Sozialpsychiatrie als Handlungsfeld der Sozialen Arbeit - Dieter Röh - E-Book

Sozialpsychiatrie als Handlungsfeld der Sozialen Arbeit E-Book

Dieter Röh

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Beschreibung

Soziale Arbeit in der Sozialpsychiatrie geht recovery-, ressourcen- und empowermentorientiert auf die Bedarfe der Zielgruppe ein und unterstützt sie dabei, ihre gesellschaftliche Teilhabe zu sichern. In diesem Zusammenhang vermitteln die AutorInnen Wissen über die zentralen Leitideen der Sozialpsychiatrie, theoretische und ethische Grundlagen, handlungsrelevante Methoden, die Versorgungsstrukturen und Rahmenbedingungen sowie Formen professioneller Reflexion und Forschung. Zudem wird die Thematik Migration und psychische Gesundheit diskutiert. Das Herzstück dieses Buches bilden drei Fallvignetten, in denen die Erfahrungen von psychisch erkrankten Menschen mit der Sozialpsychiatrie veranschaulicht werden.

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort zur Reihe

Zu diesem Buch

1 Grundlagen, Entwicklungslinien, Trends

1.1 Jüngere Geschichte der Sozialpsychiatrie

1.2 Theoretische Annahmen, Leitlinien und Zielsetzungen der Sozialen Arbeit

1.2.1 Bildungstheoretische und diskursanalytische Positionen

1.2.2 Lebenswelt- und bewältigungsorientierte Positionen

1.3 Leitbilder der Sozialpsychiatrie

1.3.1 Personenzentrierung

1.3.2 Empowerment

1.3.3 Gemeindepsychiatrie und Sozialraumorientierung

1.4 Gesundheits- und Krankheitsmodelle

1.4.1 ICD/DSM

1.4.2 ICF

1.4.3 Vulnerabilitäts-Stress-Bewältigungsmodell

1.4.4 Salutogenese

1.4.5 Recovery

1.4.6 Anthropologische Psychiatrie

1.5 Besondere soziale Probleme psychisch kranker Menschen

1.5.1 Stigmatisierung

1.5.2 Armut/Soziale Ungleichheit

1.5.3 Soziale Isolation

1.6 Trends

2 Ethische Fragestellungen

2.1 Kurze Ethikgeschichte der Psychiatrie

2.2 Ethisches Kontinuum

2.3 Selbstbestimmung und Autonomie

2.4 Fremdbestimmung und Verantwortungsübernahme (Zwangskontexte)

2.5 (Für-)‌Sorge – Careethik

2.6 Menschenrechte

3 Fallvignetten mit Menschen aus dem sozialpsychiatrischen Feld

3.1 Fallvignette – Interview 1

3.1.1 Deutungsfolie »Suchterkrankung« – Zuschreibungen, Ursachen, Häufigkeit

3.1.2 Klassifikatorische Diagnostik und psychische Komorbidität bei Abhängigkeitserkrankungen – ICD-10 und DSM-5

3.1.3 Einordnungen im Bereich Selbstbewertung und Selbstdiagnose‍(n)

3.1.4 Einordnungen im Hinblick auf Ressourcen und Potenziale

3.1.5 Beziehungsqualität, Erarbeitung neuer Sicht- und Lösungswege – rechtlicher Betreuer

3.2 Fallvignette – Interview 2

3.2.1 Deutungsfolie »Schizophrenie« – Zuschreibungen, Ursachen, Häufigkeit

3.2.2 Klassifikatorische Diagnostik ICD-10 – Schizophrenie/Schizotype (Persönlichkeits-)‌Störung

3.2.3 Einordnungen im Bereich Selbstdiagnose‍(n) und Selbstbewertung

3.2.4 Einordnungen im Hinblick auf Ressourcen und Potenziale

3.2.5 Beziehungsqualität, Erarbeitung neuer Sicht- und Lösungswege – Peer-Recovery-Gruppe

3.3 Fallvignette – Interview 3

3.3.1 Deutungsfolie »Angsterkrankungen« – Zuschreibungen, Entwicklung, Häufigkeit

3.3.2 Klassifikatorische Diagnostik »Angststörungen« – ICD-10

3.3.3 Einordnungen im Bereich Selbstbewertung und Selbstdiagnose‍(n)

3.3.4 Einordnungen im Hinblick auf Ressourcen und Potenziale

3.3.5 Beziehungsqualität, Erarbeitung neuer Sicht- und Lösungswege – Sozialer Dienst einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung

3.4 Vergleich, Gesamteinschätzung und Empfehlungen

4 Koproduktion und professionelles Handeln

4.1 Selbsthilfe und Selbsthilfegruppen

4.2 Psychose-Seminare und Trialog

4.3 Recovery-Gruppen

4.4 Peer-to-Peer-Ansätze und EX-IN

4.5 Netzwerkarbeit und Kooperationsmanagement

4.6 Psychosoziale Beratung

4.7 Psychosoziale Diagnostik

4.8 Soziale Gruppenarbeit

4.9 Sozialtherapie

4.10 Beziehungsarbeit

4.11 Hilfeplanung/Teilhabeplanung (Case Management)

5 Rahmenbedingungen und Versorgungsstrukturen

5.1 Versorgungsstrukturen

5.2 Leistungsangebote

5.2.1 Medizinisch-psychiatrische bzw. psychotherapeutische Krankenbehandlung

5.2.2 Medizinische bzw. berufliche Rehabilitation

5.2.3 Soziale Teilhabe und Assistenz im Bereich Wohnen

5.2.4 Teilhabe am Arbeitsleben – Schwerpunkt Werkstatt für behinderte Menschen

5.2.5 Sozialpsychiatrischer Dienst

5.2.6 Rechtliche Betreuung

5.2.7 Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB)

6 Migration und psychische Gesundheit

6.1 Migrationsgesellschaftliche Veränderungen

6.2 Psychische Gesundheit von Migrant*innen und Geflüchteten

6.3 Besondere Situation von geflüchteten Menschen

6.4 Diversität und Transkulturalität in der psychosozialen Versorgung

6.5 Beispiele für diversitätsbewusste Versorgungseinrichtungen

6.6 Abschließende Forderungen

7 Professionelle Selbstklärung und Forschung

7.1 Selbsterfahrung und Selbstreflexion

7.2 Supervision

7.2.1 Inanspruchnahme von Supervision

7.2.2 Formen von Supervision

7.2.3 Bedeutung von Fallsupervisionen

7.3 Kollegiale Beratung und Intervision

7.4 Forschungsgebiet Sozialpsychiatrie

7.4.1 Forschungszugänge und Mixed Methods

7.4.2 Medizinische Forschung und randomisiert kontrollierte Studien

7.4.3 Versorgungsforschung

7.4.4 Hamburger RCT-Peer-Studie

Literaturverzeichnis

Grundwissen Soziale Arbeit

Herausgegeben von Rudolf Bieker

Das gesamte Grundwissen der Sozialen Arbeit in einer Reihe: theoretisch fundiert, immer mit Blick auf die Arbeitspraxis, verständlich dargestellt und lernfreundlich gestaltet – für mehr Wissen im Studium und mehr Können im Beruf.

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

https://shop.kohlhammer.de/grundwissen-soziale-arbeit

Die Autor*innen

Elisabeth Schreieder ist seit 2019 Professorin für Soziale Arbeit an der Hochschule für Künste im Sozialen in Ottersberg und lehrt zudem an der Fachhochschule Kiel. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Gesundheitsbezogene Soziale Arbeit, Theorie-Praxis-Transfer, Empirische Sozialforschung und Spiel- und Theaterpädagogik.

Dieter Röh ist seit 2005 Professor für Soziale Abeit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Rehabilitation und Teilhabe sowie Klinische Sozialarbeit und Sozialraumorientierung.

Dieter RöhElisabeth Schreieder

Sozialpsychiatrie als Handlungsfeld derSozialen Arbeit

Mit einem Beitrag von Ayça Polat

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-036897-2

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-036898-9epub: ISBN 978-3-17-036899-6

Vorwort zur Reihe

Mit dem sogenannten »Bologna-Prozess« galt es neu auszutarieren, welches Wissen Studierende der Sozialen Arbeit benötigen, um trotz erheblich verkürzter Ausbildungszeiten auch weiterhin »berufliche Handlungsfähigkeit« zu erlangen. Die Ergebnisse dieses nicht ganz schmerzfreien Abstimmungs- und Anpassungsprozesses lassen sich heute allerorten in volumigen Handbüchern nachlesen, in denen die neu entwickelten Module detailliert nach Lernzielen, Lehrinhalten, Lehrmethoden und Prüfungsformen beschrieben sind. Eine diskursive Selbstvergewisserung dieses Ausmaßes und dieser Präzision hat es vor Bologna allenfalls im Ausnahmefall gegeben.

Für Studierende bedeutet die Beschränkung der akademischen Grundausbildung auf sechs Semester, eine annähernd gleich große Stofffülle in deutlich verringerter Lernzeit bewältigen zu müssen. Die Erwartungen an das selbständige Lernen und Vertiefen des Stoffs in den eigenen vier Wänden sind deshalb deutlich gestiegen. Bologna hat das eigene Arbeitszimmer als Lernort gewissermaßen rekultiviert.

Die Idee zu der Reihe, in der das vorliegende Buch erscheint, ist vor dem Hintergrund dieser bildungspolitisch veränderten Rahmenbedingungen entstanden. Die nach und nach erscheinenden Bände sollen in kompakter Form nicht nur unabdingbares Grundwissen für das Studium der Sozialen Arbeit bereitstellen, sondern sich durch ihre Leserfreundlichkeit auch für das Selbststudium Studierender besonders eignen. Die Autor*innen der Reihe verpflichten sich diesem Ziel auf unterschiedliche Weise: durch die lernzielorientierte Begründung der ausgewählten Inhalte, durch die Begrenzung der Stoffmenge auf ein überschaubares Volumen, durch die Verständlichkeit ihrer Sprache, durch Anschaulichkeit und gezielte Theorie-Praxis-Verknüpfungen, nicht zuletzt aber auch durch lese‍(r)-freundliche Gestaltungselemente wie Schaubilder, Unterlegungen und andere Elemente.

