Sorck - Matthias Thurau - E-Book

Sorck E-Book

Matthias Thurau

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Beschreibung

»Häufiger als Zitronen gibt das Leben dir Skorbut.« Wann wird eine Reise zur Flucht? Martin steht an der Straße und betrachtet seine brennende Wohnung. Nur zwei Koffer und ein Kreuzfahrtticket bleiben ihm. An Bord versucht er, sein Leben zu sortieren und einen Sinn für sich zu finden. Doch spätestens, als sich der erste Landgang als paramilitärische Übung entpuppt, ist die Ruhe vorbei und auch der Urlaub droht zur Katastrophe zu werden. Eine surreale Reise, erzählt mit schwarzem Humor und in anspruchsvoller Sprache, führt Martin Sorck am Abgrund entlang und zu neuen Ufern.

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Flurbrand

So, wie Martin Sorck am Bordstein stand, hätte man ihn für vieles halten können. Oder auch für sehr wenig.

Im Schein der Flammen und Blaulichter feierten seine speckig-ledernen Koffer ein stilles Fest, an das sich seine Mimik anpasste. Gesichtslos starrte er die backsteinerne Häuserfront auf der anderen Straßenseite an. Es brannte. Er spürte die Hitze des Feuers deutlich auf der Stirn und konnte nicht fassen, wie pompös das Feuerwerk war, das seine Wohnung sich leistete. Eine Befreiungsfeier mit musikalischer Begleitung. Knarzend, krachend und knackend fraß sich der Brand durch die Dachbalken. Da oben hing bisher seine Wäsche zum Trocknen. Was vorhin noch dort war, war jetzt nicht mehr.

In mehreren Grüppchen leisteten Schaulustige dem dauerhaft Ausgesperrten Gesellschaft, deuteten mit erregten Fingern, filmten mit schwarzen Kameras. Andere verlangsamten für eine Weile den Schritt auf dem Weg zur Arbeit. Mit jedem lauten Krachen zuckten sie zusammen, raunten auf. Ungläubig hielten sie die Hände vor den Mund. Oder versteckten sie ein Lächeln?

Im Rhythmus eines weiteren gebrochenen Balkens bewegten die Gaffer ihre Köpfe, versteckten sie zwischen den Schultern, versanken in halbe Kniebeugen. Dann reckten sie sich wieder neugierig vor.

Nur Martin Sorck stand still.

Wortlos, ausdruckslos, fassungslos stand er still.

Doch konnte er sich in der Tragödie der Schönheit nicht erwehren. Rot und gelb züngelten Flammen in den Himmel, gaben beulenden Rauchtürmen Hilfestellung zur Flucht in die Wolken. Wie ein pulsierender, grauer Wurm, der wächst und sich dann auflöst, sich von unten ununterbrochen neu bildet, seinen eigenen Kopf sucht und dann zerstäubt.

Einstweilen schloss die örtliche Feuerwehr im Eilschritt ihre Schläuche an, bewässerte die Dächer der Nachbarhäuser, und richtete danach Wasserstrahlen punktgenau durch Sorcks Fensterfront. Was für eine Sauerei. Pampig verklebten Papiere und Polster, Teppiche und Tapeten. Was noch nicht verbrannt war, ertrank in Löschwasser oder erstickte in schwarzen Rußwolken.

Auffallend an Martin Sorck, wie er an der Straße verharrte und mit Anwohnern und Passanten dem Vergehen des Gebäudes zuschaute, war der Umstand, dass er zwei Koffer trug, in denen sich nun alles befand, was er besaß.

Man könnte in Hinsicht auf das Gepäck von einem glücklichen Zufall sprechen, und doch war Sorck nicht imstande, sich die Frage zu beantworten, ob er nicht lieber mit seinem Eigentum und ohne Kenntnis der Katastrophe im Schlaf durch giftige Gase krepiert wäre. Denn Martins einzig wahre Aktivität der letzten Jahre bestand darin, Nachlass zu betreiben, aktiv zu hinterlassen. Um Geld und Güter handelte es sich keinesfalls. Er hatte sein Dasein gefristet und aufgelistet, sodass irgendwann jemand die Daten finden und erfassen könnte, und besser nutzen würde als er selbst. Ein Glücksfall für imaginierte Biographen. Die vage Überzeugung, wegen oder für etwas oder jemanden bekannt, berühmt und wichtig zu werden (Kunst, Politik oder die Gründung einer Familie), schwebte stets wie flaumiges Haar um seinen Hinterkopf, wo nun ein kalter Wind einen Kontrast zur Fronthitze bot.

Er begann zu schwitzen.

