung die nächste Bodenwelle nahm. Abstürzen tun wir selten, kein Grund zur Aufregung also.

Ist es weit bis zum Hotel? Herr Lehmann meldete sich erstmals zu Wort, sichtlich darum bemüht, Souveränität an den Tag zu legen. Kastner schwieg, grüßte zwei Wanderer, die sich an eine Böschung pressten.

Nur ein kurzes Stück, Herr Lehmann. Zu Fuß braucht man eine gute Dreiviertelstunde, wenn man sich an die Bergluft gewöhnt hat. Ich heiße übrigens Sophie Hauffe und komme aus Berlin.

Sophie wunderte sich über sich selbst. Wie leutselig sie mit diesen fremden Leuten sprach, wie hilfsbereit, obwohl sie wusste, dass man hier oben aufpassen musste, nicht zu früh Anschlussbereitschaft zu zeigen. Sie hatte nicht vor, die kommenden Wochen als Eremitin an einem Einzeltisch zu verbringen, aber zu früh die eigenen Lebenskarten auf den Tisch zu legen, war riskant. Sie reduzierte ihr Lächeln und bemerkte erleichtert, dass Herr Lehmann von der torkelnden Fahrt zu stark beansprucht war, um in Konversation zu brillieren. Seine Frau schwieg und starrte die Kopfstütze des Beifahrersitzes an. Die kleine Julia wackelte auf den Beinen ihrer Mutter herum und wollte den Himmel des Autos mit ihrem Haarreif erreichen.

Gleich würden sie die letzte Kurve nehmen, gleich würde sich der Blick auf den Gasthof auftun, dieses Holzhaus mit seinen drei Stockwerken, seiner tiefen Terrasse, seinen Anbauten, die sich in die Landschaft einfügten, als seien sie schon immer da gewesen. Den ganzen Tag über hatte sie sich auf diesen Anblick gefreut, auf dieses Versprechen, das in diesem Sommer mehr zu halten hatte als vor sechs Jahren, als sie mit ihrer Freundin Brigitte zum ersten Mal hier abgestiegen war. Kastner beugte sich vor, als wollte er dem beanspruchten Taxi Hilfestellung geben, und dann hatte Sophie ihr Ziel erreicht. Die Lehmanns auch, doch das interessierte sie nicht.

3

Ob es zum Hotelgewerbe gehörte, dass alle so taten, als würde man seine Gäste selbst nach Jahrzehnten mühelos wiedererkennen? Wahrscheinlich übten sich die Betreiber allabendlich darin, Gesichter zu memorieren, um für die Anreisezeremonie des kommenden Tages gewappnet zu sein. Vielleicht zogen sie das Internet zu Rate und glichen Fotos ab. Wenigstens hatte der junge Gruber nicht ausgerufen, dass sie sich überhaupt nicht verändert habe. Man musste als Hotelbesitzer glaubwürdig bleiben. Sophie wusste zu gut, wo und wie ihr Körper in den letzten Jahren an Perfektion verloren hatte. Die scharf gezeichneten Fältchen an den Augen, die sich beim Lachen wie Safranfäden ausbreiteten. Die braunen Punkte auf ihren Händen, die noch nicht wie Altersflecken aussahen, aber dennoch den ästhetischen Eindruck nicht verbesserten. Und natürlich die Fettpölsterchen an den Hüften, die sie trotz Halbpension in diesen Ferien bekämpfen würde. Vielleicht. Jeden Tag eine anstrengende Wanderung. Jeden Tag die planschenden Kinder im Pool nicht beachten und kräftige Schwimmzüge tun, am besten vor dem Frühstück, das überdies nicht jeden Tag mit Kräuterrührei angereichert werden musste. Und zu Hause würde sie im Herbst Disziplin üben und sich zum täglichen Jogging im Volkspark zwingen. Als plötzlich alleinstehende Frau musste man auf sich achten. Sie registrierte inzwischen die Blicke der Männer genauer, Blicke, die ihren Körper taxierten und sich Beischlafchancen ausrechneten. Wenn diese Blicke ausblieben und die Männeraugen sie als nicht mehr wettbewerbsfähig betrachteten, war das Rennen gelaufen. Vielleicht würde sie diese Ruhe dann genießen. Wahrscheinlich nicht.

