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Das dramatische Leben eines großen Schriftstellers
In seinen besten Jahren gefeiert, am Ende vergessen – es ist, als wäre der Schriftsteller Richard Yates eine Figur aus seinen eigenen Büchern. Das Scheitern war sein Lebensthema: Zweimal geschieden, hatte er kein enges Verhältnis zu seinen drei Töchtern; Alkoholexzesse und Kettenrauchen ruinierten ihm die Gesundheit, und auf dem Campus, an dem er bis zuletzt unterrichtete, galt er vielen Studenten als aus der Zeit gefallenes Wrack. Erst Jahre nach seinem Tod wurde der große Autor neu entdeckt: von renommierten Schriftstellerkollegen befördert und schließlich durch die Verfilmung seines Meisterwerks »Zeiten des Aufruhrs« auch einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Heute zählt er zu den wichtigsten Gegenwartsautoren Amerikas.
Rainer Moritz, intimer Kenner des Werks, spricht uns seine ganz persönliche Einladung aus, in Yates’ Geschichte einzutauchen und die Werke des Meisters wieder zu lesen. In leichtfüßigem Ton entführt er uns in das so romanhafte Leben dieses einzigartigen Schriftstellers.
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Seitenzahl: 171
RAINER MORITZ
Der fatale Glaube an das Glück
Richard Yates – sein Leben, sein Werk
Deutsche Verlags-Anstalt
Inhaltsverzeichnis
KAPITEL 1
Kein letztes Steak: Richard Yates’ unbemerktes
Sterben in Alabama
KAPITEL 2
Dem Vergessen entrissen:
Die Wiederentdeckung eines Autors
KAPITEL 3
»So lange geschieden, wie meine Erinnerung
zurückreicht«: Die frühen Jahre
KAPITEL 4
Wie der Held eines Kriegsfilms
KAPITEL 5
Ein Schriftsteller werden
KAPITEL 6
»Rühreier sind mir auch lieber«:
Zeiten des Aufruhrs – der Durchbruch
KAPITEL 7
Hollywood und Washington:
Zwiespältige Abstecher
KAPITEL 8
Richard Yates als Lehrmeister –
Richard Yates’ Lehrmeister
KAPITEL 9
Männergeschichten, Frauengeschichten:
Easter Parade – das zweite Meisterwerk
KAPITEL 10
Die Entdeckung des Joghurts:
Richard Yates’ einsame Jahre
KAPITEL 11
Was blieb? Was bleibt?
ANHANG
Literaturhinweise
Zeittafel
Bildnachweis
KAPITEL 1
Kein letztes Steak: Richard Yates’ unbemerktes Sterben in Alabama
Tuscaloosa, US-Bundesstaat Alabama. Keine Stadt, in der man auf Dauer leben möchte. Keine Stadt, in der man sterben möchte. Allenfalls, wenn man aus Tuscaloosa kommt und da geblieben ist, ein Leben lang. Rund 80 000 Menschen wohnen dort, und regelmäßig bedrohen Tornados die Region. Immerhin beherbergt sie die University of Alabama, die – daran erinnert man sich – 1963 für Aufsehen sorgte, als der berüchtigte Gouverneur George Wallace, eingedenk eines Wahlversprechens, die Rassentrennung aufrechtzuerhalten, zu verhindern versuchte, dass sich zwei afroamerikanische Studenten an der Universität einschrieben. Und immerhin zählen zu Tuscaloosas bekannten Söhnen und Töchtern der Leichtathlet Otis Davis, der 1960 den Karlsruher Carl Kaufmann um Haaresbreite im olympischen 400-Meter-Finale besiegte, und die Bluessängerin Dinah Washington. Einige der Universitätsabsolventen haben sich literarische Meriten erworben, darunter Erfolgsautoren wie Harper Lee (Wer die Nachtigall küsst), Marc Childress (Verrückt in Alabama) und Winston Groom (Forrest Gump).
