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Obwohl das Bildungswesen zum Abbau sozialer Ungleichheit beitragen sollte, werden ungleiche Startbedingungen in der Schule reproduziert. Kinder aus armen und sozial randständigen Gruppen haben signifikant weniger Schulerfolg als Kinder aus Mainstream-Familien. Das Buch will einen blinden Fleck in der pädagogischen Forschung aufzeigen, indem es diese Benachteiligung jenseits der gängigen Ressourcenfixierung betrachtet und stattdessen das kindliche Erleben in den Blick nimmt. Notwendig sind dafür sowohl eine Beschäftigung mit der Vielfalt an Lebenswelten, in denen Kinder aufwachsen, als auch eine kritische Analyse der einseitig bürgerlich präfigurierten Institution Schule. Das Buch lädt zum Nachdenken über schulische Resonanz- und Entfremdungsprozesse im Spannungsfeld verschiedener sozialer Prägungen ein.
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Seitenzahl: 251
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Die Autoren
Prof. Dr. Stephan Ellinger, Dipl.-Pädagoge, Soziologe (M. A.) und ev. Theologe, ist Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogik bei Lernbeeinträchtigungen an der Universität Würzburg.
Lukas Kleinhenz, Bildung und Erziehung bei sonderpädagogischem Förderbedarf (B. A.), Bildungswissenschaft (M. A.), ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Pädagogik bei Lernbeeinträchtigungen.
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1. Auflage 2022
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-040440-3
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-040441-0
epub: ISBN 978-3-17-040442-7
Vorwort
1 Soziale Herkunft und Bildungserfolg
2 Kindheit in Deutschland: Ungleiche Wirklichkeiten
3 Weltbeziehung und Resonanzerleben
3.1 Moderne Weltbezüge
3.2 Gefährdetes kindliches Resonanzerleben
3.3 Dimensionen der Resonanzbenachteiligung
3.4 Ungleiche Schulerfahrungen
4 Primäre Resonanzbenachteiligung und gefährdende Lebenswelten
4.1 Sozio-ökonomische Gefährdung
4.2 Sozio-kulturelle Gefährdungslagen
4.3 Sozio-emotionale Gefährdungslagen
4.4 Sozio-physio-emotionale Gefährdung
5 Sekundäre und tertiäre Resonanzbenachteiligung
5.1 Beziehung und Interaktion – Horizontale Resonanzachse
5.2 Gegenstände von Schule und Unterricht – Diagonale Resonanzachse
5.3 Schulklima und Schulatmosphäre – Vertikale Resonanzachse
6 Was muss eine Lehrkraft wissen, wollen und können, um Resonanzfähigkeit zu unterstützen?
6.1 Lehrerbild und Schülerrolle
6.2 Wissen, Haltung und Fertigkeiten
6.3 Prospektive Lehrerbildung
7 Literatur
Dieses Buch wird von einer zentralen Frage im Kontext sozialer Ungleichheit strukturiert: Wie kann es gelingen, dem offensichtlich als zwangsläufig akzeptierten Muster zu begegnen, dass Kinder, die in sozialen Risikolagen aufwachsen, in der deutschen Schule signifikant weniger Erfolg haben als Kinder aus bürgerlichen Lebensstilgruppen? Es geht dabei nicht um einen weiteren Versuch, gebetsmühlenartig die unterstellte Ungerechtigkeit anzuprangern und politische Veränderungen zu fordern, sondern um die Frage, wie aus einer sozialen Gefährdungslage eine relevante soziale Benachteiligung und schließlich in der Schule eine Lernbeeinträchtigung wird und wie dieser pädagogisch begegnet werden kann.
Der Blick auf Lernbeeinträchtigungen, auf Schulversagen und auf die Reproduktion von Bildungsferne wird nach der Problemfeldsichtung in Kapitel 1 (Kap. 1) zunächst bewusst durch eine soziologische Brille aufgenommen.
In Kapitel 2 (Kap. 2) besuchen wir die fiktiven Lebenswelten von drei Mädchen und zwei Jungen, die ihre Kindheit bis zur Einschulung in unterschiedlichen Soziallagen in Deutschland verbracht haben. Die Geschichten sollen die Bandbreite der individuellen Lebenslagen, aus denen Kinder eingeschult werden, bewusst machen.
Nach diesem narrativen Überblick wird in Kapitel 3 der theoretische Rahmen (Kap. 3) aller weiteren Überlegungen grundgelegt. Für den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und erfolgreichem Lernen in der Schule, so die These, ist die Qualität desResonanzerlebens in der Institution Schule entscheidend.
In Kapitel 4 und 5 (Kap. 4; Kap. 5) werden folgerichtig die Mechanismen primärer, sekundärer und tertiärer Resonanzbenachteiligungen entwickelt und erläutert. Hier zeigt sich, dass der frischgebackene Abc-Schütze entweder seine Resonanzfähigkeit in der Schule ausbauen und vertiefen – und infolgedessen erfolgreich lernen – kann oder aber die Schule zur Entfremdungszone wird, in der sich die Weltbeziehung zunehmend gestört entwickelt.
