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Jede vierte Frau ist im Verlauf ihres Lebens von häuslicher Gewalt betroffen. Sozialprofessionelle Projekte bieten ihnen Hilfe und Schutz an. Das Buch informiert über die Entstehung, die Arten, das Ausmaß, die Folgen und Dynamiken von Gewalt sowie über Einflussfaktoren auf das Hilfesuchverhalten von gewaltbetroffenen Frauen. Zudem stellt es die Hilfelandschaft im Anti-Gewalt-Bereich, deren Interventionen, den rechtlichen Rahmen sowie Kooperationspartnerinnen und -partner und deren Aufgaben vor. Grundsätze der Beratung von gewaltbetroffenen Frauen mit unterschiedlichen Hilfebedarfen werden mit Blick auf die Besonderheiten der helfenden Beziehung zwischen Sozialarbeitenden und Adressatinnen fokussiert. Anhand der Auswirkungen der Corona-Pandemie und zwei exemplarischen Fällen werden aktuelle Herausforderungen aufgezeigt.
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Seitenzahl: 388
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Cover
Titelei
Einleitung
1 Häusliche Gewalt
1.1 Entstehung
1.2 Arten
1.2.1 Physische Gewalt
1.2.2 Psychische Gewalt
1.2.3 Emotionale Gewalt
1.2.4 Soziale Gewalt
1.2.5 Sexuelle Gewalt
1.2.6 Ökonomische Gewalt
1.3 Ausmaß häuslicher Gewalt
1.4 Dynamiken häuslicher Gewalt
1.4.1 Der Kreislauf der Gewalt
1.4.2 Trennungshemmnisse und Gründe, die eine Trennung erschweren
1.4.3 Der Zusammenhang zwischen Bindungsmustern und häuslicher Gewalt
1.4.4 Die vier Muster der Gewaltdynamik
1.4.5 Das »Stockholm-Syndrom«
1.5 Folgen häuslicher Gewalt
1.5.1 Körperliche Auswirkungen
1.5.2 Psychische Auswirkungen
1.5.3 Psychosomatische Auswirkungen
1.5.4 Gynäkologische Auswirkungen und Folgen für die reproduktive Gesundheit
1.5.5 Gesundheitsgefährdende (Überlebens-)Strategien
1.5.6 Soziale Auswirkungen
1.5.7 Sozioökonomische Folgen
1.5.8 ›Potenzierende‹ Effekte
1.5.9 Folgen für die Kinder
1.6 »Protektive« Faktoren
1.7 Gesellschaftliche Reaktionen auf häusliche Gewalt
1.7.1 Empowerment-Strategien
1.7.2 Die Rolle der Massenmedien
1.7.3 Gesetzliche Regelungen und ihre Wirkungen
1.7.4 Krisenintervention bei häuslicher Gewalt
1.8 Determinanten des Hilfesuchverhaltens und Coping bei häuslicher Gewalt
1.8.1 Soziodemografische Faktoren
1.8.2 Gesundheitsfaktoren
1.8.3 Personale und soziale Ressourcen und Barrieren
1.8.4 Multiple Gewaltbiografie
1.8.5 Häufigkeit und Schwere der Gewalt
1.8.6 Weitere Einflussfaktoren
2 Soziale Arbeit mit gewaltbetroffenen Frauen
2.1 Hilfebedarfe
2.2 Prinzipien der Sozialen Arbeit mit gewaltbetroffenen Frauen
2.3 Hilfeformen
2.3.1 Beratung
2.3.2 Unterbringung
2.3.3 Kooperation, Vernetzung, Gremienarbeit
2.3.4 Vermittlung von Informationen, Kenntnissen, Fähigkeiten
2.3.5 Qualitätsmanagement und Projektmanagement
2.4 Rollenvielfalt in der Sozialen Arbeit
2.4.1 Klinische Sozialarbeit mit gewaltbetroffenen Frauen
2.4.2 Die Sozialarbeiterin in verschiedenen Rollen
2.5 Auf häusliche Gewalt spezialisierte Stellen
2.5.1 Beratungsstellen
2.5.2 Interventionsstellen
2.5.3 Frauenzufluchtswohnungen
2.5.4 Frauenhäuser
2.5.5 Frauennotrufe
3 Handlungstheoretische und methodische Hintergründe
3.1 Sozioedukation/Psychoedukation
3.2 Nähe-Distanz-Verhältnis
3.3 Selbstreflexionsfähigkeit
3.4 Subjektive und objektive Falleinschätzung
3.5 Parteilichkeit in Arbeitsweisen und Methoden
4 Rechtliche Grundlagen
4.1 Frauenrechtskonvention
4.2 Zivilpakt, Sozialpakt, Kinderrechtskonvention und weitere relevante Konventionen
4.3 Istanbul-Konvention
4.4 Strafrechtliche und zivilrechtliche Schutzmöglichkeiten
4.5 Rechtliche Interventionsmöglichkeiten
5 Intervention – Beteiligte, Kooperationspartner*innen und Aufgaben
5.1 Polizei
5.2 Jugendamt und freie Jugendhilfe
5.3 Familiengericht
5.4 Staatsanwaltschaft und Strafgericht
5.5 Unterstützungseinrichtungen für von Gewalt betroffene Frauen
5.6 Rechtliche Rahmenbedingungen der Kooperation
6 Rolle und Auftrag des Gesundheitswesens
6.1 Das Gesundheitswesen als Anlaufstelle bei häuslicher Gewalt
6.2 Häusliche Gewalt als Krankheitsursache erkennen
6.3 Berufsgruppen, die im Gesundheitswesen mit häuslicher Gewalt konfrontiert sind
6.4 Was verhindert die Frage nach häuslicher Gewalt im Gesundheitswesen?
6.5 Warum Gewalt anzusprechen wichtig ist
6.6 Die Rolle der Aus- und Weiterbildung
6.7 Inhalte von Fort- und Weiterbildungen zu häuslicher Gewalt
6.8 Empfehlungen für das Vorgehen im Gesundheitsbereich
7 Häusliche Gewalt und Corona
7.1 Risikofaktoren auf den Ebenen der Gewaltentstehung
7.2 Häufigkeit/Entwicklung der Fallzahlen
7.3 Maßnahmen und Empfehlungen zur Gewaltprävention unter Pandemiebedingungen
8 Fazit
9 Fallbeispiele
9.1 Fallbeispiel 1: Frau S.
9.2 Fallbeispiel 2: Frau U.
Literatur
Anhang
I Ansprechpartner*innen/Hilfeprojekte/Kontaktdaten
II Sicherheitsplan
III Notfallkoffer
IV Handzeichen bei häuslicher Gewalt
Die Autorin
Dr. Juliane Wahren ist Professorin für Soziale Arbeit an der IU Internationale Hochschule. Ihr Forschungsinteresse gilt den Themen häusliche Gewalt, soziale Gesundheit(-sförderung), soziale Unterstützung und Digitalisierung in der Sozialen Arbeit.
Sie ist Diplom Sozialarbeiterin/-pädagogin (FH) und MA Klinische Sozialarbeit. Sie war langjährig als Projektleiterin einer Beratungsstelle für gewaltbetroffene Frauen und von Frauenzufluchtswohnungen tätig. Kontakt: [email protected].
Ausgewählte Publikationen
Wahren, J. (2016): Soziale Unterstützung für gewaltbetroffene Frauen. Neue Wege der Gesundheitsförderung. Marburg: Tectum.
Wahren, J. (2015): Klinische Sozialarbeit und Häusliche Gewalt. Neue Erkenntnisse in der Arbeit mit gewaltbetroffenen Frauen. Hamburg: Diplomica Verlag GmbH.
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1. Auflage 2023
Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:ISBN 978-3-17-035737-2
E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-035738-9epub: ISBN 978-3-17-035739-6
Häusliche Gewalt ist ein Phänomen, das weltweit existiert und unabhängig von Bildung, sozialer Lage, Einkommen, Nationalität oder Alter auftritt. Sie ist jede Form der Verletzung zwischen (Ex-)Partner*innen, die zielgerichtet erfolgt. Sie ist erlernt und die Gewaltausübenden sind vollumfänglich für ihr Verhalten verantwortlich. Häusliche Gewalt ist darauf ausgerichtet, Kontrolle über eine andere Person zu bekommen und Macht (wieder) zu erlangen. »Gewalttätiges Verhalten ist in historische und gesellschaftliche, insbesondere das Genderverhältnis betreffende Kontexte eingebunden und dient überwiegend der Stabilisierung und Erhaltung von Machtverhältnissen« (BMFSFJ 2019: 5). Beziehungsgewalt kann mit kontrollierendem Verhalten einhergehen, das schwerwiegende und lang andauernde negative Auswirkungen haben kann.