Richard Yates, der 1990 als »Writer in residence« an die University of Alabama kam, schrieb zu Lebzeiten keinen veritablen Bestseller. Er genoss ein gewisses Renommee, vor allem bei Kollegen und Kritikern, doch er war keiner, der im Literaturbetrieb seiner Zeit eine markante Rolle spielte. Sein größter Erfolg – der Debütroman Revolutionary Road (Zeiten des Aufruhrs) – lag rund dreißig Jahre zurück, und Tuscaloosa war gewiss kein Sprungbrett, um sich wieder in Erinnerung zu bringen. Yates kannte kaum jemanden in Tuscaloosa; er war krank, nachdem er über Jahrzehnte Schindluder mit seinem Körper getrieben hatte, doch er beschloss, in Alabama zu bleiben, um ein langwieriges, nicht recht vorankommendes Projekt, den Roman Uncertain Times, endlich abzuschließen.
Innerhalb des Universitätsbetriebs galt Yates als kuriose Figur, die vergangenen Zeiten zu entstammen schien. Mit dem aufkommenden Feminismus in den Geisteswissenschaften, den Genderstudies, hatte er nichts am Hut, und mit seinen Lieblingsautoren – allesamt weiß und männlich –, die er zur Diskussion stellte, waren bei den Studenten nicht sehr viele Blumentöpfe zu gewinnen. Auf Äußerlichkeiten legte er keinen Wert; sein Kleidungsstil hatte seit Jahren keine merklichen Neuerungen durchlaufen. Er tat sich schwer, selbst kurze Distanzen zu Fuß zurückzulegen; für Notfälle stand ein Rollstuhl für den weißhaarigen und weißbärtigen Mittsechziger bereit. Er trank wie eh und je, rauchte, vier Packungen Zigaretten am Tag, litt unter furchterregenden Hustenanfällen und Atembeschwerden, sodass er gezwungen war, sich regelmäßig Sauerstoff zuzuführen, und er wohnte in bescheidensten Verhältnissen. Zuerst im Stroden House, einem der Universität vermachten Anwesen, das kurz zuvor zur historischen Sehenswürdigkeit erklärt worden war und das über ein Studio für die an der Universität lehrenden Autoren verfügte. Yates ging nicht sehr sorgfältig mit dieser Unterkunft um. Er ließ, wo er stand und ging, Zigarettenasche zu Boden fallen. Dem Teppich bekam das nicht, und die Möbel waren alsbald mit Brandflecken überzogen. Als Aschenbecher diente ihm eine Salatschüssel, die den Vorteil hatte, viele Kippen aufzunehmen, und aufgrund ihres Fassungsvermögens nicht oft geleert werden musste.
Als seine Dozentur nicht verlängert wurde, zog Yates in ein bescheidenes Apartment am Alaca Place. Mark Costello, Yates’ Nachfolger auf dem Creative-Writing-Lehrstuhl in Tuscaloosa, erinnerte sich später mit Grausen an diese Behausung, die Yates’ letzte sein sollte: ein schmales Rollbett, das sich zur Couch ausklappen ließ, ein paar Möbelstücke, die aus dem Fundus der Heilsarmee stammten, ein L-förmiger Schreibtisch mit elektrischer Schreibmaschine, ein Klappstuhl im Wohnzimmer.
Yates an seinem Schreibtisch, drei Monate vor seinem Tod
© Gina Yates
Wie immer in seinem Leben arrangierte sich Yates selbst mit kümmerlichsten Lebensbedingungen. Wo andere es keinen Tag lang ausgehalten hätten, kam er – ganz auf sein Schreiben konzentriert – zurecht und beklagte sich selten. Unfähig, sich selbst Mahlzeiten zuzubereiten, zog es ihn in einfache Restaurants, bis es einem seiner Studenten gelang, einen Essen-auf-Rädern-Dienst zu mobilisieren, der Yates mittags mit preiswerten, kalorienreichen Südstaatengerichten versorgte.
