Als wär das Leben so - Rainer Moritz - E-Book
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Als wär das Leben so E-Book

Rainer Moritz

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Beschreibung

Lisa hat ihren eigenen Kopf: Sie weiß, was sie nicht will. Eine eigene Familie will sie nicht; es gibt Männer in ihrem Leben, aber den einen Mann an ihrer Seite braucht sie nicht, will sie nicht. Sie arbeitet erst als Buchhändlerin, später in einem Hamburger Zeitungsverlag, gerne, fleißig, aber ohne Ambitionen. Und sobald sie die Tür ihrer kleinen Wohnung hinter sich schließt, ihr Kater Bello auf sie zurast, ist die Arbeit vergessen. Den einen Mann an ihrer Seite gibt es irgendwann, allerdings einen, der nicht ganz ihrer ist, aber auch das stört Lisa nicht. Mindestens einmal die Woche kommt er zu ihr, und dann zählt nur sie. Lisa geht weiterhin ihren Weg, konsequent, zufrieden, wobei Lisa dieses Wort nie in den Mund nehmen würde. Bis ihr irgendwann das Leben einen Strich durch die Rechnung macht.Rainer Moritz hat mit seiner Lisa eine Figur geschaffen, deren stille Beharrlichkeit zu Herzen geht: eine Frau, die an Aufregungen kein Interesse hat, die viel allein ist, ohne je einsam zu sein, die froh ist über das, was sie hat. Ein selbstbestimmtes Leben. Ein gutes Leben?

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Seitenzahl: 173

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Rainer Moritz

Als wär das Leben so

Roman

Oktopus

»Wahrscheinlich ist es wahr, dass uns ein Mensch immer unbekannt bleibt und es in ihm immer etwas Unauflösbares gibt, das sich uns entzieht.«

Albert Camus

»Liebe Elisabeth, lieber Karl …«

Mehr stand da nicht. Sie sah auf das karierte Blatt, auf die schwungvoll hingeschriebenen Buchstaben und hielt inne. Ihr war kalt, an einem milden Maimorgen. Frühe Sonnenstrahlen fielen auf den schmalen Balkon, auf den dunkelgrünen Metallstuhl und das ovale Tischchen. Ein Stuhl, nur einer. Wann hatte sie angefangen, ihre Eltern mit Vornamen anzureden? Seit wann gab es »Mama« und »Papa« nicht mehr? In den letzten Jahren wäre sie gern zu dieser Anrede zurückgekehrt. Getraut hatte sie sich nicht. Sie fühlte sich klar im Kopf und zugleich so, als säße sie in einer schalldichten Kabine. Ihre Knie zitterten. »Liebe Elisabeth, lieber Karl! Wenn Ihr diesen Brief bekommt …« Ja? Sie strich den begonnenen Satz durch. Niemand anderem würde sie schreiben, nicht ihren Freundinnen, ihrer Schwester nicht und ihm, dem Verheirateten, auch nicht. Das war ihr Leben. Nur was für eines?

1

Dachten die anderen oft über sich nach? Sie stand am Gartentor, das so breit war, als würde es zu einem ansehnlichen Gut führen, als hätte sie ihre Kindheit auf einem imposanten Anwesen verbracht. Dabei war da nicht viel. Eine halbwegs gepflegte Wiese, die andere Rasen genannt hätten, ein paar Obstbäume, ein aus Holzlatten gezimmertes Fußballtor, das keinem kräftigen Schuss standgehalten hätte, ein Schuppen, in dem hinter Papa Karls Kombi die Gartengerätschaften ihren Platz hatten, sorgsam aufgeräumt, wie es sich gehörte. Und dann das weiße Haus, weder groß noch klein, mit seinem tief heruntergezogenen Dach, einer hölzernen Kassettentür und den hellblauen Kastenfenstern. Ein Haus, das einige Jahrzehnte auf dem Buckel hatte, eines, wie man es hier auf dem Land häufig fand. Ihr Elternhaus.