In über 80 % sind die Betroffenen Frauen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sieht häusliche Gewalt inzwischen als eines der größten Gesundheitsrisiken für Frauen weltweit an (vgl. Krug et al. 2005). Die erste repräsentative Studie zu häuslicher Gewalt gegen Frauen in Deutschland, die Prävalenzstudie, kommt zu dem Ergebnis, dass in Deutschland ein Viertel aller Frauen jemals in ihrem Leben von körperlicher und/oder sexueller Gewalt in der Partnerschaft betroffen sind (vgl. Müller/Schröttle 2004a). Bei einem Einwohnerinnenanteil von derzeit 42,2 Millionen Frauen in Deutschland sind das über 10 Millionen, die jemals im Leben häusliche Gewalt erleiden. Für psychische Gewalterfahrungen liegen die Zahlen noch höher (40 %) (vgl. ebd.). Mit dem Bewusstsein für diese Ausmaße ist es nicht verwunderlich, dass Soziale Arbeit auf häusliche Gewalt als gesellschaftliches soziales Problem reagiert. Nicht erst seit der Unterzeichnung der Frauenrechtskonvention ist der Gegenstand häusliche Gewalt in der Sozialen Arbeit präsent. In Beratungs- und Interventionsstellen, bei Frauennotrufen, in Frauenhäusern und Frauenzufluchtswohnungen sind soziale Fachkräfte tagtäglich mit dem Thema und daraus resultierendem Leid und anderen Auswirkungen konfrontiert. Auch in Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit, die sich nicht explizit mit häuslicher Gewalt beschäftigen sowie im medizinischen Bereich sind gewaltbetroffene Menschen zu finden. Eine Sensibilisierung zum Erkennen der Anzeichen häuslicher Gewalt ist notwendig, um frühzeitig präventiv handeln und zielgerichtete Hilfe leisten bzw. an fachspezifische Stellen vermitteln zu können.
Das Buch beginnt mit einer Einführung in das Thema häusliche Gewalt (▶ Kap. 1). Dabei werden Entstehung, Arten, Ausmaß und zugrunde liegende Dynamiken in den Blick genommen, deren Kenntnis zum Bewusstsein beiträgt, warum es so schwierig sein kann, sich aus einer gewaltgeprägten Beziehung zu lösen. Die Folgen häuslicher Gewalt sowie »protektive« Faktoren, gesellschaftliche Reaktionen auf häusliche Gewalt, Determinanten des Hilfesuchverhaltens und Coping in Fällen häuslicher Gewalt stehen zudem im ersten Kapitel im Mittelpunkt. Die theoretischen und empirischen Erkenntnisse wurden durch Beispielzitate von gewaltbetroffenen Frauen ergänzt, um deren Situation noch stärker zu verdeutlichen. Diese stammen aus Interviews, die mit den Betroffenen im Rahmen einer Studie geführt wurden (vgl. Wahren 2016). Um keine Rückschlüsse auf die Befragten zu ermöglichen, wurden die Namen geändert.
Anschließend werden im zweiten Kapitel, als Reaktion auf die Hilfebedarfe der Betroffenen, die Hilfeformen und Aufgabenbereiche der Sozialen Arbeit mit gewaltbetroffenen Frauen aufgezeigt, auf häusliche Gewalt spezialisierte Hilfeangebote vorgestellt sowie die unterschiedlichen Rollen aufgezeigt, in denen soziale Fachkräfte in diesem Handlungsfeld agieren (▶ Kap. 2). Im dritten Kapitel werden handlungstheoretische und methodische Hintergründe thematisiert, die für Sozialarbeitende in Hilfe- und Schutzeinrichtungen für gewaltbetroffene Frauen bedeutsam sind, z. B. Psycho- und Sozioedukation (▶ Kap. 3). Kapitel 4 beschäftigt sich mit rechtlichen Grundlagen und Interventionsmöglichkeiten im juristischen Bereich (▶ Kap. 4). Da Soziale Arbeit oft in Kooperation mit anderen Professionen interdisziplinär erfolgt, werden im fünften Kapitel die an Interventionen beteiligten Kooperationspartner*innen und deren Aufgaben vorgestellt (▶ Kap. 5). Häusliche Gewalt ist ein soziales Problem, das mit schwerwiegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen einhergehen kann. In vielen Fällen ist der Kontakt zum Gesundheitswesen aufgrund der Gewaltfolgen die erste Möglichkeit für die betroffenen Frauen Hilfe zu suchen bzw. zu bekommen. Daher sind die im Gesundheitswesen Tätigen wichtige Kooperationspartner*innen für die Anti-Gewalt-Projekte. Ein sensibles Ansprechen des Gewaltverdachts, z. B. bei dem Zahnarzt oder der Zahnärztin, dem Gynäkologen oder der Gynäkologin kann den Weg zu Schutzeinrichtungen und in ein gewaltfreies Leben ebnen. Aufgrund der Bedeutsamkeit der medizinischen Fachkräfte beim Ansprechen und Aufdecken von häuslicher Gewalt werden im sechsten Kapitel Rolle und Auftrag des Gesundheitswesens thematisiert (▶ Kap. 6).
In den letzten beiden Jahren berichteten die Medien über den Anstieg häuslicher Gewalt aufgrund der Corona-Pandemie. Inzwischen liegen erste Studienergebnisse vor, die im siebenten Kapitel Raum finden (▶ Kap. 7). Dabei werden die Fallzahlen und pandemiebedingte Risikofaktoren beleuchtet und daraus schließend Maßnahmen und Empfehlungen zur Gewaltprävention unter Pandemiebedingungen auf unterschiedlichen Ebenen aufgezeigt. Nach einem Fazit zur Sozialen Arbeit mit gewaltbetroffenen Frauen (▶ Kap. 8) wird anhand von zwei Fallbeispielen zum einen die Situation gewaltbetroffener Frauen dargestellt (▶ Kap. 9). Zum anderen wird exemplarisch das Vorgehen der Sozialen Arbeit in diesen Fällen aufgezeigt. Ein herzlicher Dank geht an die gewaltbetroffenen Frauen, die einen Einblick in ihr Leben erlauben. Auch den Mitarbeiterinnen des offensiv›91 e. V. möchte ich für das Zurverfügungstellen der beiden Fallbeispiele am Ende des Buches danken.
Im Anhang befinden sich Adressen und Kontaktinformationen von Hilfeprojekten, ein Sicherheitsplan und eine Checkliste für den Notfallkoffer, zudem die Abbildung eines Handzeichens, an dem gewaltbetroffene Frauen erkannt werden können.
Dieses Buch soll einen Beitrag zur Aufklärung über das Phänomen häusliche Gewalt gegen Frauen leisten und die Spezifika der Sozialen Arbeit mit diesen herausstellen. Es richtet sich an Fachkräfte und Studierende der Sozialen Arbeit und andere an der Thematik Interessierte.
Häusliche Gewalt ist ein komplexes Geschehen, das schwer zu fassen ist. Wenn von Gewalt im sozialen Nahraum, familiärer Gewalt, Beziehungsgewalt oder Domestic Violence, Intimate Partner Violence im englischsprachigen Raum gesprochen wird, ist häusliche Gewalt gemeint. Die aufgeführten Begrifflichkeiten werden synonym verwendet. Wie häusliche Gewalt definiert wird, variiert je nach juristischer, polizeilicher, sozialarbeiterischer oder (sozial-)wissenschaftlicher Sichtweise.
Definition: Häusliche Gewalt in der Sozialen Arbeit
In der Sozialen Arbeit werden unter dem Terminus häusliche Gewalt alle Gewaltformen gefasst, die zwischen erwachsenen Personen stattfinden, die in einer nahen Beziehung stehen oder standen oder deren Beziehung sich in Auflösung befindet. Oft sind dies (ehemalige) Partnerschaften, aber auch andere Verwandtschaftsbeziehungen können zugrunde liegen (vgl. BIG o. J.). Die eigene Wohnung, die als Schutz- und Rückzugsort gelten sollte, wird zur Bedrohung für die physische und psychische Integrität und möglicherweise zur Gefahr für die Gesundheit und das eigene Leben. Das subjektive Empfinden der Betroffenen ist ausschlaggebend dafür, ob es sich um häusliche Gewalt handelt oder nicht, unabhängig davon, ob ein Straftatbestand vorliegt.
