Madame Cottard und die Furcht vor dem Glück - Rainer Moritz - E-Book

Madame Cottard und die Furcht vor dem Glück E-Book

Rainer Moritz

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Beschreibung

Eine charmante Liebesgeschichte zwischen Paris und der BretagneZeit für die Liebe, Sonne und die salzige Luft des Atlantiks – so hatte sich Nathalie ihre ersten Ferien mit Robert vorgestellt. Fühlen, ob das mit ihm Zukunft haben könnte. Doch dann ist schon die Gegenwart allzu rasch zu Ende: Robert muss beruflich zurück nach Paris. Ist ihm seine Arbeit wichtiger? Nathalie beginnt zu prüfen, wie groß ihre Sehnsucht nach ihm ist …

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ISBN 978-3-492-98184-2

© für diese Ausgabe: Fahrenheitbooks, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2014

© Piper Verlag GmbH, München 2011

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: © Masson/shutterstock.com

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2011

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Elle court elle court

La maladie d’amour

Dans le cœur des enfants

De sept à soixante-dix-sept ans

MICHEL SARDOU

EINS

Komm, lass uns Muscheln suchen! Die Frau im rot gepunkteten Badeanzug beugte sich hinunter, zu einem drei-, vielleicht vierjährigen Jungen, der zu weinen begann, als er sich mit dem Handrücken Sandkörner in die Augen rieb. Die Frau ließ den grünen Plastikeimer fallen, nahm das wimmernde Kind in die Arme und tröstete es mit sanfter Stimme.

Nathalie sah sich um, das Meer hatte sich weit zurückgezogen. Ein scharfer Wind blies ihr ins Gesicht, wechselte alle paar Minuten seine Richtung. Nur wenige Strandgänger trotzten der feuchtkalten Luft. Mutter und Kind schienen sich allein ans Meer aufgemacht zu haben. Ob es einen Mann, einen Vater dazu gab, einen, der lieber in der Ferienwohnung blieb, froh darüber, seine Ruhe zu haben? Geh nur mit ihm ein bisschen raus. Vielleicht komme ich nach. Seine Frau hatte gemerkt, dass es ihm zu eng geworden war, nach anderthalb Ferienwochen. Sie lenkte ein, zog dem Kind Matschhose und Gummistiefel an. Komm, wir suchen Muscheln. Papa ruht sich ein wenig aus.

Nathalie starrte die beiden an, sekundenlang. Die Frau sah auf, sah sie an, drückte ihren Jungen fester an sich. Mit einer ungelenken Geste der Entschuldigung drehte sich Nathalie um, ging weiter, dicht am Wassersaum, um den schwarzen Algenfäden auszuweichen, und blickte hinüber zu dem Parkplatz, wo sie ihren Leihwagen hatte stehen lassen. Sie kniff die Augen zu. Trippelte da ein Vogel am Felsenrand, oder täuschte sie sich? Sah sie schlechter als früher? Würde ihr eine Brille stehen? Mit ihrer Freundin Josette hatte sie vor ein paar Wochen ein Brillengeschäft in der Rue Montmartre heimgesucht, sich wahllos Gestelle auf die Nase gesetzt und Josette zu immer neuen Aufschreien genötigt. Eine strenge schwarze Brille, das passt am besten zu dir und deinen pechschwarzen Haaren! Zweifelnd hatte sich Nathalie im Spiegel betrachtet, nichts gegen ein Outfit, das vor plumpen Annäherungsversuchen schützte, aber sah sie mit der dunklen, rechteckigen Brille nicht wie eine frustrierte Lehrerin aus, die es längst aufgegeben hatte, an die Zukunft der Jugend zu glauben? Eilig hatte sie den Laden verlassen und das Problem vertagt.

Vermutlich lag es am Kreislauf, an ihren zitternden Knien, dass sie das Gefühl hatte, die Landschaft nur in unscharfen Umrissen zu sehen. Gleich nach Roberts Abschied war sie aus dem Hotel geflüchtet. Wie sollte sie es in dem freundlichen Zimmer aushalten? Unbeholfen über die weiß-blaue Bettwäsche mit den Segelschiffmotiven streichen und an die letzten Tage denken, an ihr bretonisches Experiment, diesen Versuchsballon, der geplatzt war, nach einem einzigen Telefonat, das Robert gezwungen hatte, seine Koffer zu packen und zurückzufahren?