Da stand sie als Fünfjährige oder als Achtjährige, auf dem kaum befestigten Fahrweg neben dem Gartentor, hinter der Hecke, sodass sie vom Haus aus nicht zu entdecken war. Sie sah aufs Feld, Bauer Redecker zu, wenn er den Acker umpflügte oder den Weizen erntete, sah den aufsteigenden Krähenschwarm oder Vögel mit ausladenden Schwingen, deren Namen sie nicht kannte. Manchmal stellte sie einen Kindertisch und einen Stuhl auf den Weg, las oder zeichnete, froh, wenn ihre jüngere Schwester nicht da war, wenn niemand da war. »Lisa, wo steckst du? Abendbrot, dalli, dalli.«

Auf den ersten Ruf ihrer Mutter reagierte sie nie. Erst wenn die Stimme ungehalten klang, wenn sie hörte, wie ein Fensterflügel aufklappte, ging sie ohne jede Eile ins Haus. Lisa, ja, obwohl sie auf den Namen Lisa-Marie getauft war. Was ihren Eltern kurz darauf peinlich gewesen sein musste, denn Marie kam außer in Formularen und Dokumenten nicht mehr vor. Zwei Vornamen, das passte nicht zu ihnen. Zu ihr vielleicht schon. Lisa-Marie, Lisa-Marie … Sie selbst hatte nichts gegen ihn, versäumte es selten, auf ihre Schulhefte in großen Lettern ein Lisa-Marie zu setzen. Anders wollte sie sein, anders als Torben, Jens, Güde, Stine und Solveig. Einige ihrer Liebhaber in Berlin und Hamburg würden sie später so nennen, die, die Lisa zu banal fanden. Sie ließ es zu, hob allenfalls eine Augenbraue, wenn einer über ihr im Bett zusammensank und Zeit für ein »Oh, Lisa-Marie …« fand. Lange hielt sie es mit solchen Männern nicht aus.

Da saß sie am Abendbrottisch, als Fünfjährige oder als Achtjährige. Mit blitzsauberen Händen und zerzausten Haaren. Punkt sieben standen die Wurst- und Käseplatten auf dem Tisch, das Graubrot, das seinen Namen zu Recht trug, die Margarine, die Senfgurken, die Radieschen, die Eiviertel, der Tee, der Johannisbeersaft und die Flasche Bier für Papa Karl. Wenn er den Bügelverschluss aufploppen ließ, strahlte sie. Jetzt war er da, würde von seinem Tag erzählen, von seinen merkwürdigen Kunden, die ihn mit defekten Stehlampen, verschmorten Kabeln oder lockeren Steckdosen behelligten. Er deutete an, wusste, dass er sich vor seinen Kindern nicht über Kunden lustig machen durfte. Sie bezahlten ihn, den selbstständigen Elektromeister, hielten seine Werkstatt über Wasser und hatten es möglich gemacht, dass er dieses einfache Häuschen an der Schlei kaufen konnte. Zu einem günstigen Preis, den er einem besonders aufdringlichen, mit Küchengeräten auf Kriegsfuß stehenden Kunden verdankte.

Sie war stolz auf ihn und hätte nicht sagen können, warum. Beobachtete ihn, wie er das mit Senf bestrichene Jagdwurststück bedächtig kaute, den Kopf geneigt, um nichts von dem zu verpassen, was Mama Elisabeth erzählte. Von den Dorfneuigkeiten, von der beigen Strickjacke, die sie bei einem Modeversand bestellt hatte, und natürlich von dem Trompeter, der am Ende des Weges das halb verfallene Gartenhäuschen angemietet hatte, für ’nen Appel und ’n Ei. In einem Orchester spiele der, vielleicht sogar in Hamburg. Sein Getröte und Geschmettere mache alle Vögel kirre.

Lisa hörte zu, kerzengerade sitzend, mit einem leicht ironischen Lächeln um den Mund. Auf sie war Verlass. Auch wenn es darum ging, die aufgekratzte Schwester zu zähmen, die den Abendbrottisch mit ihren Kindergartengeschichten in Beschlag nahm, jede Redepause nutzte, die Papa Karl machte. Schon gut, Anika. Sie legte die Hand auf den Arm ihrer Schwester, erntete dankbare Blicke der Eltern. Die Schwester beruhigte sich, mümmelte weiter an ihrer Graubrotscheibe, von der Käsekrümel auf den Fliesenboden fielen. Sie würden zwei Leben lang zusammenhalten. Fast. Erst als alles zusammenbrach, ging Anika auf Distanz, konnte nicht anders. Schwesterlein, warum lässt du mich allein?