»Unter Gewalt wird [...] jede zielgerichtete Verletzung der körperlichen, seelischen und sozialen Integrität einer anderen Person verstanden. Häusliche Gewalt kann ein Muster von kontrollierendem Verhalten beinhalten, das ernsthafte und langanhaltende negative Auswirkungen auf Wohlergehen, Selbstwertgefühl, Autonomie, körperliche und seelische Gesundheit der geschädigten Person haben kann. Häusliche Gewalt beinhaltet physische, psychische, sexualisierte, soziale, emotionale und ökonomische Gewalt, Isolation, Stalking, Bedrohung und Einschüchterung« (BMFSFJ 2019: 5).
Dieses Zitat verdeutlicht, dass sich häusliche Gewalt nicht auf körperliche Gewalt reduzieren lässt, auch wenn diese Gewaltform vordergründig die deutlichsten Spuren hinterlässt. Weiterhin ist fraglich, ob jede aggressive Handlungsweise, die sich gegen (ehemalige) Beziehungspartner*innen richtet, unter den Terminus »häusliche Gewalt« fällt. Gloor und Meier (2010) unterscheiden zwischen Gewalt als spontanem Konfliktverhalten und systematischem Gewalt- und Kontrollverhalten. Manche Paare neigen in Konfliktsituationen zu physischen Aggressionen, die durch verschiedene Meinungen und Diskussionen ausgelöst werden und unter Umständen in gewalttätigem Verhalten enden. Die Gewalt tritt in diesen Paarkonstellationen nicht regelmäßig auf, wird eventuell von beiden Seiten ausgeübt und ist das Resultat eines entgleisenden Konflikts.
Abzugrenzen davon ist nach Gloor und Meier (vgl. ebd.) systematisches Gewalt- und Kontrollverhalten. Dieses setzt sich aus wiederkehrenden Einschüchterungen, Drohungen, unterdrückenden Verhaltensweisen einer Person gegen die andere Person zusammen. Ziel ist es, Macht auszuüben, den anderen zu unterwerfen und eine Atmosphäre der Angst und Kontrolle zu schaffen. Auch körperliche Gewalttaten und Einschränkungen des Gegenübers werden eingesetzt, um langfristig asymmetrische Machtverhältnisse aufzubauen und zu sichern. Die Vormachtstellung der gewalttätigen Person bestimmt die Dynamik in der Paarbeziehung. Nicht selten separieren sich in dieser Phase Freundschaften oder nahestehende Familienmitglieder, da sie die Spannungen in der Paarkonstellation nicht gutheißen, aber nicht wissen, wie sie damit umgehen bzw. der ›schwächeren‹ Person beistehen können, ohne dass diese Nachteile in der Beziehung erdulden muss. Hier ist eine klare Positionierung gegen Gewalt gefragt. Doch wie entsteht häusliche Gewalt?
Die Erklärung für die Entstehung häuslicher Gewalt existiert nicht. Vielmehr gibt es verschiedene Erklärungsmodelle zur Gewaltentstehung allgemein und im Besonderen im Bereich der häuslichen Gewalt. Historische Erklärungsmodelle zur Gewaltentstehung waren biologische, psychoanalytische, psychopathologische Ansätze. Biologische Ansätze gehen davon aus, dass gewalttätige Übergriffe zur Verbreitung des eigenen Erbmaterials und zur Sicherung der Art beitragen (vgl. Wascher 2013). Psychoanalytische Ansätze erklären Gewalt zwischen Menschen mit dem Todestrieb, der als eine biologisch angelegte Tendenz der Selbstzerstörung verstanden wird. Diese wird nach außen getragen und auf andere projiziert (vgl. Crain 2008). In psychopathologischen Ansätzen stehen psychische Defizite, wie Eifersucht, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, Suchtmittelabhängigkeiten oder andere psychische Erkrankungen bei Männern im Fokus. Sie sollen ursächlich für die Gewaltentstehung sein. Dabei wird zwischen potenziellen Opfern differenziert, da bspw. gegenüber Arbeitgeber*innen oder männlichen Bekannten keine Gewalt ausgeübt wird, sondern gegen ›schwächere‹ Personen (vgl. Wascher 2013).
Die historischen Ansätze der Gewaltentstehung wurden im Laufe der Zeit und mit Fortschreiten der Forschung weiterentwickelt bzw. ergänzt um Theorien des sozialen Lernens, feministische Ansätze, machttheoretische Ansätze, symbolisch-interaktionistische Theorien, kulturtheoretische oder sozialstrukturelle Ansätze. Oft beziehen sich diese Anschauungen auf ein zentrales, die Gewalt förderndes Phänomen. »Ursprünglich bauten die Erklärungen auf der Asymmetrie [der Macht, Anm. J. W.] bei der Ausübung dieser Form von Gewalt auf und sahen einen Zusammenhang mit der Herrschaft und Kontrolle des Mannes« (Dobash/Dobash 2002: 930). Mithilfe dieser Modelle ist es möglich, die Hintergründe der Gewaltentstehung und Ausübung zu beschreiben, allerdings bleibt unklar, warum die Gewaltausübenden oft ausschließlich im häuslichen Umfeld agieren und nicht gegenüber anderen Personen(-Gruppen) handgreiflich werden.
Modell der sozialen und erziehungsbedingten Ursachen
Exemplarisch sei zuerst ein Modell der sozialen und erziehungsbedingten Ursachen beschrieben. Die Abwesenheit der Väter in Familien aufgrund von Trennung, langen Arbeitszeiten, Montagearbeiten etc. führt nach Wascher (2013) dazu, dass Jungen männliche Rollenmodelle fehlen. Damit wächst die Bedeutung außerfamiliärer Rollenbilder. Auch in Kindergarten, Hort und Schule begegnen Kinder überwiegend weiblichen Personen mit Erziehungs- und Bildungsauftrag. Das führt dazu, dass sich Jungen auf der Suche nach der eigenen Identität an klischeehaften Rollenbildern aus den Medien oder Filmen, Superhelden und dergleichen orientieren. Sie greifen auf stereotype männliche Verhaltensweisen zurück, um ein Selbstverständnis zu etablieren, dass sich im Lösungsprozess von der Mutter herausbildet. Da positive Rollenvorbilder fehlen, orientieren sich Jungen an stereotypen Rollenbildern, die auf einer eigenen Machtposition und der Unterordnung und Abwertung von Mädchen und Frauen basieren. Patriarchal geprägte Identitäten gehen oft mit mangelnder Emotionalität einher, das bedeutet, dass Jungen ihre Gefühle nicht ausleben dürfen, um in der männlichen Welt zu bestehen (»Ein Indianer kennt keinen Schmerz«, »Jungen weinen nicht«, »Du bist doch kein Mädchen«). Die Abspaltung der eigenen Hilflosigkeit, zwischen den äußeren Männlichkeitsanforderungen und dem inneren emotionalen Erleben, führt zu aggressivem Verhalten gegen ›Schwächere‹, zur Unterordnung und Abwertung von Frauen. Dieser Prozess bietet die Grundlage für spätere Gewaltanwendung, da ein Männlichkeitsbild konstruiert wird, das auf der allgegenwärtigen Macht von Männern gegenüber Frauen gegründet ist (vgl. ebd.).
Die Erklärungsmodelle zur Gewaltentstehung überschneiden und ergänzen sich oder bauen aufeinander auf. Daher ist es Konsens in der Forschung, dass eindimensionale Erklärungsansätze für die Entstehung häuslicher Gewalt nicht ausreichen und es sich bei dieser Thematik immer um ein komplexes mehrdimensionales Geschehen handelt. Dieses fußt weder allein auf Persönlichkeitsmerkmalen des Gewalttäters noch ausschließlich auf einer gewaltlegitimierenden Gesellschaftsstruktur. Zudem beschäftigen sich die meisten Forschungsarbeiten mit Einflussfaktoren auf männliche Gewaltausübung in heterosexuellen Partnerschaften und klammern die Sicht auf gewalttätige Frauen, Gewaltausübung in homosexuellen Partnerschaften und anderen Beziehungsformen oder Einflussfaktoren auf Gewaltausübung auf Seiten der Betroffenen aus.
Neuere Gewaltentstehungstheorien, z. B. systemtheoretische oder ökologische Ansätze beziehen mehrere Risikofaktoren ein und bieten so umfassendere Erklärungen zur Gewaltentstehung. Exemplarisch wird an dieser Stelle ein ökologisches Modell der Gewaltentstehung vorgestellt.
