Unbekannte Seiten - Rainer Moritz - E-Book

Unbekannte Seiten E-Book

Rainer Moritz

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Beschreibung

Vom Abenteuer des Lebens erzählen sie uns, mal auf komische, mal auf tragische Weise und im besten Fall packend. Sie selbst hocken hinter dem Schreibtisch, Tag für Tag. Eher ereignisarm, so stellen wir uns das Leben von Schriftstellerinnen und Schriftstellern vor. Ein Irrtum, wie Rainer Moritz in dieser bunten Anekdotensammlung zeigt. So kommt es mehrfach zu heftigen, ja auch gewaltsamen Auseinandersetzungen. Der sterbenskranke Oscar Wilde kämpft in seinem Pariser Hotelzimmer mit der ästhetisch missglückten Tapete - zum Schaden der Weltliteratur unterliegt der Dichter. Marcel Proust fordert einen Widersacher zum Duell auf - zum Glück für die Weltliteratur schießen beide daneben. Anna Seghers muss sich bei einem Sonnenbad von ihrem Kollegen Johannes R. Becher als »alte Sau« beschimpfen lassen. Aber es geht auch ohne Gewalt: Wir begleiten Albert Camus auf den Fußballplatz und Ernst Jünger nach Venedig, werden Zeuge, wie Siegfried Lenz im Auto übel wird, Eduard Mörike sich in eine Gardine schnäuzt. Wenn das mal nicht ereignisreich ist ...

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Rainer Moritz

Rainer Moritz

Kuriose Literaturgeschichte(n)

Kampa

Ein Wort vorweg

Worin liegt der Reiz all jener kleinen, schein- bar nebensächlichen Geschichten, die man sich über Menschen erzählt? Was lässt uns glauben, dass wir deren Besonderheit nicht allein an ihren edlen Taten, stolzen Reden oder bedeutsamen Schriften erkennen? Wahrscheinlich ist es einer unserer Urtriebe, nach skurrilen Anekdoten zu gieren und unsere Neugier bei jeder Gelegenheit zu befriedigen. Was das Wesen der Menschen ausmacht, das – so denken wir nur zu gern – erschließt sich vielleicht klarer, sobald diese in Ausnahmesituationen geraten, aus der Rolle fallen oder die gesellschaftlichen Konventionen an Belang verlieren.

Dieser Spur bin ich nachgegangen, mit Blick auf Schriftstellerinnen und Schriftsteller, deren Biographien sich zum Glück nicht nur aus Staatstragendem zusammensetzen. Von Bettina von Arnim bis Peter Härtling spannt sich der Bogen, und allesamt sind es kleine Geschichten, die Verblüffendes, Ungeheuerliches, Liebenswertes oder Peinliches an den Tag bringen.

Manche dieser Episoden waren bislang in den Tiefen der Literaturgeschichte vergraben, andere hat man vielleicht schon mal gelesen. Je häufiger solche Begebenheiten freilich erzählt werden, desto verschwommener ihre Details. Wie es sich für urban legends gehört, verändern sie sich, existieren bald in unterschiedlichsten Fassungen, sodass ihr »Wahrheitsgehalt« nicht mehr eindeutig zu bestimmen ist. Und so zeige auch ich keine Scheu, das Überlieferte bisweilen mit diesem und jenem anzureichern und ein paar kräftige Farbtöne hinzuzufügen. Wie es eben so ist, wenn man von Vergangenem mit unsicherer Quellenlage berichtet. Bei manchen Ereignissen stehe sogar vielleicht nur ich als Zeitzeuge zur Verfügung, was freilich nicht bedeutet, dass hier zum plumpen Mittel der reinen Erfindung gegriffen worden wäre.

Schön wäre es, wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, nach der Lektüre dieses Spiel fortführen und ihre Lieblingserzählungen im Bekanntenkreis weiter verbreiten würden – natürlich in Varianten, die Ihnen besonders einleuchtend erscheinen. Einige wenige der hier versammelten Texte erschienen zuerst in der Literarischen Welt und wurden für dieses Buch leicht verändert, natürlich …

Als Bettina von Arnim eine Blutwurst bemühte

Die Frankfurter Kaufmannstochter Bettina Brentano ist von der Nachwelt – vor allem der männlichen – oft ungerecht behandelt worden. Mit ihrem impulsiven, koboldartigen Wesen wollte sie sich nicht recht in ein konventionelles bürgerliches Leben einfügen, was ihr – so ging und geht man gern mit unangepassten Frauen um – den Ruf einer »schwierigen« und »anstrengenden« Person einbrachte.