Sie half beim Abwasch, fuhr mit dem feuchten Lappen über die Wachstuchtischdecke und warf einen Blick auf das Fernsehgerät, das den Reiz des Neuen noch nicht verloren hatte. Tagesschau. Papa Karl legte die Füße hoch. Sie gab ihm einen Kuss auf die stopplige Wange. Er tat überrascht. Sie vergewisserte sich, dass ihre Schwester mit dem Baukasten beschäftigt war, und witschte mit einem »Ich geh noch mal runter« aus der Tür. Mama Elisabeths »Pass auf, Kind« bekam sie gerade noch mit. Aber das bedeutete nichts. Nie sagte sie einen anderen Satz, wenn sich Lisa davonmachte.

2

Da schlug sie als Fünfjährige oder als Achtjährige das Gartentor so kräftig zu, dass die beiden Flügel nachbebten. Sie pfiff auf zwei Fingern, drei Mal, das Zeichen für Rolf-Dieter, auf schnellstem Weg nachzukommen. Sie sprang voraus, bei Krögers dauerte es meistens länger, weil es Nachtisch gab, Kompott. Abends. Am Ende des Zufahrtsweges bog sie rechts ab. Sie grüßte die wenigen Nachbarn, die sich um diese Uhrzeit draußen zu schaffen machten. Am Kiosk an der Straßenbiegung blieb sie stehen, wartete auf Rolf-Dieter, Steinchen in die Wiese kickend, auf der eine Mähre von Bauer Redecker verloren den Kopf senkte.

Die Holzläden waren verschlossen. Nur am Wochenende öffnete der Schleckikönig seinen Laden, verkaufte Kaffee und Bockwurst an Spaziergänger und Sportler. Ein Geschäft, sagte Papa Karl, sei damit nicht zu machen, mit den paar Städtern, die Bootsausflüge unternahmen und neuerdings die Natur suchten.

Lisa liebte den Kioskmann. In gut verschraubten Glasbehältern, zwei Dutzend mindestens, verwahrte er Süßigkeiten, die er als gemischte Tüte für fünfzig Pfennig anbot. Jedes Kind durfte seine Auswahl selbst zusammenstellen, abwägen, ordern, sich umentscheiden und neu ordern. Brausetabletten, Lollis, Weingummis, Colafläschchen, Lakritzschnecken. Das dauerte, sodass sich an freundlichen Sonntagen Schlangen unschlüssiger Kinder bildeten. Lisa sparte jedes Zehn-Pfennig-Stück auf, bis es für eine Tüte reichte. Die Frau des Kioskmanns war selten zu sehen.

Wenn sie als Dreißigjährige oder als Vierzigjährige zu Besuch bei ihren Eltern war, suchte sie vergeblich nach dem Schleckikönig. Seinen Kiosk gab es nicht mehr, abgerissen hatte man ihn, um Parkplätze zu schaffen. Irgendwas, hieß es, habe er sich zuschulden kommen lassen. Was, sagte niemand. Papa Karl wich Nachfragen aus, Mutter Elisabeth wischte sie mit einem »Das geht uns nichts an« beiseite. Die Frau des Schleckikönigs, die keiner Schleckikönigin nannte, arbeite inzwischen als Aushilfe in einem Friseurgeschäft in Schleswig, sagte man.

Endlich kam Rolf-Dieter, unerträglich langsam, wie Lisa fand. Sie boxte ihn in die Rippen, schimpfte, er suchte mit der Zunge nach Kompottresten zwischen seinen Zähnen, Pflaumenschalen vielleicht, lachte sie an.