Immerhin, Sophie hatte sich über Grubers Begrüßung gefreut, über seinen festen Händedruck, den man anderswo als Körperverletzung eingestuft hätte. Ob alle Südtiroler diese Angewohnheit hatten? Über sein herzliches »Na, haben Sie es in Ihrem Berlin nicht mehr ausgehalten?« und über seinen Hinweis, dass man ihr nach der Absage eines Gastes ein besseres Zimmer gebe, mit einem tieferen Balkon. Sophie hatte sich bedankt, sich nach Frau Gruber und den Kindern erkundigt, verblüfft erfahren, dass eines hinzugekommen sei, der inzwischen zweijährige Konrad. Drei Kinder seien besser als zwei, das erhöhe die Wahrscheinlichkeit, dass jemand aus der Sippe den Betrieb weiterführe, irgendwann, wenn man selbst nur noch im Schaukelstuhl auf der Terrasse sitzen und von den alten Zeiten erzählen könne.

Der junge Gruber. Sophie stand auf ihrem Balkon, die Hände auf die Brüstung gestemmt. Schrundiges Holz überall. Wie selbstverständlich sprach sie in Gedanken vom jungen Gruber, obwohl es gar keinen alten Gruber mehr gab. Schon lange nicht mehr, meinte sich Sophie zu erinnern, doch wenn ein Gasthof über mehrere Generationen in Familienhand war, bürgerte es sich ein, die Jungen als Junge zu bezeichnen, bis die Enkel das Ruder übernahmen und es einen neuen jungen Gruber gab. Es wirkte nicht so, als würde das Selbstbewusstsein des aktuellen jungen Gruber darunter leiden, dass man ihn beständig auf seinen Vater bezog. George W. Bush hatte es als Junior schließlich zum Präsidenten gebracht.

Tief unten im Eisacktal wand sich die Autobahn; mit bloßem Auge erkannte man die Lastwagen, die sich heute Nachmittag dicht an dicht aneinanderdrängten. Ein paar Wohnmobile, sicher aus Holland, deren Stau erprobte Fahrer froh waren, den Brenner hinter sich gelassen zu haben. Erstaunlich, dass das Brummen der Motoren bis in die Höhe schallte, als dezentes Hintergrundgeräusch. Nach wenigen Tagen würde sie es nicht mehr wahrnehmen, hätten sich ihre Ohren akklimatisiert, würde sie denken, es herrsche himmlische Ruhe auf den Sonnenbänken vor dem Haus.

Sophie freute sich an dem Zimmer, das ihr der junge Gruber zugeschustert hatte. Wahrscheinlich genossen Frauen ohne Begleitung einen Bonus, einen Mitleidsrabatt. Ein großzügig geschnittenes Zimmer mit schönem, überdachtem Balkon – das verringerte die Gefahr, dass Frauen ohne Begleitung in Schwermut verfielen oder sich dem erstbesten Mann an den Hals warfen. An der Wand zum Nachbarbalkon stand eine verschlissene Wohnzimmerliege, die sich sehr gut für einen Mittagsschlaf eignete. Sie würde sich in den kommenden Wochen jeden Tag zur Siesta niederlegen. Niemand triebe sie zur Eile an. Hoffentlich hielt sie das aus. Und wenn es heiß werden würde, könnte sie die Nacht draußen verbringen, die Lungen mit einer hohen Dosis an alpinem Sauerstoff erschrecken.

Wie gut dieser Ausblick tat, über die Wiesen hinweg, die Gehöfte, die sich unterhalb Zweikapellens ausbreiteten, über steingraue Zaunlatten und auf der anderen Seite des Tals verstreute Dörfer, deren Namen Sophie nicht einfielen, mit schlanken Kirchtürmen und dahinter die abgestuften Berggipfel, die in die Dolomiten übergingen. Wie sie hießen, diese Zwei- und Dreitausender, das würde Sophie bald wieder einfallen, spätestens, wenn sie unten im Gruber’schen Büro eine Wanderkarte erstanden und sich alle Höhenzüge, die von Luis Trenker und seinen Nachfahren erklommen worden waren, eingeprägt hätte. Schlern … einer von denen da drüben hieß so, Schlern. Wie schon die fremden Namen ein erstes Urlaubsgefühl vermittelten.

Sophie wandte sich von den Schlerns und Langkofels ab, ging in ihr Zimmer zurück. Mit geübten Handgriffen verteilte sie ihren Kofferinhalt auf die Regalbretter des Bauernschranks, dessen Kassettentüren mit blassroten Rosen bemalt waren. Zwei Pullover, ein dicker Schal. Mit Wetterumschwüngen musste man rechnen, und wer wie sie die Abendstunden nach dem Essen auf der Terrasse verbringen wollte, mit einem Zigarillo und einem Viertel Lagrein Dunkel, der brauchte wärmende Stoffe um sich.