Prof. Dr. Rudolf Bieker, Köln

Zu diesem Buch

»Psychiatrie ist soziale Psychiatrie oder sie ist keine Psychiatrie!« – so lautet der schon oft zitierte Satz von Klaus Dörner (vgl. Dörner u. a. 2004, 25). Er ist im Indikativ geschrieben – kann aber auch als Imperativ gedeutet werden: Insofern oder insoweit Psychiatrie (noch) nicht sozial ist, soll bzw. muss sie es werden. Somit wird aus der Psychiatrie die Sozialpsychiatrie. Doch was ist die Sozialpsychiatrie?

Die Sozialpsychiatrie gilt im Bereich des Gesundheits- und Sozialwesens als eine spezifische Sicht- und Arbeitsweise, welche die (psycho-)‌sozialen Ursachen, Bedingungen, Folgen und Behandlungs- und Unterstützungsmöglichkeiten von psychischer Krankheit und Gesundheit in den Blick nimmt. Sie distanziert sich von einer ausschließlich individual-psychologisch oder bio-medizinisch orientieren Krankheits- oder Störungsdefinition und Problembetrachtung und positioniert sich ihrerseits mehrperspektivisch.

Inhaltlich und semantisch sind drei Ebenen tangiert: Erstens meint der Terminus eine theoretische und empirische Wissenschaft, welche im Gegenstandsfeld psychische Gesundheit und Krankheit, die soziale Dimension bzw. die Bedeutung sozialer Faktoren erforscht und die damit einhergehenden Wissensbestände sichert. Zum zweiten versteht man darunter eine sozialtherapeutische Praxis, die psychisch erkrankte Menschen in und mit ihrer sozialen Umwelt zu verstehen versucht und behandelt. Damit verbindet sich die Erkenntnis, dass psychische Krankheit im Rahmen sozialer Interaktionen entsteht bzw. fortbesteht. Auch hat eine psychische Erkrankung – wie jede gesundheitliche Beeinträchtigung – Auswirkungen auf die Lebens-‍, Arbeits- und Beziehungssituation der Betroffenen. Zum dritten charakterisiert der Begriff eine soziale Bewegung, welche einerseits den Einbezug von Krankheit in die Lebenswelt und den Alltag der Betroffenen fordert und andererseits deren Ressourcen und Genesungschancen in das Krankheits- bzw. Gesundheitsverständnis und die Behandlungs- und Unterstützungsarrangements einbezieht. Psychische Erkrankungen sollen dort behandelt werden, wo sie entstehen, und daher gelten bei der Ausgestaltung von Hilfen neben dem Prinzip der Integration/Inklusion die Prämissen der Angehörigen- und Netzwerkarbeit, Regionalisierung (Sektorisierung) und Ambulantisierung. Der oft synonym verwendete Begriff der Gemeindepsychiatrie spiegelt diese Forderungen wider. Sozialpsychiatrie soll Menschen dort ein Behandlungs- und Unterstützungsangebot unterbreiten, wo sie leben (möchten), und zwar mit allem, was die derzeitige Wissenschaft und Praxis dafür bereit hält. Ferner sind die gesellschaftliche Teilhabe und die Realisierung der Menschenrechte auf allen Ebenen umzusetzen und vor allem durch Partizipations- und Empowermentprozesse zu fundieren – eine nicht nur gesundheits- und sozialpolitische, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Alle eben beschriebenen Prinzipien verfolgt ausdrücklich auch die Soziale Arbeit als Wissenschaft und Praxis, so wie sie an Hochschulen für angewandte Wissenschaften (bzw. vereinzelt an Universitäten) gelehrt wird. Heute sind die Studienrichtungen »Psychiatrie«, »Sozial- oder Gemeindepsychiatrie«, »psychische Erkrankungen« oder auch »Klinische Sozialarbeit mit entsprechendem Schwerpunkt« an den allermeisten Hochschulen in Deutschland fest verankert. Soziale Arbeit ist zudem qua Definition als soziale Profession zu beteiligen, denn sie sichert ganz wesentliche Teile des Sozialen innerhalb der Sozialpsychiatrie ab. Die bisherigen Versuche, die diesbezügliche Position und den Beitrag Sozialer Arbeit zu klären (Bischkopf u. a. 2017; Sommerfeld u. a. 2016; Dörr u. a. 2015; Bosshard, Ebert & Lazarus 2007; Dörr 2005; Clausen u. a. 2016; Knoll 2000; Clausen u. a. 1997; Blancke 1996), werden durch dieses Buch unterstützt und ergänzt. Dies erscheint uns auch deshalb bedeutsam, da die Psychiatrie sich immer wieder an den psychodynamischen und neuro-physiologisch ausgerichteten Deutungsfeldern der Medizin und Psychologie ausrichtet. Dies wäre zunächst nicht problematisch, wenn darüber die sozialen Einflussfaktoren nicht vergessen würden und das allseits anerkannte bio-psycho-soziale Modell von Gesundheit und Krankheit den allgemeinverbindlichen Rahmen darstellte. Diese Ausrichtung und im Speziellen die Profession Soziale Arbeit sieht sich allerdings nach wie vor mit verengten Sichtweisen und Rahmungen konfrontiert, die die Lebenslage psychisch kranker Menschen und deren Behandlung und Unterstützung wesentlich beeinflussen und zudem eine Fremdbestimmung und Subordination ihrer Handlungsprinzipien und -praxis wahrscheinlich werden lassen.

Sein Alleinstellungsmerkmal erhält dieses Buch weniger durch die notwendigen Darstellungen der Grundlagen der Sozialen Arbeit und der Sozialpsychiatrie (▶ Kap. 1), der ethischen Fragenstellungen (▶ Kap. 2), der konzeptionell-methodischen Handlungsformen (▶ Kap. 4), der Rahmenbedingungen und Versorgungsstrukturen (▶ Kap. 5) und den Erläuterungen zu Formen der professionellen Selbstklärung und Forschung (▶ Kap. 7), sondern insbesondere aufgrund der Fallvignetten des dritten Kapitels. Hier berichten psychisch erkrankte Menschen im Beisein einer unterstützenden Personen aus ihrer Biografie von ihrem Krankheitserleben, den bisherigen Hilfeerfahrungen im psychiatrischen Feld und ihren Zukunftsvorstellungen. Im Anschluss werden die Interviewaussagen aus mehrdimensionalen Perspektiven interpretiert und im Rahmen einer teilhabe- und recoveryorientierten Ausrichtung exemplarisch bewertet. Somit fungieren die Fallvignetten zugleich als Lehrbeispiele für das Studium der Sozialen Arbeit wie auch als Beispiele für viele der im Buch grundlegend dargestellten Positionen. Zudem beinhaltet das Buch einen Beitrag von Ayça Polat zum Thema Migration und psychische Gesundheit (▶ Kap. 6), bei dem auf die aktuelle Situation von Migrant*innen und geflüchteten Menschen und deren Gesundheitsversorgung eingegangen wird. Es werden positive Beispiele der psycho-sozialen Versorgungspraxis dargestellt, aber auch Forderungen erhoben, wie dieser Personengruppe zukünftig eine bessere gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht werden kann.

Wir wollen somit neben der Klärung der Rolle und Funktion Sozialer Arbeit in der Sozialpsychiatrie auch deren davon unabhängige Weiterentwicklung durch eine klare Orientierung an den Prinzipien des Empowerments, der Ressourcen- und Recoveryorientierung mit dem übergeordneten Ziel der gesellschaftlichen Teilhabe aller psychisch erkrankten Menschen unterstützen.

Da das Buch vor der Corona-Pandemie konzipiert und hauptsächlich während des Jahres 2020 geschrieben wurde und insbesondere die Interviews vor dem Ausbruch der Pandemie entstanden sind, konnten die diesbezüglichen Auswirkungen nicht mehr integriert werden. Sie sind aber in einer zukünftigen Betrachtung, sicherlich in einer nächsten Auflage zu berücksichtigen.

Hamburg und Kiel im Juli 2022,Elisabeth Schreieder und Dieter Röh

1 Grundlagen, Entwicklungslinien, Trends

T Was Sie in diesem Kapitel lernen können

Im Folgenden werden zunächst recht allgemeine Grundlagen für die Soziale Arbeit in der Sozialpsychiatrie dargestellt. Dazu gehört, die jüngere Geschichte der Sozialpsychiatrie in Deutschland (▶ Kap. 1.1) zu beschreiben, auch um zu verdeutlichen, welchen Weg sie bislang gegangen ist, wie sich die heutige Unterstützung psychisch erkrankter Menschen gestaltet und welche zukünftigen Entwicklungen sich abzeichnen. Des Weiteren werden theoretische Annahmen, Leitprinzipien und Zielsetzungen der Sozialen Arbeit in der Sozialpsychiatrie skizziert (▶ Kap. 1.2), die den besonderen Zugang und die spezifische Perspektive der Wissenschaft und Profession Sozialer Arbeit charakterisieren. In ähnlicher Weise werden auch die Leitbilder bzw. Leitorientierungen der Sozialpsychiatrie vorgestellt (▶ Kap. 1.3); es wird dafür argumentiert, dass diese in hohem Maße kompatibel mit den vorher dargestellten Grundannahmen Sozialer Arbeit sind. In einem weiteren Abschnitt wird es dann darum gehen, darzustellen, von welchen Gesundheits- und Krankheitsmodellen (▶ Kap. 1.4) in der Sozialpsychiatrie sinnvollerweise auszugehen ist. Zum Schluss werden besondere soziale Probleme (▶ Kap. 1.5) vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Prozesse thematisiert.