Mit ihrem sprühenden Temperament und ihrer wachen Intelligenz nahm sie so unterschiedliche Geistesgrößen wie Friedrich Schleiermacher, Hermann von Pückler-Muskau, Ludwig Tieck, Felix Mendelssohn Bartholdy, Ludwig van Beethoven oder Robert Schumann für sich ein.

Im März 1811 heiratet sie mit Mitte zwanzig den Dichter Achim von Arnim, der kurz zuvor mit ihrem Bruder Clemens die Volksliedersammlung Des Knaben Wunderhorn herausgegeben hat. Das eigentliche Objekt ihrer schwärmerischen Begierde ist jedoch der fünfunddreißig Jahre ältere Johann Wolfgang von Goethe. Geschickt, wie sie in solchen Dingen ist, knüpft sie über dessen Mutter zarte Bande. 1807 kommt es zur ersten Begegnung zwischen dem Weimarer Großdichter und seiner umtriebigen, mit der Wahrheit stets großzügig hantierenden Verehrerin. Ein Briefwechsel schließt sich an. Die Ehe mit Achim von Arnim ändert an Bettinas Leidenschaft wenig.

Im Sommer 1811 reisen die Arnims nach Weimar, man wohnt bei Goethens – eine heikle Kon- stellation, da die Hausherrin, Goethes Frau Christiane, die extrovertierte Besucherin als Eindringling empfindet. Die zwei Damen waren, wie Tony Kellen schrieb, »ihrer Geistesrichtung und ihrem Charakter nach so unterschiedlich, dass sie sich unmöglich vertragen konnten«.

Mitte September kommt es zum Eklat, der der Weimarer Tratsch-und-Klatschküche allerbesten Stoff liefert. Man besucht eine Ausstellung des Schweizer Malers Johann Heinrich Meyer, der in Weimar seit 1806 als Direktor der Fürstlichen freien Zeichenschule wirkt und ein enger Freund und Berater Goethes ist. Bettina und Christiane verharren vor einem Gemälde, das die Letztere eifrig zu loben beginnt. Ehe sie sichs versehen, brechen sich die unterschwelligen Eifersüchteleien Bahn, und es kommt, coram publico, zu einem heftigen Streit. Glaubhaften Quellen zufolge belassen es die Frauen nicht bei einem verbalen Schlagabtausch. Bettinas Brillengestell fällt schließlich zu Boden, was die Angegriffene nicht auf sich sitzen lässt. Voller Furor wirft sie ihrer – fülligen – Widersacherin eine Beleidigung an den Kopf: »Sie wahnsinnige Blutwurst!«

An »echten« Zeugen mangelt es, zumal sich Bettinas Gatte, den Zwist vorhersehend, rechtzeitig in einen Nebenraum zurückgezogen haben soll. Wo das Konkrete fehlt, ist die Phantasie gefragt. Milan Kundera hat diese Lücke in seinem Roman Die Unsterblichkeit üppig gefüllt. Da liest man: »Bettina redet, sie wird immer aufgeregter, und auf einmal fliegt ihr Christianes Hand ins Gesicht. Im letzten Augenblick macht sie sich bewusst, dass es sich nicht gehört, jemandem eine Ohrfeige zu verpassen, den man als Gast beherbergt. Sie bremst ihre Geste, wodurch ihre Hand Bettinas Stirn nur streift. Die Brille fällt zu Boden und zerspringt. Die Leute in ihrer Nähe drehen sich um und erstarren vor Verlegenheit; aus dem Nebenraum kommt Arnim gelaufen, der Ärmste, und weil ihm nichts Intelligenteres einfällt, geht er in die Hocke und sammelt Splitter für Splitter die Scherben ein, als wollte er sie wieder zusammenleimen.«

Plastischer als Kundera hat sich das niemand ausgemalt. Erstaunlicherweise verzichtet er in seiner Darstellung darauf, die Blutwurst-Replik einzubauen. Bettina habe diese Schmähung erst Tage danach in den Weimarer Salons geäußert – was der Ausstellungskonfrontation einiges von ihrem Schwung nimmt.

Wie auch immer: Die Auseinandersetzung zieht umgehend Konsequenzen nach sich. Goethe tut, was ein guter Ehemann in einer solchen Situation zu tun hat: Er verbietet den Arnims sein Haus. Und Achim von Arnim tut, was ein guter Ehemann in einer solchen Situation zu tun hat: Er hält zu seiner Gemahlin.