Sophie blickte sich um, strich mit den Augen die drei Holzbalken entlang, die sich über die Decke und über ihr Bett zogen, von dem aus sie morgens beim Erwachen einen Ausschnitt des Bergpanoramas und die dahinziehenden Wolken sehen würde. Und vor allem freute sie sich auf den Moment, wenn sie nachher ihr Nachthemd überstreifen und unter das massive Oberbett schlüpfen würde. Schwerste Daunen, das gehörte zu einem Berggasthof, der nicht auf Wellness machte, Daunenungetüme wie früher bei ihrer oberbayerischen Großmutter, Daunenlasten, die sie zu Hause keine Nacht ertragen hätte.

Bis es so weit wäre, galt es, fünf, sechs Stunden zu überstehen. Das erste Abendessen war das schwerste. An welchen Tisch sie die Grubers wohl platzieren würden. Einzeltische gab es zu dieser Jahreszeit nicht. Sie hoffte auf die Feinfühligkeit des jungen Gruber, der sicher wusste, wie behutsam man die Tischgesellschaft für verlassene Ehefrauen auswählen musste. Obwohl er ihr wohl kaum angesehen hatte, dass sie allein lebte, seit einem halben Jahr, als ihr Mann nach achtzehn Ehejahren beschlossen hatte, anderswo sein Glück zu suchen. Nicht bei einer platinblonden, silikonunterfütterten Studentin, das wenigstens hatte er ihr erspart, doch warum er gegangen war, hatte sie bis heute nur vage begriffen. Wenngleich sie bald gemerkt hatte, dass es sich ohne ihn besser lebte, ohne sein Über-alles-Bescheid-Wissen, dieses Sich-wichtig-Machen eines außerplanmäßigen Professors, der mit seinen neunundvierzig Jahren merkte, dass er es wohl nicht mehr zum planmäßigen Professor bringen würde – ein Manko, das er als persönliche Beleidigung auffasste.

Die Wohnung hatte Markus ihr überlassen, einen Teil der Miete übernehmend, und war in den Ostteil, nach Friedrichshain gezogen. Der alte Westen sei nicht zu ertragen, diese wehleidige Selbstgefälligkeit, dieses abgestandene Lebensgefühl. Wer etwas auf sich halte, müsse im pulsierenden Osten der Hauptstadt leben. Tu dir keinen Zwang an, hatte sie erwidert und sich insgeheim gewundert, dass er zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung meinte, ein Umzug in den Osten ließe sich als Aufbruchssignal verkaufen. In ein, zwei Jahren würde er stillschweigend zurückziehen, ins altbackene Charlottenburg oder nach Schöneberg, über den zu Unrecht gehypten Berliner Osten lamentieren und in seinen alten Trott verfallen. Jahrelang hatte sie geglaubt, er sei glücklich gewesen an ihrer Seite, und sie selbst hätte anderen gegenüber das Gleiche behauptet. Warum man erst hinterher merkte, was man sich für einen Unsinn einredete, jahrelang. Vielleicht sollte sie ihm dankbar sein.

Sophie zupfte an ihren Locken, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie zu einer Kurz- oder Langhaarfrisur gehören wollten. Der Rock saß gut, die züchtig geschlossene Bluse auch, dazu der grellrote Schal, der von ihrer nicht mehr makellosen Halspartie ablenkte. Sie griff nach ihrem schwarzen Pullover und fand sich schick genug, um der Herausforderung des ersten Abends in Zweikapellen entgegenzutreten. Hunger hatte sie, und wie.

4

Eine Unterkunft wie diese lebte von Ritualen. Die Stammgäste – und Sophie war es beim ersten Mal so vorgekommen, als gebe es nur Stammgäste – legten Wert darauf, sich binnen weniger Stunden in die immergleichen Abläufe einzuklinken und das Gefühl zu bekommen, dass seit dem letzten Sommer keine Zeit verstrichen, niemand der Anwesenden älter geworden sei. Vor Jahren, erzählte man sich, habe der junge Gruber versucht, das viergängige Abendmenü zweimal in der Woche durch ein warmes Büfett zu ersetzen. Bekommen war ihm diese Revolution nicht; Beschwerdebriefe trafen ein, Stornierungen drohten. Stillschweigend hatte man die Büfetttage im nächsten Jahr aufgegeben; die Stammgäste mieden es, über diesen Vorgang zu sprechen, aus Rücksicht dem jungen Gruber gegenüber. Auch der müsse sich die Hörner abstoßen.