Ökologisches Modell
Ökologische Ansätze beruhen auf der Annahme, dass die Person, die unmittelbare Umwelt und größere Kontexte (z. B. das Gesellschaftssystem) sich dauerhaft wechselseitig beeinflussen und formen (vgl. Bronfenbrenner et al. 1981). Vertreter*innen dieser Ansätze gehen davon aus, dass »die Umwelt für Verhalten und Entwicklung bedeutsam ist, wie sie wahrgenommen wird und nicht, wie sie in der ›objektiven‹ Realität sein könnte« (Bronfenbrenner et al. 1981). Dafür sind drei Schichten von Bedeutung: die unmittelbare Umgebung (Mikrosystem), die sozialen Netzwerke und Institutionen, die auf die unmittelbare Umgebung Einfluss nehmen (Mesosystem) sowie ein ideologisches System, das soziale Netzwerke, Rollen, Institutionen und Tätigkeiten mit Motiven und Bedeutungen versieht (Makrosystem) (vgl. Bronfenbrenner/Lüscher 1976). In Bezug auf Gewalt bedeutet das, dass in Gesellschaften, in denen Gewalt toleriert oder sogar legitimiert wird, das Risiko der Gewaltanwendung steigt. Zudem kann die Akzeptanz von Gewalt in sozialen Netzwerken und Institutionen die Ausübung und das Erdulden von Gewalt unterstützen. Diese Faktoren wirken zusätzlich zu persönlichen Einstellungen, Glaubensätzen, Motiven etc., die auch gesellschaftlich geprägt werden. Eine Ausdifferenzierung der Schichten erfolgte in der Weiterentwicklung dieses ökologischen Modells. Bronfenbrenner (1990) spricht von konzentrischen, ineinander gebetteten Strukturen und benennt diese als Mikro-, Meso-, Makro-, Chrono- und Exosystem. Die Mikro-, die Meso- und die Makroebene wurden oben bereits vorgestellt. Mit dem Chronosystem ist die zeitliche Dimension gemeint, in der sich ein Individuum oder seine Umwelt wandeln bzw. nicht verändern. Das Chronosystem kann zum einen die Veränderung der Position in der Umwelt, einen Übergang bezeichnen, z. B. durch eine Veränderung der Rolle oder des Lebensbereiches. Dazu zählen bspw. der Wechsel der beruflichen Rolle beim Eintritt ins Rentenalter oder bei Arbeitsplatzverlust, Umzug, Eheschließung, Scheidung oder längere Erkrankung. Zum anderen beschreibt Bronfenbrenner (vgl. ebd.) eine Kette von Übergängen über einen langen Zeitraum als zweite Form des Chronosystems. Diese hat Einfluss auf funktionierende soziale Beziehungen. Die Familie als ökologische Nische soll der Verbesserung der Lernbedingungen und der Herstellung von Lebensqualität dienen und somit gelingende Sozialisation ermöglichen. Werden Lebensübergänge nicht (erfolgreich) bewältigt oder tritt eine Aneinanderreihung von Übergängen über eine lange Zeit auf, erhöht sich das Risiko der Gewaltentstehung in der Familie.
Das Exosystem wird bestimmt durch einen Lebensbereich, in dem Ereignisse stattfinden, die nicht unmittelbar mit der fokussierten Person in Verbindung stehen, aber sich auf den Lebensbereich dieser Person auswirken wie z. B. Unfall eines Kindes, Arbeitsveränderung des Partners oder der Partnerin. Der ökologische Ansatz der Gewaltentstehung bezieht sich auf Gewalt allgemein. Von Dutton (1985, 1988) wurde dieser in Bezug auf häusliche Gewalt gegen Frauen weiterentwickelt. Über den beschriebenen ökologischen Ansatz der Gewaltentstehung hinausgehend bezieht er die ontogenetische Entwicklung, z. B. Kindheitserfahrungen des Gewaltausübenden als Zeuge oder direkt Betroffener von Gewalt, das Empfinden und den Umgang mit Stress, erlernte Fähigkeiten, Empathie, verbale Fertigkeiten, emotionale Reaktionen und das Gewissen, dass eine Person ausgeprägt hat in den Erklärungsansatz ein (vgl. Dutton 1988). Die ontogenetische Entwicklung bezieht sich also auf Faktoren, die der*die Gewaltausübende im Verlauf eines Lebens erworben bzw. erfahren hat. Diese sind eingebettet in das Mikrosystem. Als Mikrosystem werden die familiäre Situation, die Kommunikationsmuster innerhalb dieser und die damit verbundenen Machtressourcen gesehen. Wechselwirkungen zwischen der ontogenetischen Ebene und der Mikrosystemebene treten auf, wenn die Reaktion auf bzw. der Umgang mit familiären Konflikten ontogenetisch erlernt wurden (vgl. ebd.).
Als dritte Ebene beschreibt Dutton das Exosystem, das (in-)formelle Strukturen z. B. Isolation und Stress beinhaltet, die auf das Mikrosystem einwirken. »[J]ob stress, unemployment and the presence or absence of social support systems, [...] low income, [...] and part-time-employment were also related to violence against spouses« (Dutton 1988: 53). Bedingungen auf der Ebene des Exosystems korrespondieren mit ontogenetischen und Mikrosystemfaktoren. Beispielsweise führt fehlende soziale Unterstützung nicht zwangsläufig zu gewalttätigem Verhalten, aber das Risiko für Gewalttätigkeiten kann steigen in Familien mit dysfunktionalen Interaktionsweisen bzw. bei Personen, die nicht über adäquate Stressbewältigungsstrategien verfügen und mit erhöhter Gewaltbereitschaft reagieren.
Dutton (vgl. ebd.) benennt die vierte Stufe des Systems als Makrosystem. Dieses basiert auf kulturellen Werten und Überzeugungsmustern. Häufig tragen rechtliche Bestimmungen und soziale Dienstleistungen zum Fortbestehen von Gewalt bei, z. B. durch aufenthaltsrechtliche Bedingungen oder fehlende Verurteilung der Gewalt: »the use of physical violence in families has been condoned by both social services and the criminal justice system, often locking women into brutal marriages« (Dutton 1985: 406). Wird in einer Kultur Gewalt als legitimes Kontroll- und Disziplinierungsmittel des Mannes gegenüber der Frau toleriert oder sogar propagiert, steigt die Gefahr der Ausübung häuslicher Gewalt.
Treten Risikofaktoren auf unterschiedlichen Ebenen auf, potenziert sich das Risiko der Gewaltentstehung. Im Vergleich zu Bronfenbrenners Ansatz kommen das Meso- und das Chronosystem bei Dutton nicht zur Anwendung.
Auch im »World Report on Violence and Health« (vgl. Krug et al. 2002a) wird die Entstehung von Gewalt durch ein ökologisches Modell erklärt. Da häusliche Gewalt ein individuelles und vielschichtiges Phänomen ist, das nicht durch einfache Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge erklärt werden kann, bieten sich ökologische Ansätze zur Beschreibung der Gewaltentstehung auf diversen Ebenen und aus unterschiedlichen Perspektiven an. Faktoren, die das Risiko für die Entstehung häuslicher Gewalt erhöhen können, sind auf der gesellschaftlichen, sozialen, kulturellen, ethischen, biologischen, wirtschaftlichen und politischen Ebene beheimatet (▶ Abb. 1; vgl. Krug et al. 2002a: 12). Sie stehen in wechselseitigem Einfluss.
Abb. 1:Ökologisches Modell der Gewaltentstehung
Auf der ersten Ebene werden biologische und Faktoren aus der Persönlichkeitsgeschichte verortet, die dafür verantwortlich sind, wie sich Personen verhalten und ob sie Risiken in sich tragen Täter*in oder Opfer von Gewalt zu werden. Beispiele dafür sind demografische Merkmale (Alter, Bildung, Einkommen), psychische oder Persönlichkeitsstörungen, häufiges aggressives Verhalten, Missbrauchserfahrungen oder Substanzmissbrauch (vgl. ebd.).
Beispiel
Frau Gardner wuchs bei Adoptiveltern und im Kinderheim auf, wo sie als Kind körperliche und sexuelle Gewalt durch die Adoptiveltern sowie Gewalt der Adoptiveltern untereinander erfahren hatte. Mit 29 Jahren wendet sie sich mit ihren zwei Kindern an eine Beratungsstelle für gewaltbetroffenen Frauen, da ihr Partner und Vater des jüngeren Kindes massive psychische, emotionale und soziale Gewalt gegen sie und die ältere Tochter ausübt. Zu dieser Zeit ist Frau Gardner arbeitslos und bezieht Arbeitslosengeld II.
Auf der zweiten Ebene werden enge Beziehungen wie die zu Familie, zu Freundschaften, intimen Beziehungen oder Peers betrachtet und deren Einfluss darauf, wie sie das Risiko der Gewaltentstehung erhöhen.