Sie zog ihren Regenumhang fester um ihren Körper, blies Luft nach oben, ein Tick, der in Paris schnippisch gewirkt hätte, hier an der Küste aber wirkungslos verpuffte. Niemand interessierte sich für sie. Das Kind weinte nicht mehr, ein herrenloser Golden Retriever, der sich in ein angeschwemmtes Holzstück verbiss, zog die Aufmerksamkeit auf sich. Der Plastikeimer flog klappernd über den Sand, eine Bö wirbelte ihn umher. Die Frau wusste nicht, ob sie ihm hinterherlaufen oder sich um ihren Jungen kümmern sollte, der das Knurren des Hundes verfolgte und seine Fingerchen zur Faust ballte.

Nathalie biss sich auf die Lippen. Nicht einmal für einen Abschiedskuss, der diesen Namen verdiente, war Zeit geblieben. Von anderen Dingen ganz zu schweigen. Ja, verdammt, sie hatte sich schnell an ihn gewöhnt, an diese fast vergessene Erfahrung, gemeinsam den Urlaub zu verbringen mit einem nicht anstrengenden Mann, der ihr guttat und selbst morgens im Bad nicht im Weg stand. Geduldig wartete er im Bett, las und döste vor sich hin, bis sie sämtliche Verrichtungen erledigt hatte und sich zutraute, strahlend den Frühstücksraum zu betreten.

Anfangs war sie nervös gewesen, als sie ins Flugzeug nach Brest stiegen. Vor Kurzem waren sie nichts mehr als Wohnungsnachbarn gewesen, die sich auf der Straße kaum wiedererkannten, allenfalls zuvorkommend grüßten. Zwei Großstadtgewächse, die sich durch einen Wasserschaden, einen von Fortuna, Amor oder dem Ungeschick der Familie Duhamel hervorgerufenen Rohrbruch nähergekommen waren. Sie hatte keinen Gedanken daran verschwendet, ob sich dieser Nachbar, dieser Robert Bernthaler, als Rohrkrepierer erweisen könnte. Rohrbruch, Rohrkrepierer – Nathalie gluckste. Hier am Strand wunderte sich niemand über eine Frau, die sich mit Selbstgesprächen aufheiterte.

Eine Regenwand zog hinter der Steilklippe heran. Grauschwarze Wolkengebirge türmten sich auf, vom Wind vorangetrieben. Die letzten blauen Himmelsschnipsel verschwanden. Bald würde der nächste Regenguss niedergehen. Mit Robert hatten ihr die Schauer, ja selbst der anhaltende Nieselregen nichts ausgemacht. In dünnen Jacken hatten sie sich auf die Steinmauer des winzigen Hafens gesetzt, den Sardinen- und Austernfischern bei der Arbeit zugesehen. An Roberts Schulter gelehnt, hatte sie seine Hand in ihre genommen und kaum mehr von der Welt gewollt.

Jetzt fürchtete sie die Nässe. Sie würde umkehren. Ich bleibe noch ein paar Tage, mach dir keine Gedanken, so schön, wie es hier ist, hatte sie gesagt. Zu lesen habe ich genug dabei. Sich nichts anmerken lassen, ihn anlächeln, vorwerfen konnte sie ihm nichts, und ein schlechtes Gewissen sollte er nicht mit ins Flugzeug nehmen.

Es wäre ja zu einfach gewesen. Wenn man in ein gewisses Alter kam, ging nichts mehr von allein, alles wurde von Gedanken und Ängsten begleitet. Oder entwickelte sie sich allmählich zur Bedenkenträgerin, wie ihre Mutter, die schon in der Früh überlegte, mit welchen Handgriffen sie das Abendessen zubereiten würde? Dabei waren sie nach Crozon gefahren, um über all diese Hindernisse zu reden, über ihre bettlägerige Mutter, über seine Korkenfirma mit Umsatzeinbußen und Umstrukturierungsplänen. Sandburgen bauen, sich in die Bettlaken vergraben, Wein trinken, zappelnde Atlantikfische verzehren, gedünstet und gebraten, und sich keinen Augenblick langweilen. Und nun das.

Wie sollte sie es allein hier aushalten?