Sie redeten nicht viel, nahmen den sanft absteigenden, seit Kurzem asphaltierten Weg zur Schlei. Die Wolken standen hoch, bildeten, vom Wind getrieben, wunderliche Gebilde. Siehst du die Kuh da oben? Sogar mit Euter. Sie streckte den Zeigefinger himmelwärts. Rolf-Dieter nickte. Er war anderthalb Jahre älter als sie, beugte sich ihr aber klaglos. Jungen in ihrem Alter fand sie bescheuert. Gib dir also Mühe, hatte sie zu Rolf-Dieter gesagt. Nur weil du unser Nachbar bist, muss ich dich nicht für was Besonderes halten.

Sie setzten sich auf einen Stein am Ufer, ihren Familienstein, um den herum sie im Sommer oft saßen. Ein Paar, das spazieren ging, ein Fischer, der ein Boot an Land zog. Mehr nicht. Im Sommer wagten sich Fremde aufs Wasser, alles Hamburger, sagte Papa Karl. In funkelnagelneuen Kanus wie aus den Lederstrumpf-Filmen. Eine Familie war im letzten Sommer gekentert, hatte um ihr Leben geschrien, bis zwei Fischer zupackten und das Kanu drehten. So schnell säuft man in der Schlei nicht ab.

Rolf-Dieter erzählte von einem Schulaufsatz, den er nächste Woche schreiben musste. Wie die Wikinger lebten. Woher er das wissen solle. Sie hörte ihm zu, aufmerksam und abwesend. Eine Mischung, die Mama Elisabeth in Rage brachte. Nie weiß man, ob du einen verstanden hast. Meinst du, wegen dir sage ich alles zweimal? Sie schüttelte ihr schwarzes Haar, sah an Rolf-Dieter vorbei zum gegenüberliegenden Ufer. Bis dahin schwimmen war leicht. Und von den Eltern verboten. Rolf-Dieter klagte über seine Lehrerin, eine Brillenschlange, die sich über die Schmutzränder unter seinen Fingernägeln lustig machte. Trauerränder. Wie ein Bergmann aus dem Ruhrgebiet.

Komm, lass uns weitergehen, ich brauche einen großen Stock.

Sie liebte die Schlei, die weder Fluss noch Meer war. Als Fünfjährige, als Achtjährige, als Zwölfjährige, als Fünfzehnjährige. Wenn sie wütend war oder traurig, wenn sie das Alleinsein brauchte, ging sie ans Wasser, suchte nach Treibgut, lief den schmalen Strandstreifen entlang bis zum Wald. Wenn sie dann immer noch wütend war oder traurig, rannte sie weiter bis nach Missunde. Im Frühjahr, Sommer, bis in den Herbst hinein badete sie in der Schlei, prüfte den Salzgehalt mit der Zunge und tauchte den Kopf unter. Sie krähte vor Freude, patschte mit den Händen aufs Wasser.

Sie blieben, bis die Sonne unterging. Länger war nicht erlaubt. Sie gab Rolf-Dieter vor dem Gartentor die Hand. Viel Spaß mit den Wikingern. Sie trödelte, setzte sich auf die Schaukel, die an den hohen Ästen einer Buche festgezurrt war. Sie schwang hoch hinaus, noch ein Stück weiter und noch eins. Sie mochte den Kitzel. Was, wenn die Verankerung nicht hielt, wenn ein Ast brach?

3

Der Holztisch mit der wurmstichigen Bank war ihr Reich, hinter dem Haus, vom Weg nicht einzusehen, überwuchert von einem Rosenstrauch, der nicht mehr viele Winter überstehen würde. Dahin zog sie sich zurück, als Zwölfjährige oder als Vierzehnjährige, wenn sie nachmittags aus Eckernförde zurückkam. Vom Gymnasium. Papa Karl hatte ihr über das lange schwarze Haar gestrichen und sie umarmt, als der Schulwechsel feststand. Als wäre das bei ihnen üblich gewesen. Sie mochte seine Nähe, mochte den ledrigen Geruch des Rasierwassers und seinen rauen Bart. Ungeduldig machte er sich morgens mit dem neuen Elektrorasierer zu schaffen. Nennst du das sauber rasiert?, fragte Mama Elisabeth beim Frühstück, ohne eine Antwort zu erwarten. Deine Kunden werden sich ihren Teil denken.