Platz für Dekorationsobjekte war in diesem schlichten Apartment nicht vorgesehen. An den Wänden hingen Fotos seiner drei Töchter, eine Edward-Hopper-Reproduktion und, über dem Schreibtisch, ein abgetipptes Zitat des zweimaligen demokratischen Präsidentschaftskandidaten Adlai Stevenson, das Yates dem Roman Uncertain Times voranstellen wollte und das in gewisser Weise den zentralen Konflikt vieler Yates’scher Romane widerspiegelt: »Die Amerikaner gehen unbewusst immer davon aus, dass jede Geschichte zu einem Happy End führen müsse.«
Um ein wenig mobile Unabhängigkeit zu besitzen, bat Yates einen Studenten, der sich um ihn kümmerte, ihm einen Wagen, einen billigen Wagen!, zu beschaffen. Bald darauf fuhr Yates – nicht zuletzt, um sich mit Bier zu versorgen – mit einem rostigen Mazda aus den frühen Siebzigerjahren, für den er 700 Dollar bezahlt hatte, durch Tuscaloosa, und der Anblick des hinter dem Lenkrad zusammengefalteten, zu einem unkonventionellen Fahrstil neigenden Yates, der mal zur Zigarette und mal zu einer Sauerstoffmaske griff, zählte zu den Attraktionen im Alltag der Stadt. Eine »Bombe auf Rädern« nannte man das Gefährt.
Auf der Motorhaube seines alten Mazda
© Gina Yates
So bizarr dieser aus der Zeit gefallene Mann wirken musste, so nachdrücklich blieb er vielen seiner Studenten in Erinnerung. Der Filmkritiker J. R. Jones, ein Schüler Yates’, erinnerte sich 2003 in seinem Essay Out of the Wreckage an einen Lehrer, der offenherzig über die Talsohlen (s)eines Schriftstellerlebens sprach und in seinen Kursen am Donnerstagnachmittag den angehenden Kollegen nahezubringen versuchte, worin die Kunst der Fiktion bestand. Zur Veranschaulichung dienten ihm – von ihm hoch geschätzte und mit reichlichen Randbemerkungen versehene – Werke der Weltliteratur: Gustave Flauberts Madame Bovary, F. Scott Fitzgeralds Der große Gatsby und Ford Madox Fords Die allertraurigste Geschichte.
Bleiben wollte Yates in Tuscaloosa nicht. Am liebsten wäre er nach New York zurückgekehrt, doch seine finanziellen Möglichkeiten erlaubten es nicht einmal, für kurze Aufenthalte in die Stadt zu reisen, geschweige denn, dort dauerhaft Wohnung zu nehmen. Im April 1991 immerhin kam er, ein letztes Mal, nach New York. Die in Manhattan lebende Schriftstellerin Susan Braudy war während Yates’ Zeit in Alabama zu seiner engsten Vertrauten geworden. Sie machte sich daran, Yates’ Roman Easter Parade zum Drehbuch umzuschreiben – mit einem Ergebnis, das Yates nicht zufriedenstellte. Jeden Morgen telefonierten die beiden, und Braudy war es, die die New Yorker Lesung im Frühjahr 1991 organisierte. Der Flug freilich bekam dem an einem Lungenemphysem leidenden Yates nicht. Kaum in der Lage, den Weg vom Flugzeug zum Taxi hinter sich zu bringen, schleppte er sich ins Hotel Algonquin, wo bereits Sauerstoffbehälter auf ihn warteten. Ein zurate gezogener Arzt wies Yates umgehend ins Krankenhaus ein, und die Lesung in der Donnell Library fand ohne den Autor statt, vor fünfundsiebzig Besuchern.