Sie stieg den Pfad vom Strand hinauf. Eine Handvoll Autos ließ den Parkplatz trostlos und verlassen erscheinen. Sie widerstand der Versuchung, sich Geschichten zu den Fahrzeughaltern auszudenken. Der Kombi gehörte sicher dem Hundebesitzer, doch was hatte es mit dem unförmigen Kasten mit Schweizer Kennzeichen auf sich, einem aufgebockten Geländewagen, wie ihn ältere Männer mit Basecap und Rückenbeschwerden fuhren? Der Beifahrersitz war nach vorne geklappt, drapiert mit einem lindgrünen Bikinioberteil, das feucht zu sein schien. Nathalie blieb stehen, musterte das Wageninnere. War da jemand schwimmen gegangen, bei diesem Wetter? Nathalie sah sich um, der Parkplatz war menschenleer, kein älterer Herr mit junger Geliebter im Bikinihöschen. Die ersten Regentropfen klatschten auf die Motorhaube. Sie stellte sich einen Streit zwischen Liebenden vor, eine Frau mit blonden Haaren, natürlich!, die ihren reichen Gönner im Streit verließ und darüber sogar ihr Bikinioberteil – keine Billigmarke, das sah man sofort – vergaß.

Nathalies Leihwagen hielt keine derartigen Überraschungen parat. Wie ein eingedelltes Ei sah es aus, dieses knallrote amerikanische Auto, das man ihr am Flughafen angedreht hatte. Gut, dass sie kaum Gepäck hatten. Ein windiges Gefährt, das im vierten Gang eigentümliche Geräusche von sich gab und wie eine Nähmaschine tuckerte. Nichts geht über eine Singer – Mamans Worte fielen ihr ein. Welchen Dienst hatte Isaac Singer der Menschheit erwiesen! Mutter, die wenig von ausländischen Fabrikaten hielt, machte bei seinen Nähmaschinen eine Ausnahme, pflegte und hegte das schwarze Stück. Wo mochte es geblieben sein? Auf dem Dachboden in Grenoble? Mit einem Schlag hatte Mutter vor ein paar Jahren ihr Interesse an Handarbeiten verloren. Für wen soll ich einen Pullover stricken oder ein Kleid nähen? Du trägst es ja ohnehin nicht, und ich alte Frau brauche nichts Neues mehr. Nathalie hatte pflichtschuldig widersprochen und insgeheim an die Pakete gedacht, die Maman bei einem Modeversand in Lyon orderte.

Das wenigstens habe ich diesem knatternden Wagen zu verdanken, dachte Nathalie, als sie losfuhr, ängstlich darauf bedacht, dem scharfkantigen Schotter auszuweichen, der sich kreuz und quer über den sandigen Parkplatz verteilte. Ein Leihauto, das mich an Mutters Nähmaschine erinnert … Robert hätte darüber mit ihr gelacht, von seinen Eltern erzählt. In Deutschland gab es keine Haushalte ohne Singer-Nähmaschinen, ganz bestimmt nicht.

ZWEI

Ja, ja, der Platz ist noch frei. Widerwillig räumte Robert seine Tasche beiseite, die er vorsorglich neben sich platziert hatte, um zusteigende Fahrgäste abzuschrecken. Nicht einmal, dass er beim Einlaufen in Straßburg die Augen geschlossen und tiefen Schlaf simuliert hatte, erwies sich als erfolgreiche Maßnahme. Die kräftige Dame machte einen so forschen Eindruck, dass er nicht wagte, ihr etwas von einem Platznachbarn vorzulügen, der nur kurz ins Bordbistro gegangen sei. Mit einem durchdringenden Stöhnen sank sie nieder, und Robert zog unwillkürlich die Beine an, drückte sich gegen das Zugfenster, als bestünde die Gefahr, dass ihr Körper auf seinen Sitz übergriffe. Das fehlte noch, eine Raum füllende Frau, die ihm ein Gespräch aufdrängte.

Er versuchte abweisend zu wirken, griff hastig nach der Zeitung, die er vor sich in die Netzablage gequetscht hatte. Eine Deutsche, das merkte er gleich, wahrscheinlich eine Schwäbin auf dem Weg zurück nach Stuttgart. Sie stöhnte erneut, leckte sich die Lippen, stand behäbig wieder auf, um sich ihres Mantels zu entledigen. Robert bemühte sich, ihren Kampf mit der Enge zu ignorieren, um ja nicht mit ihr sprechen zu müssen. Wie wenig Platz es in diesen TGVs gab. Es war ihm unbegreiflich, warum die Leute so große Stücke auf diese Züge hielten. Ja, gewiss, auch im ICE bedurfte es der Körperbeherrschung, um nicht permanent über Beine zu stolpern oder einen Rucksack ins Kreuz zu bekommen.