Während andere Leben führten, führte Martin Sorck Listen über seines. Er verzeichnete, was und wann er aß und ob es ihm schmeckte, seine Laune, Träume, gesundheitliche Beschwerden, wo er mit wem Zeit verbracht hatte, wie oft und wann er mit wem Sex gehabt hatte (wobei diese Liste seit längerem unberührt herumlag) und viele weitere nutzlose Daten.

Ursprünglich, meinte er sich zu erinnern, begann es mit To-Do-Listen, als Hilfe zur Regelung des Alltags, wurden anschließend nicht weggeworfen und stattdessen für zukünftige Biographen aufbewahrt.

Stück für Stück verloren die Listen ihren kurz- und mittelfristigen Sinn. Seine Mühe zielte auf eine Periode, in der alles doch wieder Sinn ergäbe, in der alle Daten für kurze Augenblicke nützlich sein könnten. Diese Zeit fand sich bequemerweise nach Martins Ableben. Was man damit anfinge, kümmerte ihn kaum. Er machte sich Sorgen, dass seine Arbeit als solche nicht anerkannt und als Müll vernichtet würde, was sie nicht bloß aktuell, sondern auch zukünftig absurd erscheinen ließe, was auch seine Existenz der Absurdität preisgäbe. Gegen derartige Gedanken wehrte er sich.

Zu diesem Zeitpunkt allerdings, mit gepackten Koffern an der Straße, waren derartige Sorgen ebenfalls absurd geworden, da es keine Zukunft für die Daten geben sollte. Sein Leben war ruiniert, sein Werk verbrannt, sein Zuhause bald ein nasser Klumpen modriger Asche.

Wie zum Beweis für diese Tatsache brach der Dachstuhl unter lautem Getöse zusammen und hagelte glühend auf das Restgerümpel der Sorck'schen Heimstatt, trat wie ein rußiger Stiefel das ohnehin zerstörte Anwesen weiter zu Schund. Diesmal zuckten die Schaulustigen nicht allein. Auch Martin bewegte sich, drehte sich vom Inferno seiner Wohnung weg und trat eine Reise an.

In seiner Jackentasche befand sich das auf halb unfreiwillige Weise in seinen Besitz geratene Ticket für eine Fahrt auf dem Luxus-Kreuzfahrtschiff SSCF Aisha Harmonia von Warnemünde über Tallinn, Sankt Petersburg, Helsinki und Stockholm. Unfreiwillig insofern, dass er beim Blackout-Shopping, im Laufe des Schlusssprints eines mehrtägigen Gelages, sein letztes Erspartes dafür aufgebracht hatte.

Nebst Ticket enthielt das kleine Büchlein der Aisha Reisegesellschaft eine Sammlung sämtlicher passagierlicher Rechte und Pflichten, Zeitpläne, Buchungsbestätigungen und einen Stapel sonstiger Unterlagen, die er benötigte, und ihn auf seine neu anbrechende Kreuzfahrerexistenz vorbereiten sollten. Spätestens mit Zahlung der vom Anbieter geforderten, keineswegs unerheblichen Summe, hatte Martin Sorck sich verpflichtet, für eine Weile neuen Regeln und Plänen zu folgen, die er im Vorfeld besser hätte studieren sollen.

Außer dem Part des Druckwerks war ein heraustrennbares Schnellzugticket, geltend ab dem nächstgelegenen Bahnhof, um pünktlich den Urlaubsdienst antreten zu können.

Schweigend ließ er Blicke in der Ferne abstürzen, ohne etwas zu sehen, ließ beide Koffer an schlaffen Armen baumeln, Verlängerung hängender Schultern, wartete am Gleis. Die Möglichkeit, sein Gepäck auf dem Boden abzustellen, hatte er nicht wahrgenommen – in jedem Sinne des Ausdrucks. Tranceartig statuesk pfeilerte er an einer Stelle, starrte in eine Richtung, bewegte sich nicht und blinzelte gerade genug, um die Tauben zu verscheuchen, bis endlich der Zug eintraf. Blind stieg er ein. Erst mit beiden Füßen auf dem Trittbrett verglich er die Angaben des Tickets mit der Nummer des Waggons. Gegen den Strom der Nachdrängenden stieg er wieder aus und betrat jenen mit der richtigen Nummer.

Langsam wurde er munter, langsam wieder er selbst, unruhig, und suchte einen Stellplatz für sein Gepäck.