Sophie verstand diese Haltung, dieses Beharren auf dem Dauerhaften. Zu Hause hätten sich viele über eine solche Einstellung geärgert, von Spießertum und unflexibler Kleinbürgerlichkeit geredet. Auf dem Berg verschoben sich die Maßstäbe, auf dem Berg wertete man nachsichtiger. Sophie freute sich auf den sofort erkennbaren Rhythmus. Mehr als vierundzwanzig Stunden brauchten eingefleischte Zweikapellener nicht, um Abläufe zu akzeptieren, ja, gutzuheißen, die sie andernorts verdammt hätten.

Viertel vor sieben, eine gute Zeit, den ersten Schritt zu tun. Um halb acht würde einer der Kellner mit der Kuhglocke durchs Haus eilen und die Essenszeit verkünden. Manchmal durfte einer der kleinen Gäste diese wichtige Aufgabe übernehmen. Sophie erinnerte sich unscharf an einen Jungen im Kindergartenalter, der mit ernster Miene von einem Terrassentisch zum anderen zog und an der schweren Glocke rüttelte, voller Stolz darüber, in die Arbeitsabläufe der Großen eingebunden zu werden.

Alles musste wie am Schnürchen laufen, um die fünfzig oder sechzig hungrigen Gäste zufriedenzustellen. Sophie war es so vorgekommen, als ließen die Urlauber auf dem Berg größeres Entgegenkommen walten. In einem Berliner oder Krefelder Restaurant hätten sie schneller aufbegehrt, wenn ein Hauptgericht auf sich warten ließ oder es am Weinnachschub haperte.

Viertel vor sieben, eine gute Zeit, um auf der Terrasse einen Aperitif zu nehmen und sich den anderen vorsichtig zu nähern. Sonntag war Ab- und Anreisetag, da regierte das Chaos, bis alle ihre Zimmer bezogen und Familie Gruber mit den angestauten Fragen behelligt hatten. Unruhe lag über dem ganzen Haus; das Gefüge geriet kurzzeitig außer Kontrolle, die einzelnen Figuren irrten über das Spielfeld, brauchten Zeit, bis sie die ihnen zugewiesene Position einnahmen. Sophie stieg die ausgetretenen Treppenstufen hinunter, warf einen Blick in Grubers Büro, hörte Ballwechsel und Jubelrufe aus dem Tischtenniszimmer und prüfte die Menükarte für den Abend, die die Neuankömmlinge noch nicht gesehen hatten. Sie machte einen Abstecher in die Speiseräume. Hoffentlich hatte man sie im Hauptraum platziert, mit Blick auf die Hänge gegenüber.

Alles war beim Alten geblieben. Die Vorbereitungen fürs Abendessen liefen an. Die Salatschüsseln auf der Anrichte – Gang Nummer eins – reihten sich aneinander. Karotten, Gurken, Rettich, rote Bohnen, Blattsalate, Maiskörner und die schrumpeligen schwarzen Oliven, die nicht so fade wie ihre feisten Verwandten mit glatter Haut schmeckten.

Guten Abend. Sophie grüßte eine der Bedienungen, die die Steinguttöpfe mit den Salatdressings herbeischleppte. Maria … Martha … wie hieß sie noch, diese unermüdlich liebenswürdige Person, die von morgens bis abends auf den Beinen war und die erste Eierbestellung beim Frühstück genauso freundlich entgegennahm, wie sie dem Verlangen der Gäste begegnete, die nicht zu den frühen Zubettgehern gehörten und mit einem Marillenschnaps das Urlaubsglück begießen wollten. Magda! Magda, so hieß sie. Ihr Namensgedächtnis funktionierte auch in alpinen Höhen, ohnehin eine ihrer Stärken. Im Museum setzte man sie ein, wenn es galt, Bibliografien zu prüfen oder vor Einladungen die VIP-Listen gegenzulesen. Ohne sich anzustrengen, prägte sie sich Buchtitel ein, wusste sich genau zu erinnern, wann ein Katalog erschienen war und wo es die letzte Félix-Vallotton-Ausstellung gegeben hatte. Das verschaffte einem Pluspunkte, da die meisten ihrer Kollegen, von den Kuratoren oder vom Direktor ganz abgesehen, es mit ihrer künstlerischen und wissenschaftlichen Distinktion für unvereinbar hielten, sich mit derartigem Kleinkram abzugeben. Da soll unsere Frau Hauffe noch einmal draufschauen. Wie Sophie diesen Satz hasste, dieses Abgespeistwerden mit Brosamen. Mühelos hätte sie ihrem Chef falsche Katalogtitel und Herausgebernamen unterjubeln können. Nur bei seinen eigenen Publikationen, allzu viele waren es nicht, fühlte er sich sattelfest. Die und ihre markanten wissenschaftlichen Verdienste hätte er im Schlaf aufzählen können.