Seit ein paar Jahren trugen selbst Männer solche Teile, anstatt solide Reisetaschen mit sich zu führen. Rucksäcke, die man früher auf Almhüttenwanderungen mitgenommen hätte, galten mittlerweile als adäquates Reisegepäck. Ein Schmerz durchzuckte ihn, als hätte ihn der Bandscheibenvorfall, den er seit Jahren befürchtete, endlich ereilt. Er dachte an die Griechenlandreise, die er – mehr als zwei Jahrzehnte war das her – unternommen hatte, mit Gisela, einer Kurzzeitliebe im Studium. Von Stuttgart waren sie mit dem Zug nach Athen gefahren, unglaublich, über vierzig Stunden durch ganz Jugoslawien, mit gewaltigen Tramperrucksäcken, deren Gestelle sich in den Rücken bohrten, kaum dass man sie mühsam aufgesetzt hatte. Eine Isoliermatte, ein Schlafsack, eine Wasserflasche – ausgerüstet wie für einen Dschungelurlaub waren sie beide aufgebrochen, erst nach Santorin, dann hinunter nach Kreta. Insgeheim hatte er sich damals nach einem Koffer gesehnt, einem weniger abenteuerlichen Urlaub. Doch Gisela hatte Einwände nicht gelten lassen, ihn angesteckt mit ihrem Erlebnishunger. Auf der Fähre, einem klapprigen Ding, das besser auf einen kasachischen Baggersee als aufs Mittelmeer gepasst hätte, war sie mit jedem ins Gespräch gekommen, hatte Bekanntschaften gemacht, Telefonnummern ausgetauscht. War ihm schon bei der Ankunft auf Santorin klar gewesen, dass Gisela die Falsche war? Mühsam folgte er ihr, als sie sich von fremden Männern, die ihr sofort zu nah kamen, am Hafen ansprechen ließ. »Rooms«, »cheap rooms« – aus zig Mündern schallten die Rufe über die Promenade. Einheimische hielten Pappen hoch, auf denen unscharfe Farbfotos der Herberge klebten, ein Lockmittel sollte das wohl sein. Wahrscheinlich lachten die sich schief über die Rucksacktouristen. Wenn die wenig Geld ausgaben, musste man sie wenigstens bei den Hotelzimmern bluten lassen. Gisela hatte das Heft in die Hand genommen, alles wahnsinnig aufregend und ursprünglich gefunden. Riech doch mal die Tomaten und den Schafskäse. Er tat wie befohlen und lobte alles. Warum hatte er dem Reiseziel überhaupt zugestimmt? Ein einziger Irrtum, den beide auf der Rückfahrt im Zug, vierzig Stunden zum Zweiten!, einzusehen begannen, obwohl er nicht als spießig gelten wollte. Heute konnte er sich kaum noch an Giselas Gesichtszüge erinnern, gehört hatte er nie mehr von ihr, sie hatte ihn sicher vergessen. Das Trampergestell hatte er bald danach einem Kommilitonen verkauft.

Ob er auf dem Heimweg sei ins Schwabenländle. Sie sprach ihn an, alles hatte nichts genutzt. Breit lächelnd wandte sich seine Sitznachbarin ihm zu, nachdem ihr es in mehreren Anläufen gelungen war, ihren Mantel zu verstauen. Als sie versuchte, ihn auf der Gepäckablage unterzubringen, streckte sie sich, und ihr grüner Pullover mit Rautenmuster, sicher eine Kunstfaser, die die Transpiration förderte, schob sich nach oben. Eine gut gepolsterte, hellrosa Hautfalte blitzte auf, für ein paar Schrecksekunden, er wandte sich ab, unfähig, diesen Anblick zu ertragen.

Ja, er sei unterwegs nach Stuttgart beziehungsweise Reutlingen. »Schwabenländle«, was für ein peinigender Ausdruck. Er legte seit jeher Wert auf ein halbwegs korrektes Hochdeutsch, auch wenn er damit in der Schule angeeckt war. Ob er etwas Besseres sein wolle, weil er nicht wie seine Eltern unverstelltes Schwäbisch spreche, war er oft gefragt worden. Seine knappen Antworten trugen nicht zum Verstummen seiner Nachbarin bei. Sie holte aus, berichtete von einer Schulfreundin, die in einem Vorort von Paris wohne. Ob er die Stadt kenne, ein Moloch sei das, nicht zu vergleichen mit Degerloch, wo sie lebe. Er schüttelte den Kopf. Nein, nein, Paris sei ihm fremd. Wohin würde es führen, wenn er zugab, dort zu arbeiten und zu wohnen? Zufällig sei er in Paris gewesen, geschäftlich. Ach, Sie Glücklicher, sie berichtete vom Eiffelturm, vom Louvre und vom Centre Pompadour – Robert zuckte zusammen – und von allem, was sie in den vergangenen vier Tagen gesehen hatte. Er sehnte den Schaffner herbei, irgendeine Ablenkung. Brezelverkäufer gab es in TGVs nicht. Er antwortete einsilbig, versuchte ihr durch Verweigerung die Freude am Reden zu nehmen, dachte verzweifelt an Nathalie.