Martin Sorck glaubte festgestellt zu haben, dass deutsche Schnellzüge zu einer Sauberkeit tendierten, die relativ zum Kostenfaktor des Tickets war und außerdem mit dem Einsatzort zusammenhing. Wer es sich leisten konnte, bezahlte eine Winzigkeit mehr, um bequem und sauber zu reisen, benahm sich entsprechend ordentlicher, da weniger gestresst und komfortabler untergebracht. Das restliche Gerümpel der Menschheit, zu dem auch er sich fairer- und üblicherweise zählte, reiste in ungeputzten Viehwaggons und hinterließ noch einen eigenen Beitrag. Martin Sorck hatte in seiner Jugend mehr als einmal in einen solchen Zug gekotzt, wäre aber nicht auf die Idee gekommen, das Gleiche auf dieser Fahrt im ICE zu tun. Stattdessen genoss er seine Fahrt in besserer Gesellschaft, die er selbstverständlich nicht als sympathischer empfand als die Mischung aus Obdachlosen, Besoffenen, Junkies und der Armee müder Arbeiter, mit der er sonst über die Schienen und durch die Hinterhöfe der nordrheinwestfälischen Landschaft gebrettert war, denn das wäre politisch inkorrekt gewesen, und außerdem war es ihm dafür zu egal.

Die Zugfahrt verbrachte er sitzend, doch nicht sorglos auf seinem reservierten Platz in einem weitestgehend ausgebuchten Waggon. Zu seinem Bedauern sah er sich gezwungen, beide Koffer, zu groß für die Gepäckablage über Kopf, hintereinander im Gang abzustellen. Somit gab es zwar noch ein Durchkommen für migrierende Zugfahrer, doch wurde die Freiheit des Passagiers hinter ihm ebenso eingeschränkt wie seine eigene. Auch eng an die Sitze gerückt ließen sich die Koffer nicht ganz verbergen. Mit einer passiven Wut und einem rein äußerlichen Anschein von Verständnis hatte sein Rückennachbar akzeptiert, von Sorcks Gepäck belagert zu werden, was ihn jedoch nicht davon abhielt, auf unnötig komplizierte Weise (er gab sich Mühe mit seiner Unbequemlichkeit) über den Koffer zu steigen, als der nächste Halt seiner war.

Unruhig achtete Martin bei jedem Bahnhof auf sein Gepäck und versuchte, Ärger zu vermeiden. Nach Ausstieg des ersten belästigten Fahrgastes drohte der Zustieg neuer Gäste. Von vorn und hinten strömten Menschen in den Waggon. Sorck rückte seine Habseligkeiten näher an die Sitze. Das heißt, er deutete es mit einer halbherzigen Geste an, denn mehr Raum war nicht mehr frei zu machen. Ein Räuspern hinter ihm sollte ihn darauf aufmerksam machen, dass jemand den Sitz seines ehemaligen Rückennachbarn einnehmen wollte, nun also der Koffer auf neue Weise den Weg blockierte. Prompt rückte er sein hinteres Gepäckstück neben das vordere. Grimmig lächelnd nahm hinten jemand Platz, derweil sich vorne jemand gereizt entschuldigte, um durch den vollkommen blockierten Gang zu kommen. Sorck allerdings konnte seine Last noch nicht wieder in Ausgangsposition bugsieren, da der neue Fahrgast sein eigenes Gepäck in die Ablage stopfte.

Schweiß bildete Perlen in Martins Nacken und auf seiner Stirn. Halb sitzend und halb aufstehend griff er sich den zweiten Koffer und stellte ihn auf den ersten, mauerte sich ein, doch war die Gepäckmauer nur aufrecht zu erhalten, solange er in dieser ungünstigen Lage verharrte. Unablässig wanderten Personen durch den Wagen.

Er kam sich albern vor, doch zunächst fand sich kein Ausweg aus der Misere. Als endlich alle Passagiere ihre Plätze gefunden hatten, machte Sorck Anstalten, seinen Kofferturm wieder abzureißen. Dummerweise lagerten nun sowohl vor, als auch hinter ihm fremde Taschen im Gang. Ihm blieb nichts anderes übrig, als das Gepäck nebeneinander zu positionieren und auf eine weitere alberne Partie dieses Spiels am nächsten Bahnhof zu warten.

Am Ende des ICE-Waggons befand sich eine Stellfläche für größeres Gepäck.

Diese allerdings hielt eine Bochumer Großfamilie mit einem Hang zum Bäuerlichen in Beschlag und gleichzeitig die Fahrgäste in Atem.

Bis zu diesem Tage wusste Martin nicht, dass die Beförderungsbedingungen der Deutschen Bahn besagen, man könne »Hunde und andere Tiere vergleichbarer Größe, die in Behältnissen wie Handgepäck nicht untergebracht sind oder nicht untergebracht werden können, unter der Voraussetzung mitnehmen, dass sie angeleint und mit einem für sie geeigneten Maulkorb oder ausreichend Futter versehen sind.« Diese Tiere würden zum halben Flex- oder Sparpreis befördert. Ein BahnCard-Rabatt sei ausgeschlossen.