»Frauen, die in Kindheit und Jugend körperliche Auseinandersetzungen zwischen den Eltern miterlebt haben, haben später mehr als doppelt so häufig selbst Gewalt durch (Ex-)Partner erlitten, wie Frauen, die keine körperlichen Auseinandersetzungen zwischen den Eltern erlebt haben (47 % vs. 21 %)« (Müller/Schröttle 2004b: 21).
In der Arbeit mit gewaltbetroffenen Frauen berichteten einige, dass sie sich früh in Beziehungen geflüchtet haben, risikoreiche Beziehungen eingegangen sind oder frühzeitig zum Partner gezogen sind, um der elterlichen Gewalt zu entfliehen. Aber auch das Ignorieren oder Kleinreden der Gewalt durch Freundschaften oder Familienangehörige, wenn die Betroffenen sich offenbaren, kann zum Verbleib in der gewaltbelasteten Beziehung und zur längeren Gewalterduldung führen.
Beispiel
Frau Gardner verfügt außer zu ihrem Bruder über keine sozialen Kontakte. Freund*innen haben sich entweder abgewandt, da sie die Abwertung von Frau Gardner durch ihren Mann nicht länger ertragen haben bzw. hat sich Frau Gardner aus freundschaftlichen Beziehungen zurückgezogen, weil sie sich für das Verhalten ihres Mannes schämt bzw. dieser ihre Freund*innen schlechtredet und ihr verbietet zu diesen Kontakt aufzunehmen. »Keiner konnte den leiden und ich habe halt ganz oft zu hören bekommen: ›Du, wenn wir uns treffen wollen, kommst du her, aber da komme ich nicht mehr hin.‹ Genauso meine Eltern, die .... Ich kann nur noch zu meinen Eltern fahren, [...] sie haben auch gesagt: ›In diese Wohnung gehen wir nicht mehr, wir wollen ihn nicht sehen‹« (Frau Gardner I: 98).
Teilweise drohen Mitglieder der Herkunftsfamilien die Frauen zu verstoßen, wenn sie sich von ihrem Partner trennen, oder halten sie mit körperlicher oder sozialer Gewalt (z. B. durch Freiheitsberaubung, Überwachung, Isolation) davon ab. Auch dadurch erhöht sich das Risiko für die Betroffenen erneut Gewalt durch den Partner zu erfahren. Bei Frauen, die sich trotz der Missbilligung der Trennung durch Familie oder Freund*innen von ihrem gewalttätigen Partner trennen, steigt das Risiko der Isolation.
Beispiel
Frau Zolbayar bemerkt nach der Trennung von ihrem Partner, dass sich Verwandte nicht mehr um sie kümmern. »Die sind halt nie so richtig da, wenn ich die brauche oder so« (Frau Zolbayar I: 114). Freundschaftliche Kontakte ziehen sich nach der Trennung zurück »Also am Anfang haben die mir noch Unterstützung ja und danach sind die immer weiter weg geh.... Also haben immer mehr Abstand von mir genommen, warum auch immer« (ebd.: 134).
Auf der dritten Ebene sind die gemeinschaftlichen Kontexte angesiedelt, in denen soziale Beziehungen stattfinden. Kindergärten, Schulen, Nachbarschaften, Vereine, Betriebe oder andere Arbeitsstätten sind Beispiele dafür. Auch aus diesen beziehungsstiftenden Umfeldern können Risikofaktoren für Gewaltentstehung resultieren, z. B. häufige Umzüge der Bevölkerung in der Nachbarschaft, eine hohe Arbeitslosenrate im Viertel, lokaler Drogenhandel oder eine hohe Bevölkerungsdichte (vgl. Krug et al. 2002a). Sozioökonomische Fehlbedarfs- oder Mangellagen, die mit benachteiligenden Lebens- und Arbeitsbedingungen einhergehen sowie die Einbindung in institutionelle Settings (z. B. Bezug von staatlichen Unterstützungsleistungen), die Abhängigkeiten mit sich bringen, erhöhen das Gewaltrisiko auf dieser Ebene (vgl. Hornberg et al. 2008). »Gewalt könnte aber auch das Ergebnis anderer mit Armut einhergehender Faktoren sein, beispielsweise durch beengte Wohnverhältnisse« (Krug et al. 2003: 21).
Beispiel
Frau Gardner erlebt die Zufluchtswohnung als Belastung aufgrund der beengten Wohnsituation »Sechs Kinder in einer Drei-Zimmer-Wohnung, das belastet auch extrem – bin eigentlich nur auf der Flucht, ganz ehrlich. [...] wha, nee, ich mag Kinder wirklich, aber sechs? Vor allem willst du kochen, da sitzt eines neben dir auf dem Mülleimer, eines steht vor dem Herd und wha.... Also das belastet extrem. [...] Ich hatte gehofft, dass ich ein bisschen zur Ruhe kommen kann. [...] das ist halt im Moment schon .... krass [...] Diese Lautstärke, diese permanente Lautstärke, dieses Gewusel« (Frau Gardner I: 53 – 57). Die beengten und unruhigen Zustände führen bei Frau Gardner dazu, dass sie in die gewaltgeprägte Situation zurückkehrt.
Auf der vierten Ebene werden die vielfältigen gesellschaftlichen Bedingungen abgebildet, die zu einem gewaltfördernden Klima beitragen. Dazu zählen die Verfügbarkeit von Waffen sowie gesellschaftliche Normen und Werte. Diese wirken gewaltfördernd, z. B. wenn Elternrechte den Vorrang vor Kinderechten haben, wenn suizidale Handlungen als freie Wahl der Person statt als vermeidbare Gewalthandlung gesehen werden, wenn die Herrschaft von Männern über Frauen und Kinder legitimiert ist, wenn der Einsatz massiver Polizeigewalt gegen Bürger*innen oder politische Konflikte (z. B. in Krisen- oder Kriegsgebieten) unterstützt werden (vgl. Krug et al. 2002a). In Ländern, die männliche Dominanz billigen, in denen große Statusunterschiede zwischen Frauen und Männern, traditionelle Rollenverteilungen und religiöse Vorstellungen vorherrschen und Gewalt als ein legitimes Konfliktlösungsmittel angesehen wird, fallen die Raten häuslicher Gewalt höher aus im Vergleich zu Gesellschaften, die diese Merkmale nicht aufweisen (vgl. Krug et al. 2002b).
Beispiel
»Er wollte nicht, dass ich rausgehe, er wollte nicht, dass wir in einem Café sitzen. Er wollte nicht... er wollte, dass ich Kopftuch trage, er wollte, dass ich lange Sachen anziehe, dass ich nicht weg... nichts. [...] Er war nie für uns da. Er ist immer nach Hause gekommen, da waren die Kinder schon im Bett. Ja und äh... er hat immer mein Geld genommen, das ich vom Amt bekommen habe hier. Hat das immer nach dem Libanon geschickt für seine Familie. Hat Häuser dort gebaut« (Frau Juvier I: 7).
Die vier Ebenen sind ineinander verschachtelt, durchdringen und beeinflussen sich gegenseitig, wobei sich die Faktoren unterschiedlicher Ebenen potenzieren, wodurch das Gewaltrisiko steigt. Das ökologische Modell soll dazu beitragen, ein Bewusstsein für die Komplexität der Gewaltentstehung zu schaffen, Gewaltursachen auf unterschiedlichen Ebenen (Person und Umwelt) und deren gegenseitige Beeinflussung aufzeigen. In der Arbeit mit gewaltbetroffenen Frauen kann auf diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen aufgebaut werden. Präventions- bzw. Interventionsmaßnahmen sollten sowohl auf der individuellen Ebene (Verhaltensprävention) als auch an der Umwelt (Verhältnisprävention) ansetzen. Beispiele für die Verhaltensprävention sind das Bereithalten von Schutzunterkünften in Frauenhäusern und Zufluchtswohnungen, Beratungsstellen für gewaltbetroffene Frauen* oder Männer*, Anti-Aggressions-Training, Selbstverteidigungskurse etc.