Warum nur konnte er nicht in Crozon bleiben? Wie leicht es ihm gefallen war, die Zeit mit Nathalie zu verbringen, ein Doppelzimmer zu teilen, einzuschlafen neben ihr, ohne die Furcht, sie durch ein Schnarchen aufzuschrecken und schlagartig in ihrer Gunst zu sinken. Sie hatten wenig unternommen, nicht einmal mit dem Boot hinüber nach Brest waren sie gefahren. Zwei-, dreimal an den Strand nach Morgat, über den Markt von Crozon schlendern, dem Schlagen der Turmglocken zuhören, die in ihren weißen Plastikschüsseln sich bewegenden Krebse studieren und in Cafés einkehren, Nathalie dabei beobachten, wie sie ihre Sonnenbrille ins Haar zurückschob, am Nachmittag überlegen, ob es für einen Crémant zu früh sein könnte, die Frage überzeugend verneinen, sich ins Hotel zurückziehen und übereinander herfallen, auf dünne Zimmerwände keine Rücksicht nehmen und nachher mit unbekümmerter Miene, mit triumphierendem Blick hinunter ins Restaurant gehen. Das hätte lange so weitergehen können.

Robert schloss die Augen. Die Frau neben ihm kramte eine Frauenzeitschrift aus ihrer Handtasche und schien sich über jeden Kilometer zu freuen, der sie Degerloch näher brachte.

In anderthalb Stunden würde er in Stuttgart ankommen. Was für ein hastiger Ortswechsel. Nathalie hatte so getan, als würde sie die kommenden Tage auch ohne ihn genießen, sich zu einem Lachen gezwungen und von den gut aussehenden, kräftigen Fischern in Le Fret gesprochen. Wahrscheinlich würde sie am nächsten Tag zurückfliegen, in ihr Übergangsdomizil zurückkehren, auf die Behebung des Wasserschadens in ihrer Wohnung warten und auf das, was er an Neuigkeiten aus Reutlingen mitteilen würde.

Robert suchte nach einer Möglichkeit, seinen Sitz in eine andere Position zu bringen. Er betätigte die Druckknöpfe an der Armlehne, unauffällig, um nicht die Aufmerksamkeit seiner Nachbarin auf sich zu ziehen. Nichts tat sich. Oder ließ sich damit die Radioanlage bedienen oder die Lüftung? Gab es in einem Zug überhaupt eine regulierbare Luftzufuhr, oder hatte man so etwas nur in Flugzeugen? Er seufzte. Mit irgendeinem dämlichen Hebel musste sich dieser neumodische Sitz doch verstellen lassen. Wenn nicht, würde er heute Abend wieder sein gläsernes Kreuz spüren, diesen Schwachpunkt seines Körpers. Schon jetzt meinte er, ein Zucken wahrzunehmen, als säße die Wirbelsäule nicht richtig auf, als könnte sie aus ihrer Verankerung rutschen.

Colombiers Anruf gestern hatte ihn aus allen Wolken fallen, die Vorstellung eines bretonischen Kennenlernurlaubs platzen lassen. Gewohnheitsmäßig hatte er abends sein Mobiltelefon eingeschaltet, ohne irgendwelche Nachrichten zu erwarten. Dass die Firma das dringende Bedürfnis hatte, mit ihm zu sprechen, war unwahrscheinlich. Er hatte, wie es seine Art war, vor dem Abflug alles vorbereitet, sich mit dem Personalchef über die anstehende Umstrukturierung und seine mögliche Rückkehr ins Reutlinger Stammhaus ausgetauscht und mit seiner Mitarbeiterin Sylviane das Meeting übernächste Woche vorbereitet. Ein neues Verkaufsmodell sollte präsentiert werden, mit erweiterter Produktpalette, die weitere Alternativen zum Naturkorken aufweisen würde. Nichts stand an, weshalb man ihn in der Bretagne hätte aufschrecken müssen. Colombier hatte sich kurz gefasst, er schien zu den Männern zu gehören, die mit leichter Unsicherheit auf Mailboxen sprachen, ihre Sätze langsamer als sonst formulierten und nicht recht wussten, wie sie ihre Nachricht beenden sollten. Immerhin noch besser als seine Mutter, die ihm nie auf den Anrufbeantworter sprach, trotzig auflegte und sich hinterher bei ihm beschwerte, dass sie wieder von einer Maschine abgefertigt worden sei.