Man warf Martin für seine Koffer böse Blicke zu, während die Ziege angehimmelt wurde, da es ihm offenbar im Vergleich zu seiner Konkurrenz vom Waggonende an psychologischem Geschick oder Niedlichkeit mangelte. Zwar bat er mit Worten und einem trüben Lächeln um Verzeihung für die umständlichen Manöver seiner Zuggenossen und die grobe Freiheitsberaubung, die er ihnen zumutete, was ihm aber keineswegs die Gnade oder gar das Mitgefühl ebenjener einhandelte. Geschickter war es da schon, dem jüngsten Kind der Truppe ein Lämmchen in die Hand zu drücken und dieses zuckersüße Gespann vorzuschieben, sobald sich Kritik anbahnte.

Zu Hause hätte er das unter »Dinge, die ich weder verstehe noch gut verkrafte« notiert.

Trotz allem fand er die Zeit, über seinen bevorstehenden Urlaub nachzudenken und erträumte sich die Schönheiten Skandinaviens, die Kulturschätze und Wikingermentalität der Naturblondmenschen im hohen Norden.

Die Harmonia (übrigens ein recyceltes Schlachtschiff und passenderweise benannt nach der Tochter des Kriegsgottes Ares) legte in den Häfen von Estland, Russland, Finnland und Schweden an und kehrte dann nach Warnemünde zurück. Da ihm die Kultur der nordischen Gebiete – er dachte an Filme wieDänische Delikatessen oder Die Kunst des negativen Denkens – seit langem zusagte, verlangte es den fachkräftigen Lagerlogistiker und autodidaktischen Ethanol-Enthusiasten Sorck, die Länder des Skandinavischen Tigers zu besuchen.

Das nagende Geräusch des Windes in der Steppe

Martin Sorcks aufmerksame Nachbarin wusste angeblich wenig, aber dennoch wortreich über ihn zu berichten.

So sagte sie: »Es gibt nicht viel, was ich über ihn weiß, und namentlich ist mir nahezu seine ganze Vergangenheit und Herkunft unbekannt geblieben, obwohl ich wirklich versuchte, mehr herauszufinden. Doch habe ich von seiner Persönlichkeit keinen starken und, wie ich trotz allem zugeben muss, auch keinen sympathischen Eindruck behalten. Herr Sorck war ein Mann mittleren Alters, wenn seine Augen auch, wenn Sie mich fragen, erheblich älter wirkten, falls Sie wissen, was ich meine, der vor etlichen Jahren eines Tages bei der Wohnungsgesellschaft vorsprach und nach einem Zimmer suchte. Meines Wissens war er in der Logistikbranche beschäftigt, als Fachkraft für Lagerlogistik, wie es so vornehm heißt, was allerdings nicht mehr darstellt als eine Art Packer, Schlepper, Gabelstaplerfahrer oder Artverwandtes mit hübscherem Titel. Kein Karrieremensch, wenn Sie wissen, was ich meine.

Jeden Morgen verließ Herr Sorck pünktlich um fünf Uhr das Haus und kehrte im Laufe des späten Nachmittags wieder. Fünf oder sechs Tage die Woche. Nachdem das jahrelang so gelaufen war, folgte eine Periode, in der er nicht mehr pünktlich ausging, sondern sich häufiger verspätete und krank feierte. Wobei ich, wenn ich ehrlich bin, glaube, er hat blaugemacht.

Später schloss er sich in der Wohnung ein und man bekam ihn nur noch selten zu Gesicht.

Begegnete man ihm dann doch mal auf dem Flur, sprach er wenig, wirkte nervös und lächelte höflich. Höflich, nicht jedoch freundlich. Seine Augen waren nicht bei der Sache. Übrigens kam er im Sommer nie heraus, wenn die Nachbarn zusammen grillten.

Aber gestört hat er auch nicht. Er war nur selten zu laut. Wenn doch, lief für eine Stunde diese grässliche Musik und dann war es wieder gut. An solchen Tagen wirkte er schon nachmittags ein bisschen beduselt. Er ging dann häufiger raus als sonst. Einkaufen, glaube ich.

Ein ums andere Mal öffnete er seine Wohnungstür und wollte wohl das Haus verlassen. Dann bemerkte er, dass jemand im Flur war, und schloss sie wieder. Er wartete, bis das Treppenhaus leer war, um rauszugehen. Das vermute ich jedenfalls. Als ich das eine Mal still gewartet habe, erwischte ich ihn dabei. Freundlich reagierte er nicht unbedingt.«

Regen

Eine gute Stunde vor Beginn des Einschiffungs-Prozederes fuhr Sorcks Zug – nach einem Umstieg nun der zweite – in den Warnemünder Bahnhof ein, wo ihn ein geklinkertes Ockerpanorama, von Stahlstreben durchsetzt, steingrau untermalt, willkommen hieß. Als Erstes entledigte Martin sich der Koffer in Schließfächer. Er vertraute erneut seinen Besitz einem viereckigen Kasten an und hoffte, dass dieser nicht den Flammentod erleiden würde.