So endet diese Beziehung jäh. Bettina unternimmt – als sei nichts geschehen – immer wieder neue Anläufe, Goethes Vertrauen zurückzugewinnen. Vergebens. In Briefen tituliert Goethe seine hartnäckige Möchtegern-Geliebte als »leidige Bremse« und spricht in seinem Tagebuch von ihrer »Zudringlichkeit«. Die »Blutwurst«-Affäre lässt sich nicht rückgängig machen.

Überhaupt, die Blutwurst. Warum die wütende Bettina zu dieser kuriosen, im Weimar Goethes wohl nicht sehr verbreiteten Beleidigung griff, bleibt ein Rätsel. Das Grimm’sche Wörterbuch immerhin führt die Wendung »Blutwürst machen« als Synonym für das Schlachten schlechthin, für Blutgemetzel an. Die umgangssprachliche Sentenz »Rache ist Blutwurst« taucht literarisch erst im 20. Jahrhundert auf. Dass Bettina bei ihrem Weimarer Aufenthalt im Sommer 1811 schwanger war und deshalb womöglich unter Eisenmangel litt, dem der Verzehr von Blutwürsten in der Regel entgegenwirkt, sei zumindest erwähnt. Psychoanalytisch ließe sich damit etwas anfangen. Wer weiß schon genau, welche Ursachen im Affekt geäußerte Beleidigungen haben?

Und wie es sich für eine gute Geschichte gehört, sorgt der Lauf der Zeit dafür, dass sie Wandlungen durchläuft. Die »wahnsinnige Blutwurst« konkurriert so mit einer »toll gewordenen Blutwurst«, während Rüdiger Safranski in seiner Goethe-Biographie etwas enttäuschend von einer »dicken Blutwurst« spricht.

Erwähnt sei zudem – obwohl der Goethe-Bezug hier locker ist –, dass Fredi Bobic, Stürmer des VfB Stuttgart, 1996 nach Spielschluss Schiedsrichter Hans-Jürgen Kasper eine »blinde Bratwurst« nannte. Auch ungeachtet der rauen Sitten auf Fußballplätzen eine recht ungewöhnliche Beleidigung. Bobic wurde für ein Spiel gesperrt. Die Wurst scheint als Schmähvokabel mehr herzugeben, als man denkt.

Als Marcel Proust sich duellierte

Lausig kalt ist es an diesem Nachmittag des 6. Februar 1897, und zu allem Überfluss regnet es. Gemütlich wäre es, sich an einem solchen Tag zurückzuziehen, in antiken Klassikern zu lesen, feine Prosaskizzen zu Papier zu bringen und sich auf einen Salonabend in der Pariser Hautevolee zu freuen. An diesem Nachmittag jedoch hat der 25-jährige Marcel Proust dafür keine Zeit. Wohl oder übel muss er den Boulevard Malesherbes im 8. Arrondissement verlassen, wo er zusammen mit seinen Eltern wohnt, und sich vor die Tore der Stadt begeben, in den knapp fünfzehn Kilometer entfernten Wald von Meudon, südwestlich von Paris gelegen.

Wichtiges hat Proust zu erledigen: Er muss seine Ehre wiederherstellen, sich duellieren. Begleitet von zwei Sekundanten, dem Maler Jean Béraud und dem Fechtmeister Gustave de Borda, macht er sich in den Stadtwald auf, der häufig Schauplatz solcher Konfrontationen ist und sogar eine »Allée des duels« aufweist. Proust sieht den Ereignissen unerschrocken entgegen und ist bester Laune. Denn da er schon als junger Mann gern ausgiebig das Bett hütet – wenn auch nicht den ganzen Tag, sondern nur vormittags –, war er in Sorge, dass das Duell für die Morgenstunden anberaumt werden könnte. Proust hat Glück. Am Nachmittag um drei soll die entscheidende Stunde schlagen – eine Stunde, bei der sein Leben auf dem Spiel steht. »Als man mir mitteilte, dass es am Nachmittag stattfinde, war es mir plötzlich ganz gleichgültig«, schrieb er Jahre später der Pariser Salonnière Geneviève Straus.