Sülzer, der alte Sülzer, sei vor wenigen Stunden verstorben, ein herber Verlust, an einem überraschenden Herzanfall, den er vor dem Fernsehschirm erlitten habe, nach einer Volksmusiksendung, wie Colombier merkwürdigerweise betonte, als sei es außergewöhnlich, derart auf Bergwiesengesang und Alphörner zu reagieren. Obwohl man Sülzer sofort in ein Krankenhaus nach Reutlingen gebracht habe, sei jede Hilfe zu spät gekommen. Er, Bernthaler, möge bitte umgehend zurückkehren, die leitenden Angestellten auch der Pariser Dépendance sollten alsbald am Stammsitz zusammenkommen, um die Folgen zu erörtern. Bernthaler wisse ja um den Ernst der Lage, und der Tod des Eigners, nicht vorstellbar … Colombiers Sätze waren kaum mehr zu verstehen, er nuschelte vor sich hin, bis die Nachricht abrupt endete.

Robert hatte sein Mobiltelefon angestarrt, sank auf den weiß-blauen Sessel im Hotelzimmer nieder und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Wie alt mochte Sülzer senior gewesen sein? Anfang siebzig vielleicht, was man ihm nicht ansah. Oft war ihm Robert nicht begegnet, einmal hatte er ihn im Wagen abgeholt, in Neuffen, wo Sülzer mit seiner Frau seit Jahr und Tag in einer gelben Jugendstilvilla wohnte, ein nicht zu protziges Anwesen, das einem schwäbischen Unternehmer gut zu Gesicht stand. Robert hatte zu verbergen versucht, wie ihm das Haus, das mit knorrigen Obstbäumen bestandene riesige Grundstück, gefiel. Tu so, als seist du es gewöhnt, Nobelvillen zu betreten. Sülzer hatte kaum mit ihm geredet, sich erst im Wagen über neu einzuschlagende Vertriebswege ereifert, mehr mit sich als mit Robert gesprochen. Mit seinem wettergegerbten Gesicht, seinem grau melierten Haar und seinem gepflegten Honoratiorenschwäbisch hätte Sülzer in jeder Familienserie die Hauptrolle als unnachgiebiger Patriarch übernehmen können.

Er hatte die Firma gut geführt, in den über zehn Jahren, die Robert für Sülzer arbeitete, es hatte ihn beeindruckt, wie dieser alte Herr die Geschicke lenkte, wie er die Geschäfte ausgeweitet und sich sogar vom französischen Markt eine Scheibe abgeschnitten hatte. Korken wird es immer geben, hatte er seinen Mitarbeitern eingeschärft, doch ob die Kunststoff-, Glas- oder Schraubverschlüsse das Rennen machten, werde man sehen. Wichtig sei, dass Korken Sülzer nicht den Kürzeren ziehe. Für eine Naturkorkennostalgie spräche nicht viel, aber man dürfe das Traditionsbewusstsein der Weinliebhaber nicht unterschätzen. Robert hatte zugestimmt, ohne Überschwang, und sich an die Anekdoten erinnert, die über den vierschrötigen Sülzer kursierten. Wie er die Korkenproduzenten in Portugal persönlich zur Eile angetrieben habe, ihnen die Notwendigkeit, die Mittagspausen abzukürzen, darlegte, und wie er mit Vorliebe seine Nase in frisch eingetroffene Korkenlieferungen vergrub, um den Schadstoffen sofort auf die Schliche zu kommen.

Jetzt war Sülzer tot, ohne Ankündigung gestorben, einfach so. Für eine vernünftige Nachfolge hatte er, soweit Robert wusste, nicht gesorgt. Der Sohn hatte nie Neigung gezeigt, in die Firma einzusteigen, stattdessen Jura studiert und die Richterlaufbahn eingeschlagen. Ob es auf die Übernahme durch einen der französischen Konkurrenten hinausliefe? Robert hatte keine Ahnung. Vermutlich würde sich das schneller entscheiden, als er dachte.