Im neuen Umfeld begegnen dem Kind dann Lehrkräfte, mit denen die Interaktion misslingt und Angebote, die ihm nichts sagen und zudem auf eine ihm fremde Weise unterbreitet werden. Weil das Kind nicht berührt ist, sich selbst nicht als wirksam erlebt und nicht über Erlebtes staunt, wird Lernen und damit auch die Schule zunehmend fremd und schwierig.
Kapitel 6 (Kap. 6) widmet sich abschließend der Frage, was eine Lehrkraft können, wissen und wollen sollte, um Kinder aus sozialen Gefährdungslagen ebenso wirkungsvoll beim Lernen zu unterstützen wie vorschulisch sozial ungefährdete Kinder.
Dieses Buch will einen blinden Fleck in der pädagogischen Forschung aufgreifen. Zwar ist in den letzten Jahren der Zusammenhang zwischen Resonanzerleben und schulischem Lernen angesprochen und in die pädagogische Diskussion eingeführt worden (vgl. Beljan 2019; Rosa 2016), allerdings sucht man eine erhellende Begründung dafür, dass Schule für bestimmte Gruppen überzufällig häufig zur Entfremdungszone wird, ebenso vergebens wie die notwendige Inspiration zum pädagogischen Handeln. Man könnte formulieren: »Kinder aus armen Familien sind eben dümmer« oder »Na ja, wenn er zuhause keine Unterstützung hat, muss er sich eben mit dem Hauptschulabschluss zufriedengeben – egal, wie begabt er ist«, oder auch »Ob Sie das ungerecht finden oder nicht, selbst Rassim muss diese Anforderungen erfüllen, egal, welches schwere Schicksal er zu tragen hat«. Die Überlegungen im Buch wollen an diese Stellen blicken und bisherige Überzeugungen zur sozialen Benachteiligung vor dem Hintergrund neuerer Erkenntnisse aus der Resonanzforschung weiterentwickeln. In diesem Sinne enthält das vorliegende Buch auch ein überarbeitetes Kapitel aus der vergriffenen Monografie »Förderung bei sozialer Benachteiligung« aus dem Jahr 2013.
Die Autoren danken Eva-Maria Lechner herzlich für die wertvollen Hinweise zum Manuskript und wünschen den Leserinnen und Lesern viele Aha-Erlebnisse und Inspirationen für die eigene pädagogische Arbeit. Rückmeldungen und Anregungen sind sehr willkommen und werden nicht unbeachtet bleiben.
Würzburg im September 2021
Stephan Ellinger und Lukas Kleinhenz
Was soll eine gute deutsche Schule leisten? In seinem Werk Wie die Kultur zum Bauern kommt beschreibt der Soziologe Pierre Bourdieu einen Mechanismus, über dessen Gültigkeit offensichtlich auch in unserer Gesellschaft stillschweigend Konsens besteht und der trotz aller Schwierigkeiten seit Jahrzehnten gilt: Es gibt in der deutschen Schule »richtige« und »wichtige« Bildungsinhalte und geeignete und weniger geeignete Vermittlungsformen. Diese Orientierungspunkte sind kompatibel mit dem Lebensstil und dem Habitus der bürgerlichen Mitte, denn aus dieser Lebensstilgruppe stammen die Hauptakteure des deutschen Bildungswesens: Die Lehrkräfte, Verwaltungsbeamten und Ministerialräte. Diese befinden darüber, was und wie gelernt werden muss. Schulabschlüsse, Lernziele, Effekte guten Unterrichts und vieles andere sind konsequent von bürgerlichen Lebensentwürfen abgeleitet.
Die Herausforderung einer Begleitung derjenigen, die aus dieser Sicht als gefährdet gelten, scheint konsensfähig darin zu bestehen, sie einem Bildungsparadigma zu unterwerfen, dem ihre Lebenswirklichkeit bisher nicht entsprach. Formalabschlüsse und Leistungsförderung durch pädagogische Institutionen werden damit direkt vom Anpassungsvermögen dieser Kinder an den Lebensstil und die Normen der schulisch den tonangebenden Lebensstilgruppen abhängig gemacht. Der Erziehungswissenschaftler und ehemalige Ministerialbeamte Aladin El-Mafaalani beschreibt in seinem lesenswerten Buch über den Mythos Bildung die Reproduktion sozialer Ungleichheit in Deutschland eben durch diese Schule. Obwohl das Bildungswesen durch die Bewertung und Stärkung individueller Leistungsfähigkeit zum Abbau herkunftsbedingter sozialer Ungleichheit beitragen sollte, wird deutlich, dass diese ungerechten Startbedingungen hier nicht nur nicht abgebaut werden, sondern vielmehr Legitimation erfahren und darüber hinaus nachweislich reproduziert werden (El-Mafaalani 2020b).