1.1 Jüngere Geschichte der Sozialpsychiatrie

Über die historische Entwicklung der Psychiatrie hin zu einer sozialen Psychiatrie, Sozialpsychiatrie oder auch Gemeindepsychiatrie ist bereits hinlänglich viel geschrieben worden (vgl. grundlegend u. a. Krumm & Becker 2012; Kumbier, Haack & Hoff 2013; Clausen & Eichenbrenner 2016; Gruber u. a. 2018a und zur Geschichte Sozialer Arbeit in der Psychiatrie: Brückner 2015), weshalb sich hier auf die kursorische Darstellung der jüngeren Geschichte konzentriert wird. Es sei hier nur kurz angemerkt, dass sich die Geschichte der Psychiatrie nicht ohne die Auswirkungen der Aufklärung, der Entwicklung des Bürgertums und die zunehmende Medizinalisierung der Gesellschaft verstehen lässt (vertiefend: Dörner 1995; Blasius 1980, 1995; Foucault 1973; Goffman 1973).

Grundsätzlich ist zu konstatieren, dass sich die soziale Seite der Psychiatrie erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts vom bis dahin eher medizinisch dominierten Blick auf psychische Erkrankungen und deren Behandlung emanzipierte, obwohl die erste Verwendung des Begriffs »Sozialpsychiatrie« älteren Datums ist (vgl. Kumbier, Haack & Hoff 2013, 36). Für das unterschiedliche Selbstverständnis sprechen u. a. die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) im Vergleich zur Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und auch die vielfach vorzufindende Trennung der eher klinisch-medizinisch-naturwissenschaftlichen Psychiatrie (in Kliniken, bei niedergelassenen Neurolog*innen und Psychiater*innen) von der eher lebensweltlich-sozialwissenschaftlichen Sozialpsychiatrie (ebenfalls in manchen Kliniken, vor allem aber im Bereich der Eingliederungshilfe).

Die Behandlung und Versorgung bzw. Separation (chronisch) psychisch erkrankter Menschen in »Armen- und Arbeitshäusern«, »Irrenanstalten«, »Heil- und Pflegeanstalten« oder psychiatrischen Großheimen war seit dem Mittelalter bis in das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts der Normalfall im gesellschaftlichen Umgang mit dieser Bevölkerungsgruppe, obwohl bereits im 19. Jahrhundert vereinzelte Initiativen der sog. »Offenen Fürsorge für Geisteskranke« und wissenschaftliche Theorien eines sozialmedizinischen Verständnisses auch der psychischen Erkrankung zu verzeichnen sind (vgl. Kumbier, Haack & Hoff 2013, 37 f.; Gruber u. a. 2018a, 13 f.). Im Zusammenhang mit dem dann sich aber doch durchsetzenden erbbiologisch-sozialdarwinistischen Verständnisses psychischer Erkrankungen entwickelte die Psychiatrie seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis hin zu den Verbrechen in der NS-Zeit ein völlig anderes Verständnis: Psychische Erkrankung wurde als »anormal«, vererbbar und als degenerative, nicht-heilbare Störung verstanden und psychisch erkrankte Menschen zunehmend marginalisiert, diffamiert und schließlich im Rahmen der sog. »T4-Aktion« getötet (vgl. Kumbier, Haack & Hoff 2013, 40; Gruber u. a. 2018a, 15 f.).

Nach dieser Phase der immer stärker menschenverachtenden Psychiatrie, deren Aufarbeitung erst verzögert im Rahmen der gesellschaftlichen Entwicklungen seit den 1960ern gelang, und der sich in Deutschland erst langsam reformierenden Psychiatrie, fand in Westdeutschland mit dem Einsetzen der Enquete-Kommission zur Untersuchung der Lage der Psychiatrie in Deutschland und deren Bericht (Deutscher Bundestag 1975) ein Durchbruch nicht nur in der gesellschaftlichen Debatte zum Umgang mit psychisch erkrankten Menschen, sondern auch in der Reform der »kustodialen Psychiatrie« statt. In dem Bericht wird u. a. festgehalten, dass die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg »in fast allen psychiatrischen Krankenhäusern zu elenden und menschenunwürdigen Lebensbedingungen« führte, »denen vor allem die chronisch Kranken ausgesetzt waren« (Deutscher Bundestag 1975, 62). Zusammenfassend wurden »Mängel in der Versorgung psychisch Kranker und Behinderter« in folgenden Bereichen gesehen:

1.

»Die unzureichende Unterbringung psychisch Kranker und Behinderter in den psychiatrischen Krankenhäusern und das Fehlen alternativer Einrichtungen, welche die stationäre Versorgung im Krankenhaus ergänzen.

2.

Der Mangel an Einrichtungen für Kinder und Jugendliche, für Alkoholkranke und Drogenabhängige, für psychisch kranke alte Menschen und erwachsene geistig Behinderte.

3.

Die unzureichende Kapazität an Psychotherapie für die große Zahl seelisch bedingter und seelisch mitbedingter Krankheiten.

4.

Die mangelhafte Koordination aller an der Versorgung psychisch Kranker und Behinderter beteiligten Dienste, insbesondere der vielfach unzulänglichen Beratungseinrichtungen und sozialen Dienste.« (Deutscher Bundestag 1975, 4)

Interessant erscheint zudem die Feststellung, dass ein interdisziplinäres Wissen und Können unabdingbar war (und ist), um den

»vielfältigen sowohl biologischen wie psychosozialen Bedingungen psychischer Krankheiten in gleicher Weise gerecht zu werden und die Versorgung von den Auswirkungen organischer Hirnkrankheiten bis zu neurotischen Entwicklungen und psychosomatischen Beeinträchtigungen zu planen.« (Deutscher Bundestag 1975, 5)

Zu den dort aufgeführten Disziplinen gehörte neben der Medizin und Psychologie auch die Sozialarbeit, die im Weiteren an der Entwicklung alternativer Unterstützungsangebote großen Anteil hatte.

Die vorherrschende Institutionalisierung psychisch Erkrankter bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde soziologisch am prägnantesten durch den Begriff der »totalen Institution« gekennzeichnet, die Erving Goffman (1973) für psychiatrische Kliniken mit Langzeitstationen sowie entsprechende Heime und für Gefängnisse prägte:

Totale Institution

»Eine totale Institution lässt sich als Wohn- und Arbeitsstätte einer Vielzahl ähnlich gestellter Individuen definieren, die für längere Zeit von der übrigen Gesellschaft abgeschnitten sind und miteinander ein abgeschlossenes, formal reglementiertes Leben führen« (Goffman 1973, 11).

Das zentrale Merkmal totaler Institutionen besteht darin, dass die Schranken, die normalerweise diese drei Lebensbereiche (Wohnen, Freizeit, Arbeit) voneinander trennen, aufgehoben sind:

1.

»Alle Angelegenheiten des Lebens finden an ein und derselben Stelle unter ein und derselben Autorität statt.

2.

Die Mitglieder der Institution führen alle Phasen ihrer täglichen Arbeit in unmittelbarer Gesellschaft einer großen Gruppe von Schicksalsgenossen aus, wobei allen die gleiche Behandlung zuteil wird und alle die gleichen Tätigkeiten gemeinsam verrichten müssen.

3.

Alle Phasen des Arbeitstages sind exakt geplant, eine geht zu einem vorher bestimmten Zeitpunkt in die nächste über und die ganze Folge der Tätigkeit wird von oben durch ein System expliziter formaler Regeln und durch einen Stab von Funktionären vorgeschrieben.

4.

Die verschiedenen erzwungenen Tätigkeiten werden in einem einzigen rationalen Plan vereinigt, der angeblich dazu dient, die offiziellen Ziele der Institution zu erreichen« (Goffman 1973, 17).

Das auf die Psychiatrie-Enquete folgende »Modellvorhaben zur Reform der Versorgung im psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Bereich« erzeugte Ende der 1980er Jahre in Deutschland die notwendigen, menschenrechtlich wie fachlich begründeten Reformen (vgl. zu einer Bilanz: Aktion Psychisch Kranke 2006; Armbruster u. a. 2015). Die daraus resultierenden Impulse wurden von der Krankenversicherung, den Sozialhilfeträgern sowie der freien und öffentlichen Wohlfahrtspflege aufgenommen, umgesetzt und weiterentwickelt. Für die DDR sind die sozialpsychiatrischen Reformbestrebungen vor allem mit den sog. Rodewischer und Brandenburger Thesen verbunden:

»In den (Rodewischer; Anm. d. Verf.) Thesen wurde als notwendige Voraussetzung eine ›aktive therapeutische Einstellung‹ gefordert. Im Weiteren wurden die Öffnung der psychiatrischen Anstalten, die soziale Integration psychisch Kranker in die Gesellschaft und damit einhergehend der Aufbau ambulanter und teilstationärer Versorgungsstrukturen angestrebt. Dabei sollte die kontinuierliche Weiterbetreuung in so genannten gemeinschaftsnahen Behandlungszentren eine wichtige Rolle spielen.« (Kumbier, Haack & Hoff 2013, 41)

Anders als in der BRD gelang der Ausbau dieser gemeindepsychiatrischen Infrastruktur nicht derart, lediglich das regionale Angebot von teilstationären oder ambulanten medizinischen Kliniken war mit dem diesbezüglichen Ausbau in der BRD vergleichbar. Die Brandenburger Thesen fokussierten vor allem die Notwendigkeit der therapeutischen Gemeinschaft, einer Reformidee, die sich auch in der BRD zunehmend verbreitete (vgl. Kayser u. a. 1981).

Auf deutlichere Reformen drängte die Antipsychiatrie, die eine Abschaffung der psychiatrischen Institutionen forderte und alternative Formen der psychiatrischen Hilfe hervorbrachte (vgl. Lehmann & Stastny 2002; Gruber u. a. 2018a, 17 f.).