Noch hatte er nichts gegessen. Dank der morgendlichen Flammenhölle war kaum Zeit geblieben.

Bahnhofsessen verweigerte er, da die Kombination aus Transportwegen – Straßen oder Gleisen – und Nahrung ihm suspekt erschien. Sandwiches an Bahnhofsbuden erinnerten ihn an überfahrenes Getier am Straßenrand.

Hungrig lief Sorck Richtung Wasser, Richtung Fußgängerzone: Richtung Fressbuden.

Zusammenfassend ließe sich sagen, dass Warnemünde ein kleiner Ort ist, der zeitweise eine große Menge Menschen aufnimmt.

Der Gedanke, dass ein nicht geringer Prozentsatz der Passanten baldige Passagiere, also Prepassagiere der SSCF Aisha Harmonia und damit zukünftige Aishisten waren, missfiel Martin Sorck sehr. Noch störte ihn die Qualität in geringerem Maße als die schiere Quantität der Besucher, die sich allesamt in ein schmales Stahlgehäuse quetschen würden. Doch zunächst: Eis.

Aus Zeit- und Unlustgründen stellte sich Sorck an der erstbesten Eisdiele in eine schnurgerade, paramilitärisch geordnete Warteschlange.

Jeder Bediente trat in schnellem Schwung ab, um den im Gleichschritt Nachrückenden Platz zu machen. Befehle brauchten nicht mehr gebellt zu werden. Hier fanden sich ausschließlich Indoktrinierte.

Nur Martin tippelte mit den Füßen, guckte sich links und rechts um, schaute in die Luft, verpasste seinen Anschluss beim Vorrücken der Kolonne. Unterzuckerung machte ihn nervös. Hibbelig kratzte er sich den Hals, zog hastig seine Nase hoch.

Endlich war er an der Reihe.

Sirupjunky Sorck wisperte zum Eisdealer, seinem Saccharose-Samariter, im Flüsterton eine Bestellung von drei fettigen Glückshormonen im Hörnchen, einer Diabetikerflagge: Erdbeer-Vanille-Schoko. Mit Sahne.

Zufrieden schleckend suchte Sorck sich eine Sitzgelegenheit. Zeit für Erinnerungen an Wohnungen, die wie ausgebombte Bunker wirkten, und für existentiellen Horror gab es später noch genug. Jetzt war Zeit für Zucker.

Mit einem Seufzen drangen die Gedanken an die verbrannten Zettelsammlungen, die Listen und Aufzeichnungen doch wieder in sein Bewusstsein. Einen kleinen Stapel blanker, doppelt gefalteter Papierbögen trug Martin in der Tasche. Träge gab er seinem Impuls nach, zog die Bögen hervor und schrieb nieder, was bisher geschehen war, notierte Details der Zugfahrt, des Bahnhofs und der Eisdiele. Vorsichtig schlich er sich an der erneuerten Warteschlange vorbei zum Schalter. Die Informationen, die er erhielt, wurden mit geringschätzigen Gesichtsausdruck preisgegeben. Doch endlich konnte Sorck die Adresse der Eisdiele hinzufügen, um seine Daten zu komplettieren.

In geknickter Stimmung trottete der Listenmacher zum Bahnhofschließfach und holte seine Koffer. Hinter dem Parkplatz befand sich bereits das Hafenbecken und in ihm die SSCF Aisha Harmonia. Bevor er endlich an Bord gehen konnte, musste er jedoch wie alle übrigen Passagiere ordentlich abgefertigt werden. Eigens dafür errichtet, streckte sich das Warnemünder Cruise Center, ein graues Blechdach in Form einer Rampe ins Nichts, über Stahlstreben und eine Glasfront vergebens zum Meer. Niemals sollte diese architektonische Sehnsucht gestillt werden. Boshaft spiegelte sich Harmonias Flanke in den Fenstern der Abfertigungshalle, beschaute sich in ihrer leeren Pracht.

Das Gebäude war bis zum Erbrechen gefüllt mit vorfreudigen Bald-Reisenden, die brav in mehreren Reihen warteten, um betrachtet, durchleuchtet, überprüft und hoffentlich verschifft zu werden.

Martin Sorck hielt der uniformierten Ticketkontrollfachkraft seine Reisepapiere hin. Mürrisch scannte sie den Strichcode seiner Karte und untersuchte die Korrektheit des Russland-Reisevisums. Wortlos schob sie ihm einen Apparat zu. Da er nicht wusste, was er damit anzufangen hatte, betrachtete er die kleine Mikrowelle wortlos; beide betrachteten sie wortlos.