In verschiedenen Studien wird belegt, dass Lehrkräfte in unterschiedlichen Schulformen einen milieuspezifischen Habitus pflegen. Sie verfolgen einen Lebensstil, setzen Prioritäten und lassen Vorlieben und Distinktionen erkennen, die auf ihr Herkunftsmilieu zurückzuführen sind und häufig mit der Prägung eines Teils ihrer Schülerschaft kollidieren. So finden sich hier als Grundlage ihrer Einschätzung z. B. Idealvorstellungen der »heilen Familie«, des »erfolgreichen Lebens«, einer »sinnvollen beruflichen Planung« etc. Sie sind offensichtlich häufig nicht bereit oder in der Lage, ihre pädagogische Praxis losgelöst von diesen Prägungen zu gestalten, selbst wenn die Schülerinnen und Schüler damit wenig oder nichts anfangen können (vgl. Rosenberg 2008; Twardella 2008).
Sowohl die Verantwortlichen als auch die breite Öffentlichkeit scheinen sich mit der Erkenntnis abzufinden, dass Kinder aus beschreibbaren Risikokontexten in der Schule geringere Chancen haben als Kinder aus Familien ohne offensichtliche Probleme, und im besten Fall mit deutschen Akademikern als Eltern. Im aktuellen Bildungsbericht für Deutschland wird im Blick auf das Berichtsjahr 2018 wie selbstverständlich resümiert: »Die Bildungserfolge der Kinder stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der sozioökonomischen Situation der Familie« (DIPF 2020b, 2). Nach wie vor besteht eine signifikante Abhängigkeit zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg auf allen Stufen schulischer Bildung und Hochschulbildung (vgl. Beermann 2012; El-Mafaanali 2012; Ditton 2008). Die vielerorts unterstellte Selbstverständlichkeit, nach der die Klassenzugehörigkeit und das Bildungsniveau der Eltern den schulischen Mindererfolg ihrer Kinder erklären, mutet arrogant an und bedarf zunächst einer Richtigstellung.
Grundsätzlich können unterschiedliche Bildungserfolge von Bürgerinnen und Bürgern und die resultierenden sozialen Ungleichheiten im Alltag dann als gerecht empfunden werden, wenn sie a) auf tatsächlich unterschiedliche Leistungen in der Schule zurückzuführen sind und dabei insgesamt b) von gleichen Startchancen und Ausgangsbedingungen ausgegangen werden kann.
Einfach formuliert ist soziale Ungleichheit nicht ungerecht, wenn sie auf Leistungsgerechtigkeit und auf Verteilungsgerechtigkeit basiert. Der Soziologe Rainer Geißler beschreibt in seiner Analyse des deutschen Bildungssystems bereits in den 1990er Jahren zwei grundlegende Mechanismen sozialer Differenzierung. Er nennt das eine »meritokratisches Modell«, das andere »Proporz-Modell« (Geißler 2008a, 274 f.).
Ilka Hoffman, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), sieht allerdings im schulischen Umgang mit sogenannter Begabung und Intelligenz lediglich »Konstrukte zur Legitimierung sozialer Ungleichheit« (Hoffmann 2016, 35) und kein Ergebnis objektivierbarer Verstehens- oder Bewertungsprozesse.
Für den Schulpädagogen Nils Berkemeyer steht fest, dass es eine Unabhängigkeit von Bildungserfolg und sozialer Herkunft aktuell nicht gibt. Er folgert: »Insofern wäre die Herstellung von Chancengerechtigkeit etwas Neues für das bundesdeutsche Schulsystem« (Berkemeyer 2016, 25).
Regelmäßig müssen wir erkennen, dass soziales Anderssein in der Schule nach wie vor auch dann Prädiktor Nummer 1 für schulischen Mindererfolg darstellt, wenn sich damit nicht eine unterdurchschnittliche Intelligenz, eine Körperbehinderung oder sonst beeinträchtigte Leistungsfähigkeit verbindet. Die soziale Differenz betroffener Kinder mündet häufig in einen unseligen Prozess, an dessen Ende dann die einen als dumm, schulversagend und lernbehindert und die anderen als erfolgreiche Lerner, Absolventen und gute Schüler gelten.
Dass soziale Herkunft über den Bildungserfolg – und damit große Bereiche des Lebens – eines Kindes entscheidet, widerspricht nicht nur dem in Deutschland behaupteten Leistungsprinzip des Bildungswesens, es ist auch insbesondere im Blick auf die öffentliche, von Steuergeldern finanzierte Schule zu skandalisieren, denn (vgl. El-Mafaalani 2020b, 63):
◆ Schulen stellen Sozialisationsinstanzen dar, in denen Kompetenzen und Leistungsfähigkeit entwickelt und nicht nur bewertet und verwaltet werden sollen. Schlechte Leistungen weisen demnach auf das Versagen der Institution selbst hin.
◆ In den Schulen werden wie in keinem anderen Gesellschaftsbereich Lebenschancen entweder eröffnet oder verbaut.