Haben Sie gar keine Stärkung dabei? Nach diesem ständigen Weißbrot – um diese Baguettestangen werde viel zu viel Aufhebens gemacht – könne sie es kaum erwarten, in ein kräftiges Dinkelkornbrot zu beißen. Robert sah verwirrt zur Seite, auf eine blaue Plastikbox mit belegten Broten und zwei Radieschen. Belegte Brote, wie zu seiner Schulzeit, Pausenbrote mit hellrosa Schinken, der aus den Brotscheiben lappte und an den Ecken vor sich hin trocknete. Nein, nein, danke, ich möchte nichts, wenn ich unterwegs bin, nehme ich nie etwas zu mir, mein Magen, Sie verstehen, mein Magen ist nervös, leicht reizbar. Mitleidig blickte ihn die füllige Degerlocherin an, dachte sich mit Sicherheit ihren Teil. Reizbarer Magen, so einer käme ihr nicht ins Haus.

DREI

Nein, Josette, es ist alles in Ordnung. Robert kann ja nichts dafür. Sie zog an ihrer Zigarette, blies den Rauch auf die Rue Caulaincourt.

Alles in Ordnung? Interessant … Josette schob ihren Haarreif zurecht und schien ihrer Freundin kein Wort zu glauben. Sie nippte an ihrer Limonade und musterte die Klientel, die hier im »Café Francœur« verkehrte, modisch gekleidete junge Menschen, die laut lachten, dazu eine Handvoll erschöpfter Touristen. Eine Goldgrube, offensichtlich. Bist du öfter hier, Nathalie? Nein, überhaupt nicht, lange existiert dieses Café noch nicht. Früher gab es hier einen irischen Pub, eine versiffte Bude, mit roter Holzverschalung und gutem Bier. Da habe ich mal mit Kolleginnen ein Fußballspiel angeschaut. Weltmeisterschaft, glaube ich, als Frankreich gegen den Senegal verlor, Weltuntergangsstimmung herrschte damals am Tresen, die paar Schwarzafrikaner trauten ihren Augen nicht und freuten sich nur ganz still. Seitdem bin ich nicht mehr hier gewesen, bis sie das Café völlig umgebaut haben, vor einem Jahr ungefähr, im Retrostil, schau dich nur um, wahrscheinlich sehen in New York alle französischen Lokale so aus. Drüben im »Francis« fühle ich mich wohler, aber jetzt sitzen wir schon hier. Was macht dein erfolgreicher Mann?

Josette schnaubte. Er wird noch erfolgreicher, von Tag zu Tag, scheint den Hals mit seinen Immobilien nicht voll genug zu bekommen. Aber du solltest ihm dankbar sein. Deine Bleibe in der Rue Girardon ist gar nicht übel, oder? Oh, ja, erwiderte Nathalie und zündete sich eine neue Zigarette an. Und es sieht sogar so aus, als könnte ich in absehbarer Zeit zurück in die alte Wohnung. Madame Soares – du hast sie mal kennengelernt, unsere Bilderbuchconcierge? – hat mich gestern beiseitegenommen und mir zugeraunt, dass sie die Handwerker auf Trab gebracht habe während meiner Abwesenheit. Eine unzuverlässige, arbeitsscheue Bande, aber nicht mit ihr! Anscheinend hat man die Ursache des Wasserschadens gefunden, jetzt müssen die Wände trocknen und neu gestrichen werden. Riechen tut es im Moment wie in einem Abwasserkanal. Nathalie drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. Und natürlich wollte Madame Soares wissen, wo ich gewesen sei und mit wem. Das mit Robert hat sie ja mitbekommen. Wollten Sie nicht länger bleiben?, hat sie mich gefragt, mit einem süßsauren Lächeln, das auf die nächste Sensation lauerte. Ich habe sie stehen lassen und bin aus dem Haus gerannt.

Nathalie fuhr sich mit dem Handrücken übers Gesicht, begann zu schluchzen und von ihrer abgebrochenen Ferienreise zu erzählen. Ich habe Angst, Josette, ich will nicht, dass alles zu Ende ist, bevor es angefangen hat. Es war so entspannt in der Bretagne. Ich habe tagelang kaum an meine Mutter gedacht, ja, das klingt herzlos, ich weiß, aber wir sind ja ans Meer gefahren, um uns den Kopf durchpusten zu lassen und zu überlegen, was wir mit diesem neuen, frischen Leben anfangen sollen. Robert hat auch Probleme, wer weiß, ob er in Paris bleiben darf. Und dann dieser blöde Anruf von seiner Firma. Der Seniorchef in Deutschland ist gestorben, ich habe nicht verstanden, was das für Konsequenzen haben wird, für Bouchons Sulzer und für Robert persönlich. Versprichst du mir, dass du nur Weine mit Naturkorken kaufst, ja? Und wenn einer von den Weinen mal ranzig oder muffig schmeckt, dann lass dir nichts anmerken. Die bei Sulzer haben den Trend irgendwie verschlafen, ich weiß nicht. Und was, Josette, wenn ich hier alles aufgeben, nach Grenoble ziehen und Mutter pflegen muss?