New York blieb bis zu Yates’ Lebensende die Stadt, die er am ehesten als sein Zuhause ansah. Die schönste Huldigung, die er New York machte, findet sich wohl in seinem letzten Roman Cold Spring Harbor (1986), den er, vereinsamt, in Boston schrieb:
»Die unvorstellbare Skyline von New York, betrachtet von diesem Felsen über dem Hudson, war mehr als genug, um einem den Atem zu rauben. Sie brachte einen dazu, sofort zu begreifen, dass all diese gelben, orangenen und roten Türme mit ihren zahllosen funkelnden Fenstern eine bessere Daseinsberechtigung als das Geschäftemachen hatten: Sie waren für einen selbst da, als ob sie sich als ein Lebewesen gewünscht hätte, und ihr höherer Zweck lag darin, die Sehnsüchte zu steigern und die Träume aufzunehmen.«
Zurück in Tuscaloosa, schrieb Yates an Uncertain Times weiter, bis es sein körperlicher Zustand nicht mehr erlaubte; die letzte Manuskriptergänzung trägt das Datum vom 28. August 1992. Wenige Wochen später empfing Yates einen seiner letzten Besucher, den Schriftsteller Scott Bradfield, der ihn im Auftrag des Independent porträtieren wollte. Dieser traf auf einen herzlichen Mann, der sein gewohntes Arbeitspensum nicht mehr zu bewältigen vermochte. Schläuche verbanden Yates’ Nasenflügel mit einem Sauerstoffaufbereiter, seinem treuen »Begleiter«. Es sei in Ordnung, betonte Yates, sich im öden Tuscaloosa zum Schreiben zu verkriechen, doch sterben wolle er hier, im Süden, auf gar keinen Fall. Über sein Werk äußern wollte er sich nicht, so freundlich er auch an Bradfields Fragen Anteil nahm. Als Yates der Sinn nach einem ordentlichen Steak stand, packte er kurzerhand den Sauerstoffkanister in seinen von Unrat übersäten Wagen und fuhr mit seinem Begleiter zum Mittagessen, wobei er unterwegs mehrfach daran scheiterte, im Kreisverkehr die richtige Ausfahrt zu treffen. Die Karte des Red Lobster wies freilich nur ein New York Cut Steak aus, von dessen Größe sich Yates überfordert fühlte. Allen Überzeugungsversuchen Bradfields zum Trotz bestellte er Hühnchen, und man unterhielt sich über Jerome D. Salinger, Alice Munro und Fitzgerald, ohne den Yates wohl nie Schriftsteller geworden wäre.
Erschöpft verabschiedete Yates nach einem letzten gemeinschaftlichen Bier seinen Gast. Drei Wochen später, am 7. November 1992, starb er im Veteranenkrankenhaus von Birmingham, Alabama. Kurz darauf erschien Bradfields Artikel Follow the Long and Revolutionary Road, der mit Nachdruck dazu einlud, diese großartige Prosa zu lesen. Mit allem, so Bradfield, könne er leben, mit den unverständigen Verlegern und Kritikern, mit Yates’ bescheidenen Fahrkünsten, mit dem stumpfsinnigen Ort, an dem er seine letzten Jahre zubringen musste. Nur eines hätte sich Bradfield zu gerne anders gewünscht: dass Richard Yates im Red Lobster das »gottverdammte Steak« bestellt hätte.
KAPITEL 2
Dem Vergessen entrissen: Die Wiederentdeckung eines Autors
Schon mit seinem Tod schien Yates der Vergangenheit anzugehören, in die Fußnoten der Literaturgeschichten abzutauchen. Im Dezember 1992 organisierten Seymour Lawrence, Yates’ langjähriger Verleger, und Kurt Vonnegut, Yates’ Freund und Kollege, einen Gedenkgottesdienst in New York; Andre Dubus tat es ihnen, zusammen mit den Verantwortlichen der Literaturzeitschrift Ploughshares, ein paar Monate später in Boston nach. Ergänzt durch weitere Beiträge, erschienen die Gedenkansprachen 1993 in dem Bändchen Richard Yates – An American Writer. Tributes in Memoriam. Unter den Autoren finden sich Kollegen wie Gina Berriault und Brian Moore und Literaturwissenschaftler wie DeWitt Henry und Jerome Klinkowitz.
Große Wirkung zeitigte diese Sammlung von zum Teil sehr persönlichen Erinnerungen nicht. Im Januar 1994 starb zudem Yates’ früher Förderer und Verleger Lawrence, der zuvor erklärt hatte, dass der Nachlass kein publikationsfähiges Manuskript, also auch nicht das von Uncertain Times, enthalte. So verschwanden Yates’ Bücher, die schon zu seinen Lebzeiten nie als Bestseller gehandelt wurden, nach und nach aus den Regalen und Verlagsprogrammen; ein dicht gewebter Mantel des Vergessens legte sich über sein Werk.