Die Verhältnisprävention sollte schon möglichst früh ansetzen, z. B. mit Projekttagen oder Workshops zum Thema häusliche Gewalt in Kindergärten, Schulen und Betrieben. Mithilfe von Kampagnen und Aktionen kann Einfluss auf die Politik und Gesetzgebung ausgeübt werden. Durch Flyer, Notfallkarten und Werbespots wird der Fokus auf das Thema häusliche Gewalt gelegt und so zur Enttabuisierung beigetragen. Die eindeutige Verurteilung von häuslicher Gewalt in der Öffentlichkeit und die Betonung der gleichen Rechte für Männer* und Frauen* sollen auf der gesellschaftlichen Ebene ein Zeichen setzen, dass Gewaltanwendung nicht legitim ist und die Betroffenen zum Aufsuchen von Beratungs-/Hilfeangeboten ermutigen. Denn
»Frauen sind der Misshandlung durch ihren Intimpartner besonders in Gesellschaften ausgesetzt, in denen zwischen Männern und Frauen deutliche Ungleichheit herrscht, die Geschlechterrollen streng festliegen, kulturelle Normen unabhängig von den Gefühlen der Frau das Recht des Mannes auf ehelichen Geschlechtsverkehr unterstützen und dieses Verhalten gesellschaftlich nur geringfügig geahndet wird« (Krug et al. 2003: 21).
Die Arten häuslicher Gewalt sind vielfältig und variieren je nachdem, welche Institution in Forschung oder Praxis in welchem Land die Definition vornimmt. Allen Gewaltformen ist gemein, dass sie als Mittel eingesetzt werden, um Macht und Kontrolle gegenüber einer anderen Person auszuüben. Meist werden körperliche, psychische und sexuelle Gewaltarten unterschieden. Diese werden bei anderen Autor*innen (z. B. vgl. Gabriel 2004) um emotionale, soziale und finanzielle Gewalt ergänzt.
Zu den Arten physischer Gewalt zählen alle Gewaltarten, die körperliche Schädigungen bis hin zum Tod nach sich ziehen können, z. B. Schläge, an den Haaren ziehen, boxen, treten, stoßen, mit Gegenständen bewerfen. Auch jemand mit Fäusten zu prügeln, Schlaf- und Essensentzug, den Kopf gegen die Wand schlagen, Verbrennungen, Quetschungen, Schnitte, Gewalt unter Anwendung von Gegenständen, Hieb-, Schuss- und Stichwaffen bis hin zum Mord(-Versuch) werden zu den physischen Gewaltarten gerechnet (vgl. Lamnek et al. 2013). Mit Bezug auf Nunner-Winkler (2004) bezeichnen Lamnek et al. (vgl. ebd.) körperliche Gewalt als prototypisch monologisches Phänomen, dass vom Täter oder von der Täterin allein vollzogen werden kann. Dagegen wird psychische Gewalt als interaktive Handlung verstanden, dass die Mitwirkung der*des Betroffenen benötigt, um erfolgreich für den*die Täter*in zu sein (vgl. ebd.). Oft wird zwischen leichten und schweren Formen physischer Gewalt unterschieden. Bei ersteren handelt es sich um teilweise gesellschaftlich tolerierte Formen der Gewaltausübung wie z. B. leichtere Ohrfeigen. Schwere Formen der Gewaltausübung werden wesentlich weniger toleriert und teilweise strafrechtlich verfolgt. Die vom Bundeskriminalamt (BKA) in der polizeilichen Kriminalstatistik zur Partnerschaftsgewalt aufgeführten Delikte zur körperlichen Gewalt umfassen die Kategorien Mord und Totschlag, gefährliche Körperverletzung, schwere Körperverletzung, Körperverletzung mit Todesfolge und vorsätzliche einfache Körperverletzung (vgl. Bundeskriminalamt 2018).
Beispiel
»Und da hat er dann seine Körperverletzung an mir ausgelassen und dann hat er mich geärgert gehabt und meinte, er hat sich mein Auto geholt und daraufhin habe ich die Polizei gerufen. Die wollten wissen, warum ich so eigenartig aussehe. Ein Teller bunter Knete war ja nun ein Scheißdreck gegen mich. Und da hat mein Sohn zu ihm gesagt, na der hat meine Mutter geschlagen« (Frau Pusmeier I: 637 – 641).
In der Praxis lassen sich die Gewaltarten häufig nicht eindeutig voneinander trennen, da körperliche Gewalt in unterschiedlichen Schweregraden oft in Verbindung mit psychischen Gewaltarten ausgeführt wird.
Unter psychischer Gewalt werden Handlungen zusammengefasst, die das Ziel verfolgen, den Betroffenen Angst einzuflößen und Druck aufzubauen. Das können das Aussprechen oder Ausführen von Drohungen, Beschuldigungen, Beleidigungen, Einschüchterungen sein. Darüber hinaus zählen Mobbing, Auflauern, Einsperren, Aussperren, durch Gesten, Handlungen oder Blicke Angst einflößen oder die Zerstörung des Eigentums der Person zu psychischen Gewaltarten (vgl. Weingartner 2010). In der langjährigen Arbeit mit gewaltbetroffenen Frauen wurde deutlich, dass diese Art der Gewalt von vielen Frauen als die schwerwiegendste Form mit den langfristigsten gesundheitlichen Folgen wahrgenommen wird.
»Die ›Narben‹, die sie [psychische Gewalthandlungen, Anm. J. W.] hinterlassen, sind nicht seltener gravierender und nachhaltiger als bei physischen Übergriffen und werden auch von den Betroffenen nicht selten als schwerwiegender empfunden« (Lamnek et al. 2013: 115).
In der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) werden die Tatbestände Freiheitsberaubung, Bedrohung, Stalking und Nötigung als Formen psychischer Gewalt erfasst (vgl. Bundeskriminalamt 2018). Zusätzlich werden Beleidigung und Verleumdung erwähnt, aber nicht in der PKS berücksichtigt.
Beispiel
»Oder wo ich für ihn gekocht habe. Essen hat ihm nicht geschmeckt. Hat er mir ins Gesicht geworfen. Und statt danke zu sagen. Egal, ob ihm mein Essen gut geworden ist, ich war damals noch jung, oder nicht gut. Sollte er mir doch was sagen halt, ja, dieses Mal war nicht so, mach das nächstes Mal besser. Nein, er hat es einfach in mein Gesicht geschmissen« (Frau Juvier I: 54 – 57).
Emotionale und soziale Gewalt werden in der Fachliteratur teilweise unter den Terminus psychische Gewalt subsummiert, sollen der Vollständigkeit halber hier abgegrenzt beschrieben werden.
Emotionale Gewalt bezeichnet alle Handlungen, die die Gefühle des Gegenübers verletzen. Beispielsweise das Bloßstellen oder Lächerlich-Machen in der Öffentlichkeit, Schuldzuweisungen, die Person für verrückt, dumm, krank etc. zu erklären, das Isolieren oder das Ignorieren der Person werden als emotionale Gewalthandlungen verstanden. Ergänzend seien die Kontrolle jedes Schrittes, von Handlungen und sozialen Kontakten der Person, die Drohung, die Kinder wegzunehmen, vorsätzlich widersprüchliche Handlungen oder die mutwillige Zerstörung von Dingen, die großen emotionalen Wert haben (z. B. Fotos), genannt (vgl. Gabriel 2004). Ziel emotionaler Gewaltanwendung ist die Kontrolle aller Lebensbereiche bis hin zur vollständigen Verweigerung der Anerkennung des Gegenübers als eigenständige Person. »Auch die Androhung, Dritte zu verletzen (Verwandte, Haustiere) wird eingesetzt, um den eigenen Willen durchzusetzen« (Lamnek et al. 2013: 115).
Beispiel
»[W]enn Streit war oder sonst was, hat er die Tür abgeschlossen, den Schlüssel abgezogen, mich ins Schlafzimmer geschubst, Handy weggenommen und eingeschlossen und hat mir meinen Hund weggenommen, weil er weiß, ich hänge an dem Tier unwahrscheinlich, und hat die weggesperrt und hat die Hunde vor mir getreten« (Frau Pusmeier I: 127 – 131).
Unter sozialer Gewalt werden alle Gewaltformen zusammengefasst, die sich auf soziale Kontakte einer Person beziehen. Durch die Abwertung der Person in der Öffentlichkeit, am Arbeitsplatz, in freundschaftlichen Kontakten und anderen Zusammenhängen werden langfristig Kontakte eingeschränkt und die Betroffene isoliert. Weitere Ausdrucksformen dieser Gewaltart sind die alleinige Beanspruchung der Entscheidungsmacht für alle (schwerwiegenden) Entscheidungen für die Partnerin oder die Familie, die Herabwürdigung der Person als ›Bedienstete‹, die Einschränkung und Kontrolle aller sozialen Kontakte. Zudem kann der Einsatz der Kinder als Druckmittel zur Durchsetzung des eigenen Willens als soziale Gewalt gewertet werden (vgl. Gabriel 2004; Gloor/Meier 2007; Mark 2006).