Magda. Sie war sich so sicher, dass sie eigens in das Musikzimmer, das abends ebenfalls mit Esstischen bestückt war, zurückkehrte, um mit Magda ein paar Worte zu wechseln. Wie schön, Sie wiederzusehen, Magda. Sie wiederholte den Namen häufiger, als es notwendig gewesen wäre. Sie werden sich nicht an mich erinnern, oder? Sechs Jahre ist es her, seitdem ich hier war. Magda beugte sich vor, legte die hölzernen Serviettenringe ab und lachte auf. Doch natürlich erkenne ich Sie wieder, gnädige Frau, setzte sie an, mit einem Akzent, den Sophie nicht zuordnen konnte. Kroatisch, Ungarisch vielleicht. Mit einer Freundin waren Sie bei uns, und Sie mussten einen Tag früher abreisen. Lagrein Dunkel haben wir auch wieder als offenen Wein, den haben Sie damals oft getrunken, ich meine, manchmal, abends.

Sophie starrte auf Magdas Mund. Wie schaffte die es, sich an all das zu erinnern. Ja, sie war damals – sie hatte es völlig vergessen – einen Tag früher abgefahren, weil Markus an einer Tagung in Birmingham hatte teilnehmen müssen und sie ihren Sohn nicht allein in der Wohnung lassen wollte. Wie sie sich über Markus’ Egoismus geärgert hatte, wie selbstverständlich er annahm, sie würde alles über den Haufen werfen, um ihm seinen wichtigen Auftritt zu ermöglichen … in Birmingham! Und sie hatte eingewilligt und Zweikapellen vor der Zeit verlassen. Fast wurde sie unwillig, dass Magda sie an diese Schmach, eine von vielen, erinnerte, doch sie beherrschte sich und tätschelte Magdas Schulter. Diesmal bleibe ich, Magda, bis zum Schluss, und Lagrein trinke ich noch immer.

Die beiden Frauen strahlten sich an. Während Magda wie immer in Eile war, um alle Tische rechtzeitig einzudecken, fühlte sich Sophie erleichtert, das erste Hindernis genommen zu haben. Sie sah sich noch einmal um. Die blau-rot karierten Decken, die Messerbänkchen, die Stoffservietten, die Blumensträußchen – alles hatte seinen Platz. Sophie verkniff es sich, nach ihrem Namensschildchen auszuschauen. Früh genug würde sie erfahren, was sich die Grubers für sie ausgedacht hatten. Tische nur mit alleinstehenden Damen gab es nicht. Besser so.

Sophie merkte, wie sie sich selbst immer seltener als verheiratete Frau sah. Den Ehering hatte sie an ihrem Geburtstag im April abgelegt und im Badezimmerschränkchen verstaut. Einen Moment lang hatte sie überlegt, ihn demonstrativ in den Hausmüll zu werfen. Doch wen hätte sie damit beeindruckt? Dass sie den Ring jemals wieder an den Finger stecken würde, kam ihr abwegig vor. Sie bevorzugte klare Schlussstriche, obwohl sie ahnte, dass Markus irgendwann zu Kreuze kriechen würde. Männer neigten dazu, ihre emotionalen Nehmerqualitäten zu überschätzen. Sie hatten gute Jahre miteinander gehabt, und Markus war es mit seinem kindischen Verhalten nicht gelungen, diese Erinnerungen auszulöschen. Vielleicht durfte sie sogar von Glück reden, dass er sich nicht zehn Jahre später davongemacht hatte. Und sie als schwer vermittelbare angehende Pensionistin zurückließ, als eine von den Frauen, die in Magazinen fürs solvente Publikum Bekanntschaftsanzeigen aufgaben. Jung gebliebene Sechzigerin, attraktiv, humorvoll, naturliebend, sucht gleichgesinnten Mann ihres Alters, Nichtraucher …

Sophie schüttelte sich, strich mit den Fingerspitzen über einen der Eichentische, erleichtert darüber, mit sich selbst passabel zurechtzukommen. Und noch besser, redete sie sich ein, werde ich mich nach meinem ersten Aperitif fühlen. Sie machte auf dem Absatz kehrt. Veranda, ich komme!