Prousts Widersacher ist der gut fünfzehn Jahre ältere Dichter und Kritiker Jean Lorrain, ein offen homosexuell lebender Dandy. Lorrain hat es gewagt, Prousts Erstling Freuden und Tage – eine versnobt aufgemachte Sammlung kleinerer Prosatexte, die nicht allzu viel von der späteren Meisterschaft des Autors zeigen – hämisch zu besprechen. Und zudem in einem Halbsatz zu insinuieren, dass Proust mit seinem jungen Freund Lucien Daudet, Sohn des hochangesehenen Schriftstellers Alphonse Daudet, mehr als eine nur freundschaftliche Beziehung pflege.

Das kann Proust nicht auf sich sitzen lassen, nicht zuletzt seiner Eltern wegen. Als Homosexueller will er auf keinen Fall gelten, und so wählt er – nicht zum ersten und letzten Mal in seinem Leben – eine Reaktion, die besonders viril erscheinen soll. Zur Verblüffung seiner Freunde verhält er sich, sobald man ihn angreift, wie ein gereizter Löwe. Dem Ruf eines »weibischen« Salonästheten stellt er sich in solchen Momenten furchtlos entgegen – im Duell zum Beispiel.

Für eine Auseinandersetzung mit Schwert und Degen sind die Kontrahenten körperlich beide gleichermaßen ungeeignet. So hat man sich für Pistolen entschieden. In der Nähe des Turms von Villebon treten sich nun zwei Homosexuelle gegenüber, von denen einer keiner sein will. Fünfundzwanzig Schritte trennen sie voneinander, es regnet immer noch. Proust schießt zuerst, doch die kraftlose Kugel plumpst zwei Meter vor Lorrains Füßen in den matschigen Waldboden. Lorrain antwortet, wie es sich gehört, und feuert zurück. Zielwasser scheint er keines getrunken zu haben; seine Kugel landet irgendwo zwischen den Bäumen.

So überleben beide. Der wild entschlossene Proust und Lorrain, dieser »Herr«, den – wie Proust später schrieb – »ich nicht kannte und den ich nur an diesem Tag sah«. Die Sekundanten stellen fest, dass die Angelegenheit damit zu den Akten gelegt werden kann. Proust fährt zurück nach Paris und erstattet seinen Eltern Bericht. Die Presse berichtet. Freunde loben Prousts Tapferkeit, und noch Jahre später wird er die nachmittägliche Schießerei als eine seiner schönsten Erinnerungen bezeichnen. Gut für die Weltliteratur, dass auch Jean Lorrain ein schlechter Schütze war.

Als Hellmuth Karasek zu spät zur Lesung kam

Der Zug hat Verspätung, natürlich. Unruhig sieht Hellmuth Karasek aus dem Abteilfenster. Die oberschwäbische Landschaft wärmt sein Herz … Hat er sich nicht einst bei der Stuttgarter Zeitung seine ersten Sporen als Theaterkritiker verdient? Doch heute steht ihm nicht der Sinn nach sanften Hügeln und saftigen Wiesen. Er sieht auf die Uhr, ahnend, dass die Deutsche Bahn seine Planung durcheinanderbringen wird. Dabei hat er sich alles so fein zurechtgelegt, um seinen beiden Vorlieben – Literatur und Kulinarik – gerecht zu werden.

Lesereisen sind für ihn ein Elixier. Während sich viele seiner gleichaltrigen Kollegen längst aufs Altenteil zurückgezogen haben, liebt er es noch immer, unterwegs zu sein. Er ist ein Zirkuspferd, das es in die Manege treibt. Die Menschen, die ihn vor allem aus dem Literarischen Quartett kennen, mögen ihn. Sie spüren, dass er mit Lust und Laune bei der Sache ist. Witze kann er stundenlang erzählen; da entkommt ihm keiner …

Bei einer guten Lesung muss freilich auch das Drumherum passen. Sorgfältig stimmt er sich auf die Veranstaltungsorte ein, er kennt viele der Buchhändler, die ihn einladen, persönlich, und er weiß, welche empfehlenswerten Restaurants die Kleinstädte seiner Auftritte zu bieten haben. Akribisch hat er den heutigen Abend vorbereitet. Er weiß natürlich, dass es oft schwierig ist, in der Provinz gegen 22 Uhr noch ein geöffnetes Lokal zu finden, und mit den Käseschnittchen, die man mitunter in den Buchhandlungen für ihn bereithält, gibt er sich nicht zufrieden. Deshalb hat er sich angewöhnt, vor der Lesung in aller Ruhe einzukehren. Sicher ist sicher. Wenngleich das den Magen belastet; doch mit einem Gläschen Champagner wird er schon wieder in Fahrt kommen …