Beispiel
»Und äh.. ich bin hierher [Frauenzufluchtswohnung, Anm. J. W.] gekommen, weil mein Mann oder Ex-Mann mich bedroht, mir die Kinder wegzunehmen. Und er hat auch seine Familie auf mich losgelassen. Dann mich ... also wir sind halt islamisch verheiratet. Ich war 14 als ich geheiratet habe. Und wir haben miteinander fast sieben Jahre zusammengelebt. Und er war ... ich war 14, er war 28 ... Ja, ich bin hier mit sieben nach Deutschland gekommen, er ist mit 27, 28 nach Deutschland gekommen. Er kommt aus einem Dorf und seine ganzen Gedanken, sein ganzer Kopf ist also halt anders als bei mir. Er hat also halt sein Leben gelebt und er wollte nur eine Frau zu Hause haben, die Kinder zur Welt bringt, kocht und putzt und ... ich durfte keine Freunde haben, ich durfte nicht raus, ich durfte gar nichts. Ich durfte nur zu Hause bleiben, putzen, kochen, Kinder kriegen« (Frau Juvier I: 12 – 18).
Der Terminus sexuelle Gewalt bezeichnet alle sexuellen Handlungen, die mit Drohungen oder Gewalt erzwungen werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Betroffene unter Zwang die sexuelle Handlung an sich geschehen lässt oder dazu gedrängt wird sexuelle Handlungen gegen ihren Willen an anderen auszuführen. Auch Handlungen, die gegen das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung verstoßen und gegen den Willen einer Person erfolgen, zählen zu sexuellen Gewalthandlungen (vgl. Mark 2006). Diese können sowohl mit Körperkontakt, z. B. Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, Zwang zur Prostitution, als auch ohne Körperkontakt stattfinden, bspw. durch Exhibitionismus, sexuelle Beschämung oder sexuelle Witze.
In der polizeilichen Kriminalstatistik werden als Delikte sexueller Gewalt sexuelle Übergriffe, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung erfasst, 2017 wurden Zuhälterei und Zwangsprostitution als neue Kategorien ergänzt (vgl. Bundeskriminalamt 2018).
Beispiel I
»Am Ende hatte ich auch keine Lust mit ihm auch ... ähm .... Geschlechtsverkehr. Und er wollte unbedingt. Ich habe immer gesagt: ›Ich habe keine Lust. Ich will nicht.‹ Er hat immer gesagt: ›Das dauert nur fünf Minuten. Da geht das ganz schnell.‹ [...] Ja, er hat so mit mir, obwohl ich das nicht wollte. Er hat mit mir geschlafen. Hauptsache er hat seinen Spaß und das wars. Und hat mich dann heulen gelassen und ich musste Kopftuch tragen« (Frau Juvier I: 70 – 77).
Beispiel II
»Migräne, meine Tage konnte ich ja nun nicht mehr kriegen, also nee. Naja, die Wehwehchen die man dann so kriegt. Um Gottes Willen, dann kommt der mit ins Bett. (leise) Und wenn du nichts gemacht hast, dann haste auch Ärger gekriegt. Also hinhalten. Schön. Und das brauchte ich nicht mehr [in der Schutzunterkunft, Anm. J. W.]. (laut) ›Das brauch ich nicht mehr‹. Seitdem geht's mir gut. Scheiß Kerl. (lacht) Na, das ist doch so. Ich weiß noch, wie meine Anwältin mich gefragt hat, ›Sind Sie vergewaltigt worden?‹ Na, ich weiß das nicht, wie man das ausdrückt, wenn man hinhalten muss, ist eigentlich dem Selbigen, aber beweise das mal vor Gericht. Mein Gott! Da bist du froh, wenn du draußen bist und das nicht mehr machen musst und dann [ist] die Sache für dich erledigt« (Frau Pusmeier II: 420 – 429).
Von ökonomischer Gewalt ist dann die Rede, wenn eine Person nicht frei über ihre finanziellen Ressourcen verfügen kann. Dazu zählen bspw. das Vorenthalten von Transferleistungen, von Erspartem und Arbeitslohn, das Zuteilen von (›Taschen›-)Geld, das Verbot oder der Zwang zu arbeiten, die Überwachung der Ausgaben oder riskante finanzielle Unternehmungen durch den Partner. Ziel dieser Gewaltform ist die Herstellung bzw. Aufrechterhaltung finanzieller Abhängigkeit, die bspw. eine Herauslösung aus der Beziehung erheblich erschwert. Häufig sind (Ehe-)Frauen durch die Verschuldung des Partners mitbetroffen, da sie gemeinsam für Mietschulden, Telefonkosten, Schulden aus Kredit- und Ratenkäufen etc. haften. Das Bundeskriminalamt nahm für das Jahr 2017 die Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 170 StGB in die kriminalstatistische Auswertung zur Partnerschaftsgewalt auf (vgl. Bundeskriminalamt 2018).
Beispiel
»[N]aja o.k. ich habe noch nicht mal Taschengeld bekommen und ich finde, permanent um das Geld betteln zu müssen irgendwo, weiß ich nur dass ich letztes Jahr vom Februar bis September krankgeschrieben war, wegen meinem Knie. Er brauchte dadurch für mich keine Krankenkasse zu zahlen, er brauchte keinen Lohn zahlen, hat für mich 890 Euro Krankengeld bekommen und hat mich trotzdem, ich sag's jetzt mal krass, wie eine Bordsteinschwalbe arbeiten geschickt« (Frau Pusmeier I: 250 – 256).
Das Ineinandergreifen der verschiedenen Arten der Gewalt lässt sich am Beispiel von Frau Gardner gut demonstrieren.
Beispiel
»Na, ähm ... Ich habe halt nichts zu sagen gehabt, bin auch nie zu Wort gekommen oder halt immer unterbrochen, wenn ich was gesagt habe und halt ... es musste nach seiner Nase gehen, sonst war halt schlecht Wetter. Also, sonst ... ich musste halt komplett eigentlich machen, was er wollte, sonst gab´s halt regelrecht Krieg. Und wenn ich halt in Stresssituationen von ihm weg wollte, halt mal auch ins Nebenzimmer oder so, dass da Ruhe reinkommt, ist er dann hinterher, hat die Türen ausgehängt oder wenn ich telefoniert habe, einfach das Telefon (Telefon stark betont) abgezogen oder wenn ich am Internet saß, das Modem (auch stark betont) rausgerissen oder ja, halt auch dermaßen gebrüllt, dass die Nachbarn die Polizei gerufen haben (lacht). Ja, so war es halt. Und halt Gegenstände ... Also an Gegenständen hat er sich ständig vergriffen. Also nicht an mir; dass er mal versucht, da habe ich mich zur Wehr gesetzt, und das Ding auch echt gewonnen (lacht). Ähm, aber halt naja ... Türen. Also wir haben keine heile Tür mehr in der Wohnung gehabt, zum Schluss und halt auch sonst, also überall gegengetreten und ja ... und halt erpresst mit der Kleinen; hat immer versucht mit der Kleinen zu erpressen« (I: 37 – 51).
Häusliche Gewalt ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, das alle sozialen Schichten durchzieht und unabhängig von Einkommen, Bildung, Herkunftsmilieu auftritt. Ca. 81 % der Betroffenen sind Frauen (vgl. Bundeskriminalamt 2021). »Die Anzahl weiblicher Opfer hat im Vergleich zum Vorjahr erneut zugenommen (2016: 108.956; 2017: 113.96588; 2018: 114.393; 2019: 114.903; 2020: 119.164 weibliche Opfer)« (ebd.). Im Jahr 2020 haben 148.031 Personen Anzeige aufgrund von häuslicher Gewalt erstattet, davon 119.164 Frauen (vgl. ebd.).
»Aus der kriminalstatistischen Auswertung der Daten zur Partnerschaftsgewalt kann geschlossen werden, dass das Phänomen in Deutschland in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Dafür spricht, dass die erfasste Opferzahl in den letzten fünf Jahren insgesamt um 11,2 % (2016: 133.080; 2017: 138.8937; 2018: 140.755; 2019: 141.792; 2020: 148.031) angestiegen ist« (ebd.).
Im Vergleich zum Vorjahr stieg die Anzahl der weiblichen Opfer häuslicher Gewalt um 3,7 % (vgl. Bundeskriminalamt 2021).