Lisa geht nach dem Sommer aufs Gymnasium, eine Nachricht, die Eindruck machte. Sie hatte sich in der Volksschule leichtgetan, ohne sonderlich aufzufallen. Lisa-Marie nimmt aufmerksam am Unterricht teil. Im Mündlichen könnte sie lebhafter sein. Sie ist freundlich, zurückhaltend und hilfsbereit gegenüber ihren Mitschülern. Sie saß in der vorletzten Reihe, ganz außen, neben der Korkwand, an der Schülerzeichnungen hingen.

Heimatkunde und Deutsch waren ihre Lieblingsfächer. Ihre Handschrift sorgte für Kopfschütteln. Lisa, du brauchst nicht so groß zu schreiben, dass alles aus fünf Metern Entfernung zu lesen ist. Ihre Banknachbarin war dankbar dafür. Sie machte gern schwungvolle, ausladende Bögen; für das Wort »Heimatkunde« auf dem Heftumschlag reichte ihr eine Zeile nicht. Sie nahm den Tadel hin, änderte nichts an ihrer Schrift. Ohne Mühe fand sie sich an der neuen Schule zurecht. Mit dem Fahrrad legte sie Tag für Tag die Strecke zurück, fast zwölf Kilometer immerhin.

Eckernförde, das war beinahe Stadt. Eckernförde, das waren Kinder, die sie nicht kannte. Zum ersten Mal blickte sie über ihr Dorf hinaus. Anika weinte, als wäre ihre Schwester aus der Welt. Papa Karl zeigte seinen Stolz, während Mama Elisabeth die Dinge nüchtern einschätzte. Musst dich anstrengen, Lisa, wir können dir da nicht bei helfen.

Am schattigen Holztisch machte sie ihre Schularbeiten. Selbst wenn erste Stürme den Herbst ankündigten, saß sie draußen. Neben Mama Elisabeths Gemüsebeeten, den Tomatenstauden, dem Kräutergärtlein. Bald sind wir Selbstversorger. Sie bestimmte, wann es zu kalt für draußen war. Von ihrem Platz aus sah sie das Vogelhaus, das sie alle paar Tage mit Nüssen und Körnern auffüllte, sah die Nachbarskatze, die nur daran zu denken schien, sich einen der Vögel zu schnappen, und das Kaminholz, das sich akkurat unter dem Vordach stapelte. Als Zwölfjährige oder als Vierzehnjährige begann sie Kaffee zu trinken, während sie Vektorrechnung und Reibungsenergie zu begreifen versuchte. Niemand musste sie zum Lernen anhalten, sie beschränkte sich auf das, was ihr notwendig erschien.

Dieser Platz war ihr Platz. Anika traute sich nicht, sie zu stören. Der späte Nachmittag gehörte ihr, seit Mama Elisabeth halbtags in einem Pflanzenmarkt arbeitete, an der Kasse. An heißen Tagen klappte sie die Schulhefte bald zu, holte ihr Rad aus dem Schuppen und fuhr die Straße hinauf bis zum Langsee. Ein privates Gewässer ohne ausgewiesene Badestelle, am Ufer standen seit Kurzem elegante Bungalows mit hölzernen Stegen, bewohnt von Städtern, die am Wochenende herkamen, als Erstes ihren Rasen mähten, sich ansonsten selten zeigten.

Sie schlug sich durch die Sträucher und Zweige, die den Pfad überwucherten. Unten ein Stück Wiese, Felsbrocken und Äste, an denen sie ihre Kleider aufhängte. Sie konnte es kaum erwarten, über die glitschigen Steine ins Wasser zu gelangen. Als Zwölfjährige machte sie keine Umstände und sprang nackt in den See. Als Vierzehnjährige zog sie ihren gepunkteten Bikini an, den ihr die Patentante aus Stade zum Geburtstag geschenkt hatte. Ein unmögliches Teil, wie Mama Elisabeth schimpfte, das viel zu viel von ihren schnell gewachsenen Brüsten freigab. Papa Karl sagte nichts, wunderte sich, wie groß seine Tochter geworden war.