© Seymour Lawrence, Inc., all rights reserved
Ende 1999 platzte dann allerdings einem Autor, dessen Bücher manche Seelenverwandtschaft mit den Yates’schen aufweisen, der Kragen. Der 1961 geborene Stewart O’Nan, der zu diesem Zeitpunkt bereits die viel beachteten Romane Engel im Schnee und Die Speed Queen veröffentlicht hatte, packte seinen ganzen Ärger über das schlechte Erinnerungsvermögen des Literaturbetriebs in einen umfangreichen, fulminanten Essay. Er trug den Titel The Lost World of Richard Yates und erschien in der Boston Review (und 2004 erfreulicherweise auch auf Deutsch in der Kulturzeitschrift Krachkultur). Ehe O’Nan darin zu Betrachtungen über Yates’ Ästhetik und zu Interpretationen seiner Werke ansetzt, beschreibt er einen Zustand, den er nicht akzeptieren mag: »Wie kann ein Autor, der bei seinen Kollegen derart anerkannt und sogar geliebt war, ein Autor, der fähig ist, seine Leser so tief zu bewegen, praktisch vergriffen sein, und das in so kurzer Zeit? Wie ist es möglich, dass ein Autor, dessen Arbeiten die Verlorenheit des Zeitalters der Angst veranschaulichen, genauso treffend wie die Arbeiten von Fitzgerald es mit dem Jazz-Zeitalter getan haben, ein Autor, der Ikonen der amerikanischen Literatur wie Raymond Carver und Andre Dubus beeinflusst hat, ein Autor, der in seiner Prosa und der Wahl seiner Charaktere so gerade und direkt ist – wie kann es sein, dass ein solcher Autor jetzt nur noch über Sonderbestellungen oder am staubigen hinteren Ende im Erdgeschoss der Antiquariate, wo die Belletristik-Abteilung sich versteckt, gefunden werden kann? Und wie kommt es, dass das niemand weiß? Wie kommt es, dass niemand etwas dagegen tut?«
O’Nans Aufsatz schließt – da die nach Profit schauenden Verleger sich künftig um Yates kaum kümmern würden – mit der leicht fatalistischen Einschätzung, dass es ihm und seinen Kollegen vorbehalten sei, »die Romane und Stories von Richard Yates am Leben« zu halten, »indem sie Bücher aus den Antiquariaten retten und unter den Studenten und Schriftstellerkollegen in Umlauf« bringen – so wie man es mit James Salter, Marilynne Robinson oder William Maxwell getan habe.
Kurz darauf wendete sich das Blatt. Stewart O’Nans flammender Appell hatte gefruchtet. 2000 erschien eine Neuausgabe von Revolutionary Road, versehen mit einer Einführung von Richard Ford, die zudem in der New York Times Book Review veröffentlicht wurde. Ein Jahr später legte der Verlag Henry Holt den Band The Collected Stories of Richard Yates vor, der erstmals die Erzählsammlungen Eleven Kinds of Loneliness(Elf Arten der Einsamkeit) und Liars in Love (Verliebte Lügner) vereinigte, ergänzt um neun verstreut publizierte Texte. Die Einleitung verfasste Richard Russo, der auf eine häufig genannte Ursache für den dürftigen Bekanntheitsgrad von Yates’ Büchern hinwies: Yates hafte das Etikett an, ein »Writer’s writer« zu sein, ein Autor also, dessen Arbeiten vor allem von Kollegen und weniger von einer breiten Leserschicht goutiert würden. Russo betonte demgegenüber zu Recht, dass Yates ausgesprochen zugänglich schreibe, sein von Realismus geprägtes Werk keine Barrieren einer betont experimentellen Erzählweise biete und er folglich nicht als klassischer »Writer’s writer« wie etwa Thomas Pynchon gelten dürfe. Trotz dieser Richtigstellung fällt auf, wie sehr Richard Yates’ Œuvre sowohl zu Lebzeiten als auch post mortem von Autorinnen und Autoren, von sich ehrfurchtsvoll verneigenden Kollegen gefeiert wurde. Zu Vonnegut, Dubus, Tennessee Williams und William Styron gesellten sich im Lauf der Jahre als seine Bewunderer Joyce Carol Oates, Julian Barnes, Michael Chabon, Raymond Carver oder Nick Hornby hinzu.
»Eine gute Biographie könnte eine Neubewertung seiner Leistungen initiieren. Allerdings ist im Augenblick keine in Sicht. Auch an einer Verfilmung scheint niemand Interesse zu haben«, schrieb Stewart O’Nan 1999 – eine Einschätzung, die zum Glück kurz darauf nicht mehr galt. Denn bereits 2003 legte der Journalist Blake Bailey seine blendend recherchierte, sowohl in literarischer wie biografischer Hinsicht substanzielle Arbeit A Tragic Honesty. The Life and Work of Richard Yates vor – fraglos ein Meilenstein der Beschäftigung mit diesem Autor. Während die akademische Welt Yates sträflich vernachlässigt hatte, eröffnete Bailey, der auch Zugang zu Familie und Freunden gefunden hatte, eine erfrischende, detailreiche Sicht auf Yates und präsentierte eine Menge unbekannten Materials. Wer immer sich über Yates äußern will, greift dankbar auf Baileys Biografie zurück. Auch diese Einladung zur Yates-Lektüre verdankt ihr sehr viel.