Ravensburg, sein Ziel an diesem Tag, verspricht viel Gutes: eine vorzüglich geführte Buchhandlung und vor allem ein Sternerestaurant, das ihm bestens vertraut ist. Wenn da nicht diese blöde Zugverspätung wäre … Endlich fährt die Regionalbahn in den Bahnhof ein, er wirft sich in ein Taxi, checkt aufs Schnellste im Hotel ein und macht sich sofort ins Waldhorn auf. Halb sieben bereits zeigt die Armbanduhr, aber sich dieses Abendessen nehmen zu lassen kommt nicht in Betracht. Um acht soll die Lesung beginnen …

Albert Bouley heißt der begnadete Mann, der das Waldhorn betreibt. Einer der Ersten, der die euroasiatische Küche nach Deutschland brachte. Hellmuth Karasek nimmt in einer Nische Platz, winkt die Bedienung herbei – eine Blondine ganz nach seinem Geschmack – und studiert die Karte mit Vorfreude. Drei Gänge, das sollte zu schaffen sein, begleitet von den herrlichen Weinen aus dem Bouley’schen Keller. Er ordert als Entree ein Tomaten-Carpaccio mit Krebsen und gebeizter Lachsforelle und danach … er zögert, eine Miéral-Ente in zwei Gängen, das wäre es, doch leider recht zeitraubend … und entschließt sich, stattdessen seiner Liebe zu Innereien nachzugeben und jene unübertrefflichen urschwäbischen Kutteln zu bestellen, die Albert Bouley als raffinierten Pot au feu mit Tomaten-Nage serviert.

Man muss sich Hellmuth Karasek in diesem Moment als glücklichen Menschen vorstellen. Er genießt das Dargebrachte, folgt den Weinempfehlungen der adretten Kellnerin und ist dabei, jedes Zeitgefühl zu verlieren – ein herrlicher Zustand. Käse schließt den Magen, denkt er sich, als er den letzten Tropfen der dunklen Kuttelsoße aufgetunkt hat, und bestellt als Dessert Ziegen- und Schafsrohmilchkäse mit schwarzem und gelbem Forellenkaviar in Walnussschnittlauch-Vinaigrette. Ein Gläschen Gewürztraminer dazu kann nicht schaden, sinniert er, als plötzlich sein Handy – hat er darüber nicht auch ein Buch geschrieben? – zu brummen beginnt.

Unauffällig nimmt er das Gespräch an – zum Glück sind nur wenige Tische besetzt – und erkennt die sonore Stimme der Buchhändlerin, die ihn nach Ravensburg gelockt hat. Besorgt ist sie, ein klein wenig ärgerlich sogar. Wo er denn sei? Fünf nach acht sei es und der Laden rappelvoll … Hellmuth Karasek sieht ungläubig auf seine Uhr, murmelt, um Zeit zu gewinnen, etwas von einer sehr schlechten Verbindung und trifft Sekunden später die einzig mögliche Entscheidung. Im Zug sitze er noch, Verehrteste, eine skandalöse Verspätung, wie er sie selten erlebt habe, Weichenstörung, ja, unglaublich, aber in einer Viertelstunde, habe man durchgegeben, komme er an, und dann werde er sofort in die Buchhandlung eilen. Sie könne das Publikum doch sicher bei Laune halten … Er freue sich … wenngleich er nun gar nichts mehr verstehe, die Verbindung …

Hellmuth Karasek schaltet sein Handy aus und atmet durch. So weit kommt’s noch, dass er wegen einer Lesung dieses göttliche Lokal ohne Dessert verlässt, ohne Ziegen- und Schafsrohmilchkäse mit schwarzem und gelbem Forellenkaviar in Walnussschnittlauch-Vinaigrette … Er sieht die lächelnde Kellnerin nahen, mit einem Teller, auf dem all diese Köstlichkeiten arrangiert sind, ästhetisch hoch gelungen, das kann er als Kritiker beurteilen. Walnussschnittlauch-Vinaigrette, wie das schon klingt.

Er verzehrt sein Dessert ohne Eile und macht sich dann zur nahegelegenen Buchhandlung auf. Die Kirchturmuhr schlägt halb neun. Die Lesung verspricht ein voller Erfolg zu werden.

Als Albert Camus die Arbeit verweigerte

Angespannte Stimmung herrscht im Stadion Saint-Eugène in Algier. Das Halbfinale des Schulcups 1929