Zu den Delikten häuslicher Gewalt zählten vorsätzliche einfache Körperverletzung, Bedrohung, gefährliche Körperverletzung, Stalking und Nötigung, Freiheitsberaubung sowie Mord und Totschlag. 139 Frauen wurden im Jahr 2020 getötet (vgl. ebd.). Durch die EU-weite Erhebung zu Gewalt gegen Frauen wurde erfasst, dass zwei Drittel der Frauen mit Erfahrungen häuslicher Gewalt schwere oder sehr schwere körperliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren haben (vgl. FRA 2014). Damit ist nicht nur das Ausmaß, sondern auch die Schwere der Taten alarmierend. Etwa die Hälfte (51,2 %) der Tatverdächtigen lebte mit den Betroffenen im gemeinsamen Haushalt, bei 51,3 % davon handelte es sich um den Ehepartner, bei 36,1 % um den Partner in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft (vgl. Bundeskriminalamt 2021). Das eigene Zuhause, das einen sicheren Rückzugs- und Erholungsort darstellen sollte, wird somit zum Risikoort für die physische und psychische Gesundheit der Betroffenen.
Diese Zahlen bilden das sogenannte Hellfeld häuslicher Gewalt ab. Es ist davon auszugehen, dass längst nicht alle Gewalttaten zur Anzeige kommen und die Dunkelziffern der einzelnen Gewaltdelikte um ein Vielfaches höher ausfallen. Da der gesellschaftliche Fokus immer noch zum großen Teil auf physischer Gewalt liegt, wird das Leid der Opfer verharmlost, die anderen Gewaltarten ausgesetzt sind. Folgen davon können keine, späte oder ungeeignete Hilfen sein, die das gewalttätige Verhalten des Täters oder der Täterin festigen bzw. legitimieren (vgl. Steingen 2020).
Befragungen von Gewaltbetroffenen geben ein genaueres Bild der tatsächlichen Häufigkeit und des Ausmaßes der Gewaltarten. Die erste repräsentative Studie zu häuslicher Gewalt in Deutschland (vgl. Müller/Schröttle 2004a) kommt zu dem Ergebnis, dass mindestens jede vierte Frau in Deutschland jemals in ihrem Leben körperlicher und/oder sexueller Gewalt durch einen ehemaligen oder aktuellen Beziehungspartner ausgesetzt ist. Im europäischen Vergleich hat jede dritte bis fünfte Frau körperliche Gewalt im häuslichen Kontext erfahren (vgl. Schröttle/Martinez/Condon et al. 2006). Im »World Report on Violence and Health«, in dem 48 Studien aus allen Erdteilen verglichen wurden, betragen die Lebenszeitprävalenzen für körperliche Gewalterfahrungen durch den aktuellem oder ehemaligen Beziehungspartner zwischen 10 und 69 % (vgl. Krug et al. 2002). Insbesondere in Ländern, die durch bewaffnete Konflikte, große Armut und/oder soziale Umbrüche geprägt sind oder waren (z. B. Nicaragua 69 %, Papua-Neuguinea 67 % und Türkei 58 %), fielen die Betroffenenzahlen in puncto körperliche Gewalt deutlich höher aus als in anderen Ländern. Krug et al. (2002) machen u. a. eine Störung der sozialen Beziehungen, soziale und wirtschaftliche Zerrüttung dafür verantwortlich, insbesondere in Ländern, in denen Waffengewalt an der Tagesordnung ist. Andere mögliche Ursachen der hohen Prävalenz für häusliche Gewalt sind unflexible Geschlechterrollenverteilung in den Kulturen, starke strukturelle Unterschiede zwischen Männern und Frauen und ein Männlichkeitsbild, das mit Macht, Ehre, Aggression und Dominanzverhalten in Verbindung steht (vgl. ebd.).
Nach Müller und Schröttle (2004a) tritt mittlere bis schwere psychische Gewalt in jeder fünften bis sechsten Paarbeziehung in Deutschland auf. In europäischen Untersuchungen gaben 19 % bis 42 % der befragten Frauen an, dass sie jemals in ihrem Leben von psychischer Gewalt durch den Beziehungspartner betroffen waren (vgl. Martinez et al. 2006). In einer repräsentativen Telefonumfrage in der Schweiz lag die Lebenszeitprävalenz psychischer Gewalt bei 40,3 % (vgl. Gillioz et al. 1997).
Arten, Formen, Anlässe und Kontexte des Gewalthandelns differieren zwischen den Geschlechtern. Während Männer eher körperliche Auseinandersetzungen suchen, instrumentelle und offene körperliche Gewalt zeigen und diese gezielter zum Einsatz bringen, um ihre Interessen durchzusetzen, agieren Frauen eher mit weniger körperlichen Gewaltformen als Reaktion auf Konflikte und Probleme in Beziehungen (vgl. Steingen 2020).
Mit dem Bewusstsein, dass durchschnittlich jede vierte Frau von häuslicher Gewalt betroffen ist, stellt sich die Frage: Wer sind denn die gewaltbetroffenen Frauen? Das Erleben häuslicher Gewalt ist höchst individuell, wie auch häusliche Gewalt die unterschiedlichsten Ausprägungen haben kann. Es gibt also nicht die gewaltbetroffene Frau. Oft geht die Gewalterfahrung mit einem Bruch mit den Vorstellungen oder Wünschen an die eigene Beziehung einher und löst Enttäuschung, Wut, Trauer, Scham, Hilflosigkeit, Angst bis hin zu Todesangst aus. Infolgedessen können eigene Bedürfnisse nicht mehr wahr- oder ernst genommen werden. Es folgt die Fokussierung auf den Partner und dessen Bedürfnisse bis hin zur Entfremdung von sich selbst und sozialen Kontakten. Manchmal wird Isolation als Mittel sozialer Kontrolle eingesetzt, was zum Verlust wichtiger sozialer Beziehungen führen kann. Eine Spiegelung von außen ist nicht mehr möglich, selbstwertfördernde Erfahrungen verringern sich. Das Gefühl für die eigene Handlungs- und Selbsteinschätzungsfähigkeit geht verloren. Zur Kompensation wird die Gewalt bagatellisiert und der Täter in Schutz genommen. Die Erklärung seines Verhaltens als vermeintlich angemessene Reaktion auf ihr Verhalten führt zu einer Schuldumkehr durch den Täter, die Gesellschaft oder durch das soziale Umfeld (vgl. Röck 2020). Mögliche Folgen können der Verlust von Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen sein.
Beispiel
»[D]as Psychische das hat mich völlig ... ich war wirklich mal, wirklich selbstbewusst und wusste was ich wollte und bis wohin jemand gehen kann und wenn er weitergegangen ist, war halt Schluss und tschüss. Und das hat er irgendwie kaputt gemacht in den Jahren. Also da war dann wirklich ... so kenn ich mich halt auch gar nicht, also, dass ich so kusche und kleinlaut bin, ich habe eigentlich eine große Klappe und sage was ich denke, bis auf vielleicht auch nicht immer das Richtige ist. Aber, das hat er halt echt hingekriegt und ich weiß auch nicht wie. Ich habe keine Ahnung, also ... (ironisch) Respekt davor. Also, ich weiß nicht, wie er es gemacht hat, aber er hat es wirklich hingekriegt, dass ich wirklich eigentlich nur noch gekuscht habe. Was gar nicht meine Art ist« (Frau Gardner I: 91 – 101).
Als weitere Folgen können verminderte Freude und Interessen, Schlafstörungen, »müde und erschöpft ... ja, ich kann nicht schlafen« (Frau Steinmüller I: 21), Unruhe, Gewichtsveränderungen, »Naja, halt durch das, was er getan hat, da habe ich halt immer mehr in mich hineingegessen und bin dann ein bisschen aufgegangen ... ja, so halt dieses Alles-in-mich-Hineinessen und dieses: Blos weg mit den Sorgen« (Frau Zolbayar I: 71 – 73), Konzentrationsprobleme bis hin zu Selbstverletzungen und Suizidversuchen auftreten. Weiterhin kann das Immunsystem infolge der Gewalterfahrungen geschwächt sein, depressive Störungen und dissoziative Zustände auftreten. Das Risiko für die Ausprägung von Depressionen als Spätfolge chronischen Stresses ist bei gewaltbetroffenen Frauen deutlich erhöht im Vergleich zu nicht betroffenen Frauen (vgl. Röck 2020). Die WHO zählt sie zu den häufigsten und schwerwiegendsten Folgen von erfahrener Gewalt (2013). Weitere Auswirkungen finden sich im Kapitel 1.5 (▶ Kap. 1.5).
Um gewaltbetroffene Menschen verstehen und beraten zu können, ist das Wissen um nachfolgend beschriebene Dynamiken häuslicher Gewalt unabdingbar.