Anstrengungen, Yates’ Romane fürs Kino zu adaptieren, gab es einige. Mehrere Optionen wurden gewährt; von Yates schroff abgelehnte Drehbücher (zu Zeiten des Aufruhrs und Easter Parade) entstanden, doch zu einer Produktion kam es nie. Erst Sam Mendes’ im Dezember 2008 in die Kinos gelangte Verfilmung von Zeiten des Aufruhrs machte deutlich, welches filmische Potenzial in Yates’ Büchern steckt, und rief ein großes Echo hervor, nicht zuletzt weil Kate Winslet und Leonardo DiCaprio, die in Titanic Millionen von Menschen Tränen in die Augen getrieben hatten, die Hauptrollen übernahmen. Der Mendes-Film sorgte dafür, dass die Romanvorlage, ein knappes halbes Jahrhundert nach ihrer Erstveröffentlichung, auf die Bestsellerliste der New York Times gelangte – habent sua fata libelli … so haben auch Bücher ihr Schicksal.
Die Verfilmung von Zeiten des Aufruhrs beförderte die Rezeption in vielen Ländern, nicht zuletzt im deutschsprachigen Raum. Zuvor war der Name Richard Yates nur wenigen Spezialisten und Amerikanisten vertraut gewesen. Zu seinen Lebzeiten erschien lediglich eine einzige deutsche Übersetzung, 1975 im Ostberliner Verlag Volk und Welt. Heide Lipecky übertrug Revolutionary Road ins Deutsche, unter dem Titel Das Jahr der leeren Träume. Unter welchem Blickwinkel man sich in der DDR Richard Yates annäherte, zeigt ein Blick auf den Klappentext der Volk-und-Welt-Ausgabe: »Unprätentiös und eindringlich zeichnet Richard Yates in diesem Roman das Bild einer modernen Ehe, die dem wachsenden Kommunikationsverlust in einer nur an Äußerlichkeiten orientierten Gesellschaft nichts mehr entgegenzustellen weiß. Der (…) amerikanische Schriftsteller spricht darüber hinaus mit kritischer Konsequenz einem System das Urteil, das derartige Erscheinungen provoziert.«
Erst 2002 erhielt Revolutionary Road den deutschen Titel, unter dem der Roman heute geläufig ist. Die Deutsche Verlags-Anstalt hatte sich die Rechte gesichert und veröffentlichte Zeiten des Aufruhrs, in der Übersetzung von Hans Wolf. Anfangs schleppend und dann mit immer größer werdender Zugkraft setzte eine Wahrnehmung des Autors hierzulande ein und führte zu einer breiten, fast durchweg begeisterten literaturkritischen Auseinandersetzung. 2006 erhielt Zeiten des Aufruhrs seine Nobilitierung, als der Roman, versehen mit einem Nachwort von Eva Menasse, in der »Manesse Bibliothek der Weltliteratur« herauskam. Christian Brückner las eine gekürzte Fassung des Romans für die Deutsche Grammophon/Universal ein. Von da an erschienen bei der Deutschen Verlags-Anstalt Erstübersetzungen (von Hans Wolf und Anette Grube) in rascher Folge: Elf Arten der Einsamkeit, Easter Parade, Verliebte Lügner, Eine besondere Vorsehung, Ruhestörung und zuletzt (in der Übertragung Eike Schönfelds) Eine gute Schule. Aus der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts ist Yates seitdem auch im deutschsprachigen Raum nicht mehr wegzudenken.