Ab den 1990er Jahren entwickelte sich eine differenzierte gemeindepsychiatrische Unterstützungs- und Versorgungslandschaft mit vielfältigen Angeboten im Bereich der psychiatrisch-neurologischen Medizin in Krankenhäusern, Tageskliniken und Institutsambulanzen, bei niedergelassenen Psychiater*innen, Neurolog*innen und Psychotherapeut*innen auf der einen und mit Tages- und Begegnungsstätten, betreutem Wohnen, diversen Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten, Sozialpsychiatrischen Diensten, psychiatrischer Pflege, Kriseninterventionsdiensten, Integrierter Versorgung und Soziotherapie auf der anderen Seite (vgl. ▶ Kap. 6; Rössler & Kawohl 2013, 55 ff.). Auch Selbsthilfe, Trialog und die Ausbildung und der Einsatz von Genesungsbegleiter*innen sind vielerorts bereits feste Bestandteile der Versorgung in Kliniken und Einrichtungen der Eingliederungshilfe (▶ Kap. 5). Trotz dieser erfolgreichen Ausweitung und Differenzierung des Angebots gelingt es hierüber nicht (vollständig), die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, wie in § 1 SGB IX gefordert, zu garantieren. Auch ein Leben in der Gesellschaft statt in institutionalisierten Formen der Unterstützung kann dementsprechend nicht vollständig gewährleistet werden und so bleibt es vielfach bei einem Leben, das zwar formal in der Gesellschaft und ohne physischen Ausschluss gelebt werden kann, in dem jedoch die vollständige, vor allem soziale Integration (▶ Kap. 1.3.3) verfehlt wird.

1.2 Theoretische Annahmen, Leitlinien und Zielsetzungen der Sozialen Arbeit

Der Tatsache, dass die Berufsgruppe der Sozialarbeiter*innen zu den Professionen gehört, die einen Großteil der sozialpsychiatrischen Unterstützung – zumindest innerhalb der Leistungen der Eingliederungshilfe – erbringen, steht die frappierende theoretisch-konzeptionelle Enthaltsamkeit der Sozialen Arbeit bzgl. der Begründung und damit Legitimation ihres Einsatzes in diesem Feld, aber auch der gesamten Sozialpsychiatrie entgegen. Bis auf wenige Autor*innen (z. B. Sommerfeld u. a. 2016; Baumeler u. a. 2012) gibt es keine explizite, umfassende und kohärente Theoretisierung der Psychiatrie aus Sicht der Sozialen Arbeit. Vor allem hinsichtlich der theoretischen, ideellen und konzeptionellen Grundlagen, von denen die Soziale Arbeit und die Sozialpsychiatrie ausgehen, ist das überraschend. Bevor in diesem Kapitel ausgewählte Theorien Sozialer Arbeit auf ihre Anwendbarkeit für den sozialpsychiatrischen Sektor überprüft werden, sei darauf verwiesen, dass viele der in den folgenden Kapitel 1.3 und 1.4 aufgenommenen theoretischen Konzepte auch in der Sozialen Arbeit genutzt werden.

Grundsätzlich lassen sich mit Füssenhäuser (2018) folgende drei Theoriepositionen unterscheiden (die von ihr mitbehandelten professionstheoretischen Ansätze werden hier nicht wiedergegeben und bewertet):

1.2.1 Bildungstheoretische und diskursanalytische Positionen

Hierzu zählt Füssenhäuser die sozialpädagogische Theoriebildung, wie sie von Klaus Mollenhauer und Michael Winkler vorgenommen wurde.Mollenhauers Interesse besteht demnach »an der Klärung der Frage der Bildung von Subjektivität, die er als Frage von (Selbst-)‌Bildungsprozessen formuliert, die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft sowie sein stetes Beharren auf dem Begriff der Generationen.« (Füssenhäuser 2018, 1737) Abgesehen vom typisch erziehungswissenschaftlichen Thema der Sozialisation (über und durch das Verhältnis der Generationen zueinander), ist für eine theoretische Begründung Sozialer Arbeit in der Sozialpsychiatrie insbesondere der Gedanke der Selbstbildung sowie der Wechselwirkungen von Individuum und Gesellschaft bedeutsam. Winklers Verständnis der Sozialpädagogik charakterisiert Füssenhäuser (2018, 1739) richtigerweise wie folgt: »Zentral für Winklers theoretischen Zugang sind die beiden Begriffe des Subjekts und des Ortes bzw. des Raumes.« Das heißt, dass neben dem diskurstheoretischen Zugang zur Theorie einer Sozialpädagogik, wie Winkler sie selbst beständig betreibt, er auf der Basis eines subjekttheoretischen Zugangs zwei konstitutive Elemente, den Ort und das Subjekt, erarbeitet. Sein Ortsverständnis ist für die Sozial- bzw. Gemeindepsychiatrie instruktiv, da er hier verschiedene Funktionen anbietet, entlang derer eine Ortsgestaltung vollzogen werden kann.In seinem Sinne »pädagogische Orte« (oder besser: pädagogisch oder eben auch sozialtherapeutisch wertvolle Orte) sollten

·

»Schutz und existenzielle Sicherheit, Geborgenheit und Versorgung bieten,

·

›fehlerfreundlich‹ sein (also angstfreies Lernen mit Rückschritten oder Umwegen ermöglichen),

·

Ruhezonen sein, die einen Aufforderungscharakter zur Entwicklung enthalten,

·

offen sein für Aneignungsprozesse,

·

der Ausgangspunkt zur Erreichung weiterer Orte sein,

·

soziales Leben ermöglichen und

·

zudem eine Mischung aus Gewohntem und Neuem aufweisen.« (Röh & Meins 2021, 42)

Der Begriff ›Subjekt‹ verdeutlicht Winkler zufolge, dass es die Sozialpädagogik stets mit Menschen zu tun hat, die in einer »selbsttätig hergestellten, durch Handlungen verwirklichten Beziehung zu ihrer Umwelt stehen und sich in dieser Beziehung verändern können.« (Winkler 1995a, 114 zit. nach Füssenhäuser 2018, 1739) Für die Sozialpsychiatrie ist hieran entscheidend, dass sich – ähnlich wie bei Mollenhauer – die Subjekthaftigkeit oder auch die Subjektivierung als wichtiges, letztlich heilsames Kriterium für professionelle Unterstützung herausstellen lässt. Damit ist eine direkte Parallele zur »subjektiven Seite der Psychiatrie« und des daran anschließenden Verständnisses psychischer Erkrankungen zu sehen.

1.2.2 Lebenswelt- und bewältigungsorientierte Positionen

Hierzu zählen laut Füssenhäuser die Arbeiten von Hans Thiersch (Alltags- und Lebensweltorientierung) und Lothar Böhnisch (Lebensbewältigung). Zu Böhnischs Verständnis schreibt sie, dass Soziale Arbeit darauf abziele, »Menschen in kritischen Lebenslagen darin zu unterstützen, dass sie Anerkennung erfahren, psychosoziale Handlungsfähigkeit und soziale Orientierung (wieder) erlangen und (neue) soziale Bezüge aufbauen können« (Füssenhäuser 2018, 1740). In Zeiten einer »sozialstrukturellen Dauerkrise«, die für Böhnisch als Ursache der »Bewältigungstatsache« gilt, ist das Subjekt dauerhaft aufgefordert, nach »Wiedererlangung psychosozialer Handlungsfähigkeit« zu streben.

»In diesem Zusammenhang verweist Böhnisch auf vier miteinander verknüpfte Grunddimensionen psychosozialer Handlungsfähigkeit: die Erfahrung des Selbstwertverlustes, die Erfahrung sozialer Orientierungslosigkeit, die Erfahrung des fehlenden sozialen Rückhalts sowie die Sehnsucht nach Normalisierung bzw. die Suche nach Handlungsfähigkeit und Integration.« (Füssenhäuser 2018, 1740)

In seiner »Sozialpädagogik der Lebensalter« (Böhnisch 2017a) zeichnet Böhnisch nach, wie diese Anforderungen zwar variieren, jedoch in ihrer Grundfigur konstant bleiben. Von einer Auseinandersetzung mit Phänomenen abweichenden Verhaltens kommend (Böhnisch 2017b), besteht die Aufgabe Sozialer Arbeit seiner Ansicht nach u. a. im Angebot »funktionaler Äquivalente«, »mit diesem werden Räume bzw. Beziehungen bezeichnet, die es ermöglichen, alternative Erfahrungen in und mit Beziehungen zu machen und so Anerkennung zu erfahren, Vertrauen zu entwickeln und darüber Selbstwert zu stabilisieren.« (Füssenhäuser 2018, 1741) Für die Soziale Arbeit in der Sozialpsychiatrie interessant sind zum einen die Idee einer dauerhaft- kritischen Gesellschaftskonstellation mit der Tendenz zur Prekarisierung von Lebenslagen und die daraus erwachsenden dauerhaft-kritischen Bewältigungsanforderungen an das Subjekt. Hier zeigen sich deutliche Parallelen zu manchen ätiologischen Verständnissen psychischer Erkrankung, insofern diese als in gewisser Weise gesellschaftlich »produziert« oder doch in erheblichem Maße mit hervorgebracht verstanden werden (vgl. z. B. Ehrenberg 2004; Finzen 2013).

Die Alltags- und Lebensweltorientierung, ursprünglich aus der Sozialpädagogik heraus bzw. für die Jugendhilfe entwickelt, geht davon aus, dass sich im Alltag von Menschen deren Anstrengungen zeigen, mit den Anforderungen aus ihrer Lebenswelt zurecht zu kommen. Sie ist stark geprägt von einem verstehenden Ansatz, versucht dabei zu ergründen, wie Menschen ihre Zeit, ihren Raum und ihre sozialen Beziehungen erfahren, welche Routinen sie entwickelt haben, um zurecht zu kommen, und welchen Gefährdungen sie ausgesetzt sind bzw. wie sie sich selbst in ihrem Alltag verstrickt haben. Professionelles Handeln ist in diesem Zusammenhang vor allem von einer »strukturierten Offenheit« und hoher Reflexionskompetenz geprägt (vgl. Thiersch 2015). Zur Anwendung schlägt Thiersch seit langem folgende Struktur- und Handlungsmaximen vor: Prävention, Alltagsnähe, Regionalisierung, Niedrigschwelligkeit, Integration und Partizipation sowie Vernetzen, Planen, Einmischen, Aushandeln und Reflektieren. In einer neueren Veröffentlichung (Thiersch 2020) werden diese wie folgt benannt: Alltagsnähe, Regionalisierung/Sozialraumorientierung, Prävention, Integration/Inklusion, Partizipation.