◆ Die Bildungsinstitutionen als öffentlich finanzierte Einrichtungen sollten sich für die tatkräftige Unterstützung aller Menschen gleichermaßen engagieren.
◆ Schulen und Bildungsinstitutionen sind als einzige gesellschaftliche Einrichtungen in der Lage, alle Mitglieder der Gesellschaft zu erreichen, und schließlich:
◆ Schulen legitimieren entweder ungleiche Startbedingungen oder heben sie auf.
Dem Bildungsbericht 2020 ist zu entnehmen, dass im Jahr 2018 jede(r) dritte Minderjährige in Deutschland von mindestens einem sozialen Risikofaktor betroffen war (DIPF 2020b, 2). Hieraus ergibt sich eine bemerkenswerte Aufgabe für die deutsche Schule und das dort tätige pädagogische Personal.
Es soll in diesem Buch um den Prozess der Resonanzbenachteiligung einzelner Kinder und um Resonanzförderung gehen. Um die ganze Tragweite dieser Problematik zu verstehen, wollen wir einen Schritt zurücktreten und den Blick zunächst auf die nahezu unbegrenzten sozialen Differenzlinien in unserer Gesellschaft richten. Sie machen deutlich, dass jede und jeder in unterschiedlichen Aspekten anders ist. Wir können anhand des Geschlechts, der Hautfarbe, des Alters, der sexuellen Neigung, der Religion, der Wohngegend, der besonderen Begabung, des finanziellen Vermögens, der Geschwisterzahl, der Berufe der Eltern, der Bildung der Eltern, der Hobbys, der Muttersprache, der Zweitsprache, des Berufes, einer Behinderung, einzelner Gesundheitsmerkmale, familiärer Vorbelastungen und und und differenzieren. Die Merkmale sozialer Ungleichheit führen an sich noch nicht zwingend zum schulischen Versagen. Anderssein kann über kurz oder lang jedes Mitglied einer Gesellschaft treffen, denn es leitet sich vom Vergleich, vom sozialen Setting, von einem entstandenen Mainstream und von einer etwaigen mangelnden Passung ab. Ohne eine Aufwertung bestimmter Merkmale innerhalb eines Bewertungssystems gibt es keine Abwertung anderer Lebens- oder Seinsformen.
Darüber hinaus gefährden konkrete suboptimale Sozialisationsbedingungen bereits vor der Einschulung die gesunde Weltbeziehung betroffener Kinder. Solche primären Beeinträchtigungen entstehen nicht in erster Linie im Spannungsfeld zwischen unterschiedlichen Soziallagen, sondern müssen als unmittelbare Auswirkung belastender und schädlicher Erfahrungen am Individuum selbst verstanden werden.
Ausgehend von den oben genannten Differenzlinien lassen sich vier Formen sozialer Gefährdung im Überblick beschreiben:
Eine sozio-ökonomische Gefährdung resultiert aus Armut und Arbeitslosigkeit. In Deutschland ist jedes fünfte Kind von Armut betroffen. Das geringe Familieneinkommen führt zunächst zu objektivem Geldmangel, aufgrund dessen notwendige Anschaffungen nur eingeschränkt möglich sind. Einem armen Kind fehlt vielleicht das eigene Zimmer, fehlt womöglich der eigene Schreibtisch oder sogar das eigene Bett. Kurz gesagt: Es fehlen Rückzugsmöglichkeiten, Raum für Erkundungen und Gestaltung eines eigenen Umfeldes. Allerdings fehlen ihm auch Anschaffungen, die über das Allernötigste wie Kleidung und Nahrungsmittel hinausgehen. Häufig rangieren Bildungs- und Kulturgüter in der Priorität weit unten. Damit fehlen Inspirationsquellen für Fantasieausflüge, für die Entwicklung einer Traumwelt, für altersgerechte und inspirierende Identifikationsfiguren. Der Geldmangel kann überdies auch zu Einschränkungen im Bereich sozialer Kontakte führen: Arme Kinder haben kein Geld für Ausflüge, kein Geld für Geburtstagsgeschenke, kein Geld zum Ausgehen. Sie können nicht ohne Weiteres andere Kinder zu sich nach Hause einladen und vielleicht auch nicht auf Fahrdienste der Eltern zurückgreifen. Arme Familien haben häufig Kontakt zu armen Familien, deren Lebenswelt ähnlich begrenzt ist wie die eigene. Durch eventuelle Nebenjobs und resultierende Überforderung der Eltern sind gemeinsame entspannte Zeiten des Spielens, der emotionalen Nähe und des Beziehungsaufbaus ebenso gefährdet wie eine fürsorgliche Unterstützung im kindgerechten Erkunden der Umgebung.