KAPITEL 3
»So lange geschieden, wie meine Erinnerung zurückreicht«: Die frühen Jahre
»Wenn eine unglückliche Kindheit die Voraussetzung dafür ist, ein erfolgreicher Schriftsteller zu werden, dann war Richard Yates in besonderer Weise gesegnet« – so beginnt Blake Bailey das erste Kapitel seiner Biografie und lässt keinen Zweifel daran, wie schwierig sich die ersten Lebensjahre Yates’ gestalteten. Seine Eltern, Ruth Maurer, genannt Dookie, und Vincent Yates, hatten 1920 geheiratet; ein Jahr später wurde ihre Tochter Ruth geboren. Bis sich die Eltern 1929 scheiden ließen, lebte die Familie in Hastings-on-Hudson, einem kleinen Städtchen im US-Bundesstaat New York. Am 3. Februar 1926 erhielt sie Zuwachs: Im Krankenhaus des unmittelbar an New York City grenzenden Yonkers (das im Roman Young Hearts Crying von 1984 einen kleinen Auftritt haben sollte) wurde Sohn Richard Walden – ein Mittelname, den er nie mochte – geboren. Während sich Schwester Ruth später gern an beschauliche Kindheitstage in Hastings erinnerte, blieb ihrem Bruder eine solche erfreuliche Rückschau zu seinem Leidwesen versagt – oder in den Worten der Erzählung Ach, Joseph, ich bin so müde: »Sie sagte, Hastings-on-Hudson sei die glücklichste Zeit in ihrem Leben gewesen, und ich wurde neidisch, weil ich mich kaum daran erinnern konnte.«
Yates’ erste bewusste Wahrnehmungen standen unter dem Zeichen einer zerrütteten Ehe. Die Eltern, die, wie Bailey schreibt, an Gemeinsamkeiten kaum mehr als die – auf beide Kinder übergegangene – Leidenschaft für Zigaretten und Alkohol hatten, passten offenkundig nicht zusammen und kamen nach der Scheidung zu einer Vereinbarung, was aus ihren Kindern werden sollte.
Im Vorwort zum Roman A Good School (Eine gute Schule, im Original 1978 erschienen), das starke autobiografische Nähe suggeriert, heißt es:
»Sie waren fast so lange geschieden, wie meine Erinnerung zurückreicht. Er liebte meine Schwester sehr – das dürfte auch der Hauptgrund für seine nie nachlassende Großzügigkeit uns gegenüber gewesen sein; er und ich dagegen schienen, ungefähr ab meinem zwölften Lebensjahr, ständig voneinander irritiert zu sein. Zwischen uns herrschte offenbar immer die stillschweigende Übereinkunft, dass ich mit der Scheidung in den Besitz meiner Mutter übergegangen war. In dieser Annahme lag ein Schmerz – für uns beide, würde ich sagen, auch wenn ich nicht für ihn sprechen kann –, aber auch eine ungute Gerechtigkeit. Sosehr ich es mir auch anders wünschen mag, bevorzugte ich eben doch meine Mutter. Ich wusste, sie war unvernünftig und verantwortungslos, sie redete zu viel, sie machte wegen nichts irrwitzige Szenen, und man konnte darauf rechnen, dass sie in einer Krise zusammenbrach, doch ich war allmählich zu der düsteren Ahnung gelangt, dass ich womöglich ganz ähnlich strukturiert war. In einer Art und Weise, die weder hilfreich noch besonders angenehm war, gereichten sie und ich einander zum Trost.«
Bereits in dieser Passage wird offenkundig, wie sehr Richard Yates’ Erzählungen und Romane vom Fundament des persönlich Erlebten ausgehen. Zwar sollte man nicht der Versuchung erliegen, seine fiktionalen Texte als ungebrochene Spiegelungen eigener Erlebnisse zu lesen, und stets im Blick behalten, wie gezielt er die aus der Erinnerung geschöpften Ereignisse und Charaktere den Konstruktionsbedürfnissen seiner Texte anpasste, doch tatsächlich ist nicht zu leugnen, dass sich Yates in all seinen Werken an den Widrigkeiten seiner Existenz abarbeitete. Wieder und wieder greift er Episoden auf, wiederholt und variiert er sie und versucht so, den Begrenzungen und Beschädigungen seines Lebens eine überzeitliche literarische Bedeutung zu verleihen. Die literarischen Arbeiten Yates’ dürfen also mit guten Gründen als Material angesehen werden, das verlässlich biografische Eckdaten liefert; dass sich seine Texte nicht in dieser Funktion erschöpfen, versteht sich von selbst.