Systemtheoretische und system‍(ist)‌ische Zugänge: Aus der weit gefächerten Theorielandschaft entlang des systemischen Paradigmas sind mit Füssenhäuser (2018, 1741) drei Richtungen zu berücksichtigen: Erstens das systemtheoretische Paradigma Sozialer Arbeit nach Werner Obrecht und Silvia Staub-Bernasconi, zweitens eine Konzeptionierung Sozialer Arbeit im Anschluss an die funktionale Systemtheorie Niklas Luhmanns, wie bei Michael Bommes und Albert Scherr oder auch Frank Hillebrandt, sowie drittens der Versuch, Soziale Arbeit durch den Radikalen Konstruktivismus zu verstehen bzw. sie als postmoderne Soziale Arbeit, wie durch Heiko Kleve geschehen, zu charakterisieren.Die systemistisch-prozessuale Soziale Arbeit zielt

»sowohl auf eine Beschreibung sozialer Problemdimensionen als auch auf deren Verknüpfung mit spezifischen Wissensbeständen und problembezogenen Arbeitsweisen – Ressourcenerschließung, Bewusstseinsbildung, Modell-‍, Identitäts- und Kulturveränderung, Handlungskompetenz-Training, Soziale Vernetzung, Umgang mit Machtquellen und -strukturen, Kriterien und Öffentlichkeitsarbeit und Sozialmanagement.« (Füssenhäuser 2018, 1742)

Soziale Probleme entstehen aus verhinderter oder stark reduzierter Bedürfnisbefriedigung aufgrund von miteinander verschränkten bzw. einander bedingenden Ausstattungsproblemen (u. a. Krankheit, Behinderung, sozioökonomische Ausstattung, Erkenntniskompetenzen), Austauschproblemen (u. a. unfairer Tausch von Gütern, Verständigungsbarrieren) sowie Machtproblemen (Staub-Bernasconi 2018, 211 ff.). Den Zusammenhang zur Psychiatrie verdeutlichen Staub-Bernasconi u. a. (2012) in Zusammenarbeit mit anderen in einem »Positionspapier zum professionellen Beitrag der Sozialen Arbeit bei Menschen mit psychischen Störungen und Erkrankungen im stationären, teilstationären und ambulanten Gesundheitsbereich«. Wie andere auch (Sommerfeld u. a. 2016; Walther und Deimel 2017), verorten die Autor*innen die Soziale Arbeit in der Psychiatrie als Klinische Sozialarbeit und verweisen auf ein »bio-psycho-sozial-kulturelles Modell des Menschen« (Staub-Bernasconi u. a. 2012, 10 ff.).

In einer anderen Richtung und damit Niklas Luhmanns Gesellschaftstheorie folgend, verstehen Bommes und Scherr die Funktion Sozialer Arbeit als »Inklusionsvermittlung, Exklusionsvermeidung und Exklusionsverwaltung« (Scherr & Bommes 2012, 144), wobei Inklusion zu verstehen ist als von Funktionssystemen, z. B. dem Bildungssystem oder dem Wirtschaftssystem, gesteuerte Berücksichtigung von Personen, insofern diese die Anforderungen des jeweiligen Systems erfüllen.

»Hierbei ist jedoch zu beachten, dass mit Luhmann die Exklusionskraft der Teilsysteme (z. B. vermittelt über die von ihnen formulierten Rollenerwartungen) als sehr stark eingeschätzt werden kann, und umgekehrt die Inklusion eher eine Bemühung des Einzelnen um Anpassung an diese Erwartungen verstanden werden muss.« (Röh 2018a, 83 f.)

Interessant an dieser Sichtweise ist zudem die von Luhmann angenommene »Exklusionsindividualität«, die er als Freiheit der Personen versteht, weil sie eben gerade nicht automatisch in (alle) Funktionssysteme oder in die (ganze) Gesellschaft inkludiert sind. Für die Sozialpsychiatrie ist dieser Ansatz insofern zu berücksichtigen, als damit verstanden werden kann, woran in diesem Sinne Inklusion scheitern kann oder was Inklusion erfordert. Chronisch psychisch kranke Menschen können häufig die zu leistende Anpassung an systemische Anforderungen oder die Übernahme entsprechender Rollen nicht vollziehen, weshalb einerseits an dieser »Inklusionsfähigkeit« auf Seiten der betroffenen Personen selbst bzw. andererseits an der »Inklusionsfähigkeit« der Funktionssysteme, z. B. einem Betrieb auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt als Teil des Wirtschaftssystems, gearbeitet werden kann. Häufig handelt es sich bislang in vielen Lebensfeldern jedoch eher um etwas, das als »stellvertretende Inklusion« (Becker 2000) bezeichnet werden kann, also als eine Einbeziehung in Bereiche, die ähnlich wie reguläre Funktionssysteme organisiert sind, wie z. B. eine Werkstatt für behinderte Menschen oder ein Inklusionsbetrieb.

Wie bereits oben angedeutet sind die theoretischen Bezüge oder Anwendungen von Theorien der Sozialen Arbeit auf das sozialpsychiatrische Arbeitsfeld eher selten. Eine dezidierte Ausnahme bildet der Versuch Oberts, den alltags- und lebensweltorientierten Ansatz von Thiersch u. a. auf sozialpsychiatrisches Handeln zu beziehen. Dies geschieht im Rahmen seiner Dissertation am Beispiel eines Sozialpsychiatrischen Dienstes, den er mittels der Theorie hinsichtlich seiner Funktion innerhalb des Versorgungsrahmens untersucht, um daraus methodische Schlussfolgerungen abzuleiten (Obert 2001, 19). Auch in einer jüngeren Publikation stellt er dazu fest:

»Die Leitlinien sozialpsychiatrischer Arbeit, ihr Verständnis von Gesundheit und Krankheit mit dem damit verbundenen Menschenbild, ihre Handlungsweise und Methodik sowie ihre politischen Implikationen decken sich de facto mit den Leitlinien und Maximen des Alltags- und Lebensweltorientierten Ansatzes.« (Obert 2015, 50)

Von Interesse für eine theoretische Begründung sozialpsychiatrischen Handelns dürften nicht nur die von ihm daraus abgeleiteten sozialpsychiatrischen Handlungsmaximen sein, die sich eng an den oben bereits benannten Struktur- und Handlungsmaximen orientieren, sondern zudem die Überlegung, ob es sich dabei auch um eine Form der Therapie handele (Obert 2015, 57 ff.).

Zusätzlich zur Möglichkeit, diese Theorien als Ausgangspunkt zu nehmen, wird hier vorgeschlagen, eine Theorie der daseinsmächtigen Lebensführung auf das sozialpsychiatrische Handlungsfeld zu beziehen, die wiederum auf den Capabilities Approach rekurriert.

Capability/Capabilities Approach

Der Capability/Capabilities Approach wird seit seiner Begründung Ende der 1980er Jahre als die Alternative zu utilitaristischen, deontologischen oder kontraktualistischen Ethiken und Gerechtigkeitstheorien gehandelt und findet (inter-)‌national Verwendung (vgl. Röh 2016). Er wurde zunächst als wohlfahrtstheoretische Alternative zu bisherigen, vor allem nationalökonomischen oder utilitaristischen Theorien vom indisch stämmigen, amerikanischen Ökonomen und Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Amartya Sen (zuletzt 2010) entwickelt und in seiner philosophischen Ausprägung von Martha Nussbaum (zuletzt 2010 und 2015) in einer spezifischen Richtung ausgearbeitet. Sen und diejenigen, die eher ihm folgen, nutzen den Begriff Capability Approach, und Nussbaum ihre Anhänger den Begriff des Capabilities Approach. Sie begründet die etwas andere Begriffsnutzung mit der von ihr vorgeschlagenen Liste an Capabilities (vgl. Nussbaum 2015, 28).

Der Capabilities Approach wird von Nussbaum seit langem mit der folgenden Frage charakterisiert bzw. eingeleitet: »Was sind Fähigkeiten? Sie sind Antworten auf die Frage: ›Was ist diese Person befähigt zu tun und zu sein?‹« (Nussbaum 2015, 29) bzw. »Was sind die Menschen wirklich befähigt zu tun und zu sein? Welche tatsächlich gegebenen Möglichkeiten stehen ihnen zur Verfügung?« (Nussbaum 2015, 8). Die oben bereits erwähnte Liste stellt für sie eine Antwort darauf dar und von den Regierungen fordert sie, die Capabilities auf dieser Liste mindestens auf einem nicht zu niedrig anzusetzenden Schwellenwert zu gewährleisten.

Tetzer (2012, 69) spricht dem Capability/Capabilities Approach die Möglichkeit zu, mittels der darin vertretenden Konzeption eines guten Lebens der Sozialpsychiatrie eine normative Orientierung zu geben, ihn mit den dahinterliegenden Kriterien als evaluatives Instrument zu nutzen sowie zur »Legitimation und sozialwissenschaftlichen Konkretisierung der Forderung nach Interdisziplinarität und Kooperation von Sozialpädagogik und Psychiatrie« (ebd.). Unter Nutzung des Konzepts der »Befähigungen« wird formuliert:

»Eine gerechte Gesellschaft ist demnach daran zu erkennen, dass sie Personen die Entwicklung von Befähigungen nicht nur durch individuelle Förderung ermöglicht, sondern darüber hinaus Kontextfaktoren schafft, welche die Entwicklung von Befähigungen generell befördern.« (Tetzer 2012, 70)

In weitgehender Übereinstimmung mit der eher proklamatorischen Zusammenschau von Capabilities Approach und Sozialpsychiatrie soll hier eine etwas anders nuancierte Nutzung erfolgen. Wie bereits an anderer Stelle für die sog. Behindertenhilfe festgehalten, erklärt eine Theorie der daseinsmächtigen Lebensführung (Röh 2013a) auch für die Sozialpsychiatrie, warum und wie Soziale Arbeit dabei unterstützen kann, das Ziel eines guten Lebens – hier eben verstanden als daseinsmächtige Lebensführung – zu erreichen.