Mehr unwillig als freundlich griff sie Sorcks rechte Hand und schob diese ins Gerät. Alles weitere lief automatisch. Es dröhnte leise. Gleichzeitig wies die Schalterdame ihn auf eine kleine Kamera, die auf Kopfhöhe angebracht war, hin, in die Martin unwillkürlich blickte. Auf einem Bildschirm tauchte sein Foto auf.

Ein warmes Licht fuhr seine Handfläche entlang. Als er die Hand wieder herausziehen wollte, schnappte ein Mechanismus zu, quetschte sie leicht zusammen und stach in seinen Finger.

»Foto, Fingerabdrücke, Blutgruppe. Für den besten Service, die schnellste Versorgung bei Verwundungen oder nötigenfalls, um eine Identifikation zu erlauben.«

Diese Ansage war geübt.

Man gab seiner Hand fast unbeschädigt die Freiheit wieder.

Zum Abschluss der Prozedur erhielt Martin Sorck einen Anhänger, der ihn offiziell als Passagier der Harmonia identifizierte. Er ähnelte den Hundemarken des Militärs, Dog Tags, was der kriegerischen Geschichte des Bootes geschuldet sein mochte, und funktionierte nach einem ähnlichen Prinzip. Bei jeder Rückkehr an Bord, nach jedem Außeneinsatz, wurde ein kleines Stück zu Kontrollzwecken abgebrochen – wie im Todesfall eines Soldaten. Und man kehrt schließlich auch toter zurück als man losgezogen ist: die Zeit rennt und die Zellen sterben.

Kontinuierlich belastet mit zwei Koffern und einer unsicheren Zukunft schlurfte Abenteueranwärter Sorck weiter zum Security Check – im Gepäck versteckt mitzubringen verboten: Batterien, Feuerzeuge und Sprengstoffe jedweder Art – und stellte die Koffer auf ein schwarzes Laufband.

Während sein Besitz geprüft wurde, musste er einen Metalldetektor passieren. Die Maschine blieb stumm. Dennoch trat ein schwarz uniformierter Herr vor. Seine breiten Schultern und das hagere Gesicht verliehen ihm das abhorreszierende Äußere eines Leichnams auf Steroiden. Sorck schreckte unwillkürlich zurück. Neben ihm hievte man seine Koffer auf einen Rollwagen; der Transport zur Kabine war im Preis inbegriffen.

Mit größtem Eifer suchte der abominabel wirkende, abgeblüht aussehende Sicherheitsoffizier mithilfe eines tragbaren Detektors nach Metallen und versteckten Verstößen gegen die Sicherheitsbestimmungen an Martins Leib. Erneut erschallte kein Ton.

Freundlich aber bestimmt nahm er Sorck zur Seite, sondierte nervös die Umgebung und drückte ihm etwas in die Hand.

»Viel Glück«, flüsterte er und schickte ihn weiter.

Zwei Schritte später beäugte der konfuse Passagier sein Geschenk. Es handelte sich um den Griff einer Zahnbürste, an dessen Spitze eine Rasierklinge befestigt war.

Nach Verlassen des Cruise Centers, als er zum Steg gelangte, hielt er noch immer die selbstgebastelte Gefängniswaffe in Händen. Erschrocken schleuderte er sie mit der größten Nonchalance, der er mächtig war, ins Hafenbecken. Ein enttäuschtes Kopfschütteln der Begrüßungscrew war sein Dank. Doch Sorck trug das korrekte Dog Tag und durfte an Bord.

Durch lange Gänge, Wendeltreppen und Aufzüge trottete er mit stumpfen, schweren Augen auf seine Kajüte zu. Innenkabine, keine Aussicht, Doppelbett, Fernseher, Schrank, Plastikbad.

An der Technik hatten die Schiffsbauer nicht gespart. Der Fernseher war moderner als Martins Gerät daheim. Nun, moderner als das Gerät, das er daheim genutzt hatte, bevor es sich in einen Kohleklumpen verwandelte.

Aber was ihn noch mehr beeindruckte, war die Wand. Beinahe die gesamte Wandfläche bestand aus einem einzigen digitalen Bilderrahmen, der mit holpriger Regelmäßigkeit hochaufgelöste Bilder durchwechselte. Zur Ansicht eines Sonnenuntergangs war Martin eingetreten. Am Horizont versank der Stern in leuchtenden Rottönen.

Martin Sorck legte seine Koffer aufs Bett, während das Foto eines ruhigen Meeres auf den weiteren Urlaub einstimmte. Schon meinte er das Säuseln des Wassers hören zu können, das sanfte Rauschen der Wellen, die sich gegen einen weißen Strand drängen. Er begann auszupacken.