Die sozio-kulturelle Gefährdung wurzelt häufig in der Zugehörigkeit zu Sozialmilieus, die als bildungsfern bezeichnet werden und betrifft u. a. auch Kinder mit Migrationshintergrund. Die bewusste Andersbehandlung und Laufbahnsteuerung durch die Lehrkräfte sind bekannt. Darüber hinaus finden betroffene Kinder selbst häufig keine Anknüpfungspunkte für die Ideenwelt des bürgerlichen Kindergartens und der bürgerlichen Schule, keinen Zugang zur dort gebotenen Literatur, zum Theater, zu Kunst, zu Spiel oder zu anderen Kulturgütern. Sozio-kulturelle Gefährdung entsteht allerdings nicht nur durch das komplementäre Verhältnis aufeinandertreffender Kulturen, kultureller Prägungen und Sozialmilieus. Eltern betroffener Kinder sind häufig mit der Unterstützung ihrer Kinder in bürgerlichen Institutionen überfordert. Selbst wenn sie sich engagieren wollen, wird ihnen am Ende die Schuld am Versagen oder an der Auffälligkeit der Kinder gegeben. In Fällen, in denen die Eltern an die Gerechtigkeit der Institutionen glauben, beugen sie sich diesem Urteil oder resignieren. Dies gilt im Blick auf vorschulische Institutionen ebenso wie im Blick auf die Schule selbst.
Von sozio-emotionaler Gefährdung sind drittens Kinder betroffen, die in sogenannten Risikofamilien aufwachsen. Hier liegt häufig eine Kumulation spezifischer Probleme vor. Dazu kann eine sehr junge Elternschaft ebenso zählen wie schwere oder chronische Krankheit eines Mitglieds der Familie oder Suchterkrankung und psychische Erkrankung der Eltern. Zudem gelten Familien mit überdurchschnittlich hoher Kinderzahl, instabilen und wechselnden Partnerschaften der Erwachsenen und nur einem Elternteil als Risikofamilien. Der mögliche dauerhaft erhöhte Stresslevel, eine wenig verlässliche positive Stimmung und Verlustängste belasten Kinder stark. So sind auch Traumatisierungen z. B. durch das Erleben von häuslicher Gewalt, Missbrauch und Verwahrlosung zum Bedingungsfeld einer sozio-emotionalen Gefährdung zu zählen. Das Aufwachsen in einer Risikofamilie hat für Kinder nicht zwangsläufig Entwicklungsstörungen zur Folge. Forschungsbefunde zeigen allerdings, dass Kinder aus solchen Familien ein höheres Risiko tragen, unsichere Bindungsmuster, das Gefühl der Unterlegenheit und eine erlernte Hilflosigkeit zu entwickeln.
Als vierte Form potentieller sozialer Benachteiligung lässt sich die sozio-physio-emotionale Gefährdung beschreiben. Grundlegende Differenzlinien sind Alter, Geschlecht, Krankheit und Behinderung. Jedes Anderssein birgt prinzipiell in den jeweiligen sozialen Kontexten das Potenzial, zu einer Bevorzugung oder zu einer Benachteiligung zu gelangen. Grundlegend hierfür ist die soziale Bezugsnorm, eine häufig missverstandene Form »objektiver Bewertung«, die nicht individuelle Verarbeitungsprozesse, sondern lediglich äußere Formen im Vergleich zur aktuellen Bezugsgruppe fokussiert. Körperliche Merkmale und Veranlagungen können von außen betrachtet »objektiviert« werden. Sie entwickeln allerdings eine individuelle emotionale Dynamik und gereichen potentiell zur primären Resonanzbeeinträchtigung, indem der Lebensraum des Betroffenen und die erlebten Rückmeldungen das Entstehen einer gesunden Weltbeziehung beeinträchtigen. Je nachdem, wie eindringlich dem Betroffenen eine körperliche Einschränkung oder ein empfundener Makel bewusst werden und in welchem Umfang ihn daraufhin Minderwertigkeitskomplexe und Einschränkungen in der Auseinandersetzung mit der Welt beschäftigen, gerät er zunehmend in die Rolle sozialer und emotionaler Deprivation.
Soweit die vier sozialen Gefährdungslagen, mit denen knapp ein Viertel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland in Kontakt kommen. Obwohl selbstverständlich klar ist, welche schier unendlichen Kombinationsmöglichkeiten beispielsweise bei einem vierstelligen Zahlenschloss entstehen, werden die konkreten sozialen Risiken vieler Kinder in den Erhebungen und Initiativen von Forscherinnen und Forschern häufig wie eine Art Hintergrundrauschen behandelt und die Auswirkungen auf die Lernfähigkeit entweder ignoriert oder stark vereinfachten Kausalitäten zugeordnet. Diesen soll dann möglichst mit der Entwicklung standardisierter Förderprogramme oder direktiver Lernhilfen begegnet werden. Eine Zugangsform, die nicht nur erkennbar aus dem Verständnishorizont bürgerlicher Lebensentwürfe stammt, sondern – wie zu zeigen sein wird – für die Unterstützung sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher ungeeignet ist.