»Statt die Terminologie des Capabilities Approach, der im Deutschen auch als Ansatz der Verwirklichungschancen oder Fähigkeitenansatz bezeichnet wird, zu übernehmen, definiere ich die dort bezeichneten internen Fähigkeiten (internal capabilities) als persönliche und die externen Fähigkeiten (external capabilities) als gesellschaftliche Möglichkeiten bzw. entsprechenden Möglichkeitsräume.« (Röh 2018a, 185)

Den persönlichen Möglichkeitsraum macht aus, dass ich als handelndes Subjekt über Kompetenzen verfüge, die mir zur Verfügung stehenden Ressourcen innerhalb meiner Lebensführung so zu nutzen, dass es mir gelingt, ein gutes Leben zu führen. Hierbei sind jedoch hinsichtlich des Kompetenzerwerbs wie auch der performativen Kompetenznutzung diverse Beschränkungen zu berücksichtigen, u. a. das Problem adaptiver Präferenzen oder die erlernte Hilflosigkeit (vgl. Röh 2013a, 182 ff.).

Mit dem gesellschaftlichen Möglichkeitsraum wird das gemeint, was von Nussbaum (1999, 107) als external capabilities bezeichnet ist bzw. war (vgl. zu einer ausführlicheren Begründung Röh 2013a). Er besteht einerseits aus Möglichkeiten der Weltaneignung, indem externe Ressourcen für die eigene Lebensführung genutzt werden können, und andererseits kann er im restriktiven Sinne auch Weltaneignungsbarrieren enthalten, also die eigene Lebensführung begrenzen. Weltaneignungsmöglichkeiten bestehen etwa in einer ausreichenden Ressourcenausstattung: Genügend Einkommen, sichere und gute Wohnverhältnisse, ein barrierefreier Zugang zum Bildungssystem und ein bedarfsgerechter Zugang zu Gesundheits- und Sozialdiensten, gleiche Rechtsansprüche, interpersonelle und staatliche Anerkennung und viele andere Ressourcen dienen der daseinsmächtigen Lebensführung.

Aus der Theorie der daseinsmächtigen Lebensführung ergeben sich zwei Handlungsaufträge, nämlich zum einen, Menschen darin zu unterstützen, handlungsfähig zu bleiben oder zu werden, und zum anderen, Kritik an nicht auskömmlichen oder restriktiven Lebensverhältnissen zu formulieren.

»Die daraus sich ergebende Funktionsbestimmung Sozialer Arbeit kann folgerichtig als die bifokale Unterstützung der daseinsmächtigen Lebensführung durch Stärkung subjektiver Handlungsfähigkeit und Bildung befähigender Strukturen charakterisiert werden. Mit ihrer Expertise für die Zusammenhänge zwischen Handlung und Struktur, zwischen Person und Umwelt und schließlich zwischen Verhalten und Verhältnissen ist Soziale Arbeit die Instanz zur Unterstützung von Lebensführung. Ihr Ziel ist es, gerechte, weil befähigende Strukturen zu bilden und gleichsam die subjektive Lebensführungskompetenz zu stärken. Durch eine im besten Falle Erweiterung der gesellschaftlichen Möglichkeiten und der persönlichen Kompetenzen wird so das Ziel einer selbstbestimmten, daseinsmächtigen Lebensführung angestrebt.« (Röh 2016, 228)

Will man diese theoretische Basis auf die Sozialpsychiatrie anwenden, ergeben sich zunächst analytische Möglichkeiten, wenn man den Gegenstand sozialpsychiatrischer Tätigkeit als Teilhabe‍(-förderung) versteht. So verstanden, wäre eine Teilhabeeinschränkung

»einerseits den psychischen Symptomen geschuldet (...), die gerade in chronifizierter Form durch starke Symptombelastung den Handlungsspielraum des einzelnen Menschen entscheidend reduzieren. Andererseits ist der Prozess der Erkrankung selbst als Sozialisationsprozess zu betrachten, der von sozialen Niederlagen, (Selbst-)‌Stigmatisierung und erlernter Hilflosigkeit geprägt sein kann. So verweist der Capabilities Approach immer auch auf das sozialstrukturelle Bedingungsgefüge, in dem sich Menschen aufhalten. Beispielsweise sind erworbene Bildungszertifikate für Menschen mit psychischen Erkrankungen unter Umständen wenig hilfreich, weil sie kaum adäquat in konkrete Arbeitsplätze umgesetzt werden können. Gleichzeitig können bei leichter oder mittlerer Symptombelastung die Rahmenbedingungen eine wirksame Teilhabe verhindern, etwa wenn die soziale und berufliche Rehabilitation, z. B. durch fehlende Zuverdienstmöglichkeiten, erschwert wird.« (Röh, Speck & Steinhart 2017, 303)

Ziele (Sozialer Arbeit in) der Sozialpsychiatrie wären somit

·

»Stärkung und Ausbau der individuellen Potentiale im Rahmen personenbezogener medizinischer, therapeutischer oder psychosozialer Interventionen (psychiatrisch-/psycho- und sozialtherapeutische Aufgabenstellung),

·

die Beeinflussung der Bereitstellung der gesellschaftlichen Potenziale (sozialpolitische und sozialraumbezogene fallunspezifische Aufgabenstellung),

·

Stärkung der individuellen Transformationsleistungen und Entscheidungsfreiheit für das subjektiv empfundene ›gute Leben‹ (sozialpsychiatrischer Unterstützungsmix aus Peer- und Profiberatung),

·

Impulse für eine strukturelle und theoriegeleitete ›Diagnose‹ der Teilhabechancen« (Röh, Speck & Steinhart 2017, 310 f.).

Über alle Theorien hinweg lässt sich, unabhängig, ob von Sozialpädagogik, Sozialarbeit oder Sozialer Arbeit die Rede ist, als Konstitutivum der Profession die Wechselseitigkeit von Individuum und Gesellschaft festhalten. In deutlicher Überschneidung beispielsweise zum bio-psycho-sozialen Modell der ›International Classification of Functioning, Disability and Health‹ (»Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit«) (ICF) und auch der Grundidee der Sozialpsychiatrie, dass psychische Krankheit resp. die Psyche im Allgemeinen durch das Soziale, die Umwelt bzw. die Gesellschaft geprägt werden, ergibt sich hier bereits eine Möglichkeit, den originären theoretischen Beitrag Sozialer Arbeit sowie die Komplementarität zu Theorien anderer Disziplinen und Professionen in der Sozialpsychiatrie festzustellen.

1.3 Leitbilder der Sozialpsychiatrie

Die Sozialpsychiatrie als erstens sozialmedizinischer Zweig der Psychiatrie, als zweitens soziale Bewegung von Psychiatrie-Professionellen und Psychiatrie-Erfahrenen und als drittens institutionell-konzeptionelle Form der Versorgung von psychisch kranken Menschen versteht psychische Erkrankung als im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Strukturen entstehende und zu behandelnde Störung/Krankheit.

»Sozialpsychiatrie ist derjenige Bereich der Psychiatrie, der psychisch kranke Menschen in und mit ihrem sozialen Umfeld zu verstehen und zu behandeln sucht. Sie studiert Wechselwirkungen zwischen sozialen, psychologischen und biologischen Faktoren und bezieht die Familie, Wohn- und Arbeitssituation gezielt in die Prävention und Behandlung psychischer Störungen mit ein.« (Ciompi 1995, 205)

Sich weniger auf die Entstehung und Behandlung von psychischen Störungen im klinischen Sinne denn vielmehr im lebensweltlichen Sinne beziehend, ist die Gemeindepsychiatrie als eine Form der Sozialpsychiatrie zu charakterisieren. Gemeindepsychiatrie bedeutet personenzentrierte Hilfen nicht nur gemeindenah zu organisieren, sondern in der Gemeinde, sprich im Sozialraum der Betroffenen.

In der Folge sollen daher die verschiedenen, hier angesprochenen Leitbilder der Personenzentrierung, der Selbstbestimmung, des Empowerments (Recovery), der Gemeinde- bzw. Sozialraumorientierung vorgestellt werden.

1.3.1 Personenzentrierung

Die Personenzentrierung ist als Leitbild nicht nur der Sozialpsychiatrie, sondern auch der Behindertenhilfe nur vor dem Hintergrund der psychiatriepolitischen Entwicklungen seit der Psychiatrie-Enquete und den psychiatriekritischen sozialen Bewegungen, z. B. der sog. Irren-Offensive (vgl. Stöckle 2005) zu verstehen. Mit der seit 1975 einsetzenden De-Institutionalisierung beginnt die Suche nach Alternativen zum bis dahin vorherrschenden Denken in institutionszentrierten Kategorien der »Pflege«, »Verwahrung« und »Versorgung« psychisch erkrankter Menschen. Einhergehend mit einem mehr rehabilitativen Ansatz setzt sich der Begriff der »Personenzentrierung« mehr und mehr durch (vgl. zu einem Überblick bzgl. der beiden Begriffe Dezentralisierung und Personenzentrierung: Franz 2018). Ebenfalls diskutiert wird der Begriff der »Personzentrierung«, wie er in der ICF beschrieben bzw. von den Fachverbänden für Menschen mit Behinderung (2010) gefordert wird. Letzterer stärkt den individuellen Fokus, da auf die Person im Singular und nicht auf die Personen im Plural Bezug genommen wird. Im Gegensatz zur Instituionszentrierung, die eine Anpassung der unterstützungsbedürftigen Personen an die Konzepte und Strukturen der Einrichtungen und Dienste erforderte, setzt man bei der Personenzentrierung auf die Anpassung der Dienste und Einrichtungen an die individuellen Bedarfe Einzelner oder typischer Personengruppen. Die Frage, ob das Individuum, die Person und das Subjekt die besseren Bezugspunkte wären, kann hier nicht dezidiert diskutiert werden. Je nach Terminologie verschiebt sich jedoch der Bedeutungsgehalt in theoretischer wie ethischer Hinsicht. Bleidick, Rath & Schuck (1995, 248) sahen im Kontext der Sonderpädagogik im Wandel von der Institutionen- zur Person‍(en)‌zentrierung sogar eine »kopernikanische Wende« und signalisierten damit dessen Bedeutung als Paradigmenwechsel. Einen vorläufig rein instrumentell-methodischen Höhepunkt erreichte die Entwicklung in der Konzeption und Etablierung des Integrierten Behandlungs- und Rehabilitationsplans (IBRP), der als Planungs- und Kalkulationsmittel zur Bedarfsbemessung in den neuen, vornehmlich gemeindenahen Versorgungsangeboten (wie dezentralen Wohnheimen, Wohngruppen, Betreutem Einzelwohnen etc.) dient. Eingebunden in ein gemeindepsychiatrisches Verständnis sollte die »Ambulantisierung« durch eine entsprechende Planung der Hilfe begleitet und gesteuert werden. So hat die Personenzentrierung schon dort eine sozialräumliche Note:

»Statt chronisch psychisch kranke Menschen in Asyle (im Sinne von Goffman) zu institutionalisieren und sie damit aus ihrem eigenen Lebensfeld auszugliedern, geht es darum, daß der Kreis, die Stadt ihnen ›Asyl‹ bietet im Sinne von akzeptiertem Lebensraum und sie Sorge trägt für die dazu notwendige Hilfe.« (Kauder/Aktion Psychisch Kranke 1997, 11)

In diesem Sinne hat Personenzentrierung als Gestaltungsprinzip durchaus Wirkung entfaltet (vgl. zur gesamten Entwicklung Bundesministerium für Gesundheit 1999; Kruckenberg 2000; Hölzke 2003), wird jedoch auch kritisch betrachtet (Opielka 2005; Dörner 2005). Neben dem bereits im Bundessozialhilfegesetz vorhandenen und nun durch das Bundesteilhabegesetz gestärkten Wunsch- und Wahlrecht ist auch die dort verankerte Trennung von Fachleistungen und existenzsichernden Leistungen (vgl. Schmachtenberg 2020) als ein weiterer Schritt zu bewerten, der die »institutionelle Beharrlichkeit« (Schädler 2003) auflöst und weitestgehend zu einem modularisierten System werden lässt. Seit längerem kann das persönliche Budget (Langer 2013; Kampmeier, Kraehmer & Schmidt 2014), das die Verantwortung für die effektive und effiziente Realisierung der Teilhabe zumindest weitestgehend in die Hände der leistungsberechtigten Person zurückverlagert, als Instrument einer personenzentrierten Leistungsausgestaltung interpretiert werden.In jüngster Zeit hat das Prinzip durch das Bundesteilhabegesetz an normativ-leistungsrechtlicher Bedeutung gewonnen.

Franz (2018, 837) hält am Schluss seiner Analyse der beiden Begriffe Deinstitutionalisierung und Personenzentrierung fest: »Betrachtet man die drei Stoßrichtungen im Einklang miteinander, lesen sie sich wie die Grundbausteine einer Personenzentrierung im Hilfesystem:

1.

ein regional ausgerichtetes, bedarfsdeckendes und vielseitiges System von Hilfen, das sich an den Bedarfslagen vor Ort ausrichtet (und nicht umgekehrt) und kooperativ mit benachbarten Hilfeformen zusammenarbeitet (z. B. Pflege, therapeutische Leistungen);

2.

flexible, am individuellen Bedarf ausgerichtete Organisation von Hilfen, die sich an (behinderten- oder sozial-)‌pädagogischen Leitzielen orientiert und in der Lage ist, Selbstbestimmung, -ständigkeit, -wirksamkeit und Partizipation zu unterstützen;

3.

ein Verständnis von »Behinderung/psychischer Erkrankung« als sozialer Konstruktion, sowie selbstkritisch-reflexive Haltung, die um die eigene Rolle in der (Re-)‌Produktion dieser Strukturen weiß.«

Personenzentrierung hat zudem, wie Eurich (2020) herausstellt, erhebliche Konsequenzen für die Beziehungsgestaltung zwischen professioneller Fachkraft und Adressat*innen. Im Spannungsfeld von Selbstbestimmung und limitierten Möglichkeiten, diese Freiheit zu leben, ergeben sich zwei Aufgaben: Zum einen die Freiheitsgrade zu erhöhen, dafür jedoch auch genügend tatsächliche Verwirklichungschancen herzustellen, und zum anderen auch die Fürsorge und Schutzkonzepte so auszugestalten, dass sie letztlich der Freiheit zuträglich sind (vgl. Brumlik 2017).

Die Personenzentrierung stellt also einen ethischen und psychiatriepolitischen Fortschritt dar, bei gleichzeitig zu beachtenden Gefahren, die vor allem in der Individuumszentrierung und der Überbetonung einer individuellen Autonomie oder Autarkie gesehen werden können. Dies hängt jedoch stärker mit dem Primat der Selbstbestimmung zusammen, der seine Relativierung in den menschlichen Möglichkeiten findet und dem grundsätzlich in der Moderne eine dominierende Rolle zugewiesen wurde. Der Mensch als freigesetztes Individuum kann weder das alleinige Ziel der Sozialpsychiatrie sein, noch darf er unrechtmäßig in seinen Freiheitsmöglichkeiten eingeschränkt werden.

1.3.2 Empowerment

Empowerment kann als weiteres zentrales Leitbild in der Sozialpsychiatrie (und in der Sozialen Arbeit insgesamt) bezeichnet werden. Bereits während der ersten De-Institutionalisierungsphase (nach der Psychiatrie-Enquete) tauchte in der Gemeindepsychologie (Rappaport 1985) mit dem Empowerment ein Ansatz auf, der den ideellen Hintergrund – als Konzept und Haltung – zugleich für den anstehenden Reformprozess abgab. Rappaport versuchte, den ursprünglich aus der Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen in den USA und dann später auch anderer Bürgerinitiativen entwickelten Gedanken der Selbststärkung, Ermächtigung oder auch Selbstbefähigung (Knuf & Seibert 2000) als Gegenmodell zur Prävention und zur Dominanz der Expert*innen zu deuten. Er befand sich damit in Gesellschaft von weiteren, ähnlich emanzipativ orientierten Ansätzen, wie der Idee einer »fürsorglichen Belagerung« (Keupp 2000) oder »entmündigenden Expertenherrschaft« (Illich 1979). Empowerment sei, so Rappaport (1985, 269), die Erweiterung der Möglichkeiten von Menschen, »ihr Leben selbst zu bestimmen«. Rappaport wies aber auch darauf hin, dass Empowerment in »wohlwollende Vernachlässigung« umkippen könnte, denn: »Rechte ohne Ressourcen zu besitzen, ist ein grausamer Scherz.« (Rappaport 2005, 268) In ähnlicher Weise weist Elgeti (2011, 20) auf den schmalen Grat zwischen fürsorglicher Belagerung und der Freiheit zur Verwahrlosung hin. Rössler und Lauber (2013) referieren Befunde aus den USA, wonach Betroffene von mangelnder Zeit für die eigenen Anliegen, zu wenig Respekt, zu wenig Fokus auf positive Entwicklungen, zu wenig Besprechung von Alltagsaktivitäten, einem zu großen Fokus auf die biomedizinische Behandlung und zu wenig Eingehen auf Krisenbewältigung sowie zu wenig Unterstützung in Bezug auf Arbeit, Wohnen und Alltagsfertigkeiten berichten – zusammengenommen ein Feedback, das auch häufig genug auf die hiesige Psychiatrie zuzutreffen vermag.

In der Folge haben vor allem Norbert Herriger (1992, 1997/2020) und für die psychiatrische Arbeit Andreas Knuf (2006/2013) das Empowermentkonzept weiter ausbuchstabiert. Knuf (2020) verwendet es seit kurzem konsequent in Kombination mit Recovery (▶ Kap. 1.4.5).

Empowerment beruht auf der Grundannahme von Menschenstärken (Herriger 1995) bzw. der strengths-perspective (Saleeby 1992). Dorschky (2017) benennt damit verbundene Maximen: Ressourcenorientierung, Partizipationsorientierung, Verknüpfung verschiedener Handlungsebenen. Herriger (2020) führt dezidiert aus, was das für die Einzelfallhilfe, kollektive Selbstorganisation, Organisation und Gemeinde bedeutet. Für die professionelle psychosoziale Arbeit ist Empowerment in dieser Hinsicht als Unterstützung und Förderung von Selbstbestimmung durch berufliche Helfer*innen und die Förderung der dafür notwendigen Kompetenzen zu verstehen. Dabei geht es nicht nur um Kompetenzsteigerung, sondern auch um eine neue Machtverteilung, wie sie sich in der Sozialpsychiatrie in der Form des Trialogs oder auch der Open Space Conferencing zeigt. Der Blick richtet sich hier also auf die Seite der Mitarbeitenden psychosozialer Dienste, die Prozesse der (Wieder-)‌Aneignung von Selbstgestaltungskräften anregen, fördern und unterstützen und Ressourcen für Empowermentprozesse bereitstellen (siehe zu einer weiteren Liste an Anforderungen: Rössler & Lauber 2013, 356 ff.). Der folgende Aphorismus, der entweder Lao-Tse oder Konfuzius zugeschrieben wird, gibt eine gute Vorlage zur Reflexion über Empowerment‍(-prozesse) ab: »Wenn du einem Mann einen Fisch gibst, machst Du ihn für einen Tag satt. Lehre ihn das Fischen und Du machst ihn ein Leben lang satt.« In diesem Bild sind diverse Bestandteile enthalten: Zum einen sticht die erst asymmetrische und dann zunehmend egalitäre Beziehung hervor: Zuerst ist »der Mann« nur der Unterstützungsempfänger, später wird er zum Selbstversorger. Gleichzeitig ist dieser Prozess (nur) mit pädagogischen Mitteln vorstellbar, etwa indem die Technik des Fischens gelehrt wird und eingeübt werden muss und der Experte seine Kenntnisse des Fischens auch methodisch-didaktisch vermittelt. Zum anderen treten Machtfragen zu Tage, etwa warum der Experte den Anderen selbstständiger machen will und welches Menschenbild ihm diese Motivation verleiht sowie warum der bisherige Empfänger der Fische (offensichtlich) nicht revoltiert und seinen Anteil am Fischfang einfordert. Auch die verfügbaren Ressourcen, z. B. Lizenzen über Fanggründe oder Kenntnisse über geeignete Fangstellen sowie das Werkzeug (Netz, Angel, etc.), müssen geteilt oder zumindest zugänglich sein. Zuletzt stellt sich die Frage, wieviel Fürsorge in Form der Versorgung mit Fischen dem sozialen Prozess zuträglich ist und wann es in Abhängigkeit umschlägt bzw. wie mit einer evtl. nicht durch einfache pädagogische Prozesse zu verändernder Inkompetenz umzugehen ist.