5

Nehmen Sie nie einen der vorderen Tische! Sich da hinzusetzen, das passiert nur Anfängern. Oder wollen Sie jedem, der die Terrasse betritt, einen guten Morgen oder einen guten Abend wünschen? Nicht auszuhalten diese ewige Grüßerei!

Sophie hatte die Warnung des liebenswürdigen Rentners – war er nicht Bibliothekar gewesen? – im Ohr, der sie beim ersten Zweikapellen-Aufenthalt mit wertvollen Verhaltenstipps versorgt hatte. Zielstrebig hatte sie seitdem die hinteren Tische angesteuert und sich vom stetigen Kommen und Gehen am Aufgang der überdachten Terrasse abgesondert. Heute jedoch blieb ihr nichts anderes übrig, als sich im Aufgangsbereich einen Platz zu suchen. Alle Tische waren besetzt, ein gutes Dutzend mochten es sein, eine Reihe an der Hauswand, eine an der Brüstung.

Sophie blieb stehen, schaute nach links und nach rechts, wollte kein Aufsehen erregen, was unmöglich war, da alle, die sich bereits niedergelassen hatten, genussvoll jeden Neuankömmling mit unverhohlenen Blicken taxierten. Alte Gesichter, neue Gesichter? Zweikapellen-Novizen oder Stammgäste, die Lässigkeit zur Schau stellten und auf die Ersteren mit milder Nachsicht reagierten? Sophie nickte, als wollte sie die Sitzenden huldvoll grüßen, und drängte sich zu einem Tisch, an dem ein paar Notizbücher und eine Fotoausrüstung ausgebreitet waren. Ja, natürlich sei ein Stuhl frei, beschied ihr das dazugehörige Paar. Sophie zog dankbar einen der wackligen Holzstühlchen zu sich heran und ließ sich erleichtert nieder. Das erste Etappenziel war erreicht. Jetzt gehörte sie dazu, jetzt hatte sie sich eingereiht und konnte sofort selbst damit beginnen, die nahenden Hausgäste – alle Wanderer hatten längst den Heimweg angetreten – zu beäugen. Und als sich Magda näherte und nach ihren Wünschen fragte, bestellte sie im Überschwang einen Veneziano, obwohl sie das süßlich bittere Getränk, das auf der Terrasse sicher einen Marktanteil von siebzig Prozent besaß, nicht mochte. In Mineralwasser und Sekt aufgelöste Bonbons, mit einer Orangenscheibe garniert … selbst in Berlin hatte sich diese Brause, die dort Aperol Spritz hieß, durchgesetzt, und es schien nicht so, als sei der Höhepunkt dieser Welle bereits überschritten.

Der Mann neben ihr hantierte am Verschluss seines Fotoapparats, während die offensichtlich zu ihm gehörende Frau den Holzplafond mit seinen mächtigen Querbalken anstarrte, dabei an einem Bleistift kaute und konzentriert darüber nachzusinnen schien, was sie ihrer in der Mitte aufgeschlagenen Kladde als Nächstes anvertrauen wollte. In ihr schwarzes Lockenhaar mischten sich feine graue Strähnen. Wie alt mochte sie sein? Wie immer wenn Sophie andere Frauen taxierte, schätzte sie deren Alter höher als ihr eigenes ein. Sie wusste um die Selbsttäuschung, spätestens abends, wenn sie sich abschminkte, doch sobald sie Frauen in ihrer Umgebung betrachtete, war sie sich sicher, innerlich stehen geblieben zu sein, auf der Mitte-zwanzig-Stufe ungefähr, damals als sie nach dem Studium ihre erste Stelle, als Mädchen für alles in einem Kölner Auktionshaus, angetreten hatte. Jetzt musst du auf eigenen Füßen stehen, hatte ihr Vater angemerkt, mit einem Lächeln, das Befriedigung verriet. Fürs Verheiratetwerden und Kinderkriegen taugst du nicht.

Ende der Leseprobe