Wir besuchen fünf verschiedene Familien, die in jeweils einem der 13 Stadtbezirke Würzburgs wohnen. Unsere Protagonisten sind sechs Jahre alt und sollen noch im Laufe des Jahres eingeschult werden. Ihr Leben in dieser speziellen Nachbarschaft, ihr Kontakt zu Freunden und Verwandten und die vielen kleinen und großen Sorgen und Vorlieben sind typisch für ihre soziale Lebenslage. In den kommen 27 Leseminuten sollen nicht Stereotype gebildet, sondern individuelle Wirklichkeiten nacherzählt werden.
Paula lebt mit ihrer Familie im Norden der Stadt. Ihre Eltern stammen beide aus der Gegend und haben im Stadtteil Versbach ein hübsches Einfamilienhaus gekauft. Der Ortsteil ist verkehrstechnisch gut angebunden und liegt dennoch im Grünen. Die Familie ist froh, dass sie direkt am Waldrand wohnen, denn sie »sind viele und brauchen Platz zum Atmen«, wie Mama immer sagt.
Paula hat zwei ältere Schwestern und Ludwig, den Golden Retriever. Außerdem wohnt auch Helen, Au-pair aus England, bei ihnen. Paulas Eltern sind beide Gymnasiallehrer und erzählen beim Mittagessen immer wieder lustige Geschichten aus dem Englisch- oder Geografieunterricht. Bevor Paula im September endlich auch in die Schule kommt, werden sie wie in jedem Jahr alle zusammen Urlaub in der Toskana machen. In diesem Jahr haben sie das Motto »Auf den Spuren der Etrusker« gewählt und letzte Woche schon zwei Bildbände in das Regal des Wohnwagens geräumt. Ende August werden sie ihren ERIBA und die Zelte in Fiesole aufbauen und von dort aus mit den Fahrrädern Tagestouren unternehmen. Paulas Vater hatte sie zum Geburtstag mit einem gebrauchten Pedelec in ihrer Größe überrascht. So können sie gemeinsam die Umgebung erkunden, ohne dass die Kleinste abgehängt wird.
Na ja, ehrlich gesagt ist Paula eigentlich sowieso ziemlich fit. Im Unterschied zu ihrer Schwester Franzi, die sich – seit sie ins Gymnasium gekommen ist – eigentlich nur noch in ihrem Zimmer verschanzt, hat sie keine Angst vor den Familienradtouren. Paula trainiert seit vorletztem Jahr im Hockey-Club Würzburg. Ihre beiden besten Freundinnen sind auch dabei. Und weil die ausgerechnet neben ihnen im Haus rechts und im Haus links wohnen, klappt das mit dem Fahrdienst der Eltern ganz prima. Meistens klappt es prima, nicht immer. Letzte Woche hat Paulas Vater beim Abbiegen ein entgegenkommendes Auto übersehen und konnte gerade noch zurück auf die eigene Spur. Es hat nicht ganz gereicht und die beiden Autos sind aneinander entlang geschrammt. Aber zum Glück konnten sie selber in die Werkstatt fahren und haben dort einen Leihwagen bekommen.
Paula spielt oft ausgelassen und fantasievoll mit ihrem Hund Ludwig und ihren beiden besten Freundinnen. Bei Maja im Garten haben sie gemeinsam mit ihren Vätern ein tolles Baumhaus gebaut und dort schon öfter übernachtet. Dann liegen sie in der Dunkelheit auf dem Rücken und sehen sich durch das offene Fenster die Sternbilder und die Wolken an. Manchmal klettern sie auch nochmal runter und besuchen Vivians Mutter in ihrer Werkstatt, die sie hinter der Garage hat. Dort stellt sie aus Baumstämmen Skulpturen her. Das macht sie immer erst abends, wenn die Kids im Bett sind. Vorher hat sie keine Zeit dazu.
Paula ist ein neugieriges und lebensfrohes Mädchen.
13 Kilometer südlich von Paula lebt die gleichaltrige Mia. Wie jedes fünfte Kind in Deutschland wächst Mia in einer sozio-ökonomischen Gefährdungslage auf. Vor drei Jahren hat die Familie eine 4-Zimmer-Wohnung in einem der Hochhäuser am Heuchelhof zugewiesen bekommen. Seit dem Umzug fährt Mia, so oft sie kann, mit dem Lift ganz nach oben in den 17. Stock und erkundet von dort aus die Gegend ringsum. Genau gegenüber kann sie in die Fenster des Nachbarhochhauses blicken. Allerdings sieht sie nicht, was dahinter ist. Rechts vorbei kann man zwischen den anderen Hochhäusern bis zum Sportplatz schauen. Wenn es dunkel ist und die Scheinwerfer das Fußballfeld beleuchten, fühlt sich Mia nach New York gebeamt. Im Wohnzimmer hängt ein Plakat von New York, auf dem viele Hochhäuser zu sehen sind – und dazwischen ganz klein ein Fußballplatz, auf dem ein paar Jungs kicken. Irgendwann – »wenn wir mal reich und berühmt sind«, sagt Mias Mutter immer – werden sie alle zusammen nach New York fliegen.