Sie reagierte nicht, zog den Bikini an. Mit einer Pubertierenden, die ständig Widerworte gab, wäre Mama Elisabeth wohl besser zurechtgekommen. Wenn man nur wüsste, woran man mit dir ist. Lisa schwieg weiter und nahm sie in den Arm, ein paar Sekunden lang.

Sie holte weit aus, schwamm zügig hinaus, mit hoch erhobenem Kopf. Die Haare sollten nichts abbekommen. Abstand gewinnen zum Ufer, in die Mitte gelangen, sich umschauen. Auf andere Schwimmer traf sie fast nur am Wochenende. Oder wenn Inger die gleiche Idee hatte und ein Bad den Schulaufgaben vorzog. Inger, ihre Freundin oder zumindest das Mädchen, mit dem sie nie Probleme hatte. Inger, die Tochter des Gastwirts, die nur redete, wenn sie etwas zu sagen hatte. Inger, die die halb volle Zigarettenschachtel ihres Vaters mit an den See brachte. Die Kippen vergruben sie im Wald.

Frei fühlte sie sich als Vierzehnjährige, wenn sie die Augen schloss, das Wasser um ihren Körper strich. Sie schwamm zu einem der Stege, dessen Planken nach frischem Holz rochen, zog sich hoch, spähte nach oben zum Bungalow, dessen Rollläden heruntergelassen waren, und blinzelte in die Sonne. Sie atmete kaum, stützte sich mit den Ellbogen auf und legte ein Bein übers andere. Langsam strich sie mit den Fingerspitzen über ihre Brüste, den kühlen Bauch und die Schenkel. Sie erstastete ihren Körper, der sich so verändert hatte, wollte herausfinden, wo sich die Haut am zartesten anfühlte.

Für den Heimweg setzte sie ihre Sonnenbrille auf, ein Modell mit tropfenförmigen Gläsern. Kilometerweit fuhr sie zurück, wenn sie die einmal vergessen hatte. Die genau gewählten Augenblicke, wenn sie die teure Brille aufsetzte oder sich ins Haar steckte. Sich hinter den dunklen Gläsern verstecken … bis sie sich, wenn ihr danach war, plötzlich anders entschied und ihr Gesicht wieder zeigte.

Sie schwamm gern, für ihr Leben gern. Nicht um Strecke zu machen. Nie würde sie an einem Ort leben wollen, der fernab von Wasser lag. Ein Flusslauf, ein See, eine Küste, das brauchte sie, und das wusste sie, als Zwölfjährige oder als Vierzehnjährige.

Noch einmal sprang sie ins Wasser, schwamm fast bis zum anderen Ufer, ehe sie langsam zurückkehrte und sich umzog. Ihre Haut fühlte sich angenehm an. Gleich würde sie zurückradeln, gerade noch rechtzeitig, um vor Mama Elisabeth zu Hause zu sein. Sie würde kaum etwas essen, eine Schale Milch mit Erdbeeren vielleicht, die Unterhaltung ihrer Schwester überlassen und sich, sobald der Fernseher lief, auf ihr Zimmer zurückziehen. Seit das Dach ausgebaut war, besaß sie endlich ein eigenes. Sie würde Musik hören, Joni Mitchell oder Leonard Cohen, lesen und warten, auf etwas, von dem sie nicht wusste, was es war.

4

Es wurde abends später und später, vor allem am Wochenende, zu spät, fanden ihre Eltern. Ich fahr noch mal los, rief sie in die Küche oder ins Wohnzimmer, ohne eine Antwort abzuwarten. Als Fünfzehnjährige oder als Sechzehnjährige fing sie an, eigene Wege zu gehen. Den Abend mit Mama Elisabeth auf dem Sofa zu verbringen, zu stricken oder zu nähen, das hatte sie lange genug gemacht. Mit Erfolg, sie lernte schnell, stellte sich geschickt an und verstand es bald, sogar leichte Sommerkleider zu nähen. Schneiderin, das wär ein Beruf für dich, sagte Mama Elisabeth, doch Lisa sah ihr an, dass sie diesen Gedanken selbst nicht ernst nahm. Lisas Augenbrauen schnellten in die Höhe, sie lächelte, dachte nicht daran, empört zu widersprechen.