Die Hindenburg verwandelte sich am sechsten Mai 1937 in einen Feuerball in der Luft und die Kabine nun in einen lauen, glutroten Ofen, der bald wieder seine Farben der Temperatur anpassen sollte: ein Picasso aus der Blauen Phase. Mit gesenktem Haupt saß ein alter Mann Gitarre spielend im Schneidersitz an Martin Sorcks Zimmerwand, während er seine Socken verräumte. Seufzend nahm er ihn zur Kenntnis, nickte vor sich hin. Da wechselte die Szenerie erneut. Eine Rorschach-Klecksographie poppte auf und nahm seine Aufmerksamkeit gefangen. Intensiv betrachtete er das Testbild, las »Tafel 1« am unteren Rand und erkannte sofort ein Augenpaar, das traurig zu Boden blickte, kraftlos, weil alle Tränen längst vergossen waren.

Die Badezimmerutensilien verstaute Sorck mit einer grünen Wiese im Hintergrund, die sich saftig, endlos erstreckte und ihren frischen Duft ahnen ließ. Lachende Kinder auf einem Spielplatz nervten Martin beim Verstauen seiner Hemden. Kurz vor dem Wechsel zum nächsten Bild meinte er zu sehen, dass die Spielgeräte alt, verrostet und halb zerstört waren. Doch das wusste er nicht mit Sicherheit, da er zu spät darauf aufmerksam und zu sehr vom nächsten Bild in Beschlag genommen wurde. Auf einem alten Foto arbeiteten Männer mit großen Hämmern in einem Steinbruch. Ihre Füße waren angekettet, ihre Gesichter schmutzig und abgezehrt. Langsam zweifelte er den Unterhaltungswert dieser Attraktion an.

Die nächsten Bilder betrachtete er jeweils nur kurz, um endlich mit den Koffern fertig zu werden. Rodins Le Penseur tauchte auf und wurde von fleißigen Trümmerfrauen abgelöst. Mittlerweile war Martin fertig geworden. Ein weiteres Bild erschien. Wie gefesselt starrte er bewegungslos darauf. Zwei sandige Vögel und ein Mann in einem Trenchcoat. Er fragte sich, ob es das selbe Rorschachbild wie zuvor war, und ob er ernsthaft seine seltenen ruhigen Kabinenaufenthalte neben dieser medialen Monstrosität verbringen wollte.

Keine Stunde benötigte er, um Argumente und Mut für einen Gang zum Serviceschalter zu sammeln, diesem durchgängig lächelnd besetzten Schreibtisch mittschiffs, und sich zu beschweren. Oder im Verzagensfall nachzuhören, was es mit der Bebilderung auf sich hatte.

»Dies ist das Halbbrüder-Paket, eine Kombination aus Ares- und Apollonmodell, ein Standard-Entspannungsprogramm inklusive subtil anregender Elemente für unsere kultivierteren Reisenden, Herr Sorck.«

Im Vorfeld hatte er der Dame vorsorglich seinen Namen vorenthalten.

»Trotz aller Freundlichkeit und Fürsorge, die deutlich aus dem Bilderprogramm spricht, täten Sie mir doch einen großen Gefallen, wenn die Auswahl abgeändert oder wenigstens auf ein einziges Bild begrenzt werden könnte.«

Auf magische Weise gelang es seinem Gegenüber, auch im Laufe des Sprechaktes die perfekte Gleichtönigkeit des Lächelns keinen Deut abzuwandeln.

»Wir erfüllen gerne jeden Wunsch unserer hochverehrten Reisegäste, aber aus technischen Gründen kann nur eine Bildfolge, kein Einzelbild auf Dauer angezeigt werden. Außerdem ist dieser Service kostenlos.«

Das war natürlich ein Argument.

Martin zögerte.

»Dann stellen Sie doch bitte das Gerät vollständig ab.«

»Das widerspräche unserer Unternehmensphilosophie. Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, dass bei Studien eine Verringerung von Beklemmung, Kabinenkoller und weiteren Angstzuständen sowie eine erhöhte Teilnahme an Schiffsaktivitäten bei Testsubjekten in Bildschirmkabinen festzustellen waren. Der freigegebene Abschnitt der Befragungsprotokolle suggeriert, dass die gesteigerte Aktivität nicht ausschließlich auf einen Fluchtreflex vor dem Bildschirm zurückzuführen sei. Im Übrigen soll Sie die subtile optische Untermalung ihrer Kabinenzeit entspannen, auf zukünftige Aufgaben vorbereiten, Langeweile vertreiben sowie dienlich sein, Ihre Laune zu heben. Sie wollen doch keine schlechte Laune verbreiten. Oder, Herr Sorck?«

Seine kultivierte Gegenfrage lautete: »Was, wenn doch?«

Das Schicksal seiner Provokation war ebenso still wie grausam, da sie in Grund und Boden gelächelt und aus der Existenz fortignoriert wurde.