Aber dafür reicht das Geld hinten und vorne nicht. Mias Vater arbeitet seit drei Jahren als Aushilfskraft am Bau der A3-Talbrücke Heidingsfeld mit. Vorher war er arbeitslos, und was wird, wenn die Brücke fertig ist, weiß er noch nicht. Um mehr zu verdienen, hat er sich in den Schichtdienst einteilen lassen und muss immer im Wechsel eine Woche sehr früh, eine Woche sehr spät und eine Woche nachts zur Arbeit. Mia hat ihren Vater in den letzten drei Jahren fast nur müde oder gereizt erlebt. Wenn er Urlaub hat, jobbt er bei der Schrottpresse. Dort hat er im letzten Jahr auch seinen alten Mercedes gefunden. Der sollte verschrottet werden, war aber noch fahrbereit und bis auf den TÜV topfit. Mia liebt den satten Sound des Autos, wenn sie mit offenen Fenstern an einer Mauer vorbeifahren und Papa Gas gibt. Sie ist gerne dabei, wenn ihr Vater irgendetwas zu schrauben, zu lackieren oder zu polieren hat. Im Augenblick ist allerdings der Anlasser kaputt und weil das Geld grad knapp ist, kann er nicht repariert werden. Mias Mutter arbeitet als Kassiererin bei REWE und spart jede Woche etwas Geld, damit sie alle zusammen übernächstes Jahr im Sommer vielleicht für eine Woche ins Disney-Land fahren können. Alle zusammen heißt: Mama und Papa, Mia, ihre große Schwester Lara und »die beiden Kleinen«, Max und Alex. Mia teilt sich mit ihrer 8-jährigen Schwester das Zimmer nach Süden, die 3 und 4 Jahre alten Jungs schlafen im Zimmer direkt neben der Eingangstür. Das Mädchenzimmer ist groß genug, dass dort zwei richtige Betten und an der Wand dazwischen ein großer Schrank stehen können. Ihre Hausaufgaben erledigt Lara am Wohnzimmertisch. Wenn Mia auch bald in der Schule ist, müssen sie sich irgendwie absprechen, denn dort liegen ja auch immer die Spielsachen der Jungs herum. Eine Möglichkeit wäre, dass sie sich ein großes Brett besorgen, das sie wie einen portablen Tisch ins Bett mitnehmen können, um darauf zu schreiben.
Wenn Mias Mutter mittags arbeiten muss, haben die beiden Schwestern im Haushalt alles im Griff. Dann kochen sie für Max und Alex Spaghetti oder Fischstäbchen und gehen rüber zum Spielplatz. Sie sind schon ein eingespieltes Team: Jacken an, Schuhe, Taschentücher, Hausschlüssel und Mützen. Die Klamotten der Jungs hatten sie früher selbst auch schon an. Auf dem Spielplatz treffen sie meistens auch Fe, Maike, Mo oder Seb. Während die Kleinen an den Geräten spielen und im Sand buddeln, machen sie Sachen für Große. Zum Beispiel beobachten sie gerne Pärchen, wenn sie irgendwo versteckt knutschen. Oder sie graben selber im Sand nach Regenwürmern, staunen über Ameisenstraßen und retten Fliegen aus Pfützen und der Abdeckung der Rutschbahn.
Mia ist ein waches, interessiertes und fröhliches Mädchen. Sie genießt ihr Leben und freut sich auf die Schule.
Etwas mehr als zehn Kilometer südlich lebt Ben mit seinen Eltern, seinem Bruder und der Oma mütterlicherseits. Die Zellerau ist ein Würzburger Stadtteil, der den Ruf hat, Heimat von sozialen Randmilieus zu sein. In der Diktion unserer Risikogruppen lebt Bens Familie in einer sozio-kulturellen Gefährdungslage. Vater Manfred hat nach der Schule bei der Waschanlage angefangen und ist seitdem dort beschäftigt. Er verdient aus seiner Sicht nicht schlecht und schiebt in Stoßzeiten auch Überstunden am Hochdruckreiniger. Mutter Eva arbeitet auf 450-Euro-Basis im Tattoo-Studio und hilft am Wochenende in einer Diskothek im Gewerbegebiet aus. Tattoos und Graffiti sind ihre Hobbys. In der Nachbarschaft gilt sie als Künstlerin, weil sie Sachen gut aussehen lässt. Sie hat die Außenwände ihres Wohnblocks gesprayt und die Mülltonnen genial lackiert. Seit einigen Monaten probt sie in einer neu zusammengestellten Band im Keller von Haus Nummer 17. Dort hat der städtische »Sozialfuzzi« mit den Jugendlichen der Gegend Rhythmusinstrumente selbstgebaut und daraus eine sogenannte Beatstomper-Band gemacht. Musik tut auch Ben gut. Er ist oft dabei, wenn seine Mutter gemeinsam mit seinem Bruder Linus Teil der 12-köpfigen Truppe ist. Linus geht seit drei Jahren zur Schule, aber darüber wird in der Familie schon lange nicht mehr geredet. Oma hat neulich mal gesagt, dass sie froh ist, wenn die Jungs aus der Schule raus sind und die selbstherrlichen Lehrer nicht mehr ertragen müssen. Solche Äußerungen klingen in Bens Ohren merkwürdig, denn er will gerne erst einmal überhaupt in die Schule kommen. Seine Mutter hat damals erwidert, Linus soll seine Noten nicht persönlich nehmen. Hauptschulabschluss wäre genial und alles drüber nur Spießerscheiß. Ben hat von seinem Freund Yusuf aus dem Nachbarhaus neulich ein Buch geschenkt bekommen. Er kann natürlich noch nicht lesen und weiß deshalb nicht, wovon das Buch handelt. Seine Mutter meinte, er sei jetzt der Buchaufseher der Familie. Das Buch steht auf seinem Schrank und er hofft, dass bald noch mehr dazu kommen.