Man kann an der beispielhaften Analyse von Empowermentprozessen auch die innewohnenden Paradoxien erkennen: Selbstbefähigung durch Fremdbefähigung und Fürsorge versus Selbstständigkeit bzw. Selbstbestimmung (Röh 2006).

Neben der professionellen Sicht gewinnt Empowerment vor allem durch die Adressat*innensicht eine ganz andere Bedeutung. Hier wird Empowerment als Selbstbemächtigung oder Selbstbefähigung verstanden und damit zum Teil die professionelle Paradoxie aufgelöst, dass durch professionelle und damit Fremdhilfe die Selbsthilfe gefördert werden kann. Wenn Menschen sich dann als »Experten in eigener Sache« (Geislinger 1998) oder »aus eigener Erfahrung« (Utschakowski u. a. 2016) bezeichnen, kommt damit schon ein neues Selbstbewusstsein zum Tragen, welches sich komplementär zum bisherigen professionellen Expert*innenverständnis verhält.

1.3.3 Gemeindepsychiatrie und Sozialraumorientierung

Die Idee einer Gemeindepsychiatrie zählt, wie die Personenzentrierung, zu den frühesten Leitideen der Sozialpsychiatrie im Anschluss an die Psychiatrie-Enquete bzw. das darauffolgende Modellprogramm zum Aufbau gemeindenaher Behandlungs- und Unterstützungssysteme. Bereits Oelschlägel (2007, 210) hielt jedoch zum Zusammenhang von Gemeinwesenarbeit und Gemeindepsychiatrie fest, dass, wenn Sozialraumorientierung überhaupt Erwähnung finde, dann reduziert auf »die Öffnung der Institutionen hin zu einem stadt- und stadtteilbezogenen Verbund, die Gremienarbeit und Vernetzung sowie die Öffentlichkeitsarbeit«. So ist in den 1990er und 2000er Jahren vor allem viel Engagement in die Deinstitutionalisierung, die Ambulantisierung und die Personenzentrierung geflossen. Wenig‍(er) Anstrengungen wurden hingegen dahingehend unternommen, die sozialräumliche Perspektive nicht nur als Gegensatz zur abgeschlossenen Anstaltswelt oder als wesentliches Gestaltungskriterium einer Gemeindepsychiatrie zu begreifen, sondern als Konzeptionierung eines gemeinsamen Raums für Menschen mit und ohne psychiatrische Diagnose zu nutzen (vgl. Seckinger & Neumann 2016, 7). Gemäß Ciompis Definition von Sozialpsychiatrie (▶ Kap. 1.3) ist eine psychiatrische Versorgung und Unterstützung nicht anders zu konzpieren als am sozialen Umfeld der Personen orientiert – also sozialraumorientiert. Auch Mosher und Burti (1994, 147) hielten schon damals fest, dass nichts vom professionellen System angeboten werden sollte, »was schon in der zugehörigen Gemeinde vorhanden ist, eingeschlossen auch berufliche, sportliche, schulische und Freizeit-Aktivitäten«.

Aus der Anstaltspsychiatrie ist jedoch zunächst eine Gemeindepsychiatrie bzw. Psychiatriegemeinde geworden – eine Psychiatrie in der Gemeinde – und noch längst keine »Psychiatrie durch die Gemeinde« (Röh 2013a, 302). Wegweisend könnte daher eine Orientierung an den sozialen Beziehungen (Kal 2010, 2016) und den lokal verfügbaren oder zu schaffenden Kontakt- und Begegnungsmöglichkeiten sein. Und so erscheint es sinnvoll, wiederum mit Mosher und Burti (1994, 146) und ihrer »Kleinheitsphilosophie«, »1. Klein ist schön. 2. Klein ist effektiv. 3. Klein ist erträglich. 4. Klein ist handhabbar. 5. Klein ist überschaubar. 6. Klein ist üblich. Unterm Strich: Klein ist normalisierend.«, dafür zu argumentieren, überschaubare »Wir-Räume« (Dörner 2007, 92) zu schaffen, die eine Begegnung ermöglichen und »als Voraussetzung von Verrückten nicht verlangen, ihre Verrücktheit aufzugeben.« (Seckinger & Neumann 2016, 12) Selbstredend ist das eine Forderung, die sowohl normative, sozialpsychologische wie auch politische Fragen aufwirft.

Sozialraumorientierung in der Sozialpsychiatrie ist daher durchaus an bisherige Entwürfe einer Gemeindepsychiatrie anschlussfähig, da der lokale Bezug auf die sozialen und räumlichen Bezüge, die in einem sozialrelationalen Verständnis zusammenfließen, auch die psychische Gesundheit von Menschen tangiert. Seckinger und Neumann (2016, 4) halten hierzu fest:

»Wenn wie in der Gemeindepsychologie ein psycho-sozial-bio-kulturelles Verständnis von psychischer Gesundheit vertreten wird, dann sind sozialräumliche Perspektiven anschlussfähig, denn sie können helfen zu verstehen, wie Person-Umwelt-Zusammenhänge durch Personen und Personen durch Person-Umwelt-Zusammenhänge beeinflusst werden.«

Dieses Person-Umwelt-Verständnis ist durchaus kompatibel mit der ICF (▶ Kap. 1.4) sowie der sozialrechtlichen Definition von Behinderung gemäß § 2 SGB IX.

Meins und Röh (2020, 25) benennen dementsprechende Aufgaben:»Auf der Ebene der fall-/personenbezogenen Unterstützung wären dies u. a.:

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Entwicklung einer Gesamt-‍, Teilhabe- und Hilfeplanung, die, orientiert an einem bio-psycho-sozialen Verständnis von Behinderung und gemäß des oben skizzierten Behinderungsverständnisses, die sozialräumlichen Probleme (Barrieren) wie auch Ressourcen (Förderfaktoren im Sinne der ICF) konsequent einbezieht

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Erweiterung der Unterstützungspraxis um spezifisch sozialräumliche Methoden (wie z. B. der Analyse und Stärkung sozialer Netzwerke; der Erschließung neuer Wege und Orte; durch Bildung informeller Unterstützerkreise)

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Begleitung in zivilgesellschaftliche Angebote im Sozialraum zur Ergänzung oder sogar Ersetzung der Nutzung gemeindepsychiatrischer Angebote im Rahmen der Eingliederungshilfe

Auf der Ebene der fall-/personenübergreifenden Unterstützung wären dies u. a.:

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Entwicklung von Projekten und Förderung einer Treffpunkt- oder Begegnungsstättenarbeit, welche ein Miteinander von Menschen mit und ohne psychische Beeinträchtigung gezielt fördern, eine Öffnung bestehender gemeindepsychiatrischer Angebote für die Nachbarschaft von Einrichtungen oder das Hereinholen von zivilgesellschaftlichen oder sozialstaatlichen Angeboten in die bestehenden Institutionen bzw. Angebote.

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Gezielte und strukturelle Umsetzung von Sozialraumanalysen, auch in Verbindung mit weiteren Instrumenten wie etwa aktivierenden Befragungen, um sozialräumliche Ressourcen kennen zu lernen.

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Stärkung des zivilgesellschaftlichen Engagements, u. a. im Zusammenhang mit den o. g. Unterstützerkreisen, aber darüber hinaus auch zur Angebotsgestaltung.

Auf der Ebene der fall-/personenunabhängigen Sozialraumarbeit wären dies u. a.:

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Eine konzertierte gemeindepsychiatrische Planung von Unterstützungsleistungen, gemeinsam mit den Kommunen im Sinne einer integrierten Sozialplanung (Nutz & Schubert 2020).

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Die Finanzierung über Sozialraum- oder Trägerbudgets, die eine flexible, an den sozialräumlichen Bedarfen orientierte Angebotsgestaltung auf den beiden o. g. Ebenen ermöglicht.

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Eine weitere Dezentralisierung bzw. Ambulantisierung bestehender Angebote, um stärker an lokale, bestehende Strukturen des jeweiligen Sozialraums anzuschließen.«

Sozialraumorientierung, so lässt sich vorhersagen, wird eines der prägenden Merkmale oder Leitideen einer modernen Sozialpsychiatrie, da sie einerseits die Personenzentrierung als kongenialer Partner begleitet und andererseits viele Wünsche an die Gemeindepsychiatrie erst realisieren hilft.

1.4 Gesundheits- und Krankheitsmodelle

Zum Verständnis psychischer Erkrankungen oder Störungen bieten sich einige Klassifikationsmodelle und theoretische Modelle an, wobei wir im Sinne der Grundprinzipien Sozialer Arbeit in der Sozialpsychiatrie, wie sie bisher dargestellt wurde, vor allem auf die Krankheits- bzw. Gesundheitsmodelle der Salutogenese, des Recovery und der anthropologischen Psychiatrie setzen. Diese scheinen uns für das psychosoziale Verstehen und Erklären psychischer oder psychiatrischer Phänomene passender als die z. B. durch den ICD oder das DSM erzeugten klassifikatorischen Festlegungen. Die ICF nimmt innerhalb der Klassifikationen eine Sonderstellung ein, wie wir noch diskutieren werden. Klassifikationen wie die ICD oder das DSM erzeugen vordergründig ein Bild von Eindeutigkeit, auch wenn dies in der Wissenschaft und Praxis kritisch gesehen wird. So führten Gruber u. a. (2018b, 77) vier zentrale Probleme aus:

1.

»die hauptsächliche Orientierung an der Symptomatik und deren damit einhergehender Defizitorientierung,

2.

die ›Vereindeutigung‹ von an den Grenzen oder in Grenzfällen nicht eindeutigen Konstellationen,

3.

die Reduktion auf die Symptomatik unter Missachtung der ggf. vorhandenen ›Funktionsfähigkeit‹ und

4.

die mangelnde Kultursensibilität, da die Krankheiten weltweit gleich bewertet bzw. klassifiziert werden (müssen).«

1.4.1 ICD/DSM