»Eine Lösung, die ich Ihnen für einen winzigen Aufpreis anbieten könnte, wäre unser Eros-Service oder ein Upgrade auf das Fußballpaket Nike für domestizierte Reisende.«

Martins Gesicht erstrahlte wie eine Wärmelampe.

Die Chance war verpasst, auf der Stelle und voller Empörung ein satt hostiles »NEIN!« auszurufen. Schuld daran war wieder einmal sein Zögern. Wer weiß, was die anonyme Person, deren Gesicht er in den nächsten Minuten vergessen haben sollte, nun über ihn dachte. Hielt sie ihn für einen dauermasturbierenden Stadionrabauken, einen Schwerenöter, Sittenstrolch und Bierdosenproleten?

Konsequenter Weise begann er zu stottern. »H-hören S-Sie«, sprach er. »Ich weigere mich, weigere mich, von meinem D-Doppelbett aus ständig ein so-solches Geflimmer zu sehen! Wie kommen Sie denn überhaupt auf die Kategorisierung? Woher stammen Ihre Informationen?«

»Das werden wir auf der Stelle korrigieren. Ein Doppelbett hat in der Kabine eines Alleinreisenden nichts verloren.«

Sie lächelte freundlich. Martin war augenscheinlich nicht bewusst, wie er guckte.

»Sie haben direkt oder indirekt den allgemeinen Geschäftsbedingungen sowie den Cookie-Richtlinien auf unserer Website zugestimmt, als diese Reise gebucht wurde. Gründlich wie unser Online Service Team arbeitet, hat man ein Profil von Ihnen und Ihren Interessen entwickelt, Sie eingeordnet und kategorisiert. Des Weiteren arbeiten wir selbstverständlich mit anderen Unternehmen zusammen, um Ihr Erlebnis im Internet, unterwegs und zu Hause zu verbessern, unseren Service weiter auszubauen und Ihnen jedwede Last abzunehmen, die wir für Sie übernehmen können. Ist Ihnen beispielsweise nicht aufgefallen, dass man Ihnen passend zur Reise per E-Mail, Post und SMS Produkte vorgeschlagen hat? Sonnenbrille, Echtleder-Flip-Flops, Klappmesser?«

Martin hatte genug gehört, sogar mehr, als er wollte, und ließ die Servicekraft stehen. Eifrig rief sie ihm hinterher: »Ich vertraue auf Ihre Adaptabilität, Herr Sorck, und hoffe notfalls auf Akkommodation!«

Kaum hatte sich Fachlagerwirtschaftspackexperte Martin Sorck wieder auf sein Bett gesetzt, stürmte eine Kolonne irritierend schnell sprechender Frauen in beigen Kleidern hinein und stellte ihn sanft aber bestimmt zur Seite. Gekonnt hoben sie das Bett an, drehten es hochkant und hievten es aus der Kabine. Bloß eine von ihnen trug klugerweise einen Gewichthebergürtel, derweil vertrauten die anderen ihren Bandscheiben vollends.

Auf den Flur und hinter der diebischen Truppe her hastend rammte Sorck eine zweite Bande beiger Bediensteter, die ein Einzelbett in Richtung seines Zimmers schleppten. Wie gegen eine Wand prallte er gegen den haarigen, gestählten Unterarm einer gigantischen Putz-Primadonna. Abschätzig schnaubte sie den am Boden liegenden Aus- und Umgebetteten an, stieg über ihn hinweg wie ein braver Soldat über den erschlagenen Feind und wuchtete – ein menschlicher Kran! – die neue Sorck'sche Bettstatt ins Gemach des Niedergestreckten, während ihre Kolleginnen bereits zu neuen Abenteuern aufgebrochen waren. Nun endlich sagte das Zimmer, was auch Martins Augen verrieten: Dieser Mann schläft allein – und nicht besonders gut.

Fortan war genug Platz vorhanden, um Sport oder ähnliche Dinge zu treiben, was Martin keineswegs vorhatte.

Auf der neuen Single-Schlafgelegenheit sitzend entdeckte er eine Broschüre, die wohl vorher unter dem Doppelbett versteckt gelegen hatte.

»Die SSCF Aisha Harmonia und ihre Crew begrüßen Sie herzlich an Bord.«

Harmonia, Göttin der Eintracht, war ein Kind aus der Liebschaft des Ares, des Kriegsgottes, und der Aphrodite, Göttin der Lust. Die Zusammenhänge waren dem Einzelreisenden Sorck noch nicht ganz klar.

Als Knecht des Phobos aber fühlte er sich nicht ganz fehl am Platz in seinem Schwesterschiff, nicht mehr zumindest als überall sonst.

Alles in allem versprach dies, ein guter letzter Urlaub zu werden.

---ENDE DER LESEPROBE---