Yusuf hat vier Geschwister und ist schon sieben Jahre alt. Seine beiden Brüder arbeiten in Schweinfurt und seine Eltern sind Rentner. Ben ist gerne bei Familie Celik. Sie sind entspannt, nehmen sich Zeit und interessieren sich dafür, was er denkt und wie es ihm geht. Sie wollen ihren Sohn Yusuf in der Schule unterstützen, haben aber selber als Jugendliche in der Heimat keinen Abschluss erworben. Yusufs Mutter war nur zwei Jahre in der Schule und hat außerdem keine Vorstellung davon, wie das deutsche Schulsystem funktioniert. Letztes Jahr haben sie sogar die Eingangsuntersuchung verpasst, deshalb kommt Yusuf jetzt erst mit Ben in die Schule. Ganz anders als bei Ben zuhause reden Yusufs Eltern positiv von der Schule, fragen nach Linus und ob er gute Noten hat. Ben und Yusuf freuen sich auf die Schule, sie stellen sich vor, dass sie später den älteren Menschen in ihrer Wohngegend vorlesen könnten und wollen dann auch einen Einkaufsdienst organisieren, weil sie ja auch Preise vergleichen können und sich später ein Moped kaufen wollen.
Ben hat viele Ideen und freut sich darauf, in der Schule bald mehr Freunde zu haben und Lesen und Schreiben zu lernen.
Sechs Kilometer nordöstlich von Ben streift Jenny mit ihrer Halbschwester Aischa durch die Straßen des Stadtteils Lindleinsmühle. Die beiden verstehen sich trotz der vier Jahre Altersunterschied gut. Sie schlafen zuhause in einer Hängematte und kennen beide ihren leiblichen Vater nicht. Dafür ist praktisch jeden Monat ein anderer Mann bei Mama, der dann oft auch für eine Weile bei den drei Frauen wohnt. Im Bad riecht es eigentlich immer nach fremdem Männerschweiß, und beim Essen ist es nie wirklich entspannt. Neulich hat der aktuelle Lover Jenny eine Ohrfeige verpasst, weil sie »Iih!« geschrien hat, als er den Deckel der Pfanne hochhob. Sie mag nun mal definitiv keinen Spinat, und er ist nicht ihr Vater. Jenny und ihre Halbschwester wachsen in einer sozio-emotionalen Gefährdungslage auf. Sie fühlen sich unterwegs in der Stadt deutlich wohler als dort, wo sie wohnen. Mutter Alina besucht zurzeit ein Berufsgrundschuljahr für Schulabbrecher und sie hasst es. Weil sie mit Haushalt, Kindern und Schule nicht zurechtkam, leben die beiden Brüder in einer Pflegefamilie. Sie sind vier und sieben Jahre alt. Toni, der jüngere, ist Jennys richtiger Bruder, Ahmet, der ältere, ihr Halbbruder. Sie mag irgendwie beide nicht, weil sie so wild sind und nicht für fünf Cent auf Mama hören. Deshalb hält sie es für gut, dass sie nicht bei ihnen wohnen, sondern irgendwo bei einer Familie in Karlstadt.
Es gibt allerdings einen Jungen, den Jenny gerne mag: Frederik ist Aischas Klassenkamerad und wohnt mit seiner Tante und deren Freund in der Wohnung schräg gegenüber. Frederiks Mutter ist kurz vor Weihnachten in die JVA Würzburg eingefahren. Seitdem ist Frederiks Kontakt zu ihr praktisch abgebrochen. In Bayern dürfen die Kinder von Strafgefangenen nicht einmal jede Woche mit den Eltern telefonieren und die Besuchszeiten sind stark beschränkt. Es heißt, die Kontaktbeschränkungen seien ein Teil des Abschreckungspotenzials der Haftstrafe. Frederik leidet sehr darunter. In die Wohnung neben Frederik ist eine Familie aus Syrien eingezogen: die Eltern und vier Kinder im Alter von drei, sechs, neun und elf Jahren.