Noch einen Kaffee für Sie, Madame? Die blonde Kellnerin strahlte sie an, ihr Shirt saß zu eng, und die Oberarme hätten zu einer Langstreckenschwimmerin gepasst. Offensichtlich hatten sich alle Bedienungen im »Café Francœur« für zwei Nummern zu kleine Oberteile entschieden und einen Charmeoffensivkurs besucht, wie ihre Kolleginnen in New York vermutlich. Drüben im »Francis« wurde man rustikaler behandelt, freundlich, aber nicht mit dieser antrainierten Zuvorkommenheit. Nathalie knurrte zurück. Sie sehen doch, dass ich noch nicht fertig bin. Josette schaute ihre Freundin verblüfft an, wartete darauf, dass sie zur nächsten Zigarette griff. Hat es dir in deinem La Fratte oder wie das Nest hieß wirklich gefallen, meine Süße? Ich weiß, warum ich mit meinem Mann nie in Urlaub fahre. Selbst wenn er jeden Tag zum Golfen oder Trüffelsuchen ginge – ich müsste ihn so oft sehen wie sonst nie. Das würde unmöglich gut gehen, und sind wir nicht alt genug, um zu wissen, was uns guttut?

Nathalie stöhnte auf und streckte ihre Füße aus, die sich in den Tischbeinen vor ihr verhakten. Kaffee schwappte über den Tassenrand, ein Wasserglas fiel um, fiel zu Boden, und natürlich zerbrach es. Die Splitter spritzten hoch, die Frau am Tisch vor ihr schrie auf, Nathalie auch, sie stammelte eine Entschuldigung, wollte losheulen. Die blonde Kellnerin bog mit einem längst nicht mehr so freundlichen Blick und einem Handbesen um die Ecke, strafte Nathalie, diese griesgrämige Kuh, mit Verachtung und begann die Scherben aufzufegen. Nathalie beugte sich ungeschickt hinunter, wollte behilflich sein und ritzte sich an einem Glasstück auf; ihr Zeigefinger begann zu bluten. Das auch noch. Sie blieb in gebückter Haltung sitzen, verzweifelt über diese Abfolge von Missgeschicken. Josette klopfte ihr auf die Schulter, sprach beschwichtigend auf die Frau gegenüber ein und orderte ein Wasser, mit Kohlensäure, oder?

Was ist denn los mit meiner tatkräftigen Buchhändlerin? Bist du so schnell aus der Bahn zu werfen? Am besten, du kommst heute Abend zu uns. Nicolas ist mit Geschäftsfreunden unterwegs, das dauert länger, wir schauen uns einen Film an, trinken Rotwein, knabbern ungesundes Zeug und weinen ein bisschen zusammen. Einverstanden?

VIER

Mein Junge! Wie immer begrüßte ihn Mutter zu theatralisch, drückte ihn an sich, als käme er überraschend von einer zehnmonatigen Sahara-Expedition zurück, und hegte keine Absichten, ihm eine Fluchtmöglichkeit aus ihren kräftigen Armen zu bieten. Wie unverändert sie mit ihren Anfang siebzig wirkte, sie gehörte zur Generation des alten Sülzer, beseelt von Arbeitseifer und nie daran zweifelnd, dass sich trotz des lautstark beklagten Niedergangs in der Gesellschaft alles zum Guten wenden würde. Wenn man nur anpackte und sich nicht zu viel mit sich selbst beschäftigte.

Es stand im »General-Anzeiger« heute, die Nachricht von Sülzers Tod, stell dir vor, mein Junge, und alle machen sich Sorgen, wie es nun weitergeht mit dem Unternehmen. Du musst uns alles genau erzählen, Robert, dein Vater meint, dass du schnell nach Deutschland zurückkehren solltest. Deine Schwester will auch weggehen aus England, das mit diesem Timothy hat ja keinen Zweck. Und bei deiner Entscheidung für Paris waren wir immer skeptisch. Vater sagt, du hättest jetzt, nach Sülzers Tod, bessere Chancen, wenn du seinerzeit geblieben wärst. Aber komm erst mal rein, ich hab noch einen Teller Suppe übrig, Flädle, die magst du doch am liebsten.