Das war ihr Haus, ihr Garten, und sie würde immer wieder an die Schlei zurückkehren, doch sie wusste, dass sie all das nach dem Abitur zurücklassen musste, zumindest eine Zeit lang. Sie spürte ihr Herz, wie es sich zusammenzog, wenn die Eltern gegen halb elf zu gähnen begannen und sich auf ihr Bett freuten. So leben wollte sie nicht.

Ich fahr noch mal los. Am Freitag und Samstag, manchmal mittwochs. Als Vierzehnjährige ging sie mit den anderen zur Tanzschule nach Schleswig, lustlos eher. So aber kam sie einmal die Woche aus dem Haus – oder zweimal, wenn am Samstag Party war. Sie boykottierte den Abschlussball, versetzte den Lehrersohn, der die Augen und die Finger nicht von ihr lassen konnte. Bist du sicher?, flüsterte sie ihm ins Ohr, als er bei Seasons in the Sun das schummrige Licht ausnutzte und ihr mit seinen fahrigen Händen über den Hintern streichen wollte. Sie spürte seinen Atem, der weder gut noch schlecht roch, an ihrer Schulter. Sie wartete einige Takte ab, bis sie sich mit einem Ruck aus seiner Umarmung wand. Vergiss es, leck einer anderen den Hals.

Sie tanzte allein weiter, zu Kung Fu Fighting, machte sich nichts daraus, dass die anderen ihr nachblickten und den Lehrersohn bemitleideten. Sie brauchte niemanden, um zu tanzen. Sie bestimmte, wer ihr an den Hintern fasste. Dass der sich sehen lassen konnte, war ihr klar.

Als Fünfzehnjährige ließ sie sich nach Hause fahren, von einem, der einen roten Käfer fuhr, nicht mehr zur Schule ging und keine dummen Sprüche machte. Sie hatten ein Eis gegessen, bevor sie beschloss, mit ihm zu schlafen. Lass uns eine Runde drehen. Er zögerte, sah sie skeptisch an, sie wich seinem Blick nicht aus. Hast du keine Traute?

Sie fuhren Richtung Ostsee. Er kenne da ein ruhiges Plätzchen, am Strand zwischen Damp und Schönhagen, da sei um die Zeit nichts mehr los. Sie setzte die Sonnenbrille auf, verzog keine Miene, als er an roten Ampeln seine Hand auf ihren Oberschenkel legte. Er war nervös, sie nicht. Sie sagten kein Wort, bis er in einer versteckten Parkbucht anhielt. Ein Dünenpfad führte zu einem Strandstück, zwei Lachmöwen trippelten am Wassersaum, in der Ferne bellte ein Hund.

Er trat neben sie, fuhr mit seiner Linken durch ihr Haar, sie nahm die Sonnenbrille ab, sah ihn an, neugierig, mit einer Abwehr, die ein Hintertürchen offen ließ. Sie ließ sich küssen, wollte sehen, wie er sich dabei anstellte. Erste Kusserfahrungen hatte sie, fast alle enttäuschend. Es schien Jungen schwerzufallen, beim Küssen nur zu küssen. Das verstanden die wenigsten. Und wer nicht gut küsste, war chancenlos. Das dachte sie als Fünfzehnjährige, als Fünfundzwanzigjährige, als Fünfunddreißigjährige und als Fünfundvierzigjährige. Einer ihrer wenigen Grundsätze.

Als Fünfzehnjährige am Strand zwischen Damp und Schönhagen drückte sie ein Auge zu. Er schob ihr seine Zunge hastig in den Mund.

Immerhin hatte er scharf geschnittene Lippen. Der Junge am Strand, der fast schon ein Mann war, durfte sie in die Dünen ziehen, auf ein ausgespartes Sandstück, das gerade genug Platz bot. Sie nahm seit Kurzem die Pille, hatte Mama Elisabeth so eindringlich angesehen, dass keine Gegenrede kam und ihr tattriger Hausarzt das Rezept am nächsten Tag ausstellte. Du musst wissen, was du tust